»Gestatten, ich bin ein Arschloch.« - Pablo Hagemeyer - E-Book + Hörbuch

»Gestatten, ich bin ein Arschloch.« Hörbuch

Pablo Hagemeyer

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Beschreibung

»Lach dir bloß kein Arschloch an!« Vor keinem Menschenschlag wird so vehement gewarnt wie vor Narzisst*innen: Sie lieben nur sich selbst und sind blind für die eigenen Fehler. Sie werten sich selbst auf und andere Menschen ab. Sie manipulieren Leute. Durch ihre übertriebene Selbstbezogenheit können sie das Glück und Leben ihrer Mitmenschen zerstören. Doch auch sie sind nur Menschen – Menschen, die aus Angst vor der eigenen Unwichtigkeit so geworden sind. Dr. med. Pablo Hagemeyer weiß als erfahrener Psychiater und Psychotherapeut, wie Narzisst*innen ticken – und auch er selbst ist von der Persönlichkeitsstörung betroffen. Um seine Ehe zu retten, hat er sich seinem eigenen Ego gestellt. Sein Buch ist eine fachlich fundierte und humorvolle Heldenreise voller Selbstironie. Für Pablo Hagemeyer ist klar: Es steckt viel mehr Narzissmus in uns allen, als wir glauben. Und es ist Zeit, sich dem Thema auf menschliche Weise zu nähern.

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Zeit:8 Std. 8 min

Sprecher:Matthias Hinz

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Impressum

 

 

Dr. med. Pablo Hagemeyer

»Gestatten, ich bin ein Arschloch.«

Ein netter Narzisst und Psychiater erklärt, wie Sie Narzissten entlarven und ihnen Paroli bieten

eISBN: 978-3-95910-271-1

 

Eden Books

Ein Verlag der Edel Germany GmbH

Copyright © 2020 Edel Germany GmbH, Neumühlen 17, 22763 Hamburg

www.edenbooks.de | www.edel.com

1. Auflage 2020

 

Einige Personen im Text sind aus Gründen des Persönlichkeitsschutzes anonymisiert.

 

Projektkoordination: Nina Schumacher

Lektorat: Dr. Peter Schäfer, Gütersloh

Covergestaltung: Buchgut, Berlin

Coverfoto: © Christian Stadler

E-Book-Konvertierung: Datagrafix GSP GmbH, Berlin | www.datagrafix.com

 

Alle Rechte vorbehalten. All rights reserved. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

 

Inhalt

 

 

 

Von Narzissten lernen

Teil I: Von großen und kleinen Narzissten

Wir sollten nicht nur eine Sau durchs Dorf treiben

Der will doch nur spielen!

Wir brauchen eine Gebrauchsanleitung für Narzissten

Alles Psychopathen?

Steckt in jedem Narzissten ein Hitler? Nicht doch, es gibt auch nette Narzissten!

»Ich sage, wo es langgeht!«

Narzisstische Systeme – im Äußeren und im Inneren

Teil II: »Du, es liegt an dir!«

Wie man sich in Paarbeziehungen gegen Narzissten behauptet

»Du bist schuld!«

Warum Narzissten immer recht haben

»Du bist verrückt! Du spinnst!«

Manipulation und Gaslicht – wie macht der das mit mir?

»Deine Schwäche ekelt mich an!«

Grenzen ziehen und Paroli bieten

Teil III: Narzisstensprüche und Narzisstengrade

Was die Sprache und die Ausprägungen von Narzissten über sie verraten

Lügen ist ein großer Spaß!

Lügen und andere Voraussetzungen für Narzissmus

Echt ätzend!

Die Ausprägungen des Narzissmus und wohin sie führen

Teil IV: Wenn es für die Opfer ganz ernst wird

Verluste, Auswirkungen und zu meidende Schäden

Ewige Opferrolle?

