Emotionale Abhängigkeiten – wie du sie erkennst und dich daraus befreist - Heike Abt - E-Book

Emotionale Abhängigkeiten – wie du sie erkennst und dich daraus befreist E-Book

Heike Abt

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Beschreibung

Das Praxisbuch der erfahrenen Psychologin zum aktuell vielbesprochenen und präsenten Mind-Health-Thema: Jede und jeder Zehnte leidet im deutschsprachigen Raum unter emotionaler Abhängigkeit. Kompetente Hilfe zur Selbsthilfe – leicht und anschaulich erklärt. Nur wer versteht und erkennt, wie sehr die Abhängigkeit Körper, Geist und Seele schadet, kann den Mut aufbringen, sich davon zu lösen. Mit zahlreichen Beispielen, Übungen und psychologischen Strategien, die helfen, sich selbst von der psychischen Fesseln aus eigenen Ansprüchen und denen von anderen zu befreien. Zusätzliche Hinweise für Angehörige helfen auch dem Umfeld, die Betroffenen in der belastenden Situation wirklich zu unterstützen.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 155

Veröffentlichungsjahr: 2023

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HEIKE ABT • GERT KOWAROWSKY

EmotionaleAbhängigkeiten

Wie du sie erkennstund dich daraus befreist

PAL Verlagsgesellschaft mbH

Seit über 35 Jahren der Verlag für praktisch anwendbare Lebenshilfen aus der Hand erfahrener Psychotherapeut:innen und Coaches.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek.

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie, abrufbar im Internet über http://dnb.d-nb.de

© PAL Verlagsgesellschaft mbH, München

www.palverlag.de

ISBN 978-3-910253-10-0

eISBN 978-3-910253-51-3

1. Auflage 2023

Alle Rechte vorbehalten

Dieser Ratgeber gibt Hilfestellungen und Impulse, ersetzt jedoch keine therapeutische Behandlung. Die Ratschläge dieses Buches sind von Autor:innen und Verlag sorgfältig geprüft. Autor:innen und Verlag können jedoch keine Garantie auf die Wirkweise geben und schließen jede Haftung für Personen-, Sach- und Vermögensschäden aus.

Redaktion und Lektorat: Melanie Haizmann

Korrektur: Anne-Sophie Zähringer

Covergestaltung: Karin Etzold

Coverabbildung: © Adobe Stock/F16-ISO100

Abbildungen Inhalt: © Adobe Stock/oxyggen

Satz und Druck: Grafik + Druck digital K.P. GmbH, München

Inhalt

Vorwort

Freiheit und Verbundenheit

Lerne dich selbst kennen

Du bist ein Puzzle

Kriterien einer emotionalen Abhängigkeit

Warum machen wir uns abhängig?

Wovon machen wir uns abhängig?

Test: Bist du emotional abhängig?

Expertenrat: Wege aus der inneren Abhängigkeit von Arbeit und Unternehmen

Dein Weg zu innerer Freiheit

Was bedeutet innere Freiheit für dich?

Wer bist du?

Wer sind die anderen?

Was kannst du?

Was kannst du nicht?

Was bist du wert?

Was kannst du dir selbst geben?

Was glaubst du?

Was denkst du?

Wovon träumst du?

Wo sind deine Grenzen?

Woher kommst du?

Was tust du für dich?

Wofür bis du dankbar?

Wer hat die Kontrolle?

Was ist jetzt?

Wie bleibst du auf Kurs?

Erkenne, dass du losgelassen hast

Liebe Leserin, lieber Leser,

in einer Welt, in der wir ständig vernetzt und von einer Flut an Informationen und Reizen umgeben sind, verlieren wir leicht den Fokus auf uns selbst. Wir suchen nach Erfüllung und Zufriedenheit im Außen, ohne zu bemerken, dass wir uns immer stärker an Äußerlichkeiten binden: Wir verlieren uns in der Jagd nach Anerkennung, materiellem Besitz oder dem Streben nach scheinbarer Perfektion, nach dem nächsten technologischen Gadget oder dem neuesten Modetrend. Doch je mehr wir uns an diese äußeren Quellen klammern, desto mehr entfremden wir uns von unserem wahren Selbst.

Wir übergeben uns Dingen, die wir besitzen – die aber letztendlich uns besitzen. Tätigkeiten, die wir ausüben, um uns selbst zu definieren – die aber stattdessen uns kontrollieren. Und Beziehungen, die uns Halt geben sollen – die uns aber viel zu oft hemmen. Denn obwohl uns all dies vorübergehend Trost und Sicherheit bieten kann, kann es uns auch gefangen halten und uns daran hindern, unser volles Potenzial zu entfalten.

