Ende gut – alles gut!? - Ole Dost - E-Book

Ende gut – alles gut!? E-Book

Ole Dost

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Beschreibung

"Ende gut … alles gut!" – So könnte das (erhoffte und gewünschte) Fazit zur christlichen Endzeiterwartung lauten. Allerdings wird diese Kurzformel den vielen Fragen und Spekulationen nicht gerecht; auch blendet es aus, dass ganz unterschiedliche "Endzeitszenarien" in christlichen Kreisen verbreitet wurden (und werden). Wer sich jedoch ernsthaft mit den Aussagen der Bibel zur Endzeit befassen möchte, kommt an der Verkündigung Jesu und der Apostel nicht vorbei. Die erste Christenheit hoffte auf die nahe Wiederkunft Christi (1Thess 4,13ff), um an der Vollendung seiner messianischen Herrschaft teilzuhaben. Diese eschatologische (Nah-)Erwartung geriet im Laufe der Kirchengeschichte in den Hintergrund. Nur Randgruppen entdeckten sie wieder, darunter die frühe Pfingstbewegung, die erwartungsvoll und mit Glauben betete: "Herr, komme bald!" Dieser Band soll dem Leser helfen: 1. die Endzeitbotschaft Jesu im Lichte des frühjüdischen Hintergrunds besser zu verstehen; 2. die lebhafte Erwartung der Wiederkunft Christi (Maranatha) als Kern der christlichen Hoffnung und Spiritualität neu zu würdigen; 3. dem "Verlust der Naherwartung der Wiederkunft Christi" (Olpen) in der westlichen Pfingstbewegung entgegenzuwirken und zu neuer Vitalität verhelfen. Schließlich soll auch ein Einblick in die Entwicklung der Eschatologie innerhalb der Pfingstbewegung gewährt werden. Der letzte Beitrag endet daher in einem Plädoyer für eine Erneuerung der eschatologischen "Naherwartung". Mit Beiträgen von: Ole Dost, Hubert Jurgensen und Bernhard Olpen

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Seitenzahl: 219

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Forum Theologie & Gemeinde

Material zum geistlichen Dienst

Band 23.1

theologisch kompetent – praktisch relevant

Ende gut – alles gut!?

Beiträge zur Eschatologie aus pfingstlicher Sicht

Mit Beiträgen von

Ole Dost, Hubert Jurgensen

und Bernhard Olpen

Herausgegeben vom

Die Autoren

Ole Dost, Studienrat und Pfarrer der Evangelischen Kirche in Württemberg. Nach seinem Studium am Theologischen Seminar BERÖA schloss sich ein Studium der Evangelischen Theologie an der Universität Tübingen an. Dort beschäftigte er sich u. a. mit den Textfunden aus Qumran, was seine Neugierde weckte und zu weiteren Forschungen bzgl. des frühen Judentums führte. Derzeit ist er für den Religionsunterricht an den Gymnasien in Sulz am Neckar und Oberndorf am Neckar verantwortlich.

Dr. Hubert Jurgensen hat sich im Rahmen einer Promotion an der Evangelisch-Theologischen Fakultät der Universität Straßburg und als langjähriger theologischer Dozent an pfingstlichen Theologischen Seminaren mit dem Thema der neutestamentlichen Eschatologie intensiv beschäftigt. Es ist ihm ein großes Anliegen, zu einem ausgewogenen und biblisch fundierten Umgang mit den damit verbundenen Fragen innerhalb der Pfingstbewegung beizutragen.

Dr. Bernhard Olpen, leitender Pastor des „Christlichen Zentrums Düsseldorf“ (CZD), Dozent für Neuere Kirchengeschichte am Theologischen Seminar BERÖA sowie stellvertretender Leiter des Theologischen Ausschusses des BFP. Er ist Autor mehrerer Bücher zu geschichtlichen und kirchengeschichtlichen Themen. 