Häufigste Opfer-Typen und wie die Schwäche der Opfer ausgenutzt wird

Raubtier sein und doch scheitern

Wenn Scheitern keine Option ist und dennoch passiert

Teil V: Die Hoffnung stirbt! Zuletzt?

Wie die Antiheldenreise zur Heldenreise wird

Hoffnung und Liebe für Narzissten?

Wie ekelhaft – oder sind das auch nur Menschen?

Heilung und Lösung für fast die ganze Welt

Wir alle dürfen Anerkennung nicht mit Liebe verwechseln

 

 

Am Ziel: in der zweiten Reihe

Statt eines Dankes – eine Entschuldigung

Literatur

Internetquellen

Anmerkungen

Von Narzissten lernen

Ein wenig aufgequollen sitzt Tom vor mir. Sportlicher Typ. Tadellos gekleidet. Makellose Turnschuhe. Noch habe ich wenige Eindrücke von meinem Gegenüber, es ist das Erstgespräch in meiner Praxis. Jedenfalls ist da ein unterdrückter Zorn oder eine Unzufriedenheit in ihm – was es auch ist, es will raus.

Seit Wochen könne er nicht mehr schlafen, klagt er, im Büro nur Neider, all diese jungen Nixkönner, die an seinem Stuhl sägen würden. Eine Vorgesetzte, die keine Ahnung habe und ihm keine Beachtung schenke. Ein Chef, der zu schwach sei und der ihn nicht ernst nehme. Er sei der Einzige, der den Durchblick habe. Nur höre niemand auf ihn. Dabei habe er dieses große Potenzial, richtig durchzustarten. Das wisse er. Das sei ja offensichtlich. Der ganze Laden laufe nur, weil er da sei. Ohne ihn würde alles zusammenkrachen. Keine Wertschätzung. Niemand danke es ihm. Und wenn er abends nach Hause komme, würden die Zwillinge nur am Handy hängen und die Frau sei mit ihren Freundinnen unterwegs. In so einer lächerlichen Selbsthilfegruppe. Die reden da über ihre Gefühle. So ein Quatsch! Im Kühlschrank stehe meist was zum Aufwärmen. Ständig müsse er sich um alles selbst kümmern. Das sei alles so verdammt anstrengend. Koste ihm viel Energie. Er habe ja schließlich auch Gefühle und Bedürfnisse. Wer kümmere sich um die?

Tom brauche jetzt von mir eine Lösung. Ein Rezept, wie er damit klarkomme, dass die anderen so ungeheuerlich schlecht mit ihm umgingen. Schließlich sei ich ja der Experte.

Ich höre ihm aufmerksam zu, nicke, schweife gedanklich manchmal ab, denn ich kenne das alles nur zu gut. Ich arbeite seit Jahren mit narzisstischen Klienten – und ihr Leid an der Welt ähnelt sich frappierend. Aber nicht nur deswegen kommen mir seine Gedanken so bekannt vor. Die Wahrheit ist: Ich bin selbst Narzisst. Und ich weiß genau, wie er sich fühlt. Ein durchgehendes Gefühl der Unzufriedenheit und eine ständige unterschwellige Angst vor dem Scheitern durchziehen Toms Geist. Dabei ist es ein kurz anhaltendes Glück, eine Chance, dass Tom in meine Praxis fand, denn die meisten Narzissten halten wenig von Psychotherapie. »Ich? Eine Therapie machen? Nee, die anderen gehören in Behandlung! Die anderen sind das Problem.«

Doch Toms Ersttermin blieb ein fruchtloser Zufall. Ich sage ihm noch, dass ich es großartig fände, wenn er beim nächsten Mal nicht von den anderen Leuten, sondern mal von sich selbst sprechen würde. Sonst könne ich ihm nicht helfen. Tom müsse lernen, seinen eigenen Anteil am Geschehen zu sehen. Also grundsätzlich mal lernen, den klaren Blick auf sich selbst zu richten.

