Emotionale Gleichgewichtsstörung - Jürgen Wiebicke - E-Book

Emotionale Gleichgewichtsstörung E-Book

Jürgen Wiebicke

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Beschreibung

Wie vermeidet man, dass globale Krisen nicht zu persönlichen Krisen werden? Jürgen Wiebicke beschreibt in diesem Buch, wie wir mithilfe der Philosophie den emotionalen Schwindel überwinden. Wir erleben gerade vielfältige Krisen: vom Krieg in Europa über die Klimakatastrophe bis hin zu den Folgen der Pandemie. Das alles wirkt sich auf unser Lebensgefühl aus. Viele Menschen sehen ihre Komfortzone und ihr privates Leben von allen Seiten bedroht, was Gefühle wie Angst, Wut und Hilflosigkeit hervorruft.  Die Philosophie hatte gerade in Krisenzeiten ihre Sternstunden, und Jürgen Wiebicke analysiert mithilfe der großen Denkerinnen und Denker wie Montaigne, Arendt, Jaspers und Sartre unsere heutige Situation. Ein tröstliches Buch, das zeigt, dass es ein Mittel gibt gegen die Angst: das Denken. 

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Jürgen Wiebicke

Emotionale Gleichgewichtsstörung

Kleine Philosophie für verrückte Zeiten

Kurzübersicht

Buch lesen

Titelseite

Über Jürgen Wiebicke

Über dieses Buch

Inhaltsverzeichnis

Impressum

Hinweise zur Darstellung dieses E-Books

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Über Jürgen Wiebicke

Jürgen Wiebicke lebt als freier Journalist in Köln. Seit 16 Jahren moderiert er wöchentlich »Das philosophische Radio« auf WDR 5. Sein Buch »Dürfen wir so bleiben, wie wir sind? Gegen die Perfektionierung des Menschen – eine philosophische Intervention« erschien 2013. 2016 »Zu Fuß durch ein nervöses Land – auf der Suche nach dem, was uns zusammenhält«, 2017 »Zehn Regeln für Demokratie-Retter« sowie 2021 »Sieben Heringe«. Er gehört zu den Programm-Machern der phil.Cologne, des Internationalen Festivals der Philosophie.

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Über dieses Buch

Wir erleben gerade vielfältige Krisen: vom Krieg in Europa über die Klimakatastrophe bis hin zu den Folgen der Pandemie. Das alles wirkt sich auf unser Lebensgefühl aus. Viele Menschen sehen ihre Komfortzone und ihr privates Leben von allen Seiten bedroht, was Gefühle wie Angst, Wut und Hilflosigkeit hervorruft.

 

Die Philosophie hatte gerade in Krisenzeiten ihre Sternstunden, und Jürgen Wiebicke analysiert mithilfe der großen Denkerinnen und Denker wie Montaigne, Arendt, Jaspers und Sartre unsere heutige Situation. Ein tröstliches Buch, das zeigt, dass es ein Mittel gibt gegen die Angst: das Denken.

Inhaltsverzeichnis

Widmung

Motti

Der Wunsch nach Rückzug

Eine Zeit für Eulen

Doch kein Ende der Geschichte

Kapitalismus als totales System

Hört der Kapitalismus niemals auf?

Die Genialität des Kapitalismus

Das Zeitalter der Trennungen

Solastalgie – wie wir von einem neuen Lebensgefühl erfasst werden

Ich und mein Platz in dieser Welt

Das rätselhafte Menschentier

Ein neues Erdzeitalter?

Zwei Schritte vor, ein Schritt zurück?