© 2016 Copyright Forum Theologie & Gemeinde (FThG) im Bund Freikirchlicher Pfingstgemeinden KdöR, Erzhausen

Bibelstellen sind aus dem Grundtext übersetzt oder, wenn nicht anders angegeben, der Revidierten Elberfelder Bibel, © 1985/1991/2006 SCM R. Brockhaus, Witten, entnommen.

Alle Rechte vorbehalten. Vervielfältigungen in Form von Kopien einzelner Seiten oder Ausdrucken einzelner Abschnitte (digitale Version) sind nur für den privaten Gebrauch bzw. innerhalb einer Ortsgemeinde gestattet. Alle anderen Formen der Vervielfältigung (Mikrofilm, andere Verfahren oder die Verarbeitung durch elektronische Systeme) sind ohne schriftliche Einwilligung durch das Forum Theologie & Gemeinde nicht gestattet.

Umschlagbild: Zeit © PhotoSG – fotolia.com

Layout, Umschlag u. Realisierung E-Book: admida-Verlagsservice, Erzhausen

Druck: Breitschuh & Kock, Kiel

ISBN der Printausgabe: 978-3-942001-74-8

ISBN der E-Book-Ausgabe: 978-3-942001-30-4

Bestell-Nr. buw039

Forum Theologie & Gemeinde (FThG)

Industriestr. 6–8, 64390 Erzhausen

Inhalt

Vorwort

A Endzeiterwartungen des Judentums zwischen dem Alten und dem Neuen Testament als Auslegungshilfe für die Verkündigung Jesu und der Apostel(von Ole Dost)

1 Einführung

1.1 Vorbemerkungen

1.2 Was meint „Frühjudentum“?

1.3 Entstehung und Eigenart der frühjüdischen Eschatologie

1.4 Was ist Apokalyptik?

2 Die Verfasser der apokalyptischen Schriften, ihre theologische Prägung und ihre gesellschaftliche Verortung

2.1 Die Pharisäer

2.2 Die Verfasser der Qumran-Funde und verwandter Texte

2.2.1 Die Schatzhöhlen am Toten Meer

2.2.2 Die Schatzkammer in Kairo

2.3 Die Zeloten

3 Endzeiterwartungen und Erlösergestalten in Beispielen

3.1 „Deine Toten werden leben, die Leichen stehen wieder auf; wer in der Erde liegt, wird erwachen und jubeln!“

3.2 Der Menschensohn

3.2.1 Der Ausgangspunkt: Dan 7,13f.27

3.2.2 Der Menschensohn im äthiopischen Henochbuch (1. Henoch)

3.2.3 Der Menschensohn in der Esra-Apokalypse

3.2.4 Der Menschensohn Jesus Christus

3.3 Erlösergestalten mit dem Messiastitel

3.3.1 Das „duale System“

3.3.2 Der Feldherr im eschatologischen Kampf

3.3.3 Der heilende Messias

3.3.4 Der unübersehbare Messias

3.4 Der himmlische Hohepriester

4 Jesus und frühjüdische Endzeiterwartungen – ein Fazit

5 Literaturverzeichnis

B Die Wiederkunft Christi erwarten – Ein neuer Blick auf 1. Thessalonicher 4,13–5,11 aus pfingstlicher Perspektive(von Hubert Jurgensen)

1 Einführung

2 Hoffnung für die Toten in Christus: Eine exegetische Studie zu 1Thess 4,13–18

2.1 Anlass und Zweck

2.2 Synchrone Textanalyse

2.2.1 Kontext

2.2.2 Abgrenzung, Kohärenz und Struktur

2.2.3 Philologische, grammatische und rhetorische Analyse

2.3 Diachrone Textanalyse

2.4 Textaussage bzw. -botschaft

2.5 Schlussfolgerung

3 Wie man im Licht der kommenden Parusie lebt: Eine exegetische Untersuchung von 1Thess 5,1–11

3.1 Anlass und Zweck

3.2 Synchrone Textanalyse

3.2.1 Kontext

3.2.2 Abgrenzung, Kohärenz und Struktur

3.2.3 Philologische, grammatische und rhetorische Analyse

3.3 Diachrone Textuntersuchung

3.4 Textaussage bzw. -botschaft

3.5 Schlussfolgerung

C Eschatologie in der Geschichte der Pfingstbewegung(von Bernhard Olpen)