Mit Plattitüden und Kalendersprüchen komme er klar, die höre er von seiner Frau ständig, reagiert Tom abfällig. Seine Frau Tina, kommentiert er mit ekelverzerrtem Gesicht, sei eine unmögliche, arrogante Frau. Sie habe die Zwillinge nicht im Griff und habe befremdliche Ansichten über das Leben. Er sei von ihr total enttäuscht und habe alles getan, um ihr ein Leben im Luxus zu schenken. Aber sie nutze ihn nach Strich und Faden aus. Vermutlich gehe sie längst mit irgendeinem Trottel fremd.

Von einem Fachmann habe er übrigens mehr erwartet, fährt er wutentbrannt fort, steht auf und geht grußlos. »So ein Blödsinn«, höre ich ihn noch auf dem Flur stöhnen.

Tom würde nicht wiederkommen. So oder so ähnlich unglücklich verläuft manch ein Ersttermin, gerade wenn narzisstische Klienten schwer anzufassen sind. Na ja, ich bin halt als Therapeut auch nicht so perfekt, wie meine anspruchsvollen Narzissten es von mir erwarten.

Als Psychiater und Psychotherapeut halte ich die Identität meiner Patienten geheim, damit diese geschützt sind. Daher habe ich die Namen meiner Patienten geändert und mir erlaubt, ihre Biografien und Wesenszüge zu mischen, zu verfremden und zu fiktionalisieren. Obwohl dabei ausgedachte Personen herausgekommen sind, sind deren Geschichten wahr, denn es geht stets um reale Begebenheiten, mit denen ich mich als Therapeut beschäftigt habe. Viele Narzissten würden sich in diesen beiden Archetypen wiedererkennen.

Ich werde Ihnen viel über das Narzisstenpaar Tom und Tina erzählen. Denn wir alle können von Narzissten lernen, ohne sie zu verraten. Indem wir von Narzissten lernen, lernen wir, uns selbst besser zu verstehen, denn es steckt in vielen Menschen ein mehr oder weniger großer Narzisst. Nicht jeder Narzisst ist als solcher sofort erkennbar.

Aufsehen erregen natürlich nur die ganz eindeutigen Vertreter: Narzissmus ist wie eine Sau, die regelmäßig durchs Dorf getrieben wird. Heutzutage nahezu täglich. Aber was ist mit den anderen Ferkeln, die versteckt oder ungesehen mitrennen? Es ist so leicht, jemanden als Narzissten zu brandmarken und dabei von seinem eigenen Narzissmus abzulenken!

Meistens leiden Frauen unter narzisstischen Männern und werden aus ihnen nicht schlau. Sie fragen sich, warum sie sich in ein Arschloch verliebt haben – sehr häufig nicht zum ersten Mal. Vor allem für diese Frauen habe ich das Buch geschrieben. Aber auch nicht wenige Männer leiden unter narzisstischen Frauen. Wie gesagt können auch die narzisstischen Männer (und Frauen!) das Buch gern mitlesen, um den Narzissmus in sich selbst zu entdecken und zu verstehen.

Mein Bedürfnis, über das Thema Narzissmus zu schreiben, lässt sich ganz einfach erklären: Ich habe den Eindruck, dass kaum jemand so wirklich genau weiß, was Narzissmus ist. Das kann zwar durchaus wie eine gewisse narzisstische Selbstüberhöhung meiner Person wirken. Doch ich selbst wusste anfangs auch nicht viel und erschrak etwas darüber, als ich narzisstische Muster in mir erkannte. Hier ist also mein Zugang zum Narzissmus. Hier steht, was ich in der Erforschung des Narzissmus und im therapeutischen Umgang mit Narzissten (und im ständigen Umgang mit mir selbst) gelernt habe. Über den Narzissmus zu schreiben erfüllte ein großes Bedürfnis in mir. Nach dem ersten Schrecken, selbst narzisstisch angehaucht zu sein, kam die Neugierde. Ich wollte meinen eigenen Egotunnel erkunden!

