Endlich klarkommen mit deiner Angst - Pablo Hagemeyer - E-Book

Endlich klarkommen mit deiner Angst E-Book

Pablo Hagemeyer

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Beschreibung

Ihre Heldenreise zu einem selbstbestimmten Leben Angst sichert unser Überleben. Manchmal verwechselt unser Gehirn jedoch Ungefährliches mit Gefährlichem. Die Folge: Wir reagieren in Alltagssituationen übertrieben ängstlich oder sogar panisch. Eine zentrale Rolle bei der Angstentstehung spielen unsere Gedanken: teils bewusste, teils unbewusste Grundüberzeugungen, die unser Konzept von uns selbst und der Welt bestimmen. Mit Techniken u. a. aus der kognitiven Verhaltenstherapie und der narrativen Psychologie gelingt es, diese Gedanken gezielt zu verändern und zugleich positiv auf unsere Gefühle einzuwirken. Die Befreiung von der Angst ist ein Prozess, der einer Reise gleicht, einer Reise, auf der Sie verschiedene Schwellen überwinden, um • sich mehr und mehr von Ihrem Angsterleben zu distanzieren, • Angstgedanken zu zerstreuen und Erwartungsangst zu reduzieren sowie • (Selbst-)Akzeptanz zu kultivieren. Ergänzend zum Buch gibt es einen gleichnamigen Online-Kurs, in dem der Autor die anerkannte psychologische Methode der Heldenreise persönlich erklärt und Ihnen als Mentor zur Seite steht.

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Seitenzahl: 290

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Pablo HagemeyerEndlich klarkommen mit deiner AngstWie du aus deiner Lebensgeschichte eine Heldenreise machst

Über dieses Buch

Ihre Heldenreise zu einem selbstbestimmten Leben 

Angst sichert unser Überleben. Manchmal verwechselt unser Gehirn jedoch Ungefährliches mit Gefährlichem. Die Folge: Wir reagieren in Alltagssituationen übertrieben ängstlich oder sogar panisch. Eine zentrale Rolle bei der Angstentstehung spielen unsere Gedanken: teils bewusste, teils unbewusste Grundüberzeugungen, die unser Konzept von uns selbst und der Welt bestimmen. Mit Techniken u. a. aus der kognitiven Verhaltenstherapie und der narrativen Psychologie gelingt es, diese Gedanken gezielt zu verändern und zugleich positiv auf unsere Gefühle einzuwirken. 

Die Befreiung von der Angst ist ein Prozess, der einer Reise gleicht, einer Reise, auf der Sie verschiedene Schwellen überwinden, um 

sich mehr und mehr von Ihrem Angsterleben zu distanzieren, Angstgedanken zu zerstreuen und Erwartungsangst zu reduzieren sowie (Selbst-)Akzeptanz zu kultivieren. 

Ergänzend zum Buch gibt es einen gleichnamigen Online-Kurs, in dem der Autor die anerkannte psychologische Methode der Heldenreise persönlich erklärt und Ihnen als Mentor zur Seite steht.

© Christian Stadler

Pablo Hagemeyer ist Arzt, Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie und in eigener psychotherapeutischer Praxis in Weilheim niedergelassen.

Copyright: © Junfermann Verlag, Paderborn 2023

Coverfoto: © iam-Citrus (https://www.istockphoto.com)

Covergestaltung / Reihenentwurf: Junfermann Druck & Service GmbH & Co. KG, Paderborn

Satz, Layout & Digitalisierung: Junfermann Druck & Service GmbH & Co. KG, Paderborn

Alle Rechte vorbehalten.

Erscheinungsjahr dieser E-Book-Ausgabe: 2023

ISBN der Printausgabe: 978-3-7495-0387-2

ISBN dieses E-Books: 978-3-7495-0388-9 (EPUB), 978-3-7495- 0389-6 (PDF).

„Nicht wir haben Geheimnisse, die wirklichen Geheimnisse haben uns.“

– Carl Gustav Jung

Einleitung

Dieses Buch ist mir eine Herzensangelegenheit. Es soll Menschen, die unter Ängsten oder sogar einer diagnostizierten Angststörung leiden, dabei helfen, ihre Situation achtsam zu reflektieren und ihre Ängste durch Neubewertung selbst zu regulieren.

Sowohl Menschen, die schon lange mit Ängsten durchs Leben gehen, als auch Angstbetroffene, die erst gerade realisiert haben, dass sie „ein Thema“ haben, kann dieses Buch unterstützen.

Wünschenswert wäre es, wenn auch Personen das Buch lesen, die es ansonsten – sei es aus Unwissenheit oder Scham – vermeiden, sich über ihre Angst zu äußern, oder die ihre körperlichen Beschwerden mit einer internistischen Erkrankung verwechseln und sich nicht vorstellen können, ein übertriebenes Angsterleben zu haben. Das Buch soll motivieren, genauer hinzuschauen und sich ggf. auf die Suche nach der Angst zu machen, denn nicht immer tritt sie klar in Erscheinung. Häufig liegt sie unter diffusen Symptomen verborgen (siehe hierzu auch Kasten).

Angst versteckt sich gern. Als hätte sie selbst Angst davor, entdeckt zu werden.

Vielleicht sind Sie aber schon einen Schritt weiter: Sie haben Ihre Angst erkannt und befinden sich zurzeit in einer Psychotherapie, um besser in Ihrem Alltag zurechtzukommen. Oft erlebt man als Therapeut diese eine bedeutsame Therapiestunde, in der alle Fäden zusammenlaufen und ein Durchbruch erzielt wird – und die Frage bleibt: „Warum nicht schon früher?“ Psychotherapie ist ein sehr individueller Prozess, abhängig vom Arbeitsbündnis zwischen Psychotherapeut und Klient1 und in Dauer, Häufigkeit der Treffen und Anwendung an die jeweilige Methode angepasst. Dieses Buch kann eine wertvolle Unterstützung für Ihren Therapieerfolg darstellen. Es gründet sich auf Behandlungsmethoden, deren Wirksamkeit in der Behandlung von Angststörungen wissenschaftlich bewiesen ist, sowie ergänzende, die bisher noch nicht in Studien als evident erfasst wurden, sich aber in der Praxis dennoch als äußerst hilfreich erwiesen haben.