1 Einleitung

2 Naherwartung als klassisches Kennzeichen des Erweckungschristentums

3 Die Interpretation der Pfingsterweckung als Spätregen (Latter Rain)

4 Die soziologischen Implikationen der Spätregentheologie

5 Perspektiven für die pentecostale Eschatologie

Über den Herausgeber

A   Endzeiterwartungen des Judentums zwischen dem Alten und dem Neuen Testament als Auslegungshilfe für die Verkündigung Jesu und der Apostel

Ole Dost

1 Einführung

1.1 Vorbemerkungen

Jesu Worte und Werke ereignen sich nicht in einem religiösen Vakuum. Seine Verkündigung trifft auf Erwartungen und Hoffnungen, die seine Zeitgenossen bezüglich des endzeitlichen Handelns Gottes hegten. Mit diesen Gedanken muss Jesu Auftreten in Zwiesprache treten, wenn er von seiner jüdischen Umwelt verstanden werden möchte. Und genau darum sind sie auch für uns der eingehenden Beschäftigung wert, wenn wir unsererseits die Botschaft Jesu und des Urchristentums erschließen wollen. Wenn wir uns mit der frühjüdischen Endzeiterwartung befassen, dann ist zunächst notwendig, den Zeitraum, die Gruppen und die Literatur zu betrachten, welche die Epoche „Frühjudentum“ prägten. Die geschichtlichen Erfahrungen und ihre Verarbeitung führen nicht nur zur Ausbildung verschiedener jüdischer Gruppen, sondern auch zur Ausgestaltung und Gewichtung eschatologischer Erwartungen.

1.2 Was meint „Frühjudentum“?

Der Begriff „Frühjudentum“ hat sich in der deutschen Theologie in etwa seit der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg eingebürgert. In älterer Literatur begegnet für denselben Zeitraum der Begriff „Spätjudentum“. Dieser Begriff wird heute nicht mehr verwendet, weil mit Blick auf das Israel der vorexilischen Zeit nicht von „Judentum“ geredet werden kann. Treffender als „Frühjudentum“ ist der in der englischsprachigen Theologie verbreitete Ausdruck „Second Temple Judaism“, weil diese Epoche in etwa mit dem Bestand des nachexilischen Tempels parallel verläuft. Gemeint ist die Zeit des frühesten Judentums während der Zeit der griechischen und römischen Oberherrschaft, die vom kurzen Intermezzo der israelitischen Königsdynastie der Hasmonäer 1511 bzw. 1612–63 v. Chr. unterbrochen wurde, konkret also in etwa ein Zeitrahmen, der 332 v. Chr. mit der Einahme Jerusalems unter Alexander dem Großen beginnt und mit der Zerstörung des herodianischen Tempels 70 n. Chr. endet. Theologiegeschichtlich lässt sich diese Zeit noch bis zum Ende des zweiten jüdischen Aufstandes 135 n. Chr. verlängern. Ab dieser Zeit redet man vom rabbinischen Judentum, das aus der pharisäischen Gruppe hervorgeht, denn von den verschiedenen jüdischen Gruppierungen „überlebten“ nur die Pharisäer die Katastrophe des ersten jüdischen Krieges, die dann zu „Stammvätern“ des rabbinischen Judentums wurden.