Diese Verstrickungen können wir als Abhängigkeiten bezeichnen – denn unser Gefühlsleben, unsere Selbstwahrnehmung und unsere Identität werden stark davon beeinflusst. Wir verlieren unsere Selbstbestimmung. Dieses Buch lädt dich ein, dein eigenes Verhältnis zu unterschiedlichen emotionalen Abhängigkeiten zu erkunden. Es geht um die Konstrukte, die uns gefangen halten, und um die Wege, wie wir uns davon befreien können.

Zuerst werden wir uns also den verschiedenen Aspekten der emotionalen Abhängigkeit widmen. Wir werden die subtilen Mechanismen untersuchen, die uns dazu bringen, uns an Menschen zu klammern, uns an materielle Dinge zu binden und uns in bestimmten Tätigkeiten zu verlieren. Doch dieses Buch ist nicht nur eine Bestandsaufnahme der Probleme, es dient auch als ein Wegweiser zur emotionalen Freiheit.

Wir laden dich ein, Strategien und Übungen zu entdecken, die dir dabei helfen, dich von den Fesseln der Abhängigkeit zu lösen und ein eigenständiges Leben zu führen. Stell dich selbst wieder ins Zentrum deines Lebens, erkenne deine Bedürfnisse und setze deine eigenen Grenzen.

Im ersten Schritt lernst du, die Muster zu erkennen, die dich gefangen halten, und Werkzeuge zu finden, um dich von der emotionalen Abhängigkeit zu befreien. Im zweiten Schritt zeigen wir dir konkrete Strategien und Übungen, mit denen du deine eigene Stärke und Autonomie zurückgewinnen und ein Leben führen kannst, das auf deinen eigenen inneren Werten und Bedürfnissen basiert.

Herzlich

Heike Abt und Gert Kowarowsky

Freiheit und Verbundenheit

Wir Menschen werden als soziale Wesen geboren, denn nur in Gruppen konnten und können wir überleben. Wir alle tragen seit jeher ein tiefes Bedürfnis nach Bindung und Interaktion mit anderen in uns.

Es ist in unserer DNA verwurzelt und geht weit über die bloße Notwendigkeit des Überlebens hinaus: Wir sehnen uns regelrecht nach Verbundenheit, nach dem Gefühl, dass wir Teil einer Gemeinschaft sind, die uns unterstützt, versteht und annimmt.

Schon von Geburt an suchen wir nach der Nähe und dem Trost unserer Eltern oder Bezugspersonen. Wir entwickeln enge Bindungen, die uns Sicherheit und Geborgenheit bieten, und knüpfen im Laufe unseres Lebens Freundschaften, Partnerschaften und andere zwischenmenschliche Beziehungen, die uns auf vielfältige Weise bereichern.

Durch den Austausch mit anderen Menschen können wir unsere Gedanken teilen, unsere Gefühle ausdrücken und unsere Erfahrungen gemeinsam reflektieren. So entsteht ein Raum des Verstehens und der Unterstützung, in dem wir uns gegenseitig ermutigen, wachsen und entfalten können. Die Interaktion mit anderen eröffnet uns die Möglichkeit, uns selbst besser kennenzulernen. Die Gesellschaft anderer Menschen ist wie ein Spiegel – hier können wir unsere Stärken und Schwächen erkennen, unsere Sichtweise erweitern und uns weiterentwickeln. Es ist der soziale Kontext, der uns hilft, unsere Identität zu formen und uns in der Welt zurechtzufinden.

Verbundenheit erfüllt ganz unterschiedliche Aufgaben:

•Befriedigung von emotionalen Bedürfnissen: Verbundenheit gibt uns das Gefühl von Geborgenheit, Sicherheit und Zugehörigkeit. Wir fühlen uns unterstützt und verstanden, wenn wir in der Nähe von Menschen sind, mit denen wir uns verbunden fühlen.

•Reduktion von Stress: Wenn wir das Gefühl haben, Teil einer Gemeinschaft oder eines Netzwerks zu sein, können wir uns entspannen und uns auf die positiven Aspekte des Lebens konzentrieren.

•Unterstützung in schwierigen Zeiten: Eine starke soziale Unterstützung kann uns in schweren Zeiten motivieren und helfen, diese Situationen zu überstehen.