Trotz vorhandener Klassifikationskriterien ist es nicht einfach, eine klare Grenze zwischen der angemessenen und der krankhaften, übertriebenen und unrealistischen Angst zu ziehen. Angsterkrankungen führen zu einer starken Inanspruchnahme von Gesundheitsdiensten, auch wenn sie nicht spezifisch behandelt werden. Ich bin davon überzeugt, dass die Verbindung verschiedener Methoden (aus der Schul- und auch aus der Komplementärmedizin) den größten Erfolg bei der Behandlung von Ängsten verspricht, wobei die Methode der Konfrontation der Königsweg ist. Die Konfrontation als Imagination (Vorstellung von angstbesetzten Situationen, Vorgängen oder Personen) oder in der realen Exposition hat sich als Best Practice in der Angstbehandlung gezeigt.

Begeben Sie sich auf Ihre persönliche Heldenreise!

Zur Überwindung unserer Ängste – sofern es denn für unser Leben sinnvoll, notwendig und angebracht ist, dies zu tun – können wir uns auf einen neuen Beobachtungspunkt stellen. Den Weg der Befreiung aus Ihrer Angst können Sie sich wie eine Reise vorstellen, eine Reise, auf der Sie verschiedene Schwellen überwinden und verschiedene Schichten durchbrechen. Sie gehen den Weg von der ersten Etappe – dem Wunsch, die Vermeidung aufzugeben und dafür neue Erfahrungen zu machen sowie Teilhabe am Leben zu gewinnen – bis zur letzten Etappe: der Aufdeckung eines lange verborgenen Bedürfnisses. Indem wir uns unseren eigenen Konflikten und (Fehl-)Überzeugungen stellen, gelangen wir zu diesem tiefen Bedürfnis, das wir bisher wegen der Angst nicht erreicht haben (auf diese Reise gehe ich in Abschnitt 1.3 und 1.4 noch genauer ein).

Es fällt besonders schwer, gewohnte Denk- und Verhaltensweisen aufzugeben, wenn ein so mächtiges Gefühl wie Angst dies verhindert. Schließlich vermeiden wir nur noch das scheinbar größere Übel, die Angst selbst, und entfernen uns – kaum nachhaltig hilfreich – aus der angenommenen Gefahrenzone. Es gehört also sehr viel Mut und Selbstvertrauen dazu, sich heldenhaft diesen eigenen Themen zu stellen und das Ausweichmanöver zu beenden. Eine heldenhafte Person überwindet ihre Angstnormalität und entwickelt Eigenschaften, die sie zu Taten befähigt, die bisher nicht möglich schienen.

Konkreter wird diese Reise bei der Lektüre des Buches werden. Sie werden über Bedürfnisarbeit und Affektanalyse lernen, sich wieder neu mit Ihrem inneren Bedürfnis zu verbinden. Sie werden an Kompetenz gewinnen und selbstsicherer werden. Und so verschafft Ihnen Ihre Reise einen völlig neuen Zugang zu sich – und zu Ihrer Angst.

Denken, Fühlen und Handeln

Um jede einzelne Etappe Ihrer Reise für Sie so greifbar wie möglich zu machen, fokussiere ich insbesondere auf drei Ebenen:

Sie werden bewusst Informationen zu Ihrem

Denken

und somit zu möglichen behindernden Gedanken und Denkfehlern erhalten. Neuropsychologisch gesehen, betrifft dies die Vorgänge auf Ihrer Hirnrinde, vor allem sind das Strukturen Ihres Stirnhirns (präfrontaler Kortex), das sich mit der faktischen und emotionalen Bewertung und Entscheidung befasst (vgl. Abb. 1).

Sie werden in jedem Kapitel auch Informationen und Hinweise erhalten, die Ihre Gefühle, auch

Affekte

genannt (Angst und Angstreaktion), betreffen. Das sind Vorgänge, die in der sogenannten Amygdala stattfinden, einem Kern so groß wie eine Macadamianuss, der links und rechts in Ihrem Schläfenlappen auf der Höhe knapp vor Ihren Ohren sitzt und alte wie neue Ängste verarbeitet. Die Amygdala ist der wichtigste Ort in Ihrem Gehirn, wenn es darum geht, Ängste zu lernen und inneren Alarm auszulösen. Die Amygdala ist in Kontakt mit der übergeordneten Hirnrinde und reagiert auf deren Informationen. Wenn also die Hirnrinde angibt, etwas sei gefährlich, dann feuern die Nervenzellen in der Amygdala. Auch der Körper ist mit der Amygdala verbunden und die Signale des Körpers führen dazu, dass die Amygdala mit einer gesteigerten Aktivität darauf reagiert.

Der Körper ist Ausdruck von

Verhalten

und damit wird sichtbar und beobachtbar, was er infolge dieser inneren Regungen tut, wenn die Amygdala alarmiert ist.

Abbildung 1: Querschnitt durch das menschliche Gehirn mit Gehirnregionen, die in einer Angstreaktion involviert sind

Die Verbindungen zwischen Hirnrinde, Amygdala und Körper sind keine Einbahnstraßen. Ein hilfreicher Dialog zwischen allen drei „Akteuren“ kann entstehen und in der Behandlung der Angst wirksam sein, wenn es gelingt, Gedanken, Gefühle und Verhalten effektiv zu beeinflussen und somit die Aktivität der Amygdala zu drosseln und sie erfolgreich zu beruhigen.

Die weitere Erzählstruktur des Buches

Weil Erleben ein sehr komplexer emotionaler Vorgang ist mit irrationalen und subjektiv übertriebenen Anteilen (Hirnrinde), starken Gefühlen (Amygdala) und abnormen Verhaltensweisen (Körper), erzählt das Buch auch aus der Innensicht zweier fiktiver Protagonisten, um so gut wie möglich den emotionalen Veränderungsprozess zu vermitteln. Auf der Reise der Angstbewältigung bestehen die Aufgaben der Protagonisten darin, sich von dem Angsterleben zu lösen, es mit Interventionen zu zerstreuen und es als Phänomen des Lebens zu akzeptieren – und es somit zu überwinden.

Andreas, der eine Protagonist, muss sich von seinen ängstlichen Gedanken lösen, die mit seiner Versagensangst und der spezifischen Angst vor Feinstaub zusammenhängen, während Anna, die andere Protagonistin, sich ihrer Sozialangst und ihrer Agoraphobie annehmen muss.

