Dürfen wir so bleiben, wie wir sind? - Jürgen Wiebicke - E-Book

Dürfen wir so bleiben, wie wir sind? E-Book

Jürgen Wiebicke

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Beschreibung

Ist der Mensch ein Auslaufmodell? Eine philosophische Betrachtung Seit zweieinhalbtausend Jahren fragen Philosophen: »Was ist der Mensch?« Doch seit einigen Jahrzehnten arbeiten Naturwissenschaftler und Mediziner mit ungekannter Dynamik an seiner Neuschöpfung. Der Philosoph und Journalist Jürgen Wiebicke stellt die dringliche Frage, wie weit wir ihnen folgen wollen.Organtransplantation, Altersforschung, Sterbehilfe, Hirndoping, Roboterethik, Gentechnik: Die Umbauarbeiten am Projekt Mensch verlaufen in rasantem Tempo. Bioingenieure und Nanoforscher, Informatiker und Neurowissenschaftler versuchen alles, um Adam und Eva zu optimieren. Werden wir schon bald aufhören, vom Menschen als Menschen zu sprechen, weil wir in nicht allzu ferner Zukunft posthumane Wesen sein werden? Fest steht, dass das alte System unserer moralischen Überzeugungen nicht mehr funktioniert, dass wir uns entscheiden müssen: Ist der Mensch noch etwas Besonderes oder nur ein Tier unter Tieren? Müssen wir uns technologisch verbessern, damit wir klüger, schöner, glücklicher sein können? Oder Dürfen wir so bleiben, wie wir sind??Jürgen Wiebicke besucht die wichtigsten ethischen Großbaustellen unserer Zeit, auf denen darum gerungen wird, ob die Würde des Menschen noch als Fundament taugt. Denn es ist an der Zeit, gemeinsam neu über die Idee vom guten Leben nachzudenken. Ein kluges, informatives und brillant geschriebenes Buch, das hilft, in Zeiten tiefer Verunsicherung eigene Antworten zu finden auf die Frage: »Wie will ich leben?«.

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Jürgen Wiebicke

Dürfen wir so bleiben, wie wir sind?

Gegen die Perfektionierung des Menschen – eine philosophische Intervention

Kurzübersicht

Buch lesen

Titelseite

Inhaltsverzeichnis

Über Jürgen Wiebicke

Über dieses Buch

Impressum

Hinweise zur Darstellung dieses E-Books

Inhaltsverzeichnis

Meinen Eltern, die noch ein Auge dafür haben, die Veränderungen dieser Welt im Gemüsebeet zu bemerken

Inhaltsverzeichnis

Vorwort

Man stelle sich vor, wie ein Zeitgenosse des 22. Jahrhunderts sich über ein Kreuzworträtsel beugt, in dem nach einem veralteten Wort für menschliche Selbstüberschätzung gefragt wird. Ratlos starrt er auf die fünf leeren Buchstabenkästchen. Er kommt nicht drauf. Was daran liegt, dass das gesuchte Wort bereits Generationen vor ihm ausgemustert wurde, und zwar zu Beginn des 21. Jahrhunderts. Für die damaligen Debatten interessieren sich jetzt nur noch die Philosophiehistoriker.

Weil es mit der Waagerechten nicht klappen will, versucht es der Rätselfreund zunächst mit der Senkrechten. Dort wird er nach dem besten Freund des Menschen gefragt. Ohne zu zögern, notiert er: Roboter. Mit dem letzten Buchstaben, dem R, hat er nun den dritten Buchstaben des gesuchten Worts in der Waagerechten. Doch immer noch will der Groschen nicht fallen. Den letzten Buchstaben hätte er auch schon, wenn er in der Senkrechten ein anderes Wort für Embryo fände. Das ist nun wirklich nicht schwer: Zellhaufen natürlich. Er trägt das E ins letzte Kästchen ein, und nun hat er die Lösung: Menschliche Selbstüberschätzung nannte sich damals »Würde«. Merkwürdiges Wort, denkt er. Muss schon immer ein bisschen altertümlich geklungen haben.

Zurück in unsere Zeit, in der noch nicht entschieden ist, ob das Wort Würde mit Stolz verteidigt oder als Ausdruck von Überheblichkeit kritisiert werden muss. »Die Würde des Menschen ist unantastbar«, steht im Grundgesetz. Tatsächlich hängt sie in der Luft – und sie steht auf dem Spiel. In der Luft hängt die Würde des Menschen, weil sich längst nicht mehr von selbst versteht, wo sie herkommt, wem wir sie eventuell zu verdanken hätten. »Die Würde des Menschen ist unantastbar« klingt wie ein Halbsatz. Die Hälfte davor wird vermisst. Es ist ein Lückentext, der erst einmal gefüllt werden müsste, bevor zweifelsfrei behauptet werden kann: Deshalb ist die Würde des Menschen unantastbar.

Früher schien die Sache klar. Da war es unstrittig, dass der Mensch etwas ganz Besonderes ist. Nicht die Menschheit, sondern jeder Einzelne: Krone der Schöpfung, jeder von Gott angeschaut und beim Namen genannt, jeder Einzelne zählt, egal, ob arm oder reich, stark oder schwach. Menschliches Leben ist heilig. Deshalb wird sein Ende auch betrauert, weil da immer einer geht, der einzigartig ist und nicht einfach ersetzbar. Es macht einen Unterschied, ob ein Mensch stirbt oder eine Ameise. Streng genommen stirbt die Ameise gar nicht, das können nur Menschen. Tiere verenden. Ein schönes Beispiel dafür, dass die Sprache Spiegel unseres hierarchischen Denkens ist. In unseren moralischen Intuitionen, also den Entscheidungen, die wir ohne langes Nachdenken treffen, in den Gesetzen, auch in den turmhohen Gedankengebäuden der Philosophen war bislang fest verankert, dass der Mensch oben auf einem Sockel steht. Nur er kann denken, nur er kann sprechen, nur er versteht es immer wieder neu als Wunder, wenn ein neues Menschenkind zur Welt kommt. Menschen haben Biografien, Tiere leben bloß. Menschen darf man nicht essen, Tiere schon. Menschen bauen Kathedralen, Ameisen bauen Haufen. So ist die Ordnung der Welt, alles so von Gott gewollt. Sagen die, die menschliche Würde von ihm her begründen, als Gabe.