•Verbesserung der psychischen Gesundheit: Menschen, die sich verbunden fühlen, sind in der Regel glücklicher, zufriedener und haben ein höheres Selbstwertgefühl. Sie fühlen sich aufgehoben und wissen, wo sie hingehören.

Kurzum: Ohne andere Menschen können und wollen wir nicht sein. Wir müssen mit anderen verbunden sein, um ein erfülltes und zufriedenes Leben zu führen – Verbundenheit ist ein Grundbedürfnis. Dieses Grundbedürfnis steht jedoch oft in Konflikt mit einem anderen – dem nach Freiheit. Wir alle müssen für uns ganz persönlich eine Balance zwischen diesen beiden Polen finden: Verbundenheit auf der einen Seite, Freiheit auf der anderen. Wo genau wir zwischen diesen beiden Polen stehen, hängt von unserem individuellen Bindungsverhalten ab und kann sich von Mensch zu Mensch stark unterscheiden.

Mit wem hast du enge Verbindungen mit deinem Leben? Und welchen Stellenwert haben deine persönlichen Beziehungen für dich?

Um eine Balance zu finden, müssen wir uns bewusst sein, dass beide Bedürfnisse wichtig sind – hier gibt es kein Entweder-oder. Die Aspekte in Einklang zu bringen, erfordert ein hohes Maß an Selbstreflexion – es kann bedeuten, Kompromisse einzugehen und Verhaltensweisen zu ändern, um in Verbundenheit mit anderen unsere Gemeinschaft hinreichend frei gestalten zu können.

Freiheit ist der Zustand, in dem jemand frei von bestimmten persönlichen oder gesellschaftlichen Bindungen oder Verpflichtungen ist, die als Zwang oder Last empfunden werden. Freiheit ist ein Gefühl der Unabhängigkeit und in Entscheidungen nicht eingeschränkt zu sein.

Verbundenheit bedeutet in ihrer gesündesten Form, sich frei zu fühlen innerhalb selbst gewählter Verbindungen – zu spüren, ein Teil des Ganzen zu sein und das Ganze als unterstützend für das Eigene zu erleben.

Um besser zu verstehen, wie diese beiden Dinge zusammenspielen, nehmen wir uns am besten ein Wertschätzungsquadrat nach Schulz von Thun zu Hilfe.

Was assoziierst du mit Freiheit und Verbundenheit im positiven wie im negativen Sinne?

Durch diese Betrachtungsweise können wir die unterschiedlichen Seiten von Freiheit und Verbundenheit verdeutlichen. Es zeigt sich, dass Freiheit auf der positiven Seite Begriffe wie Selbstverwirklichung oder Entfaltung bedeuten kann, auf der negativen Seite aber auch Isolation und Einsamkeit. Verbundenheit wiederum können wir auf der positiven Seite mit Wärme und Fürsorge assoziieren, auf der negativen Seite eher mit Verpflichtung und Einengung.

Wo genau wir unsere eigenen Schwerpunkte setzen, hängt von unserer Persönlichkeit und unserer Biografie ab. Hast du Lust, jedes Wochenende auf eine große Familienfeier zu gehen oder verbringst du deine freie Zeit lieber in Ruhe? Kannst du dir vorstellen, alle deine Zelte abzubrechen und in ein dir fremdes Land auszuwandern, wo du niemanden kennst?

Wie du persönlich über diese Fragen denkst, ist stark davon geprägt, wo du deine eigenen Schwerpunkte im Rahmen des Quadrates setzt. Es hängt ganz von deiner Persönlichkeit und deinen Erfahrungen ab, wie du Freiheit und Verbundenheit wahrnimmst: In welchem Umfeld bist du aufgewachsen, welchen Job führst du aus, wie sieht deine private Situation aus?

Darüber hinaus ist die Wahrnehmung von Freiheit und Verbundenheit auch immer kulturell geprägt: Was als erstrebenswert gilt, variiert zwischen unterschiedlichen Kulturkreisen. In Westeuropa etwa wird Freiheit vergleichsweise höher bewertet als in Südeuropa oder in vielen asiatischen Ländern. Westeuropäisch sozialisierte Personen sind stark auf persönlichen Freiraum und Selbstverwirklichung ausgerichtet. In eher auf das Kollektiv, die Gruppe oder die Familie ausgerichteten Kulturkreisen dagegen könnte diese individualistische Art der Selbstentfaltung auch als Egoismus und/oder Isolation ausgelegt werden. Auch wenn jede und jeder von uns eigene Vorstellungen von Freiheit und Verbundenheit hat, bewegen wir uns dennoch immer in unserem kulturell geprägten Rahmen.