Die beiden dargestellten Fälle sind exemplarisch zu verstehen. Sie zeigen den Entwicklungsweg auf und demonstrieren die Erfolge, die errungen werden können. Verlieren Sie nicht den Mut, wenn es bei Ihnen deutlich länger als gedacht braucht und nicht so glatt läuft wie bei den beiden. Auch Ihnen wird es gelingen, Ihre Ängste Schritt für Schritt zu bewältigen. Wie Andreas und Anna können auch Sie auf übende Weise Ihre Angst in den Griff bekommen. Je mehr die Gedanken, Gefühle (Affekte) und Verhaltensweisen miteinander verstrickt sind, desto schwerer kann es sein, Angst aufzulösen. Schwerer, aber nicht unmöglich!

Da ein Erfolgsgeheimnis bei der Behandlung der Angst die Wiederholung ist, richtet sich auch die hier gewählte narrative Erzählstruktur danach. So werden Sie Ihr Angstthema immer weiter einkreisen und vertiefen, die komplexen Zusammenhänge erkunden, bis Sie letztendlich beim Kern angekommen sind.

Ich wünsche Ihnen alles Gute für Ihre Reise!

Dr. med. Pablo Hagemeyer

1  Der besseren Lesbarkeit halber wird in diesem Buch durchgängig die männliche Form verwendet. Ausdrücklich sei hier aber darauf hingewiesen, dass auch das weibliche und das diverse Geschlecht gemeint sind. Danke für Ihr Verständnis!

1. Die Herausforderung: Angst aus der Nähe betrachtet

1.1 Erwartungsangst und Wahrnehmungsverzerrungen

Angst gehört zu den menschlichen Emotionen, die den höchsten Grad an Aktivierungspotenzial haben. Wir sind evolutionär so programmiert, dass wir in Angst- und Hochstresssituation blitzschnell handeln, um uns vor Schaden oder Tod zu bewahren. Das ist sinnvoll. Angst verstärkt schlagartig die Aufmerksamkeit, was überlebenswichtig ist, um die reale Gefahr zu erkennen. Wir entspannen uns erst wieder, wenn die akute Gefahr vorbei ist und wenn wir das Ausmaß der Bedrohung realistisch einschätzen können. Ganz automatisch beruhigt sich dann der Körper.

Bei übertrieben erlebter und anhaltender Angst bleiben die Beunruhigung und das Bedürfnis nach Sicherheit, Rettung und Halt durch bestimmte Umstände oder Personen, die einem den nötigen Schutz geben (sollen), bestehen. Chronische Angst weckt große Rettungserwartungen und beschwört noch größere Untergangsfantasien. Statt die übertriebene und damit pathologische (krankheitswertige) Angstreaktionen aktiv aufzulösen oder bis zur spontanen Symptomreduktion auszuharren, suchen Angstbetroffene mehr und mehr Beweise, die die Notwendigkeit ihrer individuellen Angst bestärken. Damit bestätigen sich die Gefährlichkeit, die Bedrohung und auch irrationale Anteile des Angsterlebens. Statt das Gegenteilige zur Beruhigung der übertriebenen Angst zu verfolgen, wächst die Erregung. Diese „Aktivierungszustände“, erkennbar als dauerhafte Nervosität, Anspannung oder Sorgenkreisen, versuchen Angstbetroffene durch verschiedene Sicherheitsverhalten, etwa durch Kontrollbemühungen, zu neutralisieren, was sie dauerhaft beschäftigt hält und jegliche Entspannung hemmt. Die hilfreiche Entspannung liegt hinter der „Wand aus Angst“, doch es fehlt den Betroffenen der Mut, diese Wand aus Angst zu überwinden. Sie vermeiden diese Schwelle der Angst und richten ihre Aufmerksamkeit auf begleitende Unsicherheiten, auf die Sorge etwa, sich im sozialen Kontext falsch zu verhalten. Dadurch verstärken sie ihre allgemeine Anspannung.

Dauerhaft erwarten ängstliche Menschen das Eintreten ihrer persönlichen Katastrophen. Diese Erwartungsangst wird immer sehr nah und damit sehr direkt wahrgenommen, da sie sich aus eigenen Annahmen speist. Sie hat einen starken persönlichen Bezug und individuellen Ursprung. Obschon das befürchtete Ereignis selten oder nie eintrifft, tritt diese Erwartungsangst zuverlässig auf und ist quälend. Sie ist zudem viel größer als die reale Angst, die auftreten würde, wenn das ängstlich Erwartete tatsächlich geschähe. Fachleute sprechen hier von Wahrnehmungsverzerrungen (Bias).

Es sind also zwei wichtige Komponenten am Werk, um Angst auszulösen:

gedankliche Überzeugungen und

emotionale Betroffenheit.

Dabei ist unsere eigene Bewertung entscheidend dafür, ob wir Gefahren verzerren, beschwichtigen und sie unter einem positiven Vorzeichen einordnen oder nicht: „Ein Grad Erderwärmung ist nicht so schlimm!“ Paradoxerweise löst der globale Klimawandel kein ängstliches Aktivierungspotenzial aus, weil diese Bedrohung (noch) wenig greifbar, fern und mit unklaren Konsequenzen für das eigene Leben verbunden ist. Wir scheinen weder zu wissen, wann und wie noch in welchem Ausmaß uns diese Bedrohung ereilen wird. (Allein Kinder und junge Menschen bis zum 25. Lebensjahr entwickeln mehrheitlich ein Bewusstsein für die Klimakrise mit Symptomen von Angst, Ärger, Machtlosigkeit, Hilflosigkeit und Schuldgefühlen, wie eine aktuelle Untersuchung [Wüstenhagen, 2022] zeigte.)

Angst macht nur, was (emotional) nah ist.

Durch die Verzerrung der Wahrnehmung verkennen wir also reale Gefahren und fürchten uns oft vor dem Irrationalen, um die Ordnung in unserer subjektiven Welt zu erhalten. Wir befürchten das, was wir uns selbst ausmalen und was uns dadurch so nah vorkommt. Sehr überzeugend durch Missempfindungen signalisiert unser Körper Unsicherheit und Gefahr. Diese körperlichen Empfindungen bestärken unsere Einschätzung, dass die Angst, die wir wahrnehmen, eine ernste Reaktion auf reale und „greifbare“ Gefahren ist. Nur sind diese Körperreaktionen eine hochgradig subjektive Beschlagnahmung, aus der sich Menschen mit einer Angststörung kaum befreien können und nicht einmal daran denken, sich von ihr zu distanzieren. In einem realen Bedrohungsszenario wären diese Aktivierungen hilfreich, stimulierend und lebensrettend, in einer pathologischen Angstreaktion blockieren sie.