Gekennzeichnet wird das Ende der Epoche des Frühjudentums zudem durch den Abschied von der apokalyptischen Literatur, die angesichts der Katastrophen in Folge der jüdischen Aufstandsversuche gegen die Römerherrschaft aus dem Kanon jüdischer Lehrgrundlagen ausgeschlossen wurde – die apokalyptischen Erwartungen, die große Teile des Judentums erfüllt hatten, waren in ihrer fanatisierten Zuspitzung die Auslöser der Aufstände gewesen und wurden nun für das Elend der besiegten Juden verantwortlich gemacht. Und damit sind wir bei einem theologischen Kennzeichen: Das Frühjudentum ist eine Epoche, in der innerhalb des Judentums ganz verschiedene Gruppen mit sehr unterschiedlicher Auffassung gerade bezüglich endzeitlicher Erwartungen nebeneinander existieren. In einigen dieser Gruppen entsteht und blüht die apokalyptische Literatur, die uns das Denken und die endzeitlichen Erwartungen des Frühjudentums zugänglich macht.

Bei der Auslegung neutestamentlicher Texte nimmt die Literatur des Frühjudentums durch ihre Abfassungszeit eine nicht zu unterschätzende Brückenfunktion ein: Sie ist entscheidend beeinflusst vom AT einerseits; wir erfahren, wie die unterschiedlichen Verfasserkreise des Frühjudentums das AT in ihrer Zeit verstanden. Andererseits sind in der Spätzeit des Frühjudentums die Bücher des NT entstanden; diese zeigen folglich Spuren der Auseinandersetzung, die Jesus, die erste Jüngergeneration und Paulus mit der jüdischen Theologie ihrer Zeit zu führen hatten.

1.3 Entstehung und Eigenart der frühjüdischen Eschatologie

Die wesentlichen Grundzüge der frühjüdischen Enzeiterwartung stehen mit der geschichtlichen Erfahrung des Judentums in engem Zusammenhang. Es ist die Geschichte einer sehnsuchtsvollen Hoffnung und eines festen Vertrauens, die aus Desillusion und Verfolgung hervorgegangen waren.

Bereits die Prophetenbücher des AT bringen die tiefe Enttäuschung über das jüdäische Königtum der Davididen3 zum Ausdruck. Nach der Königsideologie Israels waren sie durch den Salbungsritus gewissermaßen Gottes Stellvertreter und hatten als solche das Volk Gottes zu führen. Bis auf wenige Ausnahmen, etwa Josia und Hiskia, versagten sie darin kläglich; nicht zuletzt auch aufgrund des Druckes, den die überlegenen Großmächte der Zeit in unterschiedlichem Maße aufbauten4. Beispielhaft ist die Klage in Ez 34 über die Roäh Jisrael5, die Hirten Israels, die bildhaft die Davididen-Könige Judas anspricht: Die Fürsorge dieser Hirten gilt nicht den ihnen anvertrauten Schafen; sie haben nur ihr eigenes Wohl im Blick und wenden sich den Schafen nur zu, um sie auszubeuten6. Hirtenlos sind die Schafe sich selbst überlassen und damit schutzlos den Beutegreifern7, sinnbildlich der Verführungsmacht fremder Gottheiten, ausgeliefert. Nach der Katastrophe von 587 v. Chr., als der Tempel zerstört und der letzte Davididen-König Zidkija mit der Oberschicht des Volkes ins Reich der neubabylonischen Eroberer deportiert wurde, war das Territorium des Gottesvolkes unter der Oberherrschaft sich abwechselnder Großmächte: Die Perser „erbten“ mit dem Territorium der Neubabylonier auch das Gebiet des alten Israel, das durch Alexanders Feldzüge wiederum unter griechische Herrschaft geriet und als Zankapfel zweier Nachfolgereiche, der Ptolemäer und Seleukiden, knapp zwei Jahrhunderte hindurch auch blieb.