Jedoch selbst dann, wenn unser persönlicher Schwerpunkte auf der Seite der Verbundenheit liegt, sind wir noch lange nicht von einer emotionalen Abhängigkeit betroffen. Denn Verbundenheit (ohne die der Mensch nicht leben kann) und Abhängigkeit sind sehr unterschiedliche Dinge.

Abhängigkeit bedeutet, ohne etwas nicht mehr leben zu können oder einen zwanghaften Drang zu verspüren, ein bestimmtes Verhalten auszuüben. Unterschieden wird zwischen stoffgebundener Abhängigkeit (etwa von Alkohol oder Medikamenten) und nicht stoffgebundener Abhängigkeit (etwa von Spielen oder Kaufen). Wer von etwas abhängig ist, richtet das gesamte Verhalten, oft sogar das ganze Leben, daran aus, dieses spezifische Verlangen zu stillen. So kann etwa ein übermäßig starkes Bindungsverhalten dazu führen, dass sich Menschen zu sehr an andere klammern und Schwierigkeiten haben, unabhängig zu sein.

Abhängigkeit oder Sucht?

Wenn wir von Abhängigkeit sprechen, gelangen wir irgendwann auch zum Thema Sucht. Beides ist eng verwandt, aber dennoch zu unterscheiden. Abhängigkeit bezeichnet nur die gefühlte Notwendigkeit, eine bestimmte Substanz zu konsumieren oder ein Verhalten auszuführen. Sucht geht noch einen Schritt weiter und ist durch chronisches, oft sogar schädliches Verhalten gekennzeichnet.

Süchtige haben ein übermäßiges Verlangen nach etwas und die Tendenz, den Konsum oder ihr Verhalten immer weiter zu steigern. Der überwiegende Teil des Verhaltens richtet sich darauf aus, die Substanz oder den Verhaltensbereich zu bekommen oder sich davon zu erholen. Werden Süchtige daran gehindert, ihr Verlangen zu stillen, kommt es zu Entzugserscheinungen.

Wenn wir also über emotionale Abhängigkeiten sprechen, müssen wir immer im Hinterkopf behalten, dass der Mensch nach Verbundenheit strebt. Denn dieses tief verwurzelte Bedürfnis nach Bindung und zwischenmenschlicher Nähe kann zu ungesunden Dynamiken führen, in denen wir uns übermäßig an andere Menschen, Dinge oder Tätigkeiten klammern. Emotionale Abhängigkeiten entstehen oft dann, wenn wir unsere eigene innere Stärke und Unabhängigkeit vernachlässigen. Anstatt Selbstliebe, Selbstachtung und Selbstwert zu entwickeln, suchen wir verzweifelt nach Bestätigung und Erfüllung im Außen – und vergessen, wer wir selbst sind.

Lerne dich selbst kennen

Wir alle haben uns wahrscheinlich schon einmal gefragt: Wer bin ich? Und warum bin ich eigentlich die Person, die ich bin? Ich bin eine Frau. Ich bin Juristin. Ich bin Handballer. Ich bin Vater von … Ich bin Europäerin. Ich bin homosexuell. Auf die Frage nach der eigenen Identität haben die meisten von uns zumindest auf den ersten Blick unterschiedliche Antworten. Bei genauerer Betrachtung haben diese Aussagen alle eines gemeinsam: Sie beziehen sich meist auf etwas Anderes, Äußeres, Abgrenzendes – etwas Vergleichbares. Wenn wir über uns selbst sprechen, setzen wir uns zu anderen in Relation.

Ein Ich ist ohne die anderen nicht denkbar, denn wir definieren uns immer im Vergleich und in Abgrenzung zu anderen. Im Laufe unserer Identitätsentwicklung stellen wir automatisch und unbewusst diese Fragen:

•Wer sind die anderen?

•Wo gleiche ich den anderen?

•Wo unterscheide ich mich von anderen?