Aktivierungspotenzial – neuropsychologisch erklärt

Wie ich eingangs bereits erläutert habe, spielen bei diesen „Aktivierungszuständen“ drei Ebenen bzw. Akteure eine entscheidende Rolle: Die Amygdala ist wie eine Schnittstelle zwischen Hirnrinde und Körper, sie ist sowohl Eingang als auch Ausgang von Informationen, die mit Angst verknüpft sind. Die volle Angstreaktion haben Sie dann, wenn alle drei aktiv sind, Sie also etwas Ängstigendes denken, das die Amygdala auslöst und den Körper verrücktspielen lässt. Oder die Amygdala reagiert auf körperliche Missempfindungen, die die Hirnrinde als extrem beängstigend einstuft.

Diese sehr vereinfachte Darstellung steht für das in der Realität viel komplexere Furchtnetzwerk des Gehirns. In so einem neuronalen Netzwerk ist alles miteinander verknüpft, was Angstgefühle auslöst und aufrechterhält. Die einzelnen Bestandteile des Furchtnetzwerks sind sehr individuell, dazu gehören etwa Erinnerungen, eine schreckhafte Reaktion, eine bestimmte Wahrnehmung, ein bestimmter (ängstlicher) Gedanke oder ein Gefühl. Dieses Netzwerk ist deswegen so überzeugend und stabil, weil es die bedrohlichen und heftigen körperlichen Reaktionen auslöst und fest in die Erinnerung eingebaut ist. Auch wenn klar ist, dass keine echte Gefahr besteht, kann es über die Amygdala aktiviert werden. So schnell werden wir diesen „Furchtknäuel“ in unserem Kopf also nicht los. Denn bei einer Angststörung besteht eine breite „Informationsautobahn“ zur Amygdala, sodass diese ständig an der internen Kommunikation über dieses Furchtnetzwerk beteiligt ist (vgl. Abb. 1.1 „Angststörung“). Normalerweise gäbe es nur einen Trampelpfad und die breite Autobahn wäre als Direktverbindung zwischen Hirnrinde und Körper zu finden (Abb. 1.1 „Gesunder Zustand“). Die Amygdala wäre völlig gelangweilt und würde von der Seitenlinie aus zuschauen. Sie interessiert nichts, was die anderen beiden so zu besprechen haben.

Um eine Angststörung zu behandeln, muss die Amygdala-Autobahn verlassen werden. Dies kann grundsätzlich auf drei Arten geschehen:

Man signalisiert der Amygdala, dass keine Gefahr besteht (durch erfolgreiche Konfrontationsarbeit – in der Vorstellung oder in der Realität),

man leitet an ihr vorbei (neue Verknüpfungen lernen, rein gedanklich umstrukturieren durch kognitive Verhaltenstherapie und ohne konfrontativ zu arbeiten, um die eigenen Bedürfnisse zu erreichen) oder

nutzt eine Kombination aus beidem.

Abbildung 1.1: „Informationsautobahnen“ im Gehirn – im gesunden Zustand und bei Vorliegen einer Angststörung

 ÜBUNG

Um sich die drei Akteure und ihr Zusammenspiel zu verdeutlichen, können Sie folgende erste Übung ausprobieren:

Setzen Sie Ihren Finger auf die Abbildung 1.1 und lassen Sie ihn – wie einen Regler – zwischen den „Orten der Angst“ hin- und hergleiten:

Legen Sie den Finger auf „Hirnrinde“ und konzentrieren Sie sich auf einen ängstlichen Gedanken. Nehmen Sie nur den Gedanken deutlich wahr. Bleiben Sie hier so lange, bis der ängstliche Gedanke deutlich ist. Das kann vielleicht 30 Sekunden dauern.

Gleiten Sie nun mit dem Finger auf „Amygdala“ und nehmen Sie das Gefühl von Angst wahr, das sich zu Ihrem ängstlichen Gedanken gesellt. Versuchen Sie, allein das Gefühl wahrzunehmen, so gut Sie können, und denken Sie nicht mehr an den ängstlichen Gedanken. Bleiben Sie hier so lange, bis das ängstliche Gefühl deutlich ist. Vielleicht sind das um die 30 Sekunden.

Rutschen Sie nun mit dem Finger auf „Körper“ und schärfen Sie Ihre Aufmerksamkeit für körperliche Missempfindungen (Magen, Herz, Atmung, Anspannung im Körper) und beobachten Sie vielleicht ein bestimmtes Verhalten wie Schreckstarre oder Fluchtverhalten. Lassen Sie das ein wenig weiter entstehen. Denken Sie dabei nicht an den ängstlichen Gedanken und nehmen Sie das Gefühl der Angst weniger wahr. Bleiben Sie hier so lange, bis die körperliche Reaktion deutlich ist, vielleicht sind das etwa 60 Sekunden.

Sie können nun, mit einem tiefen Atemzug und der achtsamen Haltung der Akzeptanz, dass es jetzt so ist, wie es jetzt ist, die Übung beenden. Atmen Sie aus und entspannen Sie wieder. Lassen Sie den ängstlichen Gedanken los, bewegen Sie sich, räkeln Sie sich oder gähnen Sie, schütteln Sie die Anspannung ab. Üben Sie bitte auch, ohne dass eine konkrete Angstsituation besteht, und machen Sie sich die unterschiedlichen Phänomene bewusst. Sie haben die Kontrolle darüber, was Sie besonders deutlich wahrnehmen möchten, und können mit der Aufmerksamkeit hin- und hergleiten. Wenn Sie mögen, können Sie auch gleich wieder in die Übung einsteigen. Machen Sie das achtsam und so lange Sie mögen.

