Sieben Heringe - Jürgen Wiebicke - E-Book

Sieben Heringe E-Book

Jürgen Wiebicke

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Beschreibung

»Ich weiß, wie wenig selbstverständlich es ist, dass das Gespräch zwischen den Generationen am Lebensende glückt.«. Was wissen wir wirklich über das Leben unserer Eltern, der Kriegskinder? Wann ist der richtige Zeitpunkt, zum Archäologen des eigenen Lebens zu werden und die Eltern zu befragen? Jürgen Wiebicke folgt den Berichten seiner Eltern, die konfrontiert mit dem Tod von einer radikalen Offenheit getrieben sind und ihre Erlebnisse nicht mehr für sich behalten wollen. »Man hat den Tod eines Menschen mit dem Brand einer Bibliothek verglichen. Bestimmte Geschichten können anschließend nicht mehr erzählt werden. In dieser Hinsicht ist der Tod ein einziger Skandal, ein großer Vernichter.« Als sich für die Mutter von Jürgen Wiebicke das Lebensende abzeichnete, wollte er es besser machen als beim Tod des Vaters. Mit beiden führte er – in dieser Intensität zum ersten Mal – Gespräche über deren Leben und Erfahrungen, damit die Erlebnisse der Generation, die Krieg und Nationalsozialismus als Jugendliche miterlebt hat, nicht mit dem Tod verschwinden. Doch nur bei der Mutter schrieb er mit. Alles aufzuschreiben scheint besonders wichtig, weil die Geschichtsleugner und Hassbereiten wieder aus den Löchern kriechen, während die letzte Generation der Zeitzeugen abtritt. Liegt das auch daran, dass Zyklen von Krieg und Frieden mit verblassender Erinnerung zusammenhängen? Jürgen Wiebicke erzählt exemplarisch von einer Generation, die den Krieg mit voller Wucht abbekam, und zieht die Parallelen zur heutigen Zeit. Und er schreibt über das Sterben und den Tod in der heutigen Gesellschaft, für die der Umgang mit dem Thema Endlichkeit immer problematischer wird.

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Seitenzahl: 266

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Jürgen Wiebicke

Sieben Heringe

Meine Mutter, das Schweigen der Kriegskinder und das Sprechen vor dem Sterben

Kurzübersicht

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Inhaltsverzeichnis

Widmung

Sieben Heringe

Inhaltsverzeichnis

Meinen Kindern. Damit aus Erzählen Weitererzählen wird.

Inhaltsverzeichnis

Diesen ersten Satz schreibe ich viel zu spät. Ich hätte eher mit dem Aufschreiben beginnen sollen, habe kostbare Zeit vertrödelt, jetzt ist es ein Wettlauf gegen die gnadenlos tickende Uhr. Bevor mein letzter Satz geschrieben sein wird, wird sie tot sein, und dann verschwinden mit ihr all die unerzählten Geschichten. Ein Gedanke, der mich jeden Tag ein bisschen unruhiger macht, seitdem sie mit dem Erzählen angefangen hat, manchmal gar verzweifeln lässt. Besser gesagt, mit dem konzentrierten Erzählen, denn Anekdoten von früher hat sie schon immer gern zum Besten gegeben, und wie oft mochte ich sie nicht hören. Aber jetzt geht es ans systematische Aufräumen und Bilanzieren. Sie verhält sich gerade so, als stünde sie mit einer Schaufel vor einer Halde, die für einen Menschen viel zu hoch ist, und müsse versuchen, den Schutt abzutragen, um zum Wesentlichen vorzudringen. Und das findet sie bei sich fast immer in Kindheit und Jugend. Als ob danach nichts wirklich Wichtiges mehr passiert sei. Vielleicht ist es ja auch so, und wir verstehen das erst auf der letzten Wegstrecke. Aber das, was für sie wesentlich ist, ist es nicht unbedingt immer für mich. Oft wundere ich mich, warum ihr gerade diese Erinnerung erzählenswert erscheint, obwohl ich sie nur als lästigen Umweg empfinde. Dann suche ich nach einer Abkürzung, um die verschlungene Arabeske zu beenden, will ihr helfen, den Hauptfaden der Erzählung wieder aufzunehmen. Und schäme mich im selben Moment für meine eigene Ungeduld. Denn jedes Mal sind meine Interventionen Störungen ihres Erzählflusses. Ihr Tempo ist nicht mein Tempo. Die Erinnerung an lange Verschüttetes braucht ihren eigenen Rhythmus. Auch ist sie manchmal eigensinnig darin, bestimmten Ereignissen eine passende Jahreszahl zuzuordnen. Während sie erzählt, versuche ich meist innerlich abzugleichen, ob das, was sie sagt, historisch plausibel ist. Wenn ihre kleine biografische Geschichte mit der großen Geschichte kollidiert und ich Unstimmigkeiten bemerke, sanft zu korrigieren versuche, ist sie sich sicher, mit ihrer Version im Recht zu sein. Ihre Erinnerung ist eine feste Burg. Lange haben die Mauern gehalten. Aber jetzt will sie mich unbedingt hineinlassen.

Obwohl sie nie darüber spricht, spüre ich, dass sie sehr genau weiß, wie knapp ihre verbleibende Zeit ist. Jetzt ist es Anfang Oktober. Früher hätte sie um diese Zeit längst gefragt, ob wir wieder eine Ente für Weihnachten bestellen sollen. Seit vielen Jahren ein großes Thema in unserer Familie, das über Wochen immer wieder durchgesprochen werden will. Denn meine Eltern haben wohl in ihrem Leben noch nie eine Ente aus dem Supermarkt gegessen, haben Bio gekocht, lange bevor das Wort aufkam, und waren ihren Lebtag lang immer auf der Suche nach »Quellen«: Hobby-Geflügelzüchter, die ihre Tiere draußen frei herumlaufen lassen und in der Adventszeit selbst schlachten. Unsere Weihnachtsenten der vergangenen Jahre haben auf einer Wiese am Bach im Oberbergischen gelebt. Diesmal schweigt meine Mutter zu dem Thema, und auch ich vermeide es, sie darauf anzusprechen. Der Horizont unserer gemeinsam verbleibenden Zeit ist so sehr zusammengeschrumpft, dass ich nicht mehr zehn Wochen vorauszudenken wage. Wenn ich zu ihr hineinkomme in das Zimmer mit dem grünen Sessel, in dem sie so unglaublich ruhig sitzt, als ob sie für alle Zeiten dort sitzen würde, strahlt sie jedes Mal, hebt beide Arme, um mir zuzuwinken, mit zehn fröhlich flatternden Fingern, und hat mit der nächsten Geschichte bereits begonnen, bevor ich Platz genommen habe. Was ich dir unbedingt noch erzählen wollte … Sie verzichtet auf weitere Einleitungen, stürzt mitten hinein, benötigt für sich keinerlei Rechtfertigungen, warum diese Episode ausgerechnet jetzt erzählt werden muss. Oft brauche ich einen Moment, um zu verstehen, wie sich Zeit und Raum des gerade Geschilderten zu dem verhalten, was sie mir bislang mitgeteilt hat. Meine Mutter hat Bauchspeicheldrüsenkrebs. So ziemlich die fieseste Diagnose, die man sich vorstellen kann. Sie hat keine Chance, davonzukommen. Die Wahrscheinlichkeit, dass sie irgendwann von schlimmen Schmerzen geplagt sein wird, ist hoch. Ich weiß nicht, ob sie es weiß, und hüte mich davor, dies anzusprechen. Bloß keine Pferde scheu machen. Wenn es arg werden sollte, können wir nur auf die Möglichkeiten der Palliativmedizin hoffen. Oder auf ein schnelles Ende, wenn es so weit ist? Nein, nicht so weit vorausdenken, ermahne ich mich selbst, lieber nur von Tag zu Tag, das hat sich auch in früheren Krisen bewährt. Der Chefarzt eines Krankenhauses, in dem sie kurzzeitig gelegen hat, hat der 88-Jährigen, die sich nur noch mühsam auf Krücken bewegen kann, allen Ernstes eine sehr risikoreiche fünfstündige Operation vorgeschlagen. Die Frage, ob sie danach jemals wieder die Kraft haben würde, das Bett zu verlassen, hat ihn nicht richtig interessiert. Mein verstorbener Vater war in seinem zweiten Leben, nach der Vertreibung aus dem Osten und dem erzwungenen Ende seiner bäuerlichen Existenz, ein kleiner Postbeamter, wie er es selbst immer formuliert hat, deshalb ist meine Mutter, die eine klassische Hausfrauenehe geführt hat, über ihn nach wie vor privat versichert. Der massive Eingriff könnte sich also lohnen, aber sicherlich nicht für sie. Zum Glück arbeitet in dem besagten Krankenhaus eine Verwandte. Sie hat uns diskret geraten, ihre eigene Klinik besser zu verlassen, weil es schwer sei, sich gegen den ärztlichen Rat des Chefs zu behaupten. Der wolle im Zweifelsfall immer operieren. Meine Mutter war dann in einem anderen Krankenhaus, wo man den Kopf darüber geschüttelt hat, in ihrem Fall eine so schwere Operation auch nur zu erwägen. Sie bekam dort lediglich ein kleines Röhrchen gesetzt, damit die Gallenflüssigkeit nicht staut. Ein kleiner Eingriff mit segensreicher Wirkung. Vorher war sie nämlich plötzlich gelb geworden und von heftiger Übelkeit geplagt. Das Erbrechen wollte gar nicht mehr aufhören. Das ist jetzt ein halbes Jahr her, seitdem ist sie weitgehend schmerzfrei. Nur nachts spürt sie manchmal den Druck des Tumors, hin und wieder einen Brechreiz, und hat dann Mühe, eine gute Position im Bett zu finden und wieder einzuschlafen. In der Klinik hatte man sie mit den Worten entlassen, sie möge den bevorstehenden Sommer genießen. Eine elegante, sehr humane Sprachregelung, wie ich fand, um den brutalen Satz zu vermeiden, dass der Tod nah ist. So hatte meine Mutter die Freiheit, die Formulierung für sich zu deuten. Es gibt ja keine Pflicht, das eigene Sterben offen zu thematisieren. Jeder so, wie er will. Sie vermeidet es bis heute, nimmt bislang nicht mal das Wort Krebs in den Mund, aber wer weiß, was noch kommt und was wirklich in ihr vorgeht. Der Sommer ist jedenfalls vorbei. Wenn ich morgens zur Jacke greifen muss, weil die Nacht kalt war, denke ich daran, dass ihre Frist eigentlich bereits abgelaufen ist.

*

Inhaltsverzeichnis

Es gibt Sätze, die sie wie Leitplanken benutzt. Sie wiederholt sie immer wieder, als könne sie damit ihr Leben sortieren, in eine logische Abfolge bringen. Einer dieser Sätze lautet: Ich bin von einer Aufregung in die nächste geraten. So deutet sie jetzt ihre Jugend, als eine Abfolge von Aufregungen. Das ist sehr tiefgestapelt, geradezu verharmlosend ausgedrückt, andere würden von wahr gewordenen Albträumen oder, etwas distanzierter, von schweren Traumata sprechen. Vorhin hat sie mir von einer Aufregung berichtet. Als Vierzehnjährige wurde sie 1944 als Stadtkind zum Landdienst der Hitlerjugend geschickt. Ein Pflichtjahr für alle Mädchen. Die Volksschule in Brück, einem Vorort im rechtsrheinischen Teil von Köln, war für sie kriegsbedingt plötzlich zu Ende, wie oft hat sie später mit diesem frühen Abbruch ihrer Bildungsbiografie gehadert! Alles, was sie heute weiß, verdankt sie allein ihrem autodidaktischen Bildungshunger. Noch kürzlich hat sie über Wochen geduldig einen 800-Seiten-Wälzer über russische Geschichte gelesen. Sie verleibt sich dieses Wissen ein, aber es gibt niemanden, mit dem sie es richtig teilen kann, auch mir fehlte bislang die dafür nötige Geduld. Sie interessiert sich für alles, was länger her ist als dieses unselige, in Blut getränkte 20. Jahrhundert, dessen unfreiwillige Zeugin und zugleich Opfer sie selbst geworden ist. Von Zeitgeschichte hat sie jedenfalls die Nase voll. Als Lektüre fasst sie nur Stoffe an, die genug historischen Sicherheitsabstand bieten. Das sind beim Lesen ihre kleinen Fluchten.

Jedenfalls musste sie nach der Volksschule für lange Zeit weg aus ihrem Elternhaus in Köln und zog in ein Lager im mittelfränkischen Ohrenbach, ohne in diesem Moment ahnen zu können, dass sie in dieser Gegend sogar noch das Ende des Krieges erleben würde.

Das Lager war hart, wiederholt sie immer wieder, aber hart ist gar kein Ausdruck. Morgens um sechs wurden die Mädchen mit Gebrüll aus dem Schlaf gerissen: Aufstehen und sofort antreten! Sie mussten dann schlaftrunken auch bei Schnee draußen mit nackten Füßen zum Appell strammstehen und durchzählen. Es war sehr mühsam, dabei nicht im Stehen einzuschlafen, erinnert sie sich, denn wir waren ja alle erschöpft von der schweren Arbeit tagsüber bei den Bauern. Die da morgens geschrien hat, die Landdienstführerin der Hitlerjugend, war gerade mal ein paar Jahre älter als sie. Eine junge Frau, die die Nazi-Pädagogik der Abhärtung, die keine Gnade kennt, längst verinnerlicht hatte. Zu ihrem Regime gehörte es, verlorene Gegenstände in einer Kiste zu sammeln, um sie später zu Zwecken der Disziplinierung einsetzen zu können. Diese Kiste nannte sie die »Schlampe«. Wenn die Zeit der Strafen wieder mal gekommen war, mussten sich die Mädchen vor der Kiste versammeln. Dann wurde beispielsweise eine einzelne Socke aus der »Schlampe« hervorgezogen und in scharfem Ton gerufen: Wem gehört die? Wer sich daraufhin schamhaft meldete, musste draußen im Hof viele Male um die Fahne herumlaufen oder im feuchten Keller Wasser ausschöpfen. Demütigung vor aller Augen als pädagogisches Programm.

Mit der Zeit im Lager verbindet meine Mutter vor allem eins: eisige Kälte.

Sie hat gefroren, wenn sie morgens barfuß strammstehen musste, sie hat gefroren, wenn sie abends am Bach die geliehenen Schuhe säubern musste, die gar nicht passten, weshalb sie lange Zeit eitrige Füße hatte, und nachts hat sie auch gezittert, weil die Bettdecke zu dünn war. Es war hart, wiederholt sie und greift nach einem für lange Zeit vergessenen alten Poesiealbum, das sie vor ein paar Tagen aus dem Schrank hervorgekramt hat. Sie blättert einen Moment darin, dann stößt sie auf einen Eintrag, den sie mir zeigen will. Aber ich komme mit der übertrieben akkuraten Sütterlinschrift nicht klar, deshalb liest sie mir vor, was die Lagerführerin der Hitlerjugend für sie hineingeschrieben hat: Wir wollen nicht sein wie schwankende Rohre im Wind, sondern aufrechte, tapfere Menschen. Zur Erinnerung an Deine Landdienstzeit von Deiner Gunda Heller. Ohrenbach im 6. Kriegsjahr. Ich stutze über das merkwürdige Ende dieses Eintrags. Als ob mit dem Krieg eine neue Zeitrechnung begonnen hätte. Meine Mutter wiederholt den Satz von den schwankenden Rohren noch einmal, sie kann ihn auswendig und spricht ihn mit Pathos. Ich spüre ihre Zerrissenheit. Einerseits Stolz darauf, diese Härte ertragen zu haben. Sie wollte kein schwankendes Rohr im Wind sein. Das ist die Seite an ihr, die es mir so schwermacht, ihr nahe zu sein. Gewissermaßen die Reste des Nazigifts in ihrer Seele. Denn wie oft habe ich von ihr in den vergangenen fünfzig Jahren Anspielungen zu hören bekommen, dass meiner Generation eine solche Erfahrung vielleicht auch gutgetan hätte, weil wir ein bisschen verweichlicht seien. Ihr kennt ja nur den Wohlstand! Wehe euch, wenn mal eine Zeit der Not kommt. Ihr könnt euch ja gar nicht selber helfen. Womit sie sicher recht hat. Mit Grausen erinnere ich mich an viele gemeinsame, erzwungene Stunden mit meinem Vater im heimischen Keller, der nicht wahrhaben wollte, dass ich zwei linke Hände habe. Er konnte sich nicht vorstellen, dass man damit durchs Leben kommt, und bestand wieder und wieder darauf, mich in die Kunst der Frickelei einweisen zu wollen. Besonders schlimm waren Samstagnachmittage, die ich unfreiwillig unten im Keller mit abgebrochenen Heugabeln und öligen Fahrradketten verbringen musste, während ich viel lieber oben die Bundesliga-Konferenz aus dem Transistorradio gehört hätte. Unerbittlich eilte dann der Zeiger der Uhr Richtung Abpfiff um Viertel nach fünf, ich habe wohl öfter verstohlen auf die Uhr geschaut als der Schiedsrichter im Stadion. Jede Minute im Keller war eine verlorene Minute, die mich vom wahren Leben abhielt, bis mein Vater endlich einwilligte, dass es für heute genug sei. Nicht ohne den regelmäßigen Stoßseufzer, wie ungeschickt ich mich anstelle. Für mich klang er nach einer Mischung aus Resignation und Vorwurf. Du wirst später für alles bezahlen müssen, wenn du das nicht lernst. Ich habe versucht wegzuhören und war froh, dass ich hochgehen durfte, während er sich wieder vertiefte in die Rettung kleiner Alltagsgegenstände. Aber natürlich hat er recht gehabt, heute muss ich für alles bezahlen, wenn etwas kaputtgeht.

 

Neben diesem Stolz, die brutalen Lebensprüfungen von damals überstanden zu haben, entwickelt sich bei meiner Mutter aber nun erst im hohen Alter ein geschärftes Bewusstsein dafür, welche Verwundungen diese frühen Jahre im eigenen Leben angerichtet haben. Nicht aufrecht und tapfer, sondern früh gebeugt. Meine Mutter kommt aus einer Härte, für die sie nichts kann, und erst jetzt, so kurz vor Schluss, beginnt sie energisch, sich aus ihr herauszuarbeiten, und verblüfft unsere ganze Familie mit einer plötzlichen, nicht für möglich gehaltenen Sanftmut. In Momenten, in denen sie früher streng gewesen wäre, lächelt sie inzwischen nur noch milde. Etwa wenn ein Rest auf dem Teller übrig bleibt, was sie bis vor Kurzem nicht ertragen konnte. Iss den Teller leer, sonst gibt es keinen Nachtisch, hätte sie früher geknurrt. Vielleicht ist es das, was mir die Stunden jetzt mit ihr so kostbar macht: Sie zeigt sich nachgiebig und verletzlich und gewinnt dadurch an Wärme.

Abends, wenn wir todmüde waren, fährt sie fort, war niemandem mehr im Lager nach Liedern zumute, wir mussten aber singen, und zwar im Stehen, damit keiner währenddessen einschläft. Und wir mussten jeden Abend noch Briefe schreiben an die Front in Russland. Junge Männer, die wir gar nicht kannten, von denen wir nur die Feldpost-Nummer bekamen, sollten sich freuen über aufmunternde Worte aus Mädchenhand. Schreibarbeit, hieß das im Lager. Beim Zuhören frage ich mich, ob diese lästige Pflicht der Moral der Truppe tatsächlich aufgeholfen hat. Ob die jungen Soldaten geahnt haben, dass die Mädchen viel lieber ins Bett gefallen wären, als für sie zärtlich geheuchelte Durchhalteparolen in Schönschrift aufs Papier zu bringen? Meine Mutter kriegt nicht mehr zusammen, was sie genau geschrieben hat, aber einer der Adressaten hat tatsächlich kurz nach Kriegsende bei ihr in Franken vor der Tür gestanden, als sie für einige Zeit in einer Brauerei einquartiert war, um die unbekannte Briefschreiberin kennenzulernen. Er wusste offenbar in der allgemeinen Auflösung nach der Kapitulation nicht, wohin, hatte keine Heimat mehr, und so müssen sich seine Hoffnungen auf die Anschrift auf seinem Feldpostumschlag gerichtet haben. Ein blind date aus Verzweiflung also, so stelle ich es mir vor. Er hieß Wolfgang, erzählt sie zögernd mit leicht wehmütigem Unterton, und ich mochte ihn, weil er so ruhig war und schön schreiben konnte. In ihrem Poesiealbum ist er mit dem knappen Satz verewigt: »Mehr sein als scheinen!« Da wollte wohl einer wesentlich werden nach den Erfahrungen des Krieges. Wir haben Foxtrott getanzt und abends Karten gespielt, aber mehr ist nicht gewesen. Ihr Gesicht verrät für einen Moment die damals offenbar unausgesprochen gebliebene leise Verliebtheit, die nicht realisierte Option im Leben. Irgendwann war er fort, und sie hatten nie wieder Kontakt. Das war damals so, fügt sie hinzu, wer weg war, war weg. Ich spüre an ihrem veränderten, nun wieder bewusst unsentimentalen Ton, wie sie beim Erinnern zurück in die alte Härte rutscht. Sie will weg von dem Thema, bevor es richtig angefangen hat. Eine Spur Peinlichkeit liegt in der Luft. Aber vielleicht werde ich ja bei anderer Gelegenheit noch etwas mehr über diese Episode in ihrem Leben erfahren.

Dann fällt ihr mitten im Erzählen ein, dass chronologisch gerade etwas Wichtiges gefehlt hat. Sie ist nach dem Ende der Volksschule nicht gleich in den Landdienst eingezogen worden, vorher musste sie noch eine andere Aufregung bestehen. Sie zögert, bevor sie mit ihrer Schilderung beginnt. Ich merke, dass sie sich überwinden muss, und rechne mit etwas Aufwühlendem. Wir haben mit vierzehn Jahren provisorische Zeugnisse in die Hand gedrückt bekommen, ohne jede Feierlichkeit, und dann hieß es: Morgen müsst ihr alle an den Westwall. Dort wurden 1944 auf Befehl von Adolf Hitler viele fleißige Hände gebraucht, um Gräben zur Panzerabwehr auszuheben. Eine Panikreaktion auf die Nachricht von der erfolgreichen Landung der Alliierten in der Normandie. Ihre ganze Schulklasse sei dem Befehl gefolgt, berichtet sie, nur sie sei zu Hause geblieben. Nach ein paar Tagen stand der gefürchtete Ortsgruppenleiter der NSDAP vor der Haustür, der davon Wind bekommen hatte, und verlangte Auskunft, warum sie nicht längst am Westwall zum Schippen sei. Einer muss sich bei uns doch um die Hühner kümmern, antwortete sie dem verdutzten Nazi-Funktionär, denn ihre Mutter und ihre Schwester seien zu Besuch beim Vater in Nürnberg, der dort zu dieser Zeit als Werkzeugmacher in der Rüstungsindustrie arbeitete. Er war ausgeliehen von den Kölner Ford-Werken und half nun in Nürnberg mit, Kugellager für die Laster der Wehrmacht herzustellen. Dann müsse sie stattdessen Nachtdienst als Helferin der Schwestern vom Roten Kreuz am Kölner Hauptbahnhof leisten, lautete der Befehl des Ortsgruppenleiters. Noch am selben Abend musste meine Mutter hin. Man streifte ihr eine Binde mit den beiden roten Balken über den Oberarm, und schon war die Vierzehnjährige mit dafür verantwortlich, das Chaos in dem mit schwerstverletzten Kriegsheimkehrern völlig überfüllten Hauptbahnhof so gut es ging zu bewältigen, und das ohne jede Kenntnis in Erster Hilfe und erst recht ohne jede mentale Vorbereitung auf die Schreckensbilder, die sie zu sehen bekommen würde. Eigentlich müsste sie in diesem Moment bereits verstanden haben, dass der Krieg längst verloren war. Sie kümmerte sich um Soldaten, die ihre offenen Wunden notdürftig mit Papier verbunden hatten, weil es an der Front kein Verbandsmaterial mehr gegeben hatte, sie hatte den Anblick von körperlich und seelisch zerschundenen Männern zu ertragen, von denen so manchem nicht mehr zu helfen war an diesem Ort, der sich völlig verwandelt hatte. Vorher ging es von hier aus in die Welt, nun war der Hauptbahnhof die Endstation. Meine Mutter musste während ihrer Dienste immer wieder auch um ihr eigenes Leben fürchten, weil der Bahnhof in dieser Zeit das bevorzugte Ziel von Luftangriffen war. Sobald er verdunkelt wurde, weil die Flieger nahten, kroch in ihr die Angst hoch. Alle mussten sich beeilen, rechtzeitig einen Platz im nahe gelegenen Luftschutzkeller zu ergattern. Wie lange man dort hocken musste, war ungewiss. Schreie, Lärm, Dunkelheit – so, wie sie mit dem Lager zuallererst Kälte assoziiert, ist es in diesem Fall primär die Dunkelheit, die in ihrem Gedächtnis fest mit der Angst verknüpft ist. Wie präsent diese Angst bis heute ist, sehe ich ihrem Gesicht während des Erzählens an. Es sieht gequält aus, als müsse sie alles noch einmal von vorn durchleben. Ich beginne zu verstehen, dass dieses Erinnern und Mitteilen eine Form der Verausgabung ist. Und ahne, warum ihre Generation es lange Zeit vorgezogen hat zu schweigen.

*

Inhaltsverzeichnis

Ich konnte nach unserem letzten Gespräch gar nicht schlafen, eröffnet sie mir beim nächsten Mal, im Bett ist mir alles wieder durch den Kopf gegangen. Dann dürfen wir solche Gespräche nicht mehr nachmittags oder abends führen, entgegne ich, aber davon will sie nichts wissen. Ich sehe ihr an, dass sie auf die Fortsetzung schon gewartet hat. Worüber sie denn im Bett gegrübelt habe, frage ich sie. Und wieder hilft sie sich mit dem Satz: Ich bin von einer Aufregung in die nächste geraten. Und wusstest du, dass ich in dieser Zeit angefangen habe, nachts im Schlaf ganz fürchterlich zu schreien, so sehr, dass ich jeden Morgen mit schlimmen Halsschmerzen aufgewacht bin? Ich erschrecke beim Zuhören über ihre Geste, die sie währenddessen macht. Sie führt eine Hand an die Kehle und macht ein Gesicht, als ob auch jetzt alles bei ihr zugeschnürt sei, als müsse sie jeden Moment röcheln. Ja, ich wusste das, denn mein Vater hat mir in einem vertrauten Moment vor seinem Tod verraten, dass dieses Schreien eigentlich nie aufgehört hat. Dass er sie, nachdem sie beide sich nach dem Krieg als junges, völlig verstörtes Paar zusammengefunden hatten, nachts im Bett häufig lange fest umklammern musste, bevor sie endlich das Schreien einstellte. Und so ging das immer weiter, durch die Zeit des Wirtschaftswunders hindurch und wollte einfach kein Ende finden. Für ihn muss es fürchterlich gewesen sein. Jahrzehntelang nächtliche Schreie neben sich im Ehebett aushalten zu müssen, plötzlich aus dem Schlaf aufzuschrecken, dann schnell in die Rolle des Trösters umzuschalten und jedes Mal zu hoffen, dass der Rest der Familie nichts gehört hat. Ob er gelernt hat, danach wieder ohne lange Grübelei in den Schlaf zurückzufinden? Jedenfalls habe ich ihn nie morgens im Wohnzimmer auf der Couch vorgefunden, er hat nie nachts das Zimmer gewechselt. Er muss sich das Ausweichen selber verboten haben, so erkläre ich es mir. Eine strapaziöse Art ehelicher Treue. Noch jetzt, wo sie eine alte Frau ist, kommt es vor, dass sie in der Nacht schreit. Ich wusste es, obwohl ich es in meiner Kindheit überhört haben muss, und doch ist es noch mal erschreckender, dies alles nun auch von ihr selbst zu erfahren. Die Zeit der Scham ist anscheinend vorbei.

Aber womit hat alles angefangen, was muss da wieder und wieder raus aus der Kehle und will als dunkle Quelle auch so lange danach einfach nicht versiegen? Was war ihre erste Erfahrung mit überbordender Gewalt? Sie muss nicht lange überlegen, das war in der Zeit, als sie noch zur Schule ging und vermutlich dreizehn Jahre alt war. Damals hatte es einen schweren Luftangriff auf Köln gegeben, und die Schulkinder vom Stadtrand wurden anschließend zum Dienst verpflichtet, sie mussten in einer Turnhalle in der Stadt Butterbrote für ausgebombte Familien schmieren. Meine Mutter weiß nicht mehr, wie sie danach jemals wieder in den Schlaf finden konnte, denn auf dem Weg dorthin hatte sie zum ersten Mal das nackte Grauen gesehen. Ein Luftschutzkeller war von einer Bombe getroffen worden. Als endlich wieder Ruhe herrschte, hatte man die vielen Toten aus den Trümmern geborgen. Nun lagen sie um die Kirche herum auf dem Bürgersteig, um identifiziert werden zu können. Der Anblick von Toten war meiner Mutter zu diesem Zeitpunkt bereits vertraut, aber dies hier war etwas vollkommen anderes. Die Körper der Brandopfer waren nämlich durch die große Hitze geschrumpft. Was sie dort zu sehen bekam, muss einem wahr gewordenen Albtraum geglichen haben. Diese Bilder im Kopf bin ich nie losgeworden, sagt sie, verbrannte Leichen von Erwachsenen in Kindergröße. Sie hat versucht, diese Erinnerung auszuradieren, gelungen ist es ihr nie. Die bösen Spiele des Gedächtnisses. Ihre ganze Generation muss davon ein Leben lang geplagt worden sein. Und hat geschwiegen, auch weil es fast unmöglich scheint, für eine solche Erfahrungswucht eine passende Sprache zu finden.

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Inhaltsverzeichnis

Warum all das aufschreiben? Für den Moment bin ich vermutlich zu nah dran, um eine wirklich durchdachte Antwort darauf zu geben, warum ich nicht nur zuhören, sondern auch festhalten will. Aber es gibt da diese starke Intuition, dass das, was ich gerade mit ihr erlebe, kostbar und zugleich natürlich unwiederholbar sein wird. Ein plötzlich weit geöffnetes Fenster, das sich schon bald unweigerlich schließen wird. Man hat ja den Tod eines Menschen mit dem Brand in einer Bibliothek verglichen. Bestimmte Geschichten können anschließend nicht mehr erzählt werden, sie fahren mit in die Grube, Erinnerungsspuren verlieren sich, was auch künftig noch überliefert wird in der Familie, schrumpft dramatisch zusammen. Besonders dann, wenn wie im Falle meiner Mutter die Vorletzte ihrer Generation geht. Nur die Schwester meines Vaters kann noch Auskunft geben, aber auch ihre Tage sind gezählt. In dieser Hinsicht ist der Tod ein einziger Skandal, ein großer Vernichter. Sich dagegen auflehnen zu wollen, ist so absurd wie vergeblich. Und doch kommt es mir so vor, als könne ich etwas retten, indem ich meine Kladde vollschreibe. Jede einzelne Seite ein Stück geronnene Zeit, wobei es natürlich höchst fraglich ist, ob aus diesen Notizen in zehn Jahren noch irgendein Sinn zu schöpfen sein wird. Vielleicht werde ich erst dann bemerken, welche wichtige Frage ich zu stellen vergessen habe. Zudem ist es unübersehbar, wie sehr es meine Mutter genießt, dass ich unsere Gespräche notiere. Nach all den Jahren darf sie endlich mal im Mittelpunkt stehen, wird ihre Biografie wichtig. Daran hat es den Müttern ihrer Generation definitiv gefehlt. Sie hat viele Biografien historischer Persönlichkeiten gelesen. Plötzlich macht sie die Erfahrung, dass auch das Leben von kleinen Leuten und von Frauen wichtige Zeitspuren enthält und überliefert zu werden lohnt. Und sie weiß natürlich, dass sie mit ihren Begabungen unter anderen Zeitumständen mehr aus ihrem Leben hätte machen können. Meiner Schwester hat sie voller Stolz erzählt, dass ich alles aufschreibe, was in ihrem Leben wichtig war. Sie sitzt in ihrem verschlissenen grünen Sessel mit der Erwartung, dass es hoffentlich bald weitergeht. Alte Menschen lösen sich langsam auf. Aber wenn sie erzählen, wenn ihnen zugehört wird, spüren sie sich plötzlich wieder. Es entsteht eine Intensität. Dieser Gedanke meiner Schwester steht jetzt auch in meiner Kladde.

Der Tod meines Vaters, von dem noch zu berichten sein wird, liegt noch nicht lange zurück, gerade erst ein knappes Jahr. Auch in seinem Fall hatte ich das Glück, dass das Fenster längere Zeit weit offen stand. Das eigene Ende vor Augen, hat er rückhaltlos sein Leben bilanziert und auch von Schreckensmomenten berichtet, die er lange Zeit niemandem erzählen wollte. Um für sich den Deckel draufzuhalten, und sicher auch, um uns zu verschonen. Über etliche Tage hinweg habe ich im Krankenhaus an seinem Bett gesessen, meist in den Abendstunden, und dann hat er in die Dunkelheit hinein von Gewaltexzessen berichtet, die bei strahlendem Sonnenschein vermutlich unerzählt geblieben wären. Aber jetzt musste es raus. Wie eine Höhle war dieses Krankenzimmer, und wenn ich drinnen war und gelauscht habe, habe ich währenddessen Zeit und Raum der Welt da draußen komplett vergessen. Nicht nur, wer erzählt, spürt sich, auch, wer zuhört, kann die Erfahrung einer ungeheuren Intensität machen. Nie zuvor waren wir uns so nah gewesen. In diesen Wochen habe ich verstanden, dass es ausgerechnet die schmerzhaften Grenzerfahrungen sind, das Wissen um den bevorstehenden Abschied, die Hinfälligkeit, das Leid, die die Chance bieten, menschliche Nähe zu schaffen, wie es in den Routinen des Alltags anscheinend oft nicht möglich ist. Also ausgerechnet all das, was wir gern vermeiden möchten, indem wir uns wünschen, eines Tages am liebsten einfach so auf dem Bürgersteig tot umzufallen, kann neue Beziehungsräume öffnen. Kann, wohlgemerkt, denn wie oft gelingt dies auf der letzten Wegstrecke gerade nicht. Deswegen denke ich an diese Zeit mit großer Dankbarkeit. Jedes Mal, wenn ich die dunkle Höhle verließ, hatte ich keine Ahnung, wie viele Stunden in der Zwischenzeit verstrichen waren. Es gab nur noch pure Gegenwart, totale Dichte. Viel später erst wurde mir klar, dass wir diese Zeiterfahrung ja auch in besonders glücklichen Momenten machen, in der Liebe zum Beispiel, wenn die Uhr zum Stehen kommt.

Seinerzeit habe ich es versäumt, das Erlebte sofort aufzuschreiben, was ich inzwischen bereue. Ich versuche es nun so gut es geht nachzuholen, auch weil ich inzwischen weiß, wie wenig selbstverständlich es ist, dass das Gespräch zwischen den Generationen am Lebensende glückt. Das gilt zumal für diese Elterngeneration, die als Jugendliche seelisch verwüstet aus dem Krieg herausgekommen sind, gewissermaßen unschuldig schuldig, und deren Lippen so lange fest versiegelt waren. Nicht selten für immer. Wie oft habe ich von Gleichaltrigen und erst recht von Angehörigen der 68er-Generation gehört, dass ihre Eltern bis zuletzt geschwiegen und ihre düsteren Geheimnisse mit ins Grab genommen haben. Und wir Nachgeborenen haben im Gegenzug den psychoanalytischen Begriff der »Verdrängung« trivialisiert und aus ihm einen pauschalen Vorwurf gemacht und nicht selten versäumt, genauer nachzufragen, was gewesen ist. Und wenn doch, dann häufig anklagend, unerbittlich, selbstgerecht. Als ob man sich als Jüngerer sicher sein könnte, in vergleichbarer Situation ganz anders gehandelt zu haben. Aber ich habe den Eindruck, dass sich in dieser Hinsicht momentan etwas dreht. Unter den jetzt noch lebenden Zeitzeugen gibt es nicht wenige, die doch noch auf der letzten Wegstrecke zu reden beginnen und dies als befreiend erleben. Vielleicht eben auch, weil meine Generation gelernt hat, einen freundlicheren Grundton beim Fragen zu entwickeln. Die inzwischen verstrichene Zeit, so banal ist das, hat auch hier so manche Wunde geheilt, aus Zeitgeschichte wird allmählich Geschichte, die nicht mehr ganz so bedrohlich nahe kommt.

Alles aufzuschreiben, scheint mir auch deshalb so wichtig, weil der Abtritt der Generation meiner Eltern zeitlich zusammenfällt mit der Wiederkehr der Hassbereiten und Geschichtsrevisionisten. Es ist natürlich kein Zufall, dass diese Stimmen jetzt erst lauter werden. Sie mussten warten, bis die historische Lektion derer, die genug Blut im Leben gesehen hatten, allmählich verblasst. Ein »Vogelschiss« soll die NS-Zeit gewesen sein in einer tausendjährigen Erfolgsgeschichte der Deutschen, heißt es jetzt. Die Deutschen könnten stolz sein auf die Leistungen von Wehrmachtssoldaten im Zweiten Weltkrieg. Noch vor wenigen Jahren wären solche Aussagen aus dem Munde eines Vorsitzenden einer im Bundestag vertretenen Partei undenkbar gewesen. Hier wird ein Konsens aufgekündigt, der bislang tragend war für die demokratische Kultur im Land. Schwindet das Bewusstsein dafür, wie total der moralische Bankrott war? Regt sich da wieder die uralte Lust an der Aggression?

Es hilft nichts, rechtes Denken muss besser verstanden werden. Man sollte seinen Gegner studieren, wenn man ihn kleinhalten will. Es gibt ja genügend Blogs im Netz, die das erlauben. Auch wenn einem beim Lesen ganz anders wird. Dann stellt sich sehr schnell heraus: Es ist alles schon seit Langem da, schon in der Weimarer Republik gab es eine irrlichternde Intelligenz, die meinte konservativ und revolutionär zugleich sein zu wollen. Man muss sich nur dafür interessieren, welche Beiträge rechte Denker vor einem knappen Jahrhundert geleistet haben, um die erste deutsche Demokratie zum Einsturz zu bringen. Und wie schäbig sie sich hinterher verhalten haben, als klar wurde, dass aus ihrem Denken monströse Verbrechen geworden waren. Das hatte natürlich gar nichts mit ihnen zu tun. »Ich finde es nicht richtig, in dieser Blamage, die wir da erlitten haben, noch herumzuwühlen«, sagte der Staatsrechtler Carl Schmitt bei seiner Vernehmung im Rahmen der Entnazifizierung. Heute gilt Schmitt wieder als Leitfigur der Neuen Rechten. Kein Wunder, dass deren Vertreter von »Schuldkult« sprechen, die Zeit des Nationalsozialismus wie in einer Kapsel verschließen und lieber die glorreiche deutsche Geschichte in den Blickpunkt rücken wollen. Als schwankende Gestalten pilgern sie wieder zum Kyffhäuser. Die Neue Rechte muss den Holocaust als Betriebsunfall betrachten, um den eigenen Schatten loszuwerden. Sie hat bis heute kein Verhältnis dazu gefunden, dass die schlimmsten Menschheitsverbrechen auf das eigene Konto gehen. Deshalb das historische Lavieren von Gauland und Höcke, die bewusst in der Schwebe halten, was aus der Erinnerungskultur werden soll. Die beiden wollen das Konservative mit dem Völkischen verbinden. Genauso wie ihre enthemmten Großväter. Wenn sie ehrlich wären, würden sie wahrscheinlich sagen: Ohne Hitler hätte es auch einen guten Nationalsozialismus geben können.

Nur, was ist es, das rechtes Denken heute für viele wieder attraktiv macht? Ich vermute, dass es nur vordergründig um Politik geht, um Flüchtlinge oder andere Aufregerthemen. Entscheidender ist die psychologische Tiefenschicht darunter. Harte Rechte wollen sich selber wieder spüren. Sie suchen nach mehr Lebensintensität. Nach starken Gefühlen, weil ein gesichertes Leben eben auch immer ein bisschen langweilig ist. Und so gut wie uns heute ging es ja keiner Gesellschaft zuvor. Auch den Ärmeren nicht. So viel Wohlstand, so viel Sicherheit. So viel Zivilisiertheit. Da will man doch mal wieder die Sau rauslassen und leidenschaftlich hassen. Die Kultur des Kompromisses von Herzen verachten. Und es in Gemeinschaft mit anderen Hassern genießen, wie schnell sich eine Mehrheit der Gesellschaft verunsichern lässt. Wir können es uns heute gar nicht mehr richtig vorstellen, wie sich junge Leute, die zum Teil hochintelligent waren, massenhaft und vor allem begeistert als Freiwillige meldeten, um an die Front zu ziehen. Ist aber alles noch nicht so lange her. Sie fanden den Krieg, von zu Hause aus betrachtet, unterhaltsamer als den langweiligen Frieden. Manche von ihnen waren hochsensible Lyriker, humanistisch gebildet, wohlgenährt und ausgeschlafen. Sie schienen lebenslustig zu sein, dabei waren sie todessüchtig. Und dieses zugrundeliegende Gefühl hat offenbar im Verborgenen weiterexistiert. Jetzt artikuliert es sich wieder. Wer lustvoll hasst, spürt dabei: Es gibt mich noch.