Der Untergang des Südreiches, der Davididenherrschaft und des Tempels konnten noch als gerechte Strafe für den Abfall von der Treue zum Gott Israels erklärt und verarbeitet werden. Schwerer schien es zu verstehen, warum es bei einer Jahrhunderte währenden Fremdherrschaft über dem Land blieb, das Gott seinem Eigentumsvolk zugedacht hatte. Der dauerhafte Verlust einer gerecht regierten israelischen Eigenstaatlichkeit und der Triumph der Verächter Israels und seines Gottes unter den Völkern war eine beständige Anfechtung des konservativen Judentums: „Weshalb ist Israel der Schande durch die Völker ausgeliefert, das Volk, das du liebst, gottlosen Stämmen?“8

Diese Erfahrung erlebte ihre Zuspitzung in der sogenannten „antiochenischen Krise“: Seit 332 v. Chr. stand Palästina unter griechischer Herrschaft. Nach dem Tod Alexanders gehörte das Stammland des Judentums zuerst zum Nachfolgereich der von Ägypten aus herrschenden Ptolemäer, dann zum Herrschaftsgebiet der Seleukiden, die einen Großteil des persischen Achaimenidenreiches „geerbt“ und ihr Machtzentrum in Syrien direkt neben dem altisraelitischen Gebiet hatten. Zu Beginn des 2. Jahrhunderts v. Chr. wurde die Vorherrschaft der Griechen im vorderen Orient und Nordafrika durch die Expansion der Römer in schwere Bedrängnis gebracht; nach dem Sieg der Römer über die Makedonier verblieben nur noch das Ptolemäer- und das Seleukidenreich als selbstständige griechische Staaten. Und diese Selbstständigkeit geriet unter den zunehmenden Druck der römischen Einflussnahme und Bedrohung. Durch die außenpolitische Gefährdung und jüdische Aufstandsversuche in Jerusalem sah sich der Seleukidenherrscher Antiochos IV. Epiphanes in einer Zwangslage, die ihn zu Strafaktionen führte, welche die jüdische Frömmigkeit im Kern traf. Unmittelbar vor Beginn der Aufstände in Palästina hatten die Römer Antiochios IV. gezwungen, einen erfolgreichen Eroberungsfeldzug im ptolemäischen Ägypten abzubrechen und Ägypten zu räumen. Gedemütigt und durch einen teuren, vergeblichen Feldzug ruiniert, hatte Antiochos auf dem Rückzug 167 v. Chr. den Tempel in Jerusalem plündern lassen. Dies war der Auftakt zu jüdischen Aufständen und einer judenfeindlichen Politik seitens des Seleukidenstaates. Antiochos IV. wollte abschaffen, was vielen nichtjüdischen Zeitgenossen mit Blick auf den jüdischen Glauben und Leben der sprichwörtliche Dorn im Auge war: die Abgrenzung der Juden von den Angehörigen anderer Völker durch die Beschneidung, die Sabbatruhe und die Speisegebote. 167 v. Chr. suchte Antiochos die Juden zur Aufgabe ihrer Abschottung und zur Öffnung gegenüber dem griechischen Geist (Hellenismus) zu zwingen, indem er den Tempel durch die Opferung von Schweinefleisch auf dem Brandopferaltar kultisch unbrauchbar machte. In doppelter Hinsicht frevelhaft für jüdisches Empfinden war die Einrichtung zusätzlicher Opferstätten im ganzen Land: Der Opferdienst im Tempel wurde dadurch zusätzlich entwertet und das Gebot der Kultzentralisation auf Jerusalem ausgehebelt. Zu alledem wurde die traditionelle Verehrung des Gottes Israels mit der Todesstrafe bedroht, das demonstrative Essen von Schweinefleisch als „Loyalitätstest“ angeordnet.