Sie können sich nun besser vorstellen, worauf die verschiedenen Strategien abzielen. Man kann jede einzelne dieser drei Positionen psychologisch bearbeiten und zum Besseren verändern. Sehr wirksam sind solche Übungen, die sich auf die Hirnrinde, also das bewusste Denken, beziehen (ist aber etwas für „Fortgeschrittene“): Statt etwas Negatives zu denken, verändern Sie den Inhalt und die Bewertung Ihrer Gedanken und registrieren, was sich dadurch in Ihnen wandelt. Denken Sie beispielsweise, wenn Sie Angst bekommen, dass es keine Angst, sondern (freudige) Erregung oder (vitalisierende) Aufregung ist. „The only difference between ‚fear‘ and ‚excitement‘ is what we label it“ (McWilliams, 1997) Allein diese kleine Umetikettierung sorgt für bessere „Ergebnisse“.

Es gibt viele Menschen, die den Lustgrusel genießen: Sie schauen „Aktenzeichen XY … ungelöst“ oder lesen Kriminalromane. True Crime hat Hochkonjunktur. Mit freudiger Erregung konsumieren Menschen Geschichten, die Angst machen. Die scheinen den Dreh rauszuhaben, mit angstmachenden Storys emotional positiv umzugehen. Sie denken gern daran, können, wenn es gerade nicht nötig ist, aber auch von diesen Inhalten ablassen. Für Menschen mit einer Angststörung ist es am Anfang einer Therapie häufig unmöglich, nicht daran zu denken, dass der nächste Angstzustand kommt. Hier hilft Übung. Man kann tatsächlich auch nichts denken – ein Zustand, den man durch Meditation oder Trance erreicht. Dabei stellt man sich in einer entspannten Haltung vor, wie die Gedanken kommen und gehen wie Wolken am Himmel oder Fische im Wasser. Auch erreicht man einen Zustand des beruhigten oder leeren Denkens, wenn man aus dem Umfeld, das einen stresst, aussteigt. Wer kennt das nicht? Nach ein paar Tagen im Urlaub denkt man nicht mehr an die Dinge, die einen am Arbeitsplatz nerven. Es braucht aber eine Entscheidung („Ich mache jetzt Urlaub!“), das passende Umfeld (Urlaubsort, Auszeit) und die notwenige Zeit (ca. 3 Wochen) dazu. Da nicht jeder spontan für drei Wochen in den Urlaub fahren kann, helfen alltagspraktische Routinen: Üben Sie täglich ein paar Minuten, und das regelmäßig. Die Kraft der Vorstellung ist gerade in der Arbeit mit Ängsten sehr wirksam. Kein Witz: Meditieren ist viel wirksamer zum Entspannen, als in die Karibik zu reisen.

Übungen, die den Körper aktivieren oder beruhigen und die Anspannung ausleiten, gibt es viele. Peter Levine (z. B. 2011) schlägt beispielsweise Zittern und Schütteln vor, um Anspannungen loszuwerden. In der Arbeit und Heilung von Ängsten wird die Bedeutung des Körpers immer wichtiger, also sollten Sie auch bereit sein, ihn einzusetzen. Denn angstverknüpftes Denken (Hirnrinde und Amygdala) kann über die Arbeit mit dem Körper aufgelöst werden. Daher sind gerade bei Angstpatienten viele Übungen mit Aktivitäten verknüpft, die dazu ermuntern, die Sicherheitszone (Komfortzone) zu verlassen und die körperliche Anspannung sprichwörtlich abzuschütteln.

Aktivierung gegen Angst!?

Zur Vorbereitung und während der laufenden Konfrontation hat es sich bewährt, gezielt nur die körperlichen Missempfindungen der Hochspannung aushalten zu lernen und unabhängig von der Angstsituation zu provozieren. Fühlen Sie, wie Ihr Körper unter Belastung reagiert. Pulsbeschleunigung, spürbarer Herzschlag, Atemnot, Gefühl der Beengung, Schwindel oder Desorientierung können Sie wie eine Generalprobe durchspielen. Machen Sie ein paar Kniebeugen, drehen Sie sich, laufen Sie ein paar Meter, steigen Sie eine Treppe rauf und runter oder hyperventilieren Sie. Spüren Sie, wie Ihr Körper reagiert, und beobachten Sie, wie lange er braucht, um wieder zur Ruhe zu kommen. Sie werden vielleicht überrascht sein, dass es eine ganze Weile benötigt, bis sich alle Körperfunktionen wieder auf ein ruhiges Niveau einpendeln. Verinnerlichen Sie, geduldig mit Ihren Körperreaktionen umzugehen. Vermeiden Sie aber nicht, Ihren Körper zu aktivieren, nur weil Ihnen bedrohliche Gedanken dazu in den Sinn kommen. Sie werden beobachten, dass es eine natürliche biologische Grenze gibt, an der sich Ihre Körperreaktionen von alleine erschöpfen.

Achtung: Tun Sie dabei nichts Gefährliches! Führen Sie die Übungen anfangs in Begleitung durch, als kleine und sinnvolle Sicherheitsmaßnahme, wenn Sie sich unsicher sind.

Nur wenige Phobien und deren Konfrontation gehen mit einem dramatischen Blutdruckabfall (Synkope) einher. Dadurch können tatsächlich gefährliche Situationen entstehen. Leiden Sie an einer sehr speziellen Phobie, die mit Blutdruckabfall einhergeht, wie die Arzt-, Spritzen-, Verletzungs- oder Blutphobie, so ist der Konfrontationsweg ein anderer. Nicht die Entspannung, sondern die Anspannung wird helfen, gut durch die Angst zu kommen. Hierbei muss vorbereitend geübt und in der Exposition (Angstkonfrontation) eine gleichmäßige generelle Muskelanspannung erfolgen, damit weder Ihr Kreislauf noch Sie selbst in die Knie gehen. Eine fachkundige Begleitung wird empfohlen.