Existenzialistisch denken lernen

Heiter bleiben, skeptisch bleiben

Leben heißt Sterben lernen

Wie uns Grenzerfahrungen verändern

Kein Leben ohne Angst

Jedem seine eigene Angst

Die Stunde des Zwanghaften

Vom Umgang mit Nichtwissen

Abrüsten im Meinungsstreit

Lob des Kleinen

Wenige bewirken viel

Freiheit und Verantwortung

Eine Wette auf Hoffnung und Zuversicht

Literaturhinweise

Für Anke, mit der ich das Gefühl teile, dass wir gerade dabei sind, alles, was wir haben, auf einen dreibeinigen Esel zu verwetten

»Aber ist es der richtige Zeitpunkt?«

»Um das zu entscheiden, müsste man wissen, in welcher Zeit wir leben.«

Stephan Thome: Gott der Barbaren

Wird es mir gelingen, mich von meinem früheren Leben – von meinem in seiner Welt festgefahrenen Leben – zu lösen, um einen neuen Tag zu beginnen? Oder um die Bedingung dieser Frage zu erhellen: Bin ich heute so weit gekommen, mir mein vergangenes Leben zunutze zu machen, indem ich darauf zurück-komme und mich davon absetze, mein Leben nicht mehr zu wiederholen, sondern es »wiederaufzunehmen«, um mein Leben reformieren und endlich damit beginnen zu können, wirklich zu »existieren«?

François Jullien: Ein zweites Leben

Der Wunsch nach Rückzug

Manchmal möchte man sich wie Montaigne in einen Turm zurückziehen, der Welt den Rücken kehren und in Ruhe über alles nachdenken. So viel Stoff hat sich angesammelt, der unverstanden ist und neu bedacht werden muss! So viel Ermüdung, Überreizung, Zukunftssorge! So viel Wehmut auch beim Abschied von einstigen Gewissheiten, so viel Sehnsucht nach der Welt von gestern. Dass die so gern als heil verklärte Welt von einst inzwischen aus den Fugen geraten ist, gehört zu den wenigen Formeln, auf die sich die meisten von uns mühelos verständigen können, aber was daraus folgt, auch als mentale Überlebensstrategie für den Einzelnen, ist vollkommen unklar. Wir erleben gerade eine »Zeitenwende«, heißt es jetzt an jeder Ecke. Es gibt also bereits ein Wort, das das Unbehagen zu fassen versucht. Und dazu ein Bild, wie es Bundespräsident Steinmeier gewählt hat: Es beginne jetzt eine »Epoche im Gegenwind«. Aber auf den Begriff gebracht ist damit noch gar nichts. Warum gelingt das derzeit nicht? Ganz einfach, weil wir das Neue noch gar nicht erkennen, es so zeitig nicht erkennen können, nicht einmal schemenhaft. Dieser Gegenwind beschert keine klare Sicht, sondern zunächst reichlich Nebel. Wer jetzt weit vorauszublicken versucht, scheitert an der eigenen Ungeduld. Viel wäre dadurch gewonnen, sich dies immer wieder neu einzugestehen. Das bewahrt einen vor neuen voreiligen Gewissheiten und davor, denen auf den Leim zu gehen, die ein neues Zeitalter so präsentieren, als wäre es ein ferner Planet, den sie selbst längst bereist hätten, und als könnten sie daher alle kommenden Überraschungen vorweg ausplaudern. Wenn Krise herrscht und es an Orientierung fehlt, schlägt oft die Stunde der Trend- und Zukunftsforscher mit ihren Prophetien per Powerpoint. Von den radikalen Vereinfachern aus den diversen Lagern des Populismus ganz zu schweigen, die eigenen Durchblick vorgaukeln. Tatsächlich aber sammeln wir derzeit vor allem fleißig eins: Nichtwissen. Wir sind in vielerlei Hinsicht ahnungs- und zugleich ratlos, und ich meine, wir dürfen es auch sein.