Mit den Antworten auf diese Fragen entsteht unsere persönliche Ich-Identität. Früher ging man davon aus, dass sich Identität und Persönlichkeit im Jugendalter formen. Mittlerweile ist klar, dass es sich bei der Identitätsbildung um einen lebenslangen Prozess handelt. Zwar haben vor allem Lebensereignisse im frühen Erwachsenenalter einen großen Einfluss auf die Identität – etwa das Ergreifen eines Berufs oder die Gründung einer Familie – aber auch früher und später finden lebensbestimmende Ereignisse statt, etwa die Geburt eines Geschwisterkinds, die Geburt eines Enkelkinds oder der Eintritt in den Ruhestand. Im Grunde genommen sind wir niemals damit fertig, wir selbst zu werden, denn unsere Identität ist wandelbar und reagiert auf Einflüsse von außen. Wir feilen beständig an unserem Ich-Bild, ergänzen, formen und gleichen ab.

Unser Ich-Bild ist auch immer kulturell beeinflusst – die Ausprägung unserer Persönlichkeit ist eingegliedert in die kulturellen Denk-, Fühl- und Handlungsweisen, in denen wir aufgewachsen sind. In der Familie, im Kindergarten, in Schule und Ausbildung werden wir ganz unbewusst hineinerzogen in bestimmte kulturelle Regeln, etwa wie wir miteinander reden sollten („Lass mich aussprechen!“), wie wir uns fühlen sollten, wenn wir einen Fehler gemacht haben (schuldig) und wie körperlich nah wir uns kommen dürfen. Dieser Prozess heißt Enkulturation. Alle Menschen entwickeln ihren sogenannten Charakter, ihre Vorlieben und Talente also nicht nur aufgrund ihrer angeborenen Eigenschaften, sondern auch als Mitglieder einer Gruppe, in der bestimmte Normen und Werte gelten. So haben auch kulturelle Regeln Einfluss darauf, wie eine Person zu den Bedürfnissen Verbundenheit und Freiheit steht – und damit einen Einfluss auf die Zusammensetzung der Ich-Identität.

Du bist ein Puzzle

Willst du nun eine Antwort geben auf die Frage „Wer bin ich?“, dann wird dir dafür wahrscheinlich keiner der oben genannten Drei-Wort-Sätze reichen. Denn du bist mehr als eine Frau, eine Juristin, ein Handballer, Vater oder homosexuell – du hast viele Facetten! Deine Identität kannst du dir vorstellen wie ein Puzzle, das sich aus unterschiedlich großen Teilen zusammensetzt. Je größer ein Puzzleteil ist, desto stärker ist dieser Aspekt deiner Identität ausgeprägt. Die Puzzleteile können so vielfältig wie das Leben sein: „zuverlässiger Freund“, „gute Tochter“, „Vater“, „Chefin“ – viele Aspekte setzen das Puzzle einer Person zusammen.

Diese Identitätsanteile entstehen auf viele unterschiedliche Arten: Sie können in unserer Persönlichkeit begründet sein, über Gruppenzugehörigkeit entstehen oder über spezifische Interessen und Talente ausgebildet werden. Über die Jahre kommen immer wieder Aspekte hinzu, andere fallen weg – „Mutter“ oder „Vater“ etwa ist man ja nicht von Geburt an, auch einen Beruf ergreift man später im Leben und man kann ihn wechseln.

Die Frage ist: Was geschieht, wenn uns eines dieser Puzzleteile abhandenkommt oder weggenommen wird? Ist es so groß, dass wir dann unser eigenes Bild nicht mehr erkennen können? Oder können wir trotz des leeren Flecks noch sagen, wer wir selbst sind? Kann vielleicht der nun freie Bereich neu befüllt werden und so ein wichtiger Teil meiner positiv veränderten Ich-Identität?

Wenn wir hier im Bild des Identitäts-Puzzles denken, wird relativ schnell klar: Je mehr Teile dieses Puzzle hat, desto besser können fehlende, weggenommene oder zerstörte Teile ausgeglichen werden – denn desto stabiler ist die Identität einer Person im Ganzen.

Manchmal konzentrieren wir uns eine Zeitlang im Leben verstärkt auf nur einen Bereich des Puzzles. Haben sie nicht automatisch das Nachsehen, wenn sie vernachlässigt werden? So kann es passieren, dass wir vor lauter Eltern-Sein unseren Anteil „beste Freundin“ oder „bester Freund“, „fitte Sportlerin“ oder „fitter Sportler“ nicht pflegen. Wir haben einen tollen, aber fordernden Job und füttern unser „Karriere“-Puzzleteil, vergessen dabei aber „Tochter“ oder „Sohn“, „Partner“ oder „Partnerin“ zu sein. Bestimmte Puzzleteile unseres Ich-Bildes sind dann besonders groß und drücken andere an den Rand. Das ist vollkommen normal und darf so sein. Wir sollten allerdings immer wieder bewusst darauf achten, dass alle Teile unseres Puzzles ihren nötigen Raum bekommen – sonst ist die Gefahr groß, dass wir uns ausschließlich nur über einen Bereich unseres Lebens definieren. Sollte dieser Bereich durch besondere Umstände jedoch wegfallen, dann würde eine ganze Ich-Identität gefährlich ins Wanken geraten.