Aufmerksamkeitslenkung gegen die Angst

Sie haben sich bewusst für die Lektüre dieses Buchs entschieden, um Ihr persönliches Problem mit der Angst näher zu betrachten. Gehen Sie dabei gelassen und zugleich entschlossen vor. Auch dürfen eine Prise Humor und Neugierde nicht fehlen. Sie gehen den Weg der selbst gewählten Annäherung. Statt länger vor der Angst wegzurennen, bleiben Sie stehen und schauen hin. Damit lenken Sie Ihre Aufmerksamkeit. Und genau das ist entscheidend! Diese bewusste Lenkung Ihrer Aufmerksamkeit wird Ihnen auch später noch von großem Nutzen sein. Denn es macht Sinn, sich in der Konfrontation mit Ängsten darüber klar zu werden, ob diese real begründet, übertrieben oder von der Vernunft und sinnvollem Handeln völlig losgelöst sind. Es macht zudem auch Sinn zu lernen, wie sich ängstliche Affekte aufbauen und verändern im Wechselspiel des körperlichen und geistigen Erlebens. Das ist bei aller Macht unserer Gedanken die zentrale Erfahrung, die Sie benötigen. Zu verstehen, wie Ihre Angst funktioniert, wie sie sich auf- und wieder abbaut (und am besten nicht mehr wiederkommt).

Gratulation also zu diesem ersten von vielen einzelnen Schritten, Ihre Ängste genauer zu analysieren, um zukünftig besser mit ihnen umgehen zu können. Wenn Sie an einer übertrieben ausgeprägten Angst leiden, die lebensbestimmend ist, dann darf ich Sie einladen, einen weiteren Schritt auf diese Angst zuzugehen. Gerne auch dann, wenn Sie einfach neugierig sind und etwas mehr über das Phänomen Angst erfahren wollen. Wenn Sie sich vielleicht noch nicht ganz darüber im Klaren sind, ob das, was Sie wahrnehmen, Angst ist oder nicht. Angst hat bekanntlich viele verschiedene Gesichter und Namen: Stress, Sorge, Verunsicherung, Anspannung, Aufregung … Körperlich ist da ein Schauern, ein Zittern, ein Schlottern, ein Beben, ein Fürchten, ein Frösteln oder ein Vibrieren. Wie würden Sie Ihre ganz persönliche Angst benennen?

 INFOBOX

Körperliche Erkrankung oder Angst?

Viele Betroffene, die anfallsartig körperliche Missempfindungen, Sorgen und automatisch ein Vermeidungsverhalten zeigen, sind sich nicht bewusst, dass sie eventuell an einer Angststörung leiden. Oft ist diesen Menschen nicht klar, dass ihre Symptome Ausdruck einer Panikreaktion sind. Es ist bekannt, dass viele Notrufe, die aus Sorge vor einer akuten, schweren körperlichen Erkrankung getätigt werden, „nur“ die Folgen einer Panikattacke sind. Auch wenn das Ereignis extrem überwältigend ist, steckt dahinter nur eins: Angst. Daher darf sich jeder, der bisher nicht mit einer Angststörung diagnostiziert wurde und nun diese Zeilen liest, fragen, ob die Symptome, die ab und an auftreten, schlicht Angst sein könnten:

Denken Sie manchmal sehr intensiv oder plötzlich an etwas, das Sie dann stark beunruhigt und Sie nervös macht?Bleibt diese Unruhe eine Weile?Was ist mit dem flauen Bauchgefühl, dem Schwindel, den Kopfschmerzen, dem Schweißausbruch, dem raschen Herzschlag? Müssen Sie sich kurz hinlegen, weil die Missempfindungen immer stärker werden?Oder können Sie an sich beobachten, dass Sie manchmal fahrig, sprunghaft oder unüberlegt und wie von Sinnen wegen dieser Körperregungen reagieren?

Sie dürfen sich ehrlich fragen, ob Sie nicht gerade etwas oder einer Person aus dem Weg gehen, um diese körperliche Unruhe zu beruhigen. Was macht Ihnen Druck? Befinden Sie sich in einer angespannten Situation? Termin- oder Zeitdruck? Fürchten Sie, zu spät zu sein? Was löst diese Unruhe so leicht aus? Haben Sie vielleicht zu viel Kaffee getrunken oder Nikotin geraucht? Oder zu wenig erholsamen Schlaf bekommen? Oder zu viele Kohlenhydrate gegessen? Warum passieren diese Impulse und diese Reaktionen, die Sie eigentlich nicht zeigen wollen, dennoch und ohne Ihre bewusste Kontrolle?

Diese Fragen sind Vorschläge zur Reflexion. Ich will Ihnen nichts einreden und ich will Sie auch nicht zu einer unüberlegten Selbstdiagnose auffordern. Aber: Nehmen Sie radikal und ehrlich Ihre Wahrnehmungen an. Wie fühlt sich das an? Was befürchten Sie? Was darf nicht eintreten? Welcher bedrohliche Gedanke löst einen heftigen Affekt wie Angst aus? Meinen Sie wirklich, dass Ihr erster Einfall eine hinreichend gute Erklärung für Ihre innerliche Unruhe ist? Verfolgen Sie diesen einen Gedanken, der Sie beunruhigt. Welche ungefährlichen Missempfindungen verwechseln Sie vielleicht mit einer bedrohlichen oder stark störenden, körperlichen Regung? Wäre Angst eine gute Erklärung für Ihre Unruhe?

Es ist zudem wichtig abzuklären, dass Ihre Angstsymptome weder die Folge einer anderen psychiatrischen Erkrankung wie Schizophrenie, Sucht, Depression, Zwangsstörung oder bipolaren Störung sind noch durch eine organische Störung hervorgerufen werden, etwa nach einem Schlaganfall. Um das besser einzuordnen, ist die fachärztliche Einschätzung unabdingbar!

„Oberbayrische Wege“ – humorvolle Analogie auf den Wegen der Angst

Im schönen bayrischen Voralpenland liegt die Kleinstadt Weilheim in einer malerischen, grünen Ebene am Ausläufer der Berge. Die Dörfer sind locker um die Kreisstadt verteilt und mit Landstraßen gut verbunden. Bedürfnisse realisieren sich die Bewohner von Weilheim, indem sie mit ihrem Auto von einem zum anderen Dorf fahren. Auf der Strecke von einem zum anderen Dorf kann man sich aber leicht verfahren. Wenn man nicht aufpasst, nimmt man die falsche Abfahrt und landet in einem ganz speziellen, einem ganz furchtbaren Dorf. Solche Weilheimer, die befürchten, in dieses furchtbare Dorf zu geraten, fahren gar nicht erst los und bleiben zu Hause. Sie versuchen, ihre Bedürfnisse zurückzustellen oder diese in Weilheim zu realisieren. Da das nicht immer möglich ist, reden sie sich die Situation schön und sagen, es sei ja völlig abartig, Bedürfnissen hinterherzufahren.