Aber diese Begründung ist nicht mehr konsensfähig, deshalb hängt die Würde in der Luft. Sie muss ohne Letztbegründung auskommen und wird dennoch auch von vielen verteidigt, die prima ohne Gott leben. Aus der Überlegung heraus, wie viel wir riskierten, wenn wir die Idee der menschlichen Würde preisgeben würden. Dann wäre nicht nur die Würde weg, sondern auch die Unantastbarkeit. Menschen pochen in der Regel besonders auf ihre Würde, wenn ihre Rechte bedroht sind. Gerade die Schwachen sind auf sie angewiesen.

Doch die Würde hängt nicht nur in der Luft, sondern steht tatsächlich längst auf dem Spiel, sie ist philosophisch gewissermaßen einer Zangenbewegung ausgesetzt: Auf der einen Seite gewinnt die Idee an Zustimmung, der Würde ihre menschliche Exklusivität zu nehmen. Runter vom Sockel mit den Menschen, auch Tieren wird zunehmend Würde zugesprochen. Der Mensch ist bloß ein Tier unter Tieren. Mitunter wird gesagt, dass das Leben eines Komapatienten oder eines Embryos, womöglich sogar eines behinderten Neugeborenen, eher angetastet werden könne als das eines Menschenaffen. Damit hängt die Würde vom rechten Zeitpunkt ab: Am Anfang und am Ende des menschlichen Lebens kann sie beschnitten werden.

Auf der anderen Seite blühen die Fantasien des Technofuturismus. Der ist davon überzeugt, Würde hin oder her, dass der Mensch nicht so bleiben kann, wie er ist. Er muss an seinen Mängeln arbeiten, sich permanent optimieren. Computer werden ja auch immer besser. Nach dieser Vorstellung stehen wir am Anfang des Weges hin zu einem posthumanen Zeitalter, in dem der Mensch klüger, glücklicher und unverletzlicher sein wird als heute. Diese Visionen werden wir im Folgenden näher kennenlernen.

Die Philosophie zu Besuch im Labor

Der Zukunftsoptimismus in den Biowissenschaften, in der Nanoforschung und in der Informatik hat in der Philosophie hier und da ansteckend gewirkt. Überhaupt hat sich das Berufsbild von Philosophen radikal gewandelt. Früher war ihr Arbeitsplatz der Lehnstuhl. Möglichst unbeeinflusst von den Dingen dieser Welt haben sie über die Dinge an sich nachgedacht. Philosophen im Lehnstuhl nahmen es gelassen hin, wenn ihnen vorgehalten wurde, ihrem Denken fehle die empirische Grundlage. Ihre Antwort lautete dann: Einer muss ja im verdunkelten Raum mit verbundenen Augen nach der schwarzen Katze suchen. Wir können uns nicht nur an die sichtbare Seite dieser Welt halten. Ihre Souveränität bezogen diese Philosophen aus dem Selbstverständnis, ihre Disziplin sei die Mutter aller Wissenschaften, während in den Einzeldisziplinen nur die Erbsen gezählt würden. Heute läuft es andersherum: Naturwissenschaftler mit einem starken Selbstbewusstsein, dass in ihren Labors die eigentliche, harte Arbeit der Forschung geleistet werde, diktieren den Philosophen ihre Agenda.

Sie stellen sie vor die Alternative, entweder im Lehnstuhl zu verharren, dann aber um den Preis, von den harten Wissenschaften für irrelevant gehalten zu werden, oder aber den Biochemikern, Neurowissenschaftlern, Alternsforschern – kurz, den Revolutionären unserer Zeit – bei ihrer Arbeit über die Schulter zu schauen. Nicht selten ist mit dieser Einladung die Erwartung verbunden, von Philosophen ethische Unbedenklichkeitszertifikate zu erhalten.

Die Stunde der Ethik als eine der zentralen Disziplinen der Philosophie schlägt dann, wenn sich nichts mehr von selbst versteht. »Ein philosophisches Problem«, so der berühmte Satz von Ludwig Wittgenstein, »hat die Form: Ich kenne mich nicht aus.« Dieser Satz trifft ziemlich genau ein momentan sehr verbreitetes Lebensgefühl: Wir tappen alle im Dunklen. Wir registrieren, dass das alte System unserer moralischen Überzeugungen nicht mehr richtig passen will zu den neuen Herausforderungen, die sich uns in großem Tempo ständig stellen. Zugleich versuchen wir verzweifelt, die alten Begriffe zu retten. So sagen wir etwa: Das ist doch unnatürlich, wenn uns einer etwas erzählen will über die schöne neue Welt von morgen, in der wir vielleicht einen Chip im Hirn tragen werden, der uns helfen wird, Fremdsprachen in Windeseile zu erlernen. Und fangen uns prompt den berechtigten philosophischen Konter ein, dass die Unterscheidung zwischen natürlich und künstlich beim Menschen noch nie funktioniert hat. Seitdem unsere Vorfahren von den Bäumen geklettert sind, haben sie nichts anderes getan, als sich permanent zu verändern. Sie haben eine Natur des Menschen nicht einfach als gegeben hingenommen, sondern sie immerzu neu gestaltet.

Wann also hätte die Künstlichkeit des Menschen ihren Anfang nehmen sollen? Mit der ersten Brille auf der Nase? Dem ersten künstlichen Hüftgelenk? Oder vielleicht mit der tiefen Hirnstimulation, die es Parkinsonkranken ermöglicht, zwischen zwei verschiedenen Bewusstseinszuständen per Knopfdruck hin- und herzupendeln? Mit all diesen Künstlichkeiten leben Menschen bereits. Trotzdem würden wir nicht zögern, sie weiterhin Mensch zu nennen.

Beliebt in der Philosophie ist das Paradoxon von Theseus und seinem Schiff. Theseus, der fleißige Zimmermann, tauscht nach und nach alle Einzelteile seines Schiffes aus, bis er den Punkt erreicht, an dem kein einziges Teil mehr vom Tage der Schiffstaufe übrig geblieben ist. Unterdessen hat ein anderer Schiffbauer all die Einzelteile, die Theseus ausgebaut hat, wieder zusammengezimmert. Welches von den beiden ist nun wirklich das Schiff von Theseus? Bezogen auf den Menschen, der zunehmend als eine Art Baukasten verstanden wird, bei dem prinzipiell jedes originale Einzelteil durch ein Duplikat ersetzt werden kann, wäre dann die Theseus-Frage, ob es einen erkennbaren Kipppunkt gibt, von dem an aus einem humanen ein posthumanes Wesen geworden wäre mit einer neuen Identität, einer neuen Persönlichkeit. Auch dies sind alte Begriffe, die nicht mehr richtig passen wollen.

Womöglich werden wir diesen Punkt gar nicht bemerken. In unserer Alltagssprache hat sich die Wahrnehmung, dass wir dabei sind, unser Wesen radikal zu verändern, längst eingenistet. Wir benutzen zunehmend technizistische Begriffe, wenn wir vom menschlichen Körper sprechen. Da ist von Mensch-Maschine-Schnittstellen die Rede, vom Gehirn als Denkapparat, von einer gelöschten Festplatte, wenn die Erinnerung fehlt. Halb fasziniert, halb erschrocken lesen wir von den Experimenten der Hirnforscher, die Schädel unter Strom setzen, um Gehirne zu tunen. Zwei Milliampere auf die Elektroden am Kopf des Scharfschützen im Simulator, und prompt sind seine Sinne geschärft und er trifft doppelt so oft. Ob er noch der Gleiche ist, wenn er abends zu seiner Frau zurückkehrt?

»Ich kenne mich nicht mehr aus.« Dieses Gefühl stellt sich auch ein, wenn Bioethiker an die Arbeit der Umwertung aller Werte gehen. Dann ist das, was gestern noch verboten war, heute nicht nur erlaubt, sondern plötzlich sogar moralische Pflicht. Ein Beispiel dafür ist die Selektion. Lange Zeit war dies ein verbotenes Wort, heute feiern sich manche Ethiker selbst dafür, wie unbefangen und tabufrei sie damit umgehen.

Selektion heißt, die Möglichkeiten der Reproduktionsmedizin zu nutzen, um zwischen besserem und schlechterem Leben zu unterscheiden. Mit der Präimplantationsdiagnostik haben Ärzte und Eltern die Chance, sich nach einem genetischen Check den vermeintlich besten unter den Embryonen auszusuchen, bevor er in den Leib der Mutter transferiert wird. Prinzipiell ist alles angerichtet, um den Zufall aus der Welt zu schaffen. Das menschliche Leben muss nicht mehr mit einer genetischen Lotterie beginnen, Eltern könnten ihre eigenen Wünsche, ihre Vorstellungen von Lebensqualität bei der Auswahl des Favoriten unter den Embryos zur Geltung bringen.

Die Idee der Selektion lautet, ein Urteil über den Wert des künftigen Lebens zu fällen. In Deutschland sind wir in solchen Dingen noch skrupulös. Es gibt noch ein starkes Bewusstsein für die Gefahr, auf eine moralische Rutschbahn zu geraten, wenn solche Praktiken erlaubt werden. Folglich blicken Bioethiker, die sich liberal nennen, mit begehrlichen Augen in den angelsächsischen Raum, wo man hier und da schon einen Schritt weiter ist. Während in Deutschland die Befürworter der PID das Argument stark gemacht haben, mit dieser Technik könne schweres Leid vermieden werden, und damit auch erfolgreich waren bei der gesetzlichen Öffnung der ersten Tür, treibt eine Denkfabrik in Oxford bereits die Idee voran, dass es bei der PID nicht bloß um die Auswahl gesunder Kinder gehe, sondern um eine Art Bestenauslese.

Zur Umwertung der Werte gehört die Erfindung neuer Begriffe. Die beiden Oxforder Bioethiker Julian Savulescu und Guy Kahane haben das sogenannte »Prinzip der prokreativen Benefizienz« in die Welt gesetzt, das seitdem heftig diskutiert wird. Es besagt, dass Eltern bei der Selektion unter ihren möglichen Kindern sich für dasjenige entscheiden sollten, das am begabtesten ist zu einem besseren Leben. Wohlgemerkt, sie sollen nicht nur selektieren dürfen, ihr Handeln wird nicht bloß hingenommen. Die Selektion nach diesem Prinzip gilt nun als Ausweis von Moralität. Eltern, die keinen »moralischen Defekt« haben, würden so handeln, meinen Kahane und Savulescu. Sie machen uns mit dem Gedanken vertraut, dass es doch naheliegt, wenn Eltern, die ohnehin nur das Beste für ihr Kind wollen, sich von vornherein für das beste unter ihren möglichen Kindern entscheiden. Moralisch gute Eltern streben doch immer danach, die Lebenschancen ihrer Nachkommen zu optimieren. Wenn sie schlau sind, bekommen sie ihre Kinder zu einem passenden Zeitpunkt, wenn die Paarverhältnisse stimmen, und nicht beim ersten Sex mit 15. Auch dies sei Selektion, meinen die Oxforder.

Diese Denkfigur ist ein schönes Beispiel dafür, dass moralische Grundrechenarten plötzlich nicht mehr gelten sollen. Haben wir es bislang als Ausdruck elterlicher Gerechtigkeit betrachtet, im Verhältnis zu den eigenen Kindern nicht nach unterschiedlichen Begabungen zu gewichten, das Maß der Zuwendung nicht davon abhängig zu machen, soll nun das Gegenteil gelten. Schon der potenziell Beste soll die Nase vorn haben. Es gilt die Steigerungslogik. Die Zukunft soll dem eugenisch optimierten Menschen gehören. Denn die PID ist ja nur eines von vielen humanwissenschaftlichen Optimierungsprogrammen, die derzeit durchgespielt werden und Ethiker herausfordern. Von ihnen wird in diesem Buch die Rede sein.

Der Geist der Konkurrenzgesellschaft

Zu den Merkwürdigkeiten unserer Zeit gehört der Widerspruch, dass im politischen Raum die utopischen Energien erschöpft zu sein scheinen, während sie in den Forschungslabors blühen. Der Revolutionär des 21. Jahrhunderts trägt einen weißen Kittel, keine Arbeitermütze. Die kommenden Revolutionen, die unser Leben grundlegend verändern sollen, sieht man zuerst unterm Mikroskop. Der Kapitalismus mag zwar unaufhörlich Krisen produzieren und zum Himmel schreiende Ungerechtigkeiten, aber etwas Besseres will uns einfach nicht mehr einfallen. Wir leben, zumindest vorerst, in der besten aller Welten, auch wenn sich längst ein tiefes Unbehagen eingeschlichen hat, ob es mit dieser Welt und ihrem Lebensstil auf Dauer gut gehen kann. Aber dieses Unbehagen ist eben in seinem Charakter depressiv. Umbrüche werden als Verhängnis gedeutet, das sich ohnehin nicht abwenden lässt, nicht als Befreiung. Worunter wir gegenwärtig leiden, so die Diagnose des Sozialphilosophen Oskar Negt, sei eine »chronische Unterernährung« an produktiver Fantasie. Utopische Lebensentwürfe, die auf eine andere Gesellschaft gerichtet sind, gelten als verbrannt. Wir graben lieber nach seltenen Erden für die nächste Handy-Generation, statt nach Fantasierohstoffen. Das überschreitende, auf Veränderung der bestehenden Verhältnisse gerichtete Denken, das nach Ernst Bloch zur conditio humana gehört, produziert gegenwärtig eher ein völlig losgelöstes Ich als ein starkes Wir. Techno-Futuristen stellen sich den neuen Menschen als optimiertes Ego vor, nicht als Kollektivwesen in einer kommunistischen Herde.

»Diese Freiheit nehm ich mir«, rief vor Jahren eine Schönheit der Werbung und zog dabei triumphierend eine Kreditkarte aus dem Bikinihöschen. Vermutlich ohne es zu wissen, haben damals die Werbetexter der Dame einen philosophischen Leitsatz des Liberalismus in den Mund gelegt, der seitdem häufig variiert wird. Denn auch in der Philosophie haben inzwischen oftmals die Deregulierer das Sagen. Sie bemühen in nahezu jeder ethischen Kontroverse die sogenannte »negative Freiheit«. Keine Gesellschaft soll dem Individuum reinreden dürfen, was es tun oder lassen soll. Der weltanschaulich neutrale Staat darf seinen Bürgern keine Beschränkungen auferlegen, die auf einer spezifischen Moral beruhen, weil ja jeder unter Moral etwas anderes versteht. Wenn also eine Frau ihre Eier verkaufen oder ihre Gebärmutter vermieten will – bitte schön. Solange jemand bereit ist, für den Dienst der Leihmutterschaft zu zahlen, wird der Markt es über den Preis richten. Wenn ein Mann seine Niere nicht spenden, sondern verkaufen will und auf diese Weise das Leben eines Zahlungskräftigen gerettet werden kann – wer wollte so etwas verbieten? Im liberalen Rechtsstaat gilt der Grundsatz: Alles ist erlaubt, solange es anderen nicht schadet.

Dies mag in bestimmten Situationen plausibel sein. Allerdings sollte philosophisches Denken nicht damit aufhören, dass ein Verbot des Verbots ausgesprochen wird, wie es in der liberalen Tradition häufig geschieht. Denn zur Freiheit gehört wesentlich, dass sie nicht nur genommen, sondern auch gegeben wird. Sie wird nicht verkauft und bezahlt, sondern verschenkt. Erfahrungen von Freiheit machen wir häufig dort, wo wir aus freien Stücken Bindungen eingehen. In der Liebe, in der Freundschaft, in der Familie, in geselligen Zusammenhängen. Wie wir diese Lebenskreise auch in einem politischen Sinne größer ziehen könnten, müsste Gegenstand utopischer Fantasie sein. Sonst laufen wir Gefahr, es uns in der kleinen Idylle zu gemütlich zu machen. Liberale Ethik, die individuelle Autonomie so stark macht, dass sie zum Dogma wird, läuft dagegen Gefahr, den Menschen als genuin soziales Wesen aus dem Blick zu verlieren. Denn wer würde ernsthaft behaupten, dass wir in dieser Gesellschaft derzeit unter einem eklatanten Mangel an individuellen Freiheitsrechten leiden?

Es ist doch eher andersherum: Ausgerechnet in Zeiten der Autonomie, das ist ein Paradoxon unserer Zeit, drohen wir unsere Freiheit im Sozialen zu verlieren. Wenn Bioethiker unter der Flagge individueller Rechte sämtliche Optimierungsprogramme aus den Forschungslabors durchwinken, dann passt das prima zum Geist der Konkurrenzgesellschaft. Der will uns täglich einflüstern, dass wir immer noch ein bisschen besser sein müssen, um mithalten zu können. Optimierung klingt nach Optimismus. Das Wort steht für eine säkularisierte Variante ehemals religiöser Heilsideen. Es darf wieder an den neuen Menschen geglaubt werden. Das Streben nach Vollkommenheit hat bloß die Bühne gewechselt. Jetzt sollen es die Forscher für uns richten.

Was war der Mensch?

Dürfen wir so bleiben, wie wir sind? Vor dem Horizont der beschriebenen Machbarkeitsfantasien ist dies eine seltsame Frage. Sie artikuliert eine Sehnsucht, die leider oder auch zum Glück völlig vergeblich ist. Denn niemals wollten Menschen einfach so bleiben, wie sie sind. Stillstand bedeutet ja Tod. Peter Sloterdijk hat in seinem Buch »Du musst dein Leben ändern« den Menschen als »übendes Wesen« beschrieben. Immerzu sind wir bestrebt, unsere Fertigkeiten zu trainieren, neue Begabungen zu testen. Seit Jahrtausenden nutzen Menschen mentale und physische Anthropotechniken, um sich zu verbessern. Wer diese Arbeiten an sich selbst vernachlässigt, der Mensch ohne Sehnsucht also, verfehlt sich selbst. Es ist, so Sloterdijk, der »finale Spießer«, der so bleiben will, wie er ist. Aber Sloterdijk hat dabei großen Wert auf die Unterscheidung gelegt, dass es heißt »Du musst dein Leben ändern« und nicht »Du sollst das Leben verändern«, etwa durch genetische Manipulation der Biologie des Menschen. Der übende Mensch spricht diesen Imperativ zu sich selbst. Ich bin es, der mehr aus sich machen will. Es ist kein äußerer Zwang, der mich hart trainieren lässt.

Mit der Frage »Dürfen wir so bleiben, wie wir sind?« wird dagegen um Erlaubnis gebeten, wenigstens für einen Moment stillstehen zu dürfen. Wer so fragt, kann nicht mehr. Das Tempo der Veränderung ist zu schnell, die äußeren Zwänge sind zu erdrückend. Da mag es hilfreich sein, einen Moment innezuhalten und zu schauen, was derzeit in den Laboren der Philosophie geschieht.

Es ist erstaunlich, dass in unserer Gesellschaft zwei parallele Diskurse über Optimierung geführt werden, die nicht miteinander verschränkt sind. Der eine ist der technisch-naturwissenschaftliche Diskurs, der den Menschen als mangelhafte Software betrachtet, die neu programmiert werden muss. Der andere Diskurs handelt vom erschöpften Ich, von einer Gesellschaft der Müdigkeit, die die Optimierungsschrauben längst doof gedreht hat. Wir spüren, dass beide Diskurse zusammengehören. Wäre der flexible Mensch des globalen Kapitalismus seelisch noch bei Kräften, würde er gar nicht die Sehnsucht verspüren, wenigstens für einen Augenblick noch so bleiben zu können, wie er ist. Philosophen, die den Lehnstuhl verlassen haben, lesen heute Beipackzettel von Psychopharmaka, sie fragen Biogerontologen, wie lange es noch dauern wird, bis die ersten Menschen ihren 200. Geburtstag feiern werden, ob das tatsächlich ein Grund zum Feiern wäre, und sie überlegen gemeinsam mit Ingenieuren, wie man Robotern moralisches Verhalten beibringen kann. Dies sind nur einige Beispiele für philosophische Fragestellungen, an die Sokrates und Kant noch nicht im Traum gedacht haben. Seit 2500 Jahren lautet die Frage der Anthropologie: Was ist der Mensch? Wenn die Futuristen mit ihren Visionen recht behalten, muss sie in absehbarer Zeit umformuliert werden: Was war der Mensch?

In diesem Buch geht es um die ethischen Großbaustellen unserer Zeit. Auf jeder wird auch darum gerungen, ob die Würde des Menschen noch als Fundament taugt. Auch ihre Verteidiger werden einräumen müssen, dass Menschen sich selten so verhalten, wie es dem stolzen Wort entsprechen würde. Denn die andere Seite der Medaille ist, dass ausgerechnet das Wesen, das sich seiner grandiosen Einzigartigkeit rühmt, noch keinen Weg gefunden hat, sich selbst zu beschränken. Ein britischer Ökonom hat ausgerechnet, dass das Durchschnittseinkommen in den ersten 1800 Jahren nach der Geburt von Jesus um die Hälfte gestiegen ist. Ein solches Wachstum schaffen wir mittlerweile locker in einem Vierteljahrhundert. Und jeder Mathematiker weiß, dass heute jedes vermeintlich winzige Mehr ein Riesenschritt ist, weil die Ausgangsbasis inzwischen schwindelerregend hoch ist. Zweihundert Jahre nachdem Menschen begonnen haben, ein neues Erdzeitalter einzuläuten, in dem kein Fleck auf dieser Welt mehr unbeeinflusst sein soll von menschlichen Begehrlichkeiten, ist der Planet in einem fürchterlichen Zustand. Jeder, der Augen hat zu sehen, und Ohren, um die Prognosen der Klimaforschung zu hören, kennt längst die Antwort auf die Frage, ob wir Wohlhabenden im Westen so bleiben dürfen, wie wir sind. Ethiker interessieren sich deshalb besonders für die Frage, warum es im Alltag eine Lücke gibt zwischen Einsicht und praktischer Konsequenz. Wir wissen zwar, was zu tun wäre, lassen es aber trotzdem. Und sie haben, wie wir sehen werden, inzwischen interessante Modelle zur Klimaethik entwickelt.

Aber noch erleben wir Klimakonferenzen als müde Routine, globale Gerechtigkeit bei der Verteilung knapper Ressourcen ist momentan nicht mehr als eine utopische Fantasie. Es scheint so, als müssten wir uns den Anspruch auf Würde erst noch verdienen.

Inhaltsverzeichnis

1 Das Menschentier

Der französische Philosoph Jacques Derrida hat die Szene beschrieben, wie er morgens im Badezimmer seiner Katze begegnet. Das Tier im Pelz, der Philosoph nackt. Derrida registriert den aufmerksamen Blick des vertrauten Tieres, und er schämt sich. Mit diesem merkwürdigen Gefühl der Scham beginnt sein Nachdenken über Menschen und Tiere. Arthur Schopenhauer mochte lieber Hunde. Aber auch er war der Überzeugung, dass der Mensch durch das Tier beschämt wird. Hier der Mensch mit all seiner Heimtücke, der das gesellschaftliche Rollenspiel perfekt gelernt hat und sich jederzeit verstellen kann. Dort das ehrliche Gesicht des Hundes, das kein Misstrauen verdient. Von Schopenhauer wird die Anekdote erzählt, dass er seinen Pudel »Du Mensch« geschimpft hat, wenn das Tier nicht folgen wollte.

Beiden Philosophen ist gemeinsam, dass sie den Gedanken der anthropologischen Differenz infrage stellen. Die Annahme eines grundlegenden Unterschiedes zwischen Mensch und Tier. Derrida hält diese Unterscheidung für Metaphysik, also für ein Gedankengebäude, an das man bloß glauben kann, das aber kein empirisch sicheres Fundament hat. Die Gegenüberstellung von Geist und Körper, Gut und Böse, Gott und Schöpfung sind für ihn lauter Beispiele für die menschliche Neigung, sich das Denken einfacher zu machen, indem man Gegensätze konstruiert. Nach dieser Logik wird immer die eine Seite privilegiert und die andere Seite herabgewürdigt, sodass eine Welt aus plus und minus entsteht. In diese Reihe gehört dann auch die Opposition Mensch versus Tier. Um diese Konstruktion aufzulösen, spricht Derrida von sich selbst als »dem Tier, das ich also bin«.

Hier wird René Descartes vom Kopf auf die Füße gestellt. Cogito ergo sum, ich denke, also bin ich, hieß ja gerade: Ich denke, also bin ich kein Tier. Descartes verstand Tiere als Maschinen, als seelenlose Automaten. Mit ihm begann vor 350 Jahren die für die westliche Denktradition typische Trennung von Geist und Körper, die für den Menschen eine Sonderstellung reklamierte. Schopenhauer war der erste Philosoph, der diese Mauer eingerissen hat. Er verwarf Anfang des 19. Jahrhunderts das Ideal vom vernunftgeleiteten Menschen, sah ihn stattdessen von einem dunklen Trieb gesteuert, den er Wille nannte. Und das war selbstverständlich kein freier Wille. Statt nach dem entscheidenden Unterschied zwischen Tier und Mensch zu fahnden, konzentrierte sich Schopenhauer auf die in seinen Augen entscheidende Gemeinsamkeit: Beide sind leidensfähig. Das würden heute nur noch wenige bestreiten, jedenfalls nicht für die sogenannten »höheren Tiere«.

Gleichwohl dürfte die Auffassung, den Menschen als Tier zu betrachten, als Art unter Arten, den Intuitionen der meisten unter uns nach wie vor widersprechen. Wenn wir ehrlich sind, betrachten wir uns wohl doch als einzigartige »Subjekte«. Vielleicht sogar immer noch als Krone der Schöpfung. Wir besuchen unsere haarigen Verwandten im Zoo und amüsieren uns, wenn die Affen sich gegenseitig lausen. Wir haben den Hund an der Leine, nicht er uns. Wir können uns nackt vor das Aquarium setzen, und trotzdem will sich die Scham nicht einstellen, die Derrida im Badezimmer beim Anblick seiner Katze gepackt hat. Wobei auch er wusste, dass der Mensch das einzige Tier ist, das um seine Nacktheit weiß, sonst könnte er sich ja nicht schämen. Kurzum, der Philosoph, der sich als Tier begreift, steht unter Verdacht, ein Exzentriker zu sein.

Staunen über Tiere

An einem Morgen im Jahr 1960 beobachtete die Affenforscherin Jane Goodall einen Schimpansen, der sich über einen Termitenhügel beugte. »Er nahm Grashalme, zupfte sie sich zurecht und fischte damit nach Termiten. Ich dachte sofort: Das ist der Beginn von Werkzeugherstellung.« Goodall betrachtete sich als Zeugin eines historischen Moments der Wissenschaft, denn bis dahin galt der Gebrauch von Werkzeug als exklusive menschliche Eigenschaft. Steht nicht der Faustkeil am Anfang der Technikgeschichte, die in gerader Linie bis zum iPad führt und uns aus dem Tierreich herauskatapultiert hat? Goodall benachrichtigte ihren Kollegen, den Anthropologen Louis Leakey, und der antwortete per Telegramm mit dem berühmten Satz: »Jetzt müssen wir entweder ›Mensch‹ neu definieren oder ›Werkzeug‹ neu definieren oder Schimpansen als Menschen akzeptieren.« Von heute aus betrachtet, könnte man über so viel Pathos schmunzeln. Seitdem haben nämlich Tiere weitaus beeindruckendere Belege für ihre Intelligenz geliefert.

1999 trat der Hund Rico in der Fernsehshow »Wetten, dass …?« auf. Der Border Collie verblüffte damit, dass er die Namen von 77 Spielzeugen kannte. Nannte man eines, wurde es von Rico geholt. Offenbar hatte Rico Spaß am Lernen, denn fünf Jahre später konnte er noch 120 Namen mehr.

Wissenschaftler des Max-Planck-Instituts für evolutionäre Anthropologie in Leipzig trauten dem Fernsehbild nicht und wollten Rico lieber selbst testen. Der Hund besaß tatsächlich eine sensationelle Lernfähigkeit für Sprache, konnte Wörter so schnell speichern wie ein Kleinkind. Auch sein Erinnerungsvermögen war beeindruckend. Man konnte dem Hund einen bestimmten Gegenstand, dessen Namen er gerade gelernt hatte, ein paar Wochen vorenthalten, und trotzdem gelang es Rico hinterher wieder, Gegenstand und Wort korrekt miteinander in Verbindung zu bringen.

Zu globaler Prominenz hat es auch Alex gebracht, ein Graupapagei, der seine Wünsche auf Englisch ausdrücken konnte. Dreißig Jahre lang hat er an der Seite der Psychologin Irene Pepperberg gelebt, die ihn darauf trainierte, verschiedene Gegenstände, Formen und Farben zu unterscheiden. Nahm sie beispielsweise eine grüne Schüssel und eine grüne Tasse und fragte den Papagei, was daran gleich sei, antwortete Alex: »Color«, die Farbe. Und was ist verschieden? »Shape«, sagte Alex, die Form. Wenn er Hunger verspürte, krächzte er: »will Traube«. Die genannten drei, Schimpanse, Hund und Papagei, sind offensichtlich doch nicht bloß instinktgesteuerte Maschinen.

Schon Charles Darwin war davon überzeugt, dass man überall im Tierreich Intelligenz finden kann. Unsere eigene verdanken wir ja schließlich, evolutionsgeschichtlich betrachtet, den Denkleistungen unserer tierischen Vorfahren. Selbst Regenwürmern schrieb Darwin eine Portion Intelligenz zu. Stunde um Stunde hat er ihre Wühlarbeit beobachtet. Schließlich gelangte er zu der Auffassung, dass Regenwürmer Entscheidungen treffen, womit sie ihre Tunnel abdichten. Aber sind Regenwürmer tatsächlich urteilsfähig? Ist das Krächzen des Papageis Sprache? Warum kommt Alex auch nach dreißig Jahren Training nicht über den Zweiwortsatz hinaus? Begreift der Schimpanse sein Werkzeug als Werkzeug?

Der Tierphilosoph Markus Wild hat darauf hingewiesen, dass es im Tierreich nichts Besonderes ist, besonders zu sein. Das Überleben in der ökologischen Nische hängt wesentlich davon ab, ob eine Art imstande ist, die eine, entscheidende Kompetenz zu entwickeln, die andere Arten nicht haben. Infrage steht heute die Auffassung, dass der Mensch so außerordentlich besonders ist, dass er sich in einem oder mehreren zentralen Merkmalen von allen Tieren zugleich unterscheidet. Von der Antwort auf diese Frage hängt ab, ob die anthropologische Differenz noch gilt, oder ob es zwischen Mensch und Tier nur graduelle, aber keine prinzipiellen Unterschiede gibt.

Der Affe in uns

Alex, der inzwischen verstorbene Graupapagei, war gewiss schlau, aber andere Vögel sind auch nicht dumm. Sie können miteinander kommunizieren, sie haben ein Gedächtnis für ihre Verstecke von Lebensmitteln, sie legen sich Landkarten im Gehirn an. Trotzdem kämen wir nicht auf die Idee, uns mit einem Vogel zu vergleichen. Im Zoo zieht es uns zu den Primaten, weil wir gelernt haben, dass das unsere Verwandtschaft ist. Vorbei die Zeit, als Darwins Abstammungslehre noch als Kränkung verstanden worden ist. Wir alle haben die Bilderreihe im Kopf vom gebückt schleichenden Affenmenschen, der sich stufenweise zum aufrechten Gang erhebt. Volker Sommer, Professor für evolutionäre Anthropologie in London, verlässt sogar die Ebene des Vergleichs und begreift sich selbst als Säugetier im Allgemeinen und Primaten im Besonderen: »Ich bin bekennender Menschenaffe.« Er amüsiert sich über Antinaturalisten, die den großen Unterschied retten wollen.

Nachdem für viele Forscher mit Jane Goodalls Beobachtungen der Schimpansen am Termitenhügel das Argument vom exklusiv menschlichen Werkzeuggebrauch widerlegt war, wurde die Latte für die Menschenaffen höher gelegt und der Intelligenztest verschärft. Können sie Werkzeuge ebenso wie Menschen auch vorausschauend für zukünftigen Gebrauch anfertigen? Können sie verschiedene Werkzeuge logisch hintereinander einsetzen? Der Affenforscher Sommer meint, dass die Tiere all diese Prüfungen bestanden haben, er hält Primaten für Kulturwesen. Zwar bauen Affen keine Kathedralen, und sie wissen vermutlich auch nicht um ihre Sterblichkeit, aber »religionsähnliche Praktiken« kennen sie schon. Sommer ist aufgefallen, dass in Affengesellschaften Traditionen existieren, die irrational wirken, aber offenbar wichtig sind für die soziale Identität in der Horde. Sommer führt als Beispiel den Umgang mit Wasser an: Schimpansen in Westafrika nehmen gern ein Bad im Teich, Schimpansen in Ostafrika sind wasserscheu. Schimpansen verspeisen fast überall Termiten, nur nicht in Nigeria, obwohl sie dort überall zu finden sind. Es existieren offenbar unterschiedliche lokale Affen-Kulturen. Wären Schimpansen Menschen, meint Sommer, dann würden derartige Tabus als magische Praktiken einer Naturreligion gelten.

Was darauf wohl Sigmund Freud geantwortet hätte? Der Psychoanalytiker hat sich ja viele Gedanken über die Entstehung von Zivilisation gemacht. Vermutlich würde er den Schimpansen zuallererst abverlangen, auf ihr zügelloses Sexualleben zu verzichten. Kein Fortschritt ohne Tabus. Freuds These war, dass Zivilisation durch Sublimierung des Instinkts entsteht. Wer sich aus der Herrschaft der Naturkräfte lösen wolle, müsse ein Über-Ich entwickeln. Andernfalls würden die Söhne weiterhin ihre Väter abschlachten. Die Macht der Biologie endet laut Freud also dort, wo die Moral beginnt.

Sigmund Freud ist lange tot, seine Kulturtheorie heftig umstritten, aber das Moralargument ist bis heute eine Trumpfkarte der Antinaturalisten. Sie reklamieren einen unüberbietbaren moralischen Status für den Menschen und nennen ihn: Würde. Tiere darf man als Sachen behandeln, Menschen nicht. Wir stellen füreinander einen absoluten Wert dar, der nicht verrechenbar ist oder es zumindest nicht sein sollte. Die Unantastbarkeit der menschlichen Würde hat es ja sogar bis ins Grundgesetz geschafft, von Tieren ist da nicht die Rede. Unsere menschliche Würde ist in dieser Lesart an zwei Kompetenzen gebunden, die Tieren abgesprochen werden: Handlungsfreiheit und Moralfähigkeit.

Das Tier lebt vor sich hin. Der Mensch führt ein Leben, kann einen Lebensplan verfolgen. Zugleich kann er daran scheitern und moralische Ansprüche verfehlen. Der Mörder steht vor dem Menschengericht, aber niemand käme auf die Idee, einen Schimpansen für die Tötung eines Artgenossen zur Verantwortung zu ziehen. Freilich bestreiten manche Neurowissenschaftler auch die Handlungsfreiheit des Menschen. Wenn sie recht hätten, müssten Richter über ihr Berufsbild nachdenken, weil die Idee der Strafe an Verantwortungsfähigkeit und Freiheit gekoppelt ist. Mensch und Tier wären dann auch in diesem Punkt nicht wesentlich voneinander unterschieden. Aber noch betrachten wir den Menschen nicht als determinierte Biomaschine, die einfach ihr Lebensprogramm abspult. Wir betrachten den Menschen als frei und verfahren vor Gericht nach der Praxis, dass einem Angeklagten ein Fehlverhalten tatsächlich vorgeworfen werden kann. Was passieren würde, wenn wir die Idee der Handlungsfreiheit aufgäben, können sich selbst Hirnforscher nicht ausmalen.

Gleichwohl hat die Moralfraktion den Punktgewinn noch nicht in der Tasche. Denn sie wird einräumen müssen, dass die Welt nicht so ist, wie philosophische Moralisten sie gerne hätten. Kants kategorischer Imperativ »Handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, dass sie ein allgemeines Gesetz werde« mag argumentativ noch so bestechend sein, aber im Alltag halten wir uns häufiger nicht daran. Vom Wissen um die Falschheit einer Handlung ist es ein weiter Weg bis zur konkreten Verhaltensänderung. Und es ist umstritten, ob zweieinhalb Jahrtausende Moralphilosophie die Welt verbessert haben. Vorsicht also, wenn die Latte für Tiere so hoch gelegt wird, auch der Mensch könnte sie reißen.

Wiederum ist es ein Affenforscher, der das Moralargument naturalistisch zerlegt, der Niederländer Frans de Waal. Eine seiner Thesen lautet, dass die Menschlichkeit älter ist als die Menschheit. Wir haben die Moral nicht mühsam kulturell erworben und sie auf unsere zweifelhaften Naturanlagen draufgepackt, um die Bestie Mensch zu zähmen, sondern Moral hat sich aus diesen biologischen Anlagen selbst entwickelt. Wer nach den Wurzeln moralischen Handelns suchen will, muss unsere haarige Verwandtschaft beobachten. Frans de Waal erzählt dazu gerne die Geschichte von seinen Kapuzineräffchen. Die mögen Gurken, aber noch viel lieber Trauben. Beobachtet der Affe mit den Gurken, dass sein Nachbar Trauben vorgesetzt bekommen hat, wird er die Gurken aus Protest verschmähen. Das ist nichts anderes als simpler Neid. Verblüffend ist allerdings, dass auch beim umgekehrten Experiment die Nahrungsaufnahme verweigert wird. Der bevorzugte Affe lehnt die schmackhaften Trauben ab, weil sein Nachbar nur die Gurken bekommen hat. Frans de Waal meint, dass Affen und Menschen Gruppentiere sind mit einer hohen Empfindlichkeit gegen Ungerechtigkeit. Wir sind sehr kooperativ, »manchmal kriegerisch, aber überwiegend friedliebend«. Wenn wir gut handeln, dann aus dem Grund, dass wir mit anderen Emotionen teilen. Leidet jemand in unserer Nähe, dann leiden wir mit. Genauso wie wir uns von seinem Lachen oder Gähnen anstecken lassen. Die Stimmungsübertragung ist ein wesentlicher Teil der Empathie, der einfühlenden Reaktion, die de Waal für die Basis menschlicher und nicht menschlicher Moral hält.

Immanuel Kant hätte diesen Vergleich von Mensch und Affe entrüstet zurückgewiesen, denn er war ja der Überzeugung, dass wir unsere Emotionen gerade auf Abstand halten müssen, um moralisch handeln zu können. Dem Mitleid hat Kant keine Bedeutung für sittliches Handeln eingeräumt. In Frans de Waals Theorie von den evolutionären Grundlagen der Moral gilt die Vorstellung, wir müssten uns für alles Leid der Welt verantwortlich fühlen, als höchst unrealistisch. Eine derart übersteigerte Moral würde uns überfordern. Zwar sei das moralische Verhalten bei Menschen stärker entwickelt als bei Nichtmenschen, aber wir bewegten uns doch in einem gemeinsamen Kontinuum, nicht in zwei getrennten Welten. Zwischen Mensch und Menschenaffe, meint der Primatenforscher, besteht ein gradueller, kein qualitativer Unterschied. Wir würden immer zunächst an uns und dann an die Gesellschaft denken und die Reichweite der Empathie sei begrenzt. Auch wenn wir die Grenzen unseres Zusammengehörigkeitsgefühls erweitern könnten, würde es für das Gruppentier Mensch wohl nicht für eine globale Moral und den ewigen Frieden reichen. Affenforscher sind keine Idealisten.

Der Fingerzeig ins Nichts

Im Mittelalter waren Philosophen noch der Meinung, dass nur der Mensch lachen kann. Kürzlich wurden aber 800 junge Primaten in deutschen und malaysischen Zoos systematisch durchgekitzelt. Nach einer computergestützten Analyse der Frequenz der Lachlaute kam heraus, dass vor allem Schimpansen und Bonobos menschentypisch melodiös lachen. Wieder eine geteilte Emotion, ein gemeinsamer Ursprung. Forscher datieren ihn zehn bis sechzehn Millionen Jahre zurück. Allerdings kennen wir bis heute keinen Affen, der die Kunst des Witze-Erzählens beherrschen würde. Und damit sind wir beim letzten Ass im Ärmel der philosophischen Fraktion, die Tieren die Denkfähigkeit abspricht, dem Sprachargument. Ohne Sprache kein Denken, so die These des analytischen Philosophen Donald Davidson, der Tieren Rationalität abgesprochen hat. Ich benötige den Begriff von einem Gedanken, um überhaupt denken zu können.

Davidson erklärt dies am Phänomen der Überraschung. Wenn jemand der Überzeugung ist, noch eine Münze in der Hosentasche zu haben, dann nachschaut und nichts findet, ist er überrascht. Er macht sich den Gegensatz bewusst zwischen dem, was er zuvor geglaubt hat, und der Tatsache der leeren Hosentasche. Er hat plötzlich zwei Überzeugungen: eine ehemalige und eine aktuelle. Die Überraschung ist die Voraussetzung, um zwischen wahr und falsch unterscheiden zu können. Wer Überraschung empfindet, kommt zu einer »Überzeugung über seine Überzeugung«. Man kann aber nur eine Überzeugung haben, wenn man weiß, was eine Überzeugung ist. Wenn man einen Begriff von ihr hat. Rationalität hängt für Davidson an der Fähigkeit zur sprachlichen Kommunikation. Sobald wir Sprache besitzen, sind wir nicht mehr an Reize von außen gebunden. Wir können über Dinge reden, die noch gar nicht existieren, Pläne schmieden und Ziele setzen. Tiere können das nicht.

Auch Martin Heidegger hat die anthropologische Differenz an die Fähigkeit zu sprechen geknüpft. »Die Sprache ist das Haus des Seins«, lautet sein berühmtes Rätselwort. Gemeint war, dass wir uns durch Sprache in der Welt einrichten, uns durch sie unsere Welt überhaupt erst schaffen. »Der Stein ist weltlos, das Tier ist weltarm, der Mensch ist weltbildend.« Der Stein liegt, wo er liegt, und es ist ihm egal, ob das auf dem Mond ist oder auf der Erde. Das Tier lebt und überlebt in seiner Nische. Es ist gebunden an die Verhältnisse, die es dort vorfindet. Aber dem Menschen steht die ganze Welt offen. Wenn er will, kann er dieses Haus des Seins überall errichten.

In der Geschichte der Menschheit muss es einen kulturellen Wagenheber-Effekt gegeben haben, der uns aus dem Tierreich hinauskatapultiert hat. Vermutlich war es die Fähigkeit zu sprechen. Ein Erwachsener kann einem Kind mit wenigen Worten erklären, wie es den Hammer halten soll, Schimpansen müssten dafür monatelang zuschauen. Sobald ein Einzelner eine neue Methode gefunden hat, um ein Problem zu lösen, erlernen andere sie blitzschnell hinterher und behalten sie so lange bei, bis wiederum jemand mit einer überzeugenderen Lösung kommt. Ohne sprachliche Kommunikation würden diese Entwicklungssprünge nicht funktionieren. Michael Tomasello, Verhaltensforscher am Max-Planck-Institut für evolutionäre Anthropologie in Leipzig, hält diese sogenannte kumulative kulturelle Evolution für einzigartig. Der Mensch ist das einzige Tier, das nachweislich Änderungen von Verhaltensweisen in Serie produziert. Und stets werden diese Verhaltensweisen immer komplexer.