Schwierige, identitätsverändernde Ereignisse können jederzeit im Leben stattfinden. Mögliche Gründe, warum sich die Zusammensetzung des Puzzles ändern kann, sind etwa:

•Umzug/Verlust der Wohnumgebung

•Tod einer nahestehenden Person

•Wechsel/Verlust der Arbeitsstelle

•Geburt eines Kindes

•Ende einer Beziehung/Scheidung

•Unfall/schwere Krankheit

•Folgen von Naturkatastrophen

•Schwere Niederlagen in relevanten Bereichen

•und vieles mehr

Es kann auch sein, dass sich nicht die äußeren Umstände ändern, sondern unsere innere Einstellung zu bestimmten Lebensbereichen. Vielleicht haben wir einen Job, sind aber unzufrieden damit. Wir sind in einer langjährigen Partnerschaft, aber leben aneinander vorbei. Wir haben Kinder, aber uns erfüllt die Elternrolle einfach nicht so wie erwartet – wir sehnen uns nach etwas anderem. Oder wir verschieben unsere Prioritäten und möchten anderen Puzzleteilen mehr Raum geben.

Fällt aber plötzlich – und vielleicht auch ungewollt – ein großer Bereich unseres Puzzles einfach weg, erkennen wir uns manchmal selbst nicht. Wir fühlen uns leer und wertlos, ein Teil unserer Identität scheint verloren und der entstandene Freiraum ist noch nicht ausgefüllt. Wir wissen nicht mehr, was uns ausmacht und wer wir sind – und das kann eine große Krise auslösen. Einige Beispiele dafür sind die folgenden:

Das Empty-Nest-Syndrom

Viele Eltern empfinden Trauer, Einsamkeit, Verlust und Unsicherheit, wenn ihre Kinder erwachsen werden, das elterliche Zuhause verlassen und ein eigenes Leben beginnen. Es kann auch auftreten, wenn die Kinder für längere Zeit von zu Hause weg sind, zum Beispiel für Studienaufenthalte oder eine längere Reise. Die Symptome reichen von Traurigkeit und Weinen wegen der Abwesenheit der Kinder bis hin zu körperlichen Beschwerden wie Schlaflosigkeit und Magen-Darm-Problemen.

Das Empty-Nest-Syndrom kann sowohl von Müttern als auch von Vätern erlebt werden und tritt in der Regel auf, wenn Eltern jahrelang für ihre Kinder gesorgt haben und sich plötzlich ohne diese Verantwortung wiederfinden. Es kann auch mit dem Alterungsprozess der Eltern und der räumlichen Entfernung zu ihren Kindern in Zusammenhang stehen.

Ruhestandskrise/Ruhestandsdepression

Auch die Leere nach Renteneintritt hat einen eigenen Namen: Sie wird oft als Ruhestandsdepression oder Ruhestandskrise bezeichnet. Ähnlich wie beim Empty-Nest-Syndrom fühlen sich viele Menschen nach dem Eintritt in den Ruhestand leer, verloren oder unsicher hinsichtlich ihrer Identität und ihres Lebenssinns, insbesondere wenn sie sich zuvor stark mit ihrer Arbeit identifiziert haben. Das kann sich in Symptomen wie Traurigkeit, Langeweile, Einsamkeit, Schlaflosigkeit oder körperlichen Beschwerden äußern.

Ehemalige Leistungssportler oder -sportlerinnen

Nicht weniger einschneidend ist der Wechsel von der aktiven Phase im Leistungssport zur alters- oder verletzungsbedingten Phase passiver oder nur noch eingeschränkt aktiver Sportausübung. Neben nachvollziehbaren depressiven Reaktionen finden sich auch Beispiele ehemals erfolgreicher Sportlerinnen und Sportler, die dann eine neue identitätsstiftende Aufgabe für sich finden: Viele geben ihr Wissen und ihre Erfahrungen an die noch aktiv Sporttreibenden weiter und trainieren diese, andere nutzen ihren Promistatus, um Stiftungen zu gründen oder für bestimmte Werte einzutreten.