Dann gibt es andere, die es raushaben, den direkten Weg zum richtigen Dorf zu finden, und nicht davon abkommen. Die fahren am furchtbaren Dorf vorbei, spüren vielleicht kurz, dass es da ganz furchtbar ist, und kommen unbeschwert an ihr Ziel.

Wenige fahren sehr bewusst durchs schreckliche Dorf. Sie leiden unterwegs, fühlen sich aber nicht klein. Ihre innere Haltung schützt sie und sie finden es gar nicht so schrecklich, da durchzufahren.

Wiederum andere merken nicht einmal, dass sie ständig durchs furchtbare Dorf fahren, und haben keine Vorstellung davon, dass es einen viel besseren Weg gibt. Finden einige von ihnen zufällig den besseren Weg, freuen sie sich und bleiben darauf. Diejenigen der Glücklichen, denen der neue Weg ungewohnt und fremd vorkommt, kehren um auf den alten, weil der ihnen vertrauter ist. Auch wenn dabei viel Furchtbares passiert, der gewohnte Weg ist ein Teil ihrer Welt.

Suchen Sie wie die Weilheimer den richtigen Weg, dann müssen Sie losfahren und selbst Erfahrungen sammeln, welche Option Ihnen am ehesten zusagt. Im furchtbaren Dorf im Biergarten zu bleiben und das furchtbare Bier zu trinken, bringt Sie nicht weiter. Und in Weilheim zu bleiben und sich zu Hause zu betrinken, ist auch keine Option. Falls Sie wirklich Ihr Bedürfnis realisieren wollen, ein frisches Bier in einem schönen Biergarten mit Ihren Freunden zu genießen, müssen Sie sich in Bewegung setzen und mit voller Aufmerksamkeit und Konzentration die Abzweigung zum richtigen Dorf finden!

 ÜBUNG

Der richtige Weg ist immer der schwierigere

Auch wenn die obige Analogie humoristisch daherkommt – stellen Sie sich Ihre Entscheidung, die Sie im Umgang mit Ihrer übertriebenen Angst treffen, genau so vor: Entweder Sie fahren in die Angst hinein (Konfrontation und Aushalten, bis die Angst abnimmt) oder an der Angst vorbei (die Angst nicht beachten, nicht hineinrauschen in die Erregung), um an Ihr Ziel zu kommen. Behalten Sie Ihr Annäherungsziel (in diesem Fall den schönen Biergarten mit den Freunden) dabei fest im Blick. Üben Sie regelmäßig mit dieser Vorstellung! Rein in die Angst und körperliche Erfahrung machen oder vorbei an der Angst mit starker Fokussierung auf ein Umdenken und aus dem Furchtnetzwerk heraus. Diese beiden Optionen entsprechen keinem Vermeidungsverhalten. Vermeidung wäre es, gar nicht erst loszufahren (Vermeidungsziel).

1.2 Psychosoziale Faktoren, Genetik und Neurobiologie

1.2.1 Ängste werden weitervererbt

In der Auseinandersetzung mit Ängsten bauen Sie Ihr eigenes Sicherheitsgefühl und die Fähigkeit zu vertrauen weiter aus. Ich meine damit auch die grundsätzliche Erfahrung der eigenen Existenz, der Sie trotz Angst mehr vertrauen können, als Sie jetzt vielleicht annehmen. Schließlich haben Sie es bis heute geschafft, mit Ihren Ängsten zu leben. Damit haben Sie bereits gezeigt, dass Sie eine hohe Kompetenz und Stärke haben! Das ist eine wichtige positive Nachricht und die sollten Sie sich vergegenwärtigen. Auch wenn es sicherlich ein schöneres Leben mit weniger Ängsten gibt: Wenn sich jemand mit Angst auskennt und mit ihr leben gelernt hat, dann sind Sie das!

Mein Verdacht bei vielen meiner Klienten und Klientinnen ist, dass sie bisher nicht vollständig erfasst haben, wie es dazu kam, dass sie ihre Ängste entwickelt haben, und dass sie dazu neigen, ihre Angst zu fürchten, und die bedrohlichen Folgen, die damit verknüpft sind, unbedingt vermeiden wollen. Diesen Zustand aufzulösen liegt noch vor ihnen. Ist es bei Ihnen auch so?

Angst kann ein Einstieg in die Selbstreflexion und Persönlichkeitsentwicklung sein.

In der Auseinandersetzung mit unserer Angst geht es um eine persönliche Entwicklung. Denn Angst kann ein Einstieg in die Selbstreflexion sein. Der Moment des Erstarrens ist auch ein Moment des Beobachtens: Was ist hier gerade los und was ist vor allem gerade mit mir los? Ängste sind hochgradig individuell. Unser menschliches Wesen besteht aus einer bestimmten Neurobiologie der Gefühle, das hat mit unserer Genetik und unserem darüber vererbten Temperament zu tun. Unsere individuelle Neigung, auf Stressreize mit Angst zu reagieren, ist genetisch vorprogrammiert. In bestimmten Umgebungsbedingungen aktiviert sich diese Neigung und Betroffene entwickeln typische Angstsymptome. Dabei werden diese Neigungen, Angst zu haben, erfolgreich weitervererbt: Panikstörungen werden zu 41–54 Prozent vererbt, Agoraphobie zu 67 Prozent, Generalisierte Angststörung zu 32 Prozent, Soziale Phobie zu 51 Prozent und Blut- und Verletzungsphobie zu 59 Prozent (Domschke, Kapfhammer & Deckert, 2016). Und noch ein paar Zahlen: Angststörungen sind noch vor den Depressionen die häufigsten psychischen Erkrankungen. Rund 15 Prozent – das sind 12 Millionen Menschen – leiden in Deutschland darunter, davon vermutlich überwiegend Frauen (DGPPN, 2017). Mein Verdacht: Die Männer haben auch Angst, sie zeigen sie nur anders oder verbergen sie erfolgreicher. Die wenigsten Menschen haben keine Angst und sind total furchtlos. Den größten Anteil dieser furchtlosen Minderheit stellen die Soziopathen (Psychopathen und Menschen mit einer antisozialen Persönlichkeitsstörung).