Die Freude über den geglückten Befreiungskampf gegen die Seleukidenherrschaft im Zuge des Makkabäeraufstandes blieb nur von kurzer Dauer. Den Anführern des jüdischen Aufstandes, der Priesterfamilie Hasmon aus der Ortschaft Modeïn, gelang die Etablierung einer jüdischen Herrscherdynastie, den Hasmonäern. Zwar waren die Hasmonäer als selbstständige jüdische Regenten erfolgreich um die Wiederherstellung des Territoriums Israels bemüht, dennoch blieben diese Könige durch ihr tyrannisches Benehmen und ihr teilweise grausames Vorgehen gegen fromme Bevölkerungsgruppen im Gedächtnis der jüdischen Geschichtserinnerung. Dafür steht beispielhaft das Massaker an den Pharisäern. Der jüdische Geschichtsschreiber Josephus berichtet, wie sich der Hasmonäer-König Alexander Jannai (103–76 v. Chr.) systematisch gegen die Pharisäer wendet: Als Alexander sich im Hohepriesterornat im Tempel zeigte, wurde er mit Früchten beworfen. Diese Kränkung rächte er, indem er 800 Pharisäer kreuzigen ließ. Die noch lebenden Gekreuzigten mussten, bevor sie selbst starben, der Hinrichtung ihrer Frauen und Kinder zusehen.

Zu solchen Exzessen gesellte sich der Eingriff in das Hohepriestertum: Dass sich der Rebellenführer Jonathan nach dem Rückzug der Seleukiden neben der Königswürde zudem das Amt des Hohepriesters einverleibte – ursprünglich wahrscheinlich, um so Zugriff auf die Tempelkasse zu bekommen – und beide Ämter für die von ihm abstammenden Regenten erblich machte, erschien vielen thoratreuen Juden als unerträglicher Frevel. Hatte Gott nicht eine „heilige Gewaltenteilung“ eingerichtet, indem er Mose das Volk führen hieß und die Hohepriesterwürde seinem Bruder Aaron verlieh? So wurde das Priesterkönigtum der Hasmonäer der Anlass für die Abwendung der Pharisäer vom Hasmonäerstaat und eskalierte im Pharisäeraufstand von 94 v. Chr., der in dem berichteten Massaker endete. Zudem führte die Personalunion des weltlichen und geistlichen Führungsamtes dazu, dass ein Teil des konservativen Judentums den vom Hohepriester verantworteten Tempelopferdienst komplett boykottierte und sich vom übrigen Judentum konsequent abnabelte9.

Nach dem Tod von Alexandra Salome, die das letzte unangefochten herrschende Oberhaupt der Hasmonäerdynastie darstellte, kam es 67 v. Chr. zum erbitterten Nachfolgekrieg von Alexandras Söhnen Aristobulos II. und Hyrkanos II. um die Thronanwartschaft, der sich zuspitzte, als Hyrkanos den Nabatäerkönig um Hilfe ersuchte und mit der Aussicht auf Gebietsabtretungen gegen seinen Bruder und Gegner hetzte. Da die Römer mittlerweile die benachbarten syrischen Gebiete unter ihre Gewalt gebracht hatten, wurden sie auf die Wirren im Hasmonäerstaat aufmerksam, die eine günstige Gelegenheit boten, nach gern geübter römischer Politik ein Gebiet zu unterwerfen, indem man vorgeblich einem bedrängten Bundesgenossen zur Hilfe eilte. Beide Streithähne „bewarben“ sich als Bundesgenossen der Römer, um den römischen Eingriff zu Lasten des jeweiligen Gegners zu veranlassen.

Die Römer zwangen die Nabatäer zum Abzug, bevorzugten zunächst die eine und dann die andere Kriegspartei, um nach der Eroberung Jerusalems 63 v. Chr. die Karten ganz neu zu mischen: Fortan war das Gebiet des Hasmonäerreiches, in großen Teilen deckungsgleich mit dem alten Königreich Israel, ein von Rom eroberter Staat, der zunächst seine außenpolitische und dann sukzessive auch seine innenpolitische Selbstständigkeit verlor. Das nunmehr angebrochene Zeitalter war aus der Perspektive der apokalyptischen Bücher, die auf diese Zeit zurückblicken, „härter und viel schlimmer als die Macht derer, die vor ihm waren“10. Denn unter dieser Fremdmacht wurde die jüdische Frömmigkeit nicht nur unterdrückt; vielmehr wurde sie mit dem dauerhaften Totalverlust des Jerusalemer Tempels, der einzigen Stätte des legitimen Opferdienstes, ihres Zentrums und Herzstücks beraubt.

Die Erfahrung frommer Kreise führte angesichts dieses Geschichtsverlaufes zu den folgenden Grundzügen einer sehnsüchtigen Erlösungshoffnung: Fremde Völker bedrängen das Gottesvolk und beuten es aus. Aber auch israelitische bzw. jüdische Regenten versagen in ihrer theokratischen Aufgabe und regieren auf weltliche Weise letztlich gottlos. Wer sich dem Druck des hellenistischen Zeitgeistes (das meint die Orientierung an der vom Griechentum geprägten Lebensart) und den Verführungen weltlicher Macht beugt und sich entsprechend anpasst, steht als Gewinner da. Aber alle, die Jahweh und seinen Geboten kompromisslos die Treue halten, die Gottes Gesetz fordert, erleiden Zurücksetzung, Benachteiligung; in Extremfällen sogar Verfolgung bis zum Tod. Die Folge dieser Erfahrung ist die Annahme eines schroffen Dualismus zwischen dem gottfeindlichen Treiben der Welt einerseits und dem Streben der Frommen und Gottes Heilsabsichten andererseits. Gottesfürchtige Kreise folgerten daraus, dass sie in und von dieser Welt nichts zu erwarten hatten.

Darum richteten sie ihre Hoffnung auf das zukünftige Retterhandeln Gottes: Die vorfindliche Welt ist nicht so, wie sie von Gott beabsichtigt war. Darum wird er ihrem gottlosen Treiben ein Ende machen und eine Umkehrung der Verhältnisse zu Gunsten derer erwirken, die ihm die Treue halten: Gott wird ein Weltgericht veranstalten; die Herrschaft der Reiche dieser Welt und ihrer Machthaber wird beendet und ersetzt durch ein Weltreich, in dem Gott selbst regiert, und zwar so, wie, nach Erfahrung der Geschichte, nur er selbst es kann. Dieses Weltreich entspricht dem Garten Eden der Urgeschichte: Krieg und Not, Herrschsucht auf Kosten anderer, Unterdrückung und Ausbeutung werden da genauso wenig ihren Platz haben wie die Auflehnung gegen Gott und seine Gebote. Hier werden die Menschen eine Bleibe haben, die trotz der Wirren und Verlockungen der Weltzeit, trotz Verfolgungsnot zu Gott hielten. Hier wird ihr Durchhalten belohnt.

Da Gott die Erlösung des wahren, weil Gott gegenüber treuen Israel in einer von ihm selbst festgelegten Zukunft ins Werk setzt, stellt sich die Frage, was nun aus den Gottesfürchtigen wird, vor allem aus den Märtyrern, die vor dem Weltgericht und der Durchsetzung der Königsherrschaft Gottes sterben. Darum ist für die meisten Strömungen des Judentums, die auf die kommende Erlösung der Welt und des Gottesvolkes ausblicken, die Auferstehung der Toten, namentlich der Gerechten und Märtyrer, zentraler Bestandteil der Endzeiterwartung. Der Ausblick auf die künftige Auferweckung und Verherrlichung verleiht Kraft zum Durchhalten im Dienst an und für Gott während einer chaotischen und als gottlos empfundenen Gegenwart. Wir können hierin eine wichtige Gemeinsamkeit erkennen zur Grundstimmung unseres Neuen Testaments. Auch der christliche Glaube hat entsprechend seines Namens –„christlicher Glaube“ heißt „Messias-Glaube“– eine eindeutig apokalyptische Ausrichtung; der Anbruch der Gottesherrschaft und die „Zugangskonditionen“ sind der Kern der jesuanischen wie urchristlichen Verkündigung.

1.4 Was ist Apokalyptik?

Die Literaturgattung, die endzeitliche Erwartungen transportiert, wird „Apokalyptik“ genannt. Das ist nun ein missverständlicher Begriff, denn „Apokalyptik“ meint im Wortsinn die Mitteilung eines verborgenen Wissens. Der Ausdruck legt somit nahe, dass es sich dabei um eine Art Geheimwissen handelt, das ausschließlich einem sehr engen, exklusiven Personenkreis zugänglich gemacht wird. Tatsächlich war das ganze Gegenteil der Fall: Die apokalyptischen Schriften waren ausgesprochen beliebt und geradezu „volkstümlich“. Wer immer lesen oder interessiert zuhören konnte und ein gewisses theologisches Interesse aufbrachte, beschäftigte sich mit den Erwartungen, die apokalyptische Schriften transportierten. Dieser Umstand erklärt auch, warum wir gut daran tun, uns mit Werken der frühjüdischen Apokalyptik zu beschäftigen, obgleich es sich hier nicht um Bücher des biblischen Kanons handelt.

Als Jesus an die Öffentlichkeit trat, stand die Apokalyptik in höchster Blüte. Jesu Verkündigung trifft also auf Menschen, welche die apokalyptischen Konzepte ihrer Zeit sozusagen im Ohr, im Kopf und im Herzen tragen. Und so geht Jesus mit der Bilderwelt seiner Gleichnisse und Predigten auf die Erwartungen und Hoffnungen ein, die von der Apokalyptik geprägt oder genährt worden waren. Insofern verhilft uns die frühjüdische Eschatologie, die uns in den außerkanonischen apokalyptischen Schriften zugänglich wird, zu einem besseren Verständnis des Christusgeschehens; manche Aussage Jesu und die dementsprechende Reaktion der Hörer wird ohne diesen Hintergrund sogar kaum nachvollziehbar.

Die (frühjüdischen) apokalyptischen Bücher und Text(fragment)e zeigen in der Regel die folgenden Eigenarten:

• „Apokalyptisch“ sind sie vom Wortsinn her deshalb, weil sich die entsprechenden Konzepte selbst verstehen als Offenbarung des Geschichts- und Erlösungshandelns Gottes. Gott selbst teilt seinen Plan mit der Welt und den Menschen mit. Dieser Plan steht bei ihm vom Anbeginn der Zeit fest. Bislang war er verborgen und wird nun einem Seher offen gelegt. In einigen Fällen wird der darauf verpflichtet, diese Mitteilung zu „versiegeln“ bis unmittelbar vor Eintreffen der Endzeitereignisse.

• Der Autor einer apokalyptischen Schrift tritt in vielen Fällen hinter Helden der Vergangenheit zurück: Offenbarungsempfänger sind etwa Henoch, Mose, Baruch, Esra, die 12 Patriarchen. Darum redet man im protestantischen Raum von „Pseudepigraphen“, also von Büchern, die „lügenhafterweise“ einer Verfasserperson zugeschrieben werden. Der Grund für diese besondere Eigenart ist pneumatologischer Natur: Der Geist der Prophetie gilt als erloschen, bis der in Deut 18,15.18 angekündigte Prophet auftritt. Die „Alten“ müssen also reden, um der apokalyptischen Weltinterpretation und Zukunftserwartung Gewicht zu verleihen. In einigen Fällen werden darum aktuelle, von tatsächlichen Verfassern erlebte zeitgenössische Geschehnisse auf vergleichbare Erfahrungen der Vergangenheit zurückdatiert. So wird etwa die Zerstörung des herodianischen Tempels im Jahr 71 verarbeitet, indem Baruch und Esra via Offenbarungsempfang über die Vernichtung des salomonischen Tempels 587 v. Chr. getröstet werden.