 

So ähnlich erging es seinerzeit, in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts, dem Philosophen Michel de Montaigne, als er sich mit 38Jahren in einem Zustand der Depression in besagten Turm zurückzog, um den Wirren seiner Zeit zu entfliehen und das sichere Abseits als Ort der seelischen Ruhefindung zu nutzen. »Was weiß ich denn?«, war eine seiner Leitformeln, mit deren Hilfe er die Tugend der Skepsis kultivieren wollte, um sich selbst vor allzu steilen Überzeugungen zu bewahren. Eine Meinung zu haben, ist nämlich ziemlich leicht. Er hingegen wollte sich bemühen, nicht dauernd so zu tun, als hätte man immer den Durchblick, am Ende gar als Einziger, und nur die anderen wären stets die Dummen. Mit dieser Haltung der Selbstbescheidung konnte er dann auch irgendwann wieder hinaus in die Welt. Montaignes Rückzug war auch nur vorübergehend, wohlgemerkt, denn auf Umbrüche mit Teilnahmslosigkeit und Weltflucht zu reagieren, das sah er sehr klar, trägt auf Dauer nicht. Ausgerechnet in historischen Phasen, die Gefühle der Ohnmacht und des Ausgeliefertseins in geradezu pandemischem Ausmaß hervorrufen, wächst paradoxerweise die Bedeutung und somit auch die Verantwortung einzelner Individuen, auf die es ankommt, und schrumpft gleichzeitig das Vertrauen in Institutionen, dass sie dauerhaft die so sehr ersehnte Stabilität garantieren können. Wenn der Staat erkennbar schwächelt und Infrastruktur auf einmal »kritisch« genannt wird, wenn Parteien, Gewerkschaften, der öffentlich-rechtliche Rundfunk, Vereine, Kirchen und viele zivilgesellschaftliche Initiativen, also all jene Kräfte, auf die eine lebendige Demokratie so sehr angewiesen ist, sich gleichzeitig mit Bangen die Zukunftsfrage stellen müssen, weil es in ihrem Gebälk knirscht, entscheidet sich vieles durch kluges oder unkluges Handeln von Einzelnen. Sie sind es, an denen eine Gesellschaft im Stresszustand gesunden kann. Freilich müssen sich die Subjekte selbst erst einmal wieder geistig neu sortieren, das fällt derzeit so schwer, weil in Krisenzeiten Bindungen gelöst werden, die lange getragen haben. Und jeder Einzelne ist vor die Wahl gestellt: Möchte ich Verantwortung übernehmen, oder nehme ich lieber auf der Zuschauertribüne Platz?

 

Diese wachsende Bedeutung von Individuen im Krisenmoment erkannte auch Montaigne, als er dabei zusehen musste, wie sich jegliche staatliche Ordnung auflöste. Er verließ seinen Turm wieder und versuchte Einfluss darauf zu nehmen, dass das gesellschaftliche Chaos nicht noch wuchs. Gleichwohl war die Zeit der Besinnung im Turm für ihn wichtig. Vielleicht können wir dies heute von ihm lernen: Rückzüge auf Zeit und Teilhabe schließen einander nicht prinzipiell aus. Wir heute sind sogar gefordert, beides häufig an ein und demselben Tag so gut es geht miteinander zu vereinbaren, weil unser Leben viel beschleunigter abläuft als zu den Zeiten von Montaigne. Folglich wird es zum alltäglichen Balanceakt, sich um beides zu kümmern: die Sorge um sich selbst und die Sorge um das große Ganze. Eine halbe kostbare Stunde im Turm, und dann schon wieder zurück ins Getümmel. Schwierig und fordernd, ohne Zweifel, aber man kann sich ja nicht aussuchen, in welche Zeit und damit in welche Aufgabenstellung man hineingeworfen wird. Sie annehmen zu können, ohne dauernd zu hadern, darin besteht die persönliche Prüfung.

Jedenfalls wird jetzt das Leben der meisten, nachdem sie eine lange Wegstrecke in einer wattierten Zone der Sicherheit und des Wohlstands verbracht haben, also in einer historisch beispiellosen Ausnahmesituation langer Windstille, anstrengender und auch ernster. Ironie oder gar Zynismus verlieren als Grundhaltung zur Welt an Boden, erstarren zur bloßen Attitüde von denjenigen, die meinen, sich mit solchen Instrumenten das Ärgste vom Hals halten zu können. Umso wichtiger, die Freuden des Lebens nicht aus dem Blick zu verlieren, um seelisch stabil zu bleiben oder es erst wieder werden zu können. Ohne ein gewisses Maß an Lebenskunst wird es schwierig werden, sich selbst durch das, was kommt, hindurchzunavigieren.

Wir können derzeit nicht wissen, wie lange diese herausfordernde Situation eines Lebens in einer nicht enden wollenden Schleife aus lauter Krisen anhalten wird. Es ist schon bemerkenswert, wie oft in Gesprächen, wie wir sie derzeit führen, das Bild vom Tunnel auftaucht, dessen Ende nicht in Sicht ist. Oder das vom Boden, der unter unseren Füßen schwankt. Die Vorstellungskraft, dass es nicht nur immer schlimmer, sondern vielleicht auch besser als erwartet kommen kann, scheint vollkommen abhandengekommen zu sein.

Dabei sind wir doch so sehr auf die Wirkung von Imagination angewiesen, wenn wir die Verhältnisse irgendwann wieder zum Tanzen bringen wollen. Jeder Fortschritt in der Menschheitsgeschichte beruhte auf dieser Kraft der Imagination, der Fähigkeit, über das, was ist, hinausdenken zu können. Menschen streben nach etwas, vor allem das Streben nach Wissen gehört zu ihrer Natur, sie wollen nicht einfach nur stillstehen und das Erreichte konservieren. Sonst würden sie geistig vertrotteln. Diese Einsicht von Aristoteles, der es ein wenig vornehmer ausdrückte, gilt es heute wieder fruchtbar zu machen, damit wir uns nicht in einer falschen Behaglichkeit einrichten, als ob es nach uns nichts Interessantes mehr zu entdecken gäbe und wir allenfalls zu verlieren hätten. Damit wir nicht so ignorant leben wie der »letzte Mensch«, so Friedrich Nietzsches verächtliche Formulierung für die Sozialfigur des Spießers im »Zarathustra«. Eine alleinige Fixierung auf das Dunkle, Instabile und Bedrohliche, wie sie derzeit vorherrscht, können wir uns auf Dauer nicht erlauben, ohne selbst dunkel und seelisch instabil zu werden, sonst schwindet jegliche Zuversicht, die eigene Welt nicht nur ertragen, sondern auch gestalten zu können. »Wir schaffen das nicht«, ist als ständig vernehmbarer kollektiver Stoßseufzer in seiner Wirkung gefährlich, weil aus ihm rasch eine sich selbst erfüllende Prophezeiung werden kann. Allein deshalb ist chronischer Pessimismus so etwas wie eine Todsünde. Er hat sich leider längst in unsere Gesellschaft hineingefressen und seine lähmende Wirkung entfaltet. Zur Wahrheit gehört allerdings auch, dass sich die Gelegenheiten vermutlich häufen werden, bei denen wir still denken mögen, all die Krisen seien für uns gar nicht zu schaffen. Dies auszuhalten, temporäre Erfahrungen von Formen der Verzweiflung durchleben zu müssen, ohne in einen Zustand der Lähmung und Traurigkeit zu versinken und andere mit hineinzuziehen, gehört zu dem anspruchsvollen Seiltanz, den wir wohl noch auf längere Sicht werden meistern müssen. Wenn die Zuversicht schwindet, geraten wir in emotionale Gleichgewichtsstörungen, die sowohl individuell als auch kollektiv riskant sind.

 

Um an dieser Stelle vom Wir ins Ich zu wechseln: Ich weiß, dass mich auch künftig Traurigkeit überfallen wird, wenn ich beispielsweise beim Anblick zerstörter Natur einer Wucht des Entsetzens ausgesetzt bin, die mich klein macht und düster werden lässt. Oft denke ich dann, dass ich es nicht mehr erleben werde, dass dieser Ort wieder heile wird. Diesen Wald, wie ich ihn seit Kindheitstagen kannte, der einen besonderen Zauber für mich besaß, von dem aber nun nur noch ein Stück tote Mondlandschaft geblieben ist, werde ich nicht wiedersehen. Die Erholung dieser Landschaft dauert lange, aber meine Zeit auf diesem Planeten ist knapp. Diese Erkenntnis schlug ein wie ein Blitz. Aber das Wissen darum, dass mir solche Erfahrungen auch künftig bevorstehen werden, kann mich vielleicht wappnen. Ich weiß, dass ich anschließend gezielt nach der entgegengesetzten Erfahrung suchen muss, um zurück ins Gleichgewicht zu finden, nach Zeichen der Hoffnung, nach dem Guten im Kleinen. Und sei es im Frühling ein Tümpel mit Froschlaich, den ich als Zeichen deute, dass es auch neues Leben gibt. Das Kleine wird ohnehin immer wichtiger, wie wir noch sehen werden.

 

Man muss folglich kein Gutsherr wie Montaigne sein und im materiellen Sinne einen Turm besitzen. Die Fähigkeit, eine innere Burg zu bauen, die einen vor einem Übermaß an Negativität der Welt da draußen zu schützen vermag, kann jeder kultivieren. Voraussetzung dafür ist allerdings, dass man gewissermaßen in nähere Bekanntschaft mit sich selbst tritt, das Handwerk der Selbstbeobachtung und Selbstdistanzierung erlernt, also vertraut damit wird, eigene Emotionen zu deuten und zu lenken, und auch darüber Bescheid weiß, was wir von unseren Nächsten erwarten oder erhoffen dürfen, aber auch, womit wir sie besser verschonen sollten. Denn Gefühle der Angst, der Traurigkeit und der Wut, wie sie jetzt deutlich zutage treten, können hochansteckend sein und sich daher in ihrer Wirkung potenzieren. Gefühle wild wuchern zu lassen, kann genauso falsch sein wie der Wunsch, sie vor anderen zu verbergen und alles in sich hineinzufressen. Mal müssen wir zuallererst auf uns selbst aufpassen, mal auf die, die uns anvertraut sind. Ein Kunststück also, persönlich auf einem solch schmalen Grad unterwegs zu sein. Aber über diesen Grad müssen wir nun mal. Wie gesagt, man kann es sich nicht aussuchen, in welche Zeit mit ihren jeweils besonderen Turbulenzen man hineingeworfen wird. Und auch negative Emotionen können, wie wir noch sehen werden, ein Wegweiser zur Veränderung sein.

Eine Zeit für Eulen

Von der Eule der Minerva wissen wir, dass sie ihren Flug erst in der Dämmerung beginnt. Der Philosoph Georg Wilhelm Friedrich Hegel bemühte das bereits in der griechischen Antike berühmte Bild des Vogels, der für menschliche Weisheit steht, um darauf aufmerksam zu machen, dass wir nicht voreilig den Anspruch erheben sollten, bestimmte Entwicklungen, die sich erst andeuten, schon früh vermeintlich verstanden zu haben. Übermütige, besserwisserische Hähne krähen zwar schon früh am Morgen und wollen damit alle Aufmerksamkeit auf sich ziehen, aber die weise Eule kann warten, bis der Tag sich neigt. Erst wenn es allmählich dunkel wird, können wir das Vergangene erhellen, das ist die Paradoxie, für die die Eule mit ihrem grandiosen Rundumblick steht; die Weisheit kommt leider immer ein wenig zu spät. So richtig schlau aus allem können wir erst beim Blick in den Rückspiegel werden, wenn Krisen durchlebt sind.

Nun könnte man einwenden, dass in Hegels Eulen-Gleichnis etwas Verzagtes steckt, ein mutiger Blick nach vorn scheint hier unmöglich. Vor allem Utopisten haben ihm dies vorgeworfen, sie wollten sich nicht von einem so konservativen Tier mit Beharrungsvermögen, das abwartet, während die anderen drängen, an einem mutigen Zukunftsentwurf hindern lassen. Vielleicht können wir heute sagen, dass es gute Zeiten für Hähne und gute Zeiten für Eulen gibt, die jeweils eigene Antworten verlangen. Mal sind die Stürmer und Dränger in der Vorhand, die eine Idee davon haben, wie sich die bestehenden Verhältnisse zum Besseren wenden lassen, mal werden die Skeptiker lauter, die das Zögern und Zaudern in bestimmten Situationen für eine Tugend halten. Denn manchmal muss man auch warten können, bevor sich Gewissheit einstellt, anstatt sich in einfache Scheingewissheiten hineinzuflüchten. Geschichte wäre dann eine Wellenbewegung, in der sich Phasen des Reformeifers, des Aufbruchs, des Zukunftsoptimismus mit Phasen der Orientierungslosigkeit und auch des missmutigen Klammerns am Bestehenden ablösen. Pech für uns Ältere, dass wir uns zwar gut daran erinnern können, wie uns die Welle der Zuversicht seinerzeit nach oben trug, weil uns diese Welt zu gehören schien und morgen schon eine bessere werden würde, nun aber mit dem Gefühl leben, dass das Abebben gar nicht aufhören will. Etwas geht zu Ende, an das wir uns gewöhnt haben. Jetzt setzt die Dämmerung ein, und wir beginnen zu verstehen, was das genau war und was wir eher hätten verstehen sollen. Aber bis zum morgigen Tag reicht die Sicht noch nicht. Immerhin dürfen wir aber davon ausgehen, dass es ein Morgen geben wird, zumindest diese leise Zuversicht sollten wir uns bei aller Katastrophenstimmung ringsherum nicht abhandeln lassen. Das ist unsere Eulensituation.

 

Und die Jüngeren? Sie werden bereits »Generation Krise« getauft, was sich hoffentlich noch als voreilig erweisen wird, und haben leider noch gar keine Erfahrung damit sammeln können, was für ein euphorisches Gefühl es ist, unterstützenden Wind unter die Flügel zu bekommen von einer Gesellschaft, die der Zukunft zugewandt ist, weil sie von einem besseren Morgen überzeugt ist. Die Entdeckung des »Prinzips Hoffnung« als kollektiver Treiber steht ihnen noch bevor, das Mut zum Experiment verleiht und das Gegebene plötzlich alt aussehen lässt. Zuversicht ist ja genauso ansteckend wie Verdruss. Stattdessen hören sie immerzu das Gegenteil: Die fetten Jahre sind vorbei, ihr werdet Mühe haben, den gewohnten Standard eurer Eltern auch nur zu erhalten, geschweige denn zu heben. Und die Klimakrise wird erst so richtig schlimm, wenn eure Eltern nicht mehr da sind. Sie wird den Kampf um die besten Plätze auf diesem Planeten dramatisch verschärfen. Das war bislang der Soundtrack ihres Erwachsenwerdens. Kein Wunder, dass sich manche von ihnen als »Letzte Generation« empfinden und die eigene Traurigkeit oder gar Verzweiflung zur Basis ihres ersten politischen Handelns machen. Immerhin, sie entdecken die vermutlich für sie verblüffende, selbstermächtigende Wirkung von »Ich handle, also bin ich«. Sie probieren sich aus, sie gehen erste Schritte und können die Konsequenzen eigenen Tuns beobachten, anstatt bloß passiv zuzusehen, wie sich ihr Lebenshorizont immer weiter verdüstert. Ein Recht auf taktischen Irrtum haben sie allemal