Evolutionär betrachtet, macht es sehr viel Sinn, Angst vererbt zu bekommen, denn die durch Angst ausgelöste Vorsicht hat dafür gesorgt, dass unsere Spezies seit über 500 Millionen Jahren existiert. Selbst wenn die Existenz des Menschen nur ein Wimpernschlag seit Beginn des Universums ist, hat Angst uns als Spezies doch sehr anpassungsfähig gemacht.

1.2.2 Ängstliche Grundausstattung und ängstliche Narrative

Angstentstehung wird heute durch das komplexe Wechselspiel zwischen Genetik, Neurobiologie und psychosozialen Faktoren (unsere Prägung durch andere Menschen) erklärt. Die gute Nachricht lautet: Sie trifft dabei keine Schuld! Für das geerbte Päckchen haben Sie keine Verantwortung. Und der Zustand ist veränderbar. Die genetische Vorbelastung ist nicht bindend, eine Veränderung des emotionalen Stils ist möglich. Viel bedeutsamer als die Gene sind die äußeren Erfahrungen, vor allem die frühen Erfahrungen in der Kindheit und im jungen Erwachsenenalter. In unserer Lebensgeschichte lernen wir durch einzelne und sehr individuelle Belastungserfahrungen „besonders gut“ unsere Ängste. Nicht nur Einzelereignisse, sondern auch Dauerbelastungen aktivieren die Angstgene. Chronisch hohe Stresshormonspiegel (Cortisol) halten sie eingeschaltet und können auch wieder – etwa durch eine gute Psychotherapie oder durch regelmäßiges Praktizieren von Meditation (vgl. auch Abschnitt 1.2.3) – ausgeschaltet werden. Die Angstgene schlafen dann gewissermaßen wieder ein. Sie haben eine Art chemische Schlafmütze aufgesetzt, die uns vor zu viel Angst bewahrt. Intuitiv versuchen wir Menschen auch diese Genaktivierung zu beherrschen, indem wir Angst(situationen) vermeiden. Dadurch wird die Angst jedoch indirekt verstärkt, denn das (auch scheinbar) Bedrohliche wird bestätigt. Bei realer Gefahr macht das Sinn. Durch irrationale Vermeidung ist jedoch langfristig keine Bewältigung von übertriebener Angst und keine dauerhafte Entspannung möglich.

Vererbte Phobien (wie die Spinnenphobie) sind in der Amygdala eingepflanzt und da nicht so leicht wegzubekommen. Neue Angst wird aber auch im Laufe der eigenen Biografie über die Amygdala ins Gehirn „eingetippt“ (Neurobiologen wie Robert Sapolsky sprechen davon, dass die Amygdala die Tastatur ist, mit der Ängste ins Gehirn „geschrieben“ werden). So können etwa Bezugspersonen (Eltern, Großeltern, Geschwister), die überzeugend wirken und denen wir als Kinder unreflektiert glauben, durch ihre unüberlegten oder gezielten Aussagen „Angst machen“. Bedrohliche Geschichten werden in das Gedächtnis eingeschrieben und dort für ein Leben lang gespeichert. (Ein konkretes Beispiel für solch ein angstmachendes Narrativ finden Sie auch am Ende dieses Kapitels im Abschnitt „Wie bei Andreas“.) Personen, von denen wir abhängig sind (Lehrer, Ärzte etc.), aber auch sogenannte „angstmachende Narrative“ (Geschichten, Gerüchte, Falschinformationen) infizieren uns im Laufe eines Lebens immer wieder mit neuen Ängsten. Nicht nur persönliche Krisen, auch weltweite Katastrophen, Umweltschäden und politische Umwälzungen, die wir über die Medien fast regelmäßig und unreflektiert konsumieren, führen in uns zu einem dauerhaften Gefühl der ängstlichen Verunsicherung.

Was sind Narrative und welche Rolle spielen sie bei der Angstentstehung und -aufrechterhaltung?

Narrative spielen in diesem Buch eine große Rolle. Man versteht darunter, vereinfacht gesagt, Aneinanderreihungen von Einzelereignissen, die in der Summe eine komplexe Geschichte ergeben, der wir leicht mit unserer Aufmerksamkeit folgen können. Über Narrative transportieren sich Informationen, die anderen und uns selbst Orientierung bieten und zugleich emotional berühren. Wir Menschen erzeugen Identität mithilfe solcher Geschichten. Problematisch wird dies, wenn diese Geschichten zu negativen Einstellungen gegenüber uns selbst führen und die persönlichen Möglichkeiten einengen. Oder wenn diese Geschichten das Auftreten starker Ängste begünstigen. „Immer mache ich alles falsch!“ oder „Ich bin eine Witzfigur!“ sind Beispiele für solche „ungesunden“ Geschichten.

Narrative erfüllen eine zentrale Aufgabe menschlicher Kommunikation. Sie werden kognitiv (also gedanklich) in der Hirnrinde als Begriffe, Wörter und andere Symbole wie Bilder abgespeichert. Kommen mehrere Einzelereignisse immer wieder zusammen und in Kontakt, dann fügen sie sich zu einem stabilen Assoziationsfeld zusammen. Ein Netzwerk locker verbundener Informationen (Assoziationen) ist wiederum mit bestimmten Affekten (z. B. mit ängstlichen oder mit Mut machenden) verknüpft und somit solide in unserem Gedächtnis als Teil des emotionalen Gehirns verankert. Sind die Assoziationen mit ängstlichen Affekten und bedrohlichen Erfahrungen besetzt, sind sie als Ausdruck von sogenannten Furchtnetzwerken zu verstehen. Diese Furchtnetzwerke beinhalten – vereinfacht gesagt – drei Arten von Informationen:

Informationen über die (Angst-)Situation (z. B. Einkauf machen, Abend, dunkel, Straße, Mann),

die Reaktionen der betroffenen Person (gedanklich: „Überfall?“, körperlich: Schweißausbruch, erhöhter Herzschlag),

die Bedeutung der bedrohlichen Reize und der eigenen Reaktionen (Überraschung, Angst, Todesgefahr).

Narrative – positive wie negative – wirken kollektiv, also in einer Gruppe, die diese Information teilt. Sie können aber auch individuell wirken, denn Narrative spenden eine innere Ordnung. Narrative bringen Einzelereignisse in einen (meist sinnvollen, da sinnstiftenden) Zusammenhang, beschreiben eine zeitliche Abfolge und zeigen einen Handlungsweg auf, den man sich gegenseitig erzählen kann.