Emmeneggers Hochmoor - Thalmann Ulrich - E-Book

Emmeneggers Hochmoor E-Book

Thalmann Ulrich

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Beschreibung

Im Mettelimoos, einem Hochmoor von mystischer Schönheit im Luzernischen Entlebuch, taucht eine Moorleiche auf. Der grausige Fund stellt die Luzerner Polizei vor Rätsel: Wer war der Tote und welches Geheimnis hat er in sein moderiges Grab mitgenommen? Der Fall führt Bruno Emmenegger, eigenwilliger Kommissar der Luzerner Polizei, schnell in die Vergangenheit, in die frühen Achzigerjahre, als in Finsterwald bei Entlebuch nach Öl gebohrt wurde. Doch noch bevor die Luzerner Polizei die Identität des Toten aus dem Moor klären kann, verschwindet der mumifizierte Leichnam aus der Gerichtsmedizin, und der Fall wird von höchster Stelle als erledigt erklärt. Das stinkt gewaltig, denkt sich Emmen­egger und ermittelt allen Widerständen zum Trotz auf eigene Faust. Von der Ölplattform in Finsterwald folgt er der Spur des schwarzen Goldes bis nach Hamburg und kehrt mit einer unglaublichen Erkenntnis zurück. Dallas – Denver – Finsterwald bei Entlebuch. Es geht um Geld, Gier und Macht – und um Mord. Und je näher Emmenegger und seine redlich bemühte Truppe der Wahrheit kommen, umso deutlicher wird, dass sie es mit einem sehr mächtigen Widersacher zu tun haben.

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Ulrich Thalmann

Emmeneggers Hochmoor

Kriminalroman

Einen schönen Gruß an all die, die unfehlbar sind.

Wolfgang Niedecken

BAP

Inhalt

Vorbemerkung

Schluss mit lustig

Liebeskummer am Schwingfest

Die Moorleiche

Spurensuche in der Vergangenheit

Fakten ordnen

Alarm in Bern

Die Organisation

Hinterm Horizont geht’s weiter

Ärger! Nichts als Ärger!

Moin

Tohuwabohu bei der Bundespolizei

Leinen los!

Broccoli, Tofu und Kichererbse

Bilderrätsel

Überraschung!

Kleine Bösartigkeiten!

Willkommen im Wilden Westen!

Der Ölbaron

Stop-and-go

Meyer mit Y

Die Schatzkarte

Eiskalt

Danksagung

Anhang der schweizerdeutschen Begriffe

Vorbemerkung

Der Roman spielt an verschiedenen Orten: In Luzern, in dem im Westen des Kantons Luzern gelegenen Entlebuch und in Hamburg. Die Schweizerinnen und Schweizer im Roman sprechen Hochdeutsch, verwenden aber auch mundartliche Begriffe, die zum besseren Verständnis im Anhang ‹übersetzt› bzw. erklärt sind.

Alle Helden und Heldinnen dieser Geschichte sind ebenso wie die Schurken vom Autor erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden Personen wären also rein zufällig.

— 1 —

Schluss mit lustig

Herbst 1980. Bohrplattform Finsterwald bei Entlebuch im Kanton Luzern. Stahl schlug gegen Stahl, Zahnräder verkeilten sich ächzend, Antriebsmotoren gaben qualmend und funkensprühend unter ohrenbetäubendem Getöse ihren Geist auf. Der Bohrturm geriet bedrohlich ins Wanken, und einige der Drahtspannseile, die die Stabilität des Bohrturms garantieren sollten, barsten unter den gewaltigen Kräften, als sich der Bohrer tief im Boden verkeilte und keinen Millimeter weiterkam. Wie ein letzter Aufschrei der riesigen Bohrmaschine fetzte ein gellender Lärm gegen die steilen Felswände des Schimbrigs und des Risetestocks und hallte mit einem markerschütternden Getöse zurück ins Tal. Ein findiger Bauer aus dem Tal der Kleinen Entlen wollte einige Tage später bei den Betreibern der Ölplattform Schadensersatz erstreiten. Er behauptete steif und fest, dass seine fünf Ziegen seit dem Vorfall nur noch saure Milch gäben. Vor Gericht hatte seine Klage aber keinen Bestand, weil ein aufmerksamer Versicherungsagent aus dem Unterland aussagte, dass die Geißen schon vor dem großen Bohrloch-Desaster als gestohlen gemeldet galten.

So oder so, der Krach war derart gewaltig, dass die gut gefüllten Gläser im Wirtshaus in Finsterwald überschwappten und sich die Gäste verblüfft ansahen. Durch die Fenster drang nur wenig Licht in die Gaststube und im harten Schein der Neonröhre tanzten der Staub und die Rauchschwaden der Stumpen. Die Bedienung zündete sich hinter dem Buffet eine Zigarette an und legte sie nach alter Gewohnheit in den Aschenbecher, wo sie bis zum Filter dahinglimmen würde. In der Gaststube war es mucksmäuschenstill, am Stammtisch rührte einer mit dem Löffelchen im Kaffee-Glas. Der Wirt trat nach draußen vor die Tür. Als er durch den schweren Wollvorhang in die Gaststube zurückkehrte, palaverten die Gäste wild gestikulierend durcheinander: »Nun sag schon, was hast du gesehen? Was für ein Krach war das denn? Ist sicher von der Bohrplattform her! Lisbeth, bring mir noch eins!«

Bauer Seppi erholte sich als Erster vom Schreck und sagte zu seinen beiden Freunden am Stammtisch: »Hey, Kari und Fränz, habt ihr das gehört? Die sind bestimmt auf Öl gestoßen! Jetzt ist bald Zahltag.«

»Wird ja auch langsam Zeit! Der Deutsche hat ja bereits vor einem Monat gesagt, dass sie kurz vor der großen, eingeschlossenen Öl-Kammer stehen würden. Schwarzes Gold hat er es genannt«, meinte Kari grimmig und zog herzhaft an seinem Stumpen.

Der aus Hamburg stammende Vorarbeiter hieß Jochen Schmidt, wurde von den Bauern aber schlicht der Deutsche genannt.

»Mein ganzes Erspartes habe ich dem Deutschen anvertraut. Hoffentlich zahlt sich das jetzt auch mit einer schönen Rendite aus«, seufzte Fränz, »und wenn nicht …«, zweifelte der Bauer und betete: »dann lass um Gottes willen meine Frau davon nichts erfahren! Die bringt mich um.«

»Wer nichts wagt, gewinnt nichts«, posaunte Seppi noch überzeugt vom Erfolg seiner größeren Investition in Wertpapiere der Schimbrig Öl & Gas Kompanie, die der Deutsche den drei Bauern für gutes Geld verkauft hatte. Unter der Hand. Und mit der Zusage, dass weitere Bohrungen folgen würden, was ja nur die wenigsten wüssten, und wenn schon nach Öl gebohrt werde, dann sicher auf dem Land von Fränz, Seppi und Kari. Und das würde die drei Bauern reich machen, garantiert.

»Mein Ehrenwort!«, hat er gesagt, beruhigten sich die drei Bauern gegenseitig, und sie nahmen schnell noch einen letzten Schluck aus ihren Kafi-Träsch-Gläsern, um den nun doch aufkeimenden Zweifel hinunterzuspülen. Denn die Bauern ahnten bereits, dass der ohrenbetäubende Krach, den sie eben von der Bohrplattform her vernommen hatten, nicht den ersehnten Geldsegen bringen würde, und alle drei stürmten nach draußen.

Im herbstlichen Nebel sahen sie den hohen Bohrturm oberhalb des Dorfes Finsterwald bedenklich schwanken.

»Ist das normal?«, fragte Fränz bange.

»Wie soll ich das denn wissen!«, meinte Seppi.

»Lasst uns zur Bohrplattform hochfahren. Mit dem Kerl reden wir jetzt mal deutsch und deutlich! Ich will wissen, was los ist. Jetzt ist Schluss mit lustig! Und ich will jetzt sofort mein Geld zurück!«, polterte Kari und rannte zu seinem Traktor, den er vor dem Gasthof abgestellt hatte.

»Wir kommen mit!«, keuchte Fränz und schwang sich auf den Traktor. Auch Seppi kletterte auf einen der Sitze, die auf die zwei roten Radkästen montiert waren, und konnte sich nur mit viel Glück auf seinem Sitz halten, als Kari ungestüm losbrauste.

In der Zwischenzeit hatte auch der Vorarbeiter realisiert, dass die Bohrung nach Öl wohl gerade ziemlich in die Hose gegangen war. Der Bohrkopf schien sich in über fünftausend Metern Tiefe verklemmt zu haben. Kein Öl, kein Geld. Aber eine ganze Menge Ärger mit den Bauern, denen er die unterdessen wohl wertlosen, zumindest stark überbewerteten Beteiligungen angedreht hatte. Von den anderen falschen Versprechungen ganz zu schweigen. Die drei Bauern rasten mit dem Traktor, so schnell es ging, in Richtung Glaubenbergpass und nahmen kurz nach dem Dorf die Abzweigung zur Bohrplattform.

Der Deutsche hatte die Anfahrt der Bauern zur Bohrplattform längst mitbekommen. Nicht nur wegen des röhrenden Motors, sondern auch, weil sich die drei aufgebrachten Bauern gegenseitig anbrüllten.

»Gib Gas!«, befahl Fränz.

»Was Gas? Der Deutsche hat uns doch Öl versprochen«, schrie Seppi, »los gib Gummi!«

»Was, jetzt auch noch Gummi?«, staunte Kari, der dem Hürlimann-Traktor alles abverlangte.

Der Deutsche warf sich in seinen Range Rover und raste von der Bohrplattform in Richtung Dorf, dem Traktor entgegen, denn einen anderen Weg konnte er nicht einschlagen. Hätte sich Kari kurz vor der Kreuzung nicht zweimal hintereinander verschaltet und das Getriebe der alten Maschine an seine definitive Grenze gebracht, wäre es zu einem fatalen Zusammenstoß oberhalb des Dorfes Finsterwald gekommen. Der Deutsche vermochte sich also nur durch diesen Umstand wenige Meter vor den Traktor zu setzen. Er umrundete die kleine Ortschaft mit großem Tempo, sodass er seinen Vorsprung stetig ausbauen konnte, bevor er in der Nähe der Herz-Jesu-Kirche auf die Glaubenbergstraße schlitterte und talwärts gegen Entlebuch bretterte. Kaum hatte er das Dorf Finsterwald verlassen, musste der Deutsche aber unerwartet scharf bremsen. Denn nur so ließ sich ein drohendes »Rindsmassaker« verhindern. Eine Bäuerin überquerte mit einer kleinen Kuhherde die Glaubenbergstrasse von rechts nach links, um die Tiere heim in den Stall zu bringen. Aufgeregt fuchtelte sie mit einem dicken Haselstock und schrie: »Hei, langsam, du Rowdy! Willst du uns umbringen?« Sie nahm sich provokativ viel Zeit und ließ sich vom wild gestikulierenden Arbeiter, den sie vom Sehen her kannte, nicht im Geringsten hetzen.

Angespannt guckte der Vorarbeiter immer wieder in den Rückspiegel, ob seine Verfolger schon zu sehen waren.

»Mach mal, Alte! Ich habe nicht den ganzen Tag Zeit!«, fluchte der Deutsche im Range Rover und hupte dazu zweimal, was er besser gelassen hätte, denn ein Rind erschrak derart, dass es in der Mitte der Straße umkehrte, um wieder zurück auf die andere Straßenseite zu flüchten. Erst nach weiterem Hupen und Aufheulen des starken V8-Motors gab das Tier die Straße frei. Der Deutsche wollte seine Flucht fortsetzen, kam aber nicht weit.

»Nicht mit mir«, schimpfte die stramme Entlebucher Bäuerin, stampfte mit ihren kleinen Füßen in den übergroßen, olivenfarbenen Gummistiefeln wütend auf den Asphalt und stellte sich couragiert vor den Wagen. Sie fuchtelte wütend mit ihrem Haselstock. Das aber beeindruckte Jochen Schmidt mäßig, denn er sah im Rückspiegel den heranbrausenden Traktor der verärgerten Bauern immer näher kommen. Bereits sehr, sehr nahe. Quasi bildfüllend.

Bauer Kari trat voll auf die Bremse und erschrak aus zwei Gründen: Zum Ersten, weil er realisierte, dass der Bremsweg des Traktors wohl doch länger als erwartet ausfallen würde. Und zum Zweiten, weil hier seine Frau stand, die mit hochrotem Kopf und einem Haselstock in der Hand lauthals zeterte: »So, so. In die Käserei musste der Herr Gemahl unbedingt noch schnell. In der Beiz warst du! Du Lump!«

Hürlimann sei Dank! Keine Hand hätte mehr zwischen den Range Rover und den Traktor gepasst. Die Bremsen hielten, was der Landmaschinenmechaniker aus Hasle versprochen hatte. Auch wenn die Rechnung für die Reparatur damals bei der Wartung entsprechend überhöht ausgefallen war.

Schmidt nutzte das Gezänk der Ehefrau und Karis Zaudern, um sich aus dem Staub zu machen. Jetzt aber schnell hinterher, sagte sich Kari, denn er wollte diesen Schmidt zur Rede stellen, sein Geld zurückfordern und sich vor allem so schnell wie möglich von seiner erzürnten Frau entfernen. Er drückte das Gaspedal voll durch, Seppi und Fränz erzählten später etwas von durchdrehenden Rädern auf dem Asphalt und, dass es geraucht habe wie bei einem Formel-1-Start. Was Kari viel später – als er beim schon erwähnten Landmaschinenmechaniker seine zwei großen Hinterräder auf Garantie umtauschen wollte – vehement verneinte. Die seien aber auch gar nichts wert gewesen!

»Nichts mit Garantie, mein lieber Kari! Such dir einen Blöderen! Durchdrehende Räder! Ich zeig dir gleich, wer durchdreht!«

Der Landmaschinenmechaniker pfiff zweimal kurz durch die unregelmäßige Zahnreihe. Anscheinend ein Signal, denn seine zwei kräftigen Arbeiter, die mit großen Schritten und noch größeren Schraubenschlüsseln vom hinteren Teil der Garage auf Kari zusteuerten, machten keinen Hehl daraus, dass es in diesem Geschäft noch nie zu Garantieleistungen gekommen war. Kari machte schnurstracks den Abgang. Aber das war, wie schon erwähnt, erst viel später.

Der Range Rover raste derweil weiter talwärts, und Kari und seine Kameraden verloren mit dem Traktor schnell wieder an Boden. Doch der Deutsche hatte sich zu früh gefreut. Ein Wagen, mit einem riesigen Fuder Heu tuckerte vor ihm gegen Entlebuch und versperrte ihm die Sicht, was das Überholen erschwerte.

Der Hürlimann holte wieder auf.

»Mach mal den Abflug!«, fauchte Schmidt und wagte ein Überholmanöver im Blindflug. Das war eine gefährliche Aktion, denn ein Postauto kam ihm frontal entgegen. Das knallgelbe Gefährt, das ihm mit Lichthupe und Dreiklanghorn deutlich zu verstehen gab, wer hier die Vorfahrt genoss, und vor allem der Stärkere war, zwang ihn erneut zu einer Vollbremsung.

»Das war knapp«, stöhnte der Deutsche und entschied sich, den Weg über die Rengg zu nehmen. »Da haben diese Idioten mit ihrem Traktor keine Chance gegen meinen Achtzylinder.«

Nur mit Mühe schaffte er die Neunzig-Grad-Kurve, touchierte einen geparkten VW-Käfer und raste weiter bergauf in Richtung Rengg. Die Straße schlängelte sich durch eine malerische Landschaft, vorbei an mit Geranien geschmückten Bauernhöfen, wofür Schmidt in diesem Moment aber keine Augen hatte. Als er schon fast die Anhöhe beim Mettelimoos erreicht hatte, wagte er einen kurzen Blick hinunter ins Entlental und sah den Hürlimann-Traktor noch weit unter sich.

Was er hingegen nicht sah, war ein weißer Kombi, der dem Traktor folgte und ihn schon bald überholen sollte.

Oben angekommen wollte der Deutsche nach links in Richtung Rengg abbiegen. Für die rapide Richtungsänderung aber fuhr Schmidt zu schnell. Der Range Rover schoss über die Kurve hinaus. Das rechte Vorderrad sank sofort im nassen Torfboden des Mettelimooses ein, und wegen des überhöhten Tempos überschlug es den sonst so geländegängigen Wagen, der schließlich wieder auf seinen vier Rädern zu stehen kam. Da sich Schmidt in der Eile nicht angegurtet hatte, prallte er mit dem Kopf schmerzhaft gegen Decke und Lenkrad. Die malerische Landschaft drehte sich vor seinen Augen. Sein Kopf brummte mächtig, doch mit einer erheblichen Kraftanstrengung gelang es ihm, die Tür zu öffnen und sich aus dem Fahrzeug fallen zu lassen. Erst beim zweiten Versuch konnte er sich aufrichten. Aus der Platzwunde an seiner Stirn lief Blut in sein rechtes Auge.

Schwankend flüchtete er tiefer in das Hochmoor hinein. Im kleinen Birkenwäldchen wollte er sich hinter Büschen verstecken, bevor die Bauern auf ihrem Hürlimann-Traktor ebenfalls das Moor erreicht hatten. Doch das vermeintliche Versteck war zugleich auch eine Falle. Hinter den Sträuchern befand sich ein Tümpel in einem Graben, der von den Torfstechern während der Weltkriege ausgehoben worden war. Der Deutsche stolperte über eine freigelegte Wurzel und fiel in das brackige Wasser. Er konnte sich zwar aufrichten, doch mit Entsetzen stellte er fest, dass er langsam, aber stetig im sumpfigen Boden einsank.

Schmidt begann zu fluchen, sprach sich aber gleich darauf Mut zu. Die Hauptsache schien ihm, dass er von der Straße nicht zu sehen war und der Birkenast, an den er sich klammerte, hielt. Dann hörte er ein Auto mit hoher Geschwindigkeit von der Anhöhe beim Mettelimoos in Richtung Renggpass fahren. Vorsichtig spähte er durch das Gebüsch, das ihm Deckung gab. Die rotglühenden Rücklichter des Autos verschwanden im Wäldchen, durch das die Straße zum Renggpass und weiter nach Malters führte. Es wurde schlagartig gespenstisch ruhig. Nur weit entfernt waren die durch aufziehende Nebelschwaden gedämpften Kuhglocken zu hören. Ein kalter Luftzug ließ Schmidt in seinen durchnässten Kleidern frösteln. Die ganze Szenerie erinnerte ihn an ein Goethe-Gedicht, das ihm sein Großvater unzählige Male vorgetragen hatte:

Mein Sohn, was birgst du so bang dein Gesicht? –

Siehst, Vater, du den Erlkönig nicht?

Den Erlenkönig mit Kron’ und Schweif? –

Mein Sohn, es ist ein Nebelstreif.

Ein lautes Krähen und das Aufflattern eines Vogels hinter ihm im Moor erschreckte ihn. Hektisch drehte er sich um. Aber da war nichts zu erkennen. Durch die ruckartige Bewegung sank er noch ein Stück tiefer im moorigen Tümpel ein. Schmidt horchte angestrengt auf das Geräusch eines nahenden Traktors. Weit konnten die nicht mehr sein. Doch er hörte nur den Wind in den Blättern der Birken und memorierte absurderweise noch eine Strophe:

Mein Vater, mein Vater, und hörest du nicht,

Was Erlenkönig mir leise verspricht? –

Sei ruhig, bleibe ruhig, mein Kind;

In dürren Blättern säuselt der Wind.

Ein Knacken im Moor erschreckte ihn von Neuem: »Waren das etwa Schritte? War jemand auf einen morschen Ast getreten?«

Das Röhren des Hürlimann-Traktors riss ihn aus seinen angsterfüllten Gedanken zurück in die nicht weniger beängstigende Entlebucher Realität. Kaum hatten die drei Bauern den Range Rover erreicht, sprangen sie vom Traktor und hielten nach ihrem Opfer Ausschau. Der Deutsche duckte sich noch tiefer in dem Sumpfloch, als er mit Schrecken feststellte, dass Kari und Fränz je einen der schweren Holzpfosten, die dem Schneepflug im Winter den richtigen Weg weisen sollten, aus dem sumpfigen Boden wuchteten und zielstrebig auf den Range Rover zugingen.

»Keiner da!«, raunte Seppi.

»Der versteckt sich sicher da hinten im Moor. Den holen wir uns!«, befahl Kari und zeigte geradewegs auf das Versteck des Vorarbeiters. Dieser versank unterdessen tiefer im Moor.

»Nicht so laut!«, schimpfte Seppi, »wir wollen ihn ja nicht warnen!«

»Dann schalt doch besser den Motor aus«, bemerkte Fränz mit genervtem Kopfschütteln.

»Besserwisser! Und wer fand den Deutschen ja so was von toll: ‹totsichere Anlage, Investition in die Zukunft›, he?«, gab Seppi postwendend zurück.

Prompt ging ein rasch eskalierender Streit los und anstatt dem Deutschen, wie geplant, eine gehörige Abreibung zu verpassen, musste Kari den Fränz daran hindern, dem Seppi mit dem Holzpfahl eins überzuziehen.

Die Situation des Deutschen im Tümpel verschlechterte sich in der Zwischenzeit von Minute zu Minute. Mit ganzer Kraft musste er sich am Ast der Birke nach oben ziehen, um nicht weiter im Schlamm des Tümpels zu versinken. Panik stieg in ihm auf und er musste sich zusammenreißen, um nicht laut um Hilfe zu schreien.

Birkenholz brennt zwar perfekt im heimeligen Kamin, aber zu den stabilsten Baumsorten zählen Birken nicht. Das Knacken des Birkenastes war weitherum zu hören, sodass sogar die drei zankenden Bauern davon Notiz nahmen und sich dem Birkenwäldchen zuwandten.

»Da hinten, hinter den Büschen bei den Birken, da muss er sein!«

»Den schnappen wir uns!«

»Mach dich auf was gefasst, du elender Halsabschneider!«, waren sich die drei auf einen Schlag wieder einig und stürmten auf das Wasserloch im Moor zu.

Mit einem satten Knacken brach der Ast, der Schmidt zuvor noch ein wenig Halt gegeben hatte. Der Deutsche versank, wild mit den Armen rudernd, im Tümpel. Er tauchte hustend und spuckend wieder auf. »Hilfe!«, schrie er und bemerkte nicht, wie hinter ihm eine Gestalt aus dem Nebel auftauchte und mit einem Gewehr auf seine Verfolger zielte. Der Schuss ging nur knapp über deren Köpfe hinweg.

Jeder der drei Bauern behauptete später, er hätte den Luftzug der Kugel gespürt. Fränz meinte im ersten Moment sogar, dass er vom Projektil getroffen worden sei, weil ein großer, feuchter Fleck auf seinem Hemd zu sehen war. Tatsächlich aber rührte der von der Jauche her, mit der er sich am Morgen im Stall bekleckert hatte.

Jedenfalls ließen die drei Bauern ihre Knüppel wie auf Kommando fallen und rannten um ihr Leben.

»In Deckung!«

»Rückzug!«

»Schnell weg!«, schrien sie panisch durcheinander, hechteten zum Hürlimann, wendeten und rasten zurück nach Finsterwald.

»Hilf mir raus!«, jammerte Schmidt unterdessen in Richtung eines Mannes, der seelenruhig neben dem Sumpfloch stand und keine Anstalten machte, dem Deutschen zu helfen.

»Ich dir helfen?«, entgegnete der Mann und die rhetorische Frage klang eher wie eine Drohung. Der kräftige Kerl schüttelte nur den Kopf und meinte: »Genau wie dein Bruder. Ihr überschätzt euch maßlos. Meinst du, ich habe nicht gemerkt, dass ihr in meinen Aufzeichnungen und Plänen herumgewühlt habt? Darum habe ich dafür sorgen müssen, dass dein Bruder entlassen wurde. Wenn ich sage, es gibt kein Öl, dann gibt es kein Öl hier! Verstanden, du Pfeife?«

»Aber ich habe die Karte mit eigenen Augen gesehen. Zieh mich raus! Wir machen halbe-halbe!«

»Du bist ein Komiker! Die Hälfte von Nichts bleibt Nullkommanichts.«

»Aber mein Bruder hatte recht! Es gibt hier Öl. Wir bohren ganz einfach am falschen Ort. Glaub mir, mein Bruder hat lange genug in Texas nach dem schwarzen Gold gesucht. Der kann das Öl förmlich riechen.«

»Dein Bruder ist ein Idiot. Wenn die Chefetage befiehlt, dass es hier kein Öl geben darf, dann gibt es kein Öl. Wieso kapiert ihr Schwachköpfe das nicht?«

»Du bist also bestechlich? Soweit zu deinen unabhängigen wissenschaftlichen Gutachten. Jetzt wird mir einiges klar. Wir sollten hier kein Öl finden, sondern uns mit dem wenigen Gas zufriedengeben.«

»Bingo, du Schlaumeier! Komm, ich ziehe dich raus. Man kann über alles reden, auch über eine angemessene Abfindung. Was meinst du?«

Der Mann nahm einen Holzpfosten, den die Bauern auf ihrer Flucht weggeworfen hatten und streckte diesen dem verzweifelten Schmidt entgegen. Hecktisch griff der Deutsche danach und bemerkte die eigentliche Absicht seines Gegners zu spät. Aus dem Holzpfosten wurde ein Rammbock, der ihn heftig am Brustbein traf und zurück in den Sumpf stieß. Sein Schrei ging in ein dumpfes Gurgeln über, dann wurde der Deutsche vom Moor regelrecht verschluckt. Geduldig wartete der Mann, bis keine Luftblasen mehr aus dem Tümpel aufstiegen und wieder Ruhe ins gespenstische Mettelimoos einkehrte.

Und so, als habe er gerade einen Frühjahrsputz erledigt, bilanzierte er: »Das ging ja besser als erwartet. Jetzt bin ich auch den zweiten Besserwisser los.«

Unterdessen waren die drei Bauern wieder zurück in ihrer Beiz in Finsterwald und erholten sich langsam von der Begegnung mit einem schießwütigen Unbekannten. Am Nebentisch saßen zwei Arbeiter der Bohrplattform und tranken ihr Feierabendbier. Neugierig lauschten Kari, Seppi und Fränz dem Gespräch der Männer: »Keine Chance, wir kommen nicht tiefer. Das war der letzte Versuch, haben die Studierten gesagt. Und wo ist überhaupt der Deutsche? Typisch, wenn es nach Arbeit riecht, macht er sich aus dem Staub.«

»Vielleicht hat er ja auch Ärger mit den Bauern. Vorletzte Woche hat er doch noch großartig geprahlt, dass er diese dummen Hinterwäldler schon noch richtig ausnehmen wird. ‹Wie eine Weihnachtsgans›, hat er geblufft.«

Fränz verschluckte sich fast an seinem Bier und flüsterte zu seinen Kumpanen: »Hat uns jemand gesehen, als wir dem Deutschen nachgejagt sind? Hoffentlich ist der nicht im Schlamm ersoffen!«

»Jesus Maria! Meine Frau hat uns gesehen«, jammerte Kari.

»Dann weiß es jetzt schon jeder zwischen Wolhusen und Sörenberg«, meinten Seppi und Fränz im Chor. »Los, geh nach Hause und schau zu, dass deine Alte ihr Lästermaul für einmal im Griff hat. Wir kümmern uns um den Range Rover.«

»Können wir nicht tauschen?«, fragte Kari mit gesenktem Haupt, doch Seppi und Fränz schüttelten vehement ihre Köpfe und beschlossen, mit Seppis dunkelblauem Volvo-Kastenwagen nochmals zum Mettelimoos zu fahren, um etwaige Spuren zu beseitigen. Oben angekommen, stiegen sie aus dem Auto und stellten fest, dass der Range Rover verschwunden war.

»Lass uns schnellstens abhauen«, raunte Fränz, »wir machen uns sonst nur verdächtig.«

»Ja, irgendetwas stimmt hier nicht. Meinst du, der Deutsche ist noch in der Gegend?«

»Ist mir egal. Ich gehe jetzt nach Hause, bevor wieder einer in der Gegend herumballert.«

»Habt ihr das auch gehört?«, fragte unvermittelt eine Stimme hinter ihnen. Die Stimme gehörte dem nicht übermäßig intelligenten Hansruedi, der auf einem der Höfe in der näheren Umgebung des Mettelimooses als Knecht arbeitete.

»Wir?«, antwortete Fränz erschrocken.

»Ja sicher, man hat es ja bis nach Finsterwald gehört!«, meinte Seppi geistesgegenwärtig und fragte nach einer kurzen Pause: »Und, hast du was gesehen?«

Der Knecht zog an seiner Tabakpfeife, die in seinem Mundwinkel hing, und sagte vieldeutig: »Kommt darauf an!«

»Worauf kommt es an?«, fragte Seppi.

»War ja hier oben einiges los heute Nachmittag«, machte sich der Knecht wichtig, »vorhin hat jemand einen Range Rover gewendet und ist ins Entlental runtergefahren.«

»Hast du ihn erkannt?«, fragte Fränz.

»Nein, ich war da hinten beim Waldrand am Holzen. Viel zu weit weg. Ich glaube aber, es könnte ein Arbeiter von der Plattform gewesen sein. Die haben doch alle so verschmutzte Überhosen mit Hosenträgern. Aber sicher habe ich kurz nach dem Schuss gesehen, dass Kari mit seinem Hürlimann-Traktor wie vom Teufel geritten nach Finsterwald runtergefahren ist«.

Erschrocken sahen sich Fränz und Seppi an.

»Herrgott aber auch!«, zischte Seppi und hatte einen Gedankenblitz: »Kari? Nicht möglich, den haben wir gerade noch im Dorf gesehen. Wenn du uns nicht glaubst, dann frag doch seine Frau!«

»Karis Frau?«, fragte der Knecht vorsichtig, »Jesus, ich glaube euch ja, wahrscheinlich habe ich mich getäuscht.«

Was Seppi und Fränz sehr genau wussten, war, dass der arme Knecht schon früher ein unvorteilhaftes Zusammentreffen mit Karis Frau hatte. Es war an einer Beizen-Fasnacht, als der ausgelassene, schon ziemlich angesäuselte Knecht zu Karis Frau meinte, sie sei ja schon eine schöne Hexe, aber sie könne die Maske getrost abnehmen, die Prämierung sei eh schon längst vorbei. Der Witz war nicht neu und wurde postwendend mit ein paar satten Klapsen auf den Hinterkopf quittiert. Fortan hielt Hansruedi eine gewisse Sicherheitsdistanz ein.

»Hast du sonst noch etwas gesehen?«, fragte Fränz vorsichtigerweise noch einmal nach.

»Eben, kommt darauf an«, wiederholte sich der Knecht, »aber mit trockener Kehle kann ich gar nicht denken.«

Zeugenschutzprogramm nannten die drei Bauern später die ergriffenen Maßnahmen. Nicht zum Schutz des Zeugen, sondern zum Schutz vor dem Zeugen. Seppi und Fränz fuhren mit dem Knecht zurück nach Finsterwald und füllten ihn mit billigem Träsch gnadenlos ab, was dieser ohne Gegenwehr und auch ohne große Diskussionen über sich ergehen ließ. Als der Wirt meinte, jetzt sei aber genug, trugen sie den sturzbesoffenen Hansruedi zu einer Scheune, bugsierten ihn ins Heu und ließen den Knecht seinen Rausch ausschlafen. Am folgenden Morgen konnte sich Hansruedi beim besten Willen nicht mehr erinnern, wie er in diese Scheune gekommen war. Überhaupt hatte er an die vergangenen vierundzwanzig Stunden nur sehr vage Erinnerungen. Er hatte eine riesige Gedächtnislücke mit einer einzigen Ausnahme: Ihm träumte von Karis Frau und das schien ihm doch eher ein Albtraum zu sein.

— 2 —

Liebeskummer am Schwingfest

Jahrzehnte später. Bad-Schwinget in Wolhusen. Bruno Emmenegger, Kommissar der Luzerner Polizei, und seine Freundin Eva, die in der Adlerbar in Schüpfheim arbeitete, hatten an diesem Sonntag eine besondere Mission. Sie wollten Emmeneggers jungen Freund und Polizistenkollegen Adi aufmuntern. Ihn aus seiner deprimierten Stimmung heraushieven. Diagnose: schwerer Liebeskummer. In Paris hatte sich Adi bei seinem letzten Einsatz mit Kommissar Emmenegger unsterblich in die hübsche Französin Julie verliebt. Doch die junge Liebe hielt den Schwierigkeiten einer Fernbeziehung nicht allzu lang stand. Adis Erspartes und mehr noch die ihm zustehenden Ferientage waren schnell aufgebraucht, sodass er immer seltener den Nachtzug nach Paris nehmen konnte, um seine ‹Angebetete› zu besuchen. Andererseits war ein Besuch in der Schweiz für Julie viel zu teuer. Vor wenigen Tagen hatte Adi Eva in der Adlerbar sein Herz ausgeschüttet. Julie und er hätten ihre Beziehung beendet, erzählte er. Es gehe einfach nicht so weiter, erklärte Adi mit belegter Stimme, »Julie kann sich ein Leben in Schüpfheim nicht vorstellen. Und ich … ich kann ebenso wenig hier weg, ich liebe meinen Job bei der Luzerner Polizei und insbesondere die Arbeit auf dem Posten in Schüpfheim.« Traurig schlürfte er sein Bier und murmelte etwas von Julie und Liebe. Eva hatte in der Adlerbar schon etlichen Krisenberichten zugehört. Nicht von ungefähr wurde »ausgezeichnete Kommunikation mit den Gästen« im Stellenbeschrieb gefordert. Ihre Reaktion auf Adis Kummer ging aber über die professionelle Anteilnahme hinaus. Sie mochte den jungen Polizisten und wollte ihn auf andere Gedanken bringen. Jetzt erinnerte sich die engagierte Barfrau, dass Emmenegger ihr erst kürzlich erzählt hatte, dass Adi seit einiger Zeit im Schwingclub trainierte. Und weil sie dank ihrer Arbeit immer bestens orientiert war, was im Entlebuch gerade vor sich ging und wo und wann welche Feste anstanden, kam ihr eine Idee. »Adi, hast du am nächsten Wochenende etwas vor? In Wolhusen findet das Bad-Schwinget statt. Wir könnten ja gemeinsam hin. Du, Bruno und ich, was meinst Du? Ich war noch nie dabei und möchte schon lange einmal hin. Soll toll sein! Und vielleicht kannst du den Bösen den ein oder anderen Schwung abgucken.«

Seit den Neunzigerjahren lebte Eva, die ursprünglich aus Kroatien stammte, im Entlebuch. Leicht war ihr die sogenannte Integration nicht gemacht worden, die Entlebucher hatten die Ausländerin kritisch beobachtet und schließlich akzeptiert, als sie feststellten, dass Eva nicht nur zielstrebig Schweizerdeutsch lernte, sondern darüber hinaus ernsthaft am Brauchtum interessiert war. Und seit sie mit Kommissar Emmenegger liiert war, lebte sie auch nicht mehr mit der unterschwelligen Sorge, als »Jugo« abgestempelt zu werden. Denn mit dem Kommissar wollte sich im Entlebuch niemand anlegen. Sein Ruf war legendär. Es gab auch welche, die ihn zu späterer Stunde ehrfürchtig »Sheriff« nannten. Emmenegger selber sah sich eher als Deputy und dachte dabei an einen Song von Bob Marley:

I shot the sheriff, but I didn’t shoot no deputy …

Adi schaute weiter stumm vor sich hin, und Eva dachte schon, dass ihre Frage gar nicht in die Hirnwindungen des jungen Polizisten vorgedrungen war. Doch dann gab sich Adi einen Ruck: »Die Bösen?«, fragte Adi etwas unsicher. »Du meinst, es kommen auch eidgenössische Kranzschwinger?«

»Ich glaube schon. Jedenfalls heißt es das im Dorf. Aber frag mich nicht nach Namen. Ein berühmter Sörenberger soll auch dabei sein.«

»Wow, Joel! Der Joel, dann komme ich sehr gerne mit!«, sagte Adi und vergaß seinen Liebeskummer für einen Augenblick.

»Frag Bruno doch bald, ob er wirklich Zeit hat, und gib mir Bescheid. Ich würde versuchen, uns Billette zu besorgen. Ohne Beziehungen dürfte es sonst schwierig werden. Aber ich habe ja gute Kontakte zum Schwingclub.«

»Das wäre sehr nett von dir, Adi! Ich habe auch gehört, dass das Schwingfest praktisch immer ausverkauft sein soll.«

Als Adi sein Bier ausgetrunken hatte und nach Hause aufbrach, machte Eva etwas, das sie sonst bei keinem anderen Gast, außer natürlich bei Emmenegger, tat: Sie warf dem jungen Mann eine Kusshand zu und rief ihm aufmunternd hinterher: »Ach Adi, vergiss nicht: Andere Mütter haben auch schöne Töchter!«, und zauberte Adi damit ein lange nicht mehr gesehenes Lächeln ins Gesicht.

Dann kam der Schwingfest-Sonntag im April. Emmenegger hatte bei Eva in ihrem Personalzimmer im Adler in Schüpfheim übernachtet und freute sich über ein freies Wochenende. Als Eva morgens den noch selig schlummernden Emmenegger aufweckte, rieb dieser sich erstaunt die Augen. Eva trug ein Dirndl, das sie vor einigen Jahren in München gekauft hatte. Es saß nach wie vor wie angegossen, was Eva ungemein freute.

»Wow!«, staunte Emmenegger, »du siehst hinreißend aus. Aber dir ist schon klar, dass wir zum Bad-Schwinget und nicht zum Oktoberfest gehen?«

»Ja, schon, aber ich habe ja keine Entlebucher Tracht«, sagte Eva. »Findest du es fehl am Platz?« »Aber nein, eine Frau wie du kann alles tragen«, säuselte Emmenegger und fügte an: »Wir hätten noch eine Stunde …«

»Nichts da, wir müssen los. Da im Schrank hängt ein Sennenhemd für dich.«

»Aber ich …«

»Also, mein Lieber. Hemd und Anlass passen perfekt zusammen. Keine Widerrede, erklärte Eva mit einer Miene, die keinen Zweifel zuließ, dass sie es auch wirklich ernst gemeint hatte.

Wenigstens nur ein gewöhnliches Sennenhemd mit einem diskreten Edelweißmuster und nicht eine Kutte mit bunten Stickereien, dachte sich der Kommissar, der gegenüber der übertriebenen Kommerzialisierung des Schwingsports durch die plötzlich trendigen Accessoires gemischte Gefühle hegte. Doch als ihm das Hemd entgegen seinen Befürchtungen hervorragend stand und ihn nicht einmal um die kritische Bauchgegend herum einengte, fügte er sich Evas Befehl und fand, dass er immer noch ein »fescher Bursche« war.

Zwei Stockwerke tiefer steuerten Eva und Emmenegger in der Adler-Stube direkt nach hinten in die Küche, wo Köchin Hildi bereits einen starken Kaffee vorbereitet hatte. Als Hildi Eva sah, reagierte sie entsetzt: »Mein Gott, wie kommst du denn daher? Ein Dirndl – wo sind wir denn hier!«, rief die Köchin, und griff kritisch an den Saum des Kleides, »na, wenigstens ist es von schöner Qualität und keiner dieser Ramsch-Fummel aus den Billigläden.«

»Aber es steht ihr ausgezeichnet«, nahm Emmenegger Eva in Schutz und zwinkerte ihr aufmunternd zu.

»Sicher!«, räumte Hildi ein, »sie sieht toll aus, die Eva. Aber nächstes Mal fragt ihr rechtzeitig, dann kann ich eine schöne Entlebucher Tracht bereit machen. Ihr werdet staunen …«. Zum Kaffee tischte Hildi zwei Stücke eines selbst gebackenen Hefezopfs auf, dem die beiden nicht widerstehen konnten. So gestärkt fuhren Emmenegger und Eva mit dem Auto des Kommissars in Richtung Wolhusen. Zügig durchquerten sie Hasle und später den Hauptort Entlebuch.

»Es gibt gar nicht so viel Verkehr wie erwartet!«, meinte Emmenegger zuversichtlich. Doch dann verdichtete sich der Verkehr ab dem Schwanderholzstutz zunehmend. Die Autos stauten sich von der letzten Kurve der gut ausgebauten Straße bis zur Landi Wolhusen, wo ein Abzweiger rechts zum Schulhaus Markt, dem Austragungsort der Bad-Schwinget, führte.

»Wieso geht das nicht vorwärts? Es kann doch nicht so schwer sein, ein Auto neben dem anderen auf dem großen Parkplatz der Landi oder auf den vorbereiteten Hilfsparkplätzen am Straßenrand zu parken!«, wetterte Eva, die ihrem Temperament beim Autofahren öfter freien Lauf ließ.

»Immerhin rollen wir noch«, versuchte Emmenegger Eva zu beschwichtigen, was ihm aber nur halbwegs gelang. Eva ereiferte sich weiter.

Nach einer gefühlten Ewigkeit erreichten sie endlich die Zufahrt zum Schwingfest und dem Kommissar wurde schlagartig klar, wieso es beim Einparken stockte. Die beiden Stadtluzerner Polizisten Heinz und Röbi waren zum Parkdienst ins Entlebuch strafversetzt worden. Und das nicht grundlos. Bei besonders langweiligen oder lästigen Wochenendeinsätzen spielten die beiden ‹Helden› gerne ihr Lieblingslieder ab, darunter die Zuckerpuppe aus der Bauchtanztruppe