Immer wieder erschrak ich, als handfeste Narzissten in der Weltpolitik das Zepter in die Hand nahmen und als Populisten von Mehrheiten gewählt wurden, um über Krieg und Frieden zu entscheiden. Für mich war es ein großer Schock, als im Januar 2017 Donald J. Trump zum 45. Präsidenten der Vereinigten Staaten von Amerika gewählt wurde. Noch mehr erschrak ich jedoch, als ich erkannte, dass die öffentliche Diskussion über das Thema Narzissmus in Deutschland kaum und nur sehr träge startete und bei gestandenen Journalisten deutlich erkennbare Berührungsängste vorlagen. Einerseits waren die Gründe dafür nachvollziehbar, denn eine »Diagnose aus der Ferne ist äußerst umstritten, weshalb sich viele Experten zurückhaltend äußern – und Trump nur indirekt mit Narzissmus in Verbindung bringen«1, so Markus Schulte von Drach für die Süddeutsche Zeitung. Andererseits lag (und liegt) auf der Hand, wie gefährlich Narzissten in derart hohen Ämtern und in populistischen Bewegungen sein können, sodass schließlich der innere Teufel, der Trump umtreibt, beim Namen genannt wurde: Der mächtigste Mann der Welt leide an »bösartigem Narzissmus« und sei »emotional unfähig«, sein Land zu regieren, zitierte 2017 das Magazin Focus den US-Psychotherapeuten John D. Gartner.2

Obwohl die Hemmungen gegenüber einer Ferndiagnose unter den psychologischen Experten allmählich abgebaut wurden, kam wie gesagt die öffentliche Debatte über den Narzissmus nicht in Gang. Niemand traute sich in den Politik-Talkrunden, offen über Narzissmus zu sprechen, so mein Eindruck. Man bezeichnete Trump lieber als wahnsinnig, gestört oder verrückt denn als Narzissten. Dabei würde gerade die differenziertere Beschäftigung mit diesem Charaktertypus die Gesellschaft voranbringen.

Vor allem unter Fachkollegen in Deutschland galt eine Ferndiagnose als unsittlich, selbst wenn einem das laut schreiende Kind Trump förmlich ins Gesicht sprang. Ich trat in Kontakt zu meinen US-amerikanischen psychiatrischen und psychotherapeutischen Kollegen und hörte dort viel leidenschaftlichere Diskussionen zum Thema als in Deutschland. Hier blieb der Narzissmus großer Staatsmänner weitestgehend ein Tabu, weil er an eine historische Wunde rührt.

Aber auch auf der individuellen Ebene wird klar: Wer offen über Narzissmus spricht, riskiert damit, sich selbst als Narzissten zu entlarven. Das will natürlich der verdeckt agierende Narzisst vermeiden. Wer als Journalist vor einer Fernsehkamera oder in der Öffentlichkeit steht, wird also einen Teufel tun, über Narzissmus als psychische Störung herzuziehen, es könnte ihm ja selbst auf die Füße fallen … So denken manche leider. Ein Missverständnis, denn Narzissmus ist die natürliche Kraft, die Individuen auf die Bühne bringt und ins Rampenlicht stellt. Gesunder Narzissmus ist nicht verwerflich. Aber die Angst ist groß, offen darüber zu sprechen und als gestört wahrgenommen zu werden. Oder es vielleicht wirklich zu sein.

Was ist also noch normal am Narzissmus, und wo beginnt eigentlich krankhafter Narzissmus? Ich möchte Ihnen in diesem Buch helfen zu verstehen, wie tief in jedem von uns ein gewisser Narzissmus verankert ist. Inwiefern hilft er uns, und inwiefern schadet er uns und unseren Mitmenschen?

Ohne ein normales Maß an Narzissmus kämen wir nicht weit im Leben. Wer würde an einen glauben, wenn man allein ist und eine wichtige Entscheidung treffen muss? Von Narzissten lernen heißt also auch, mehr Selbstbewusstsein aufzubauen und sich nicht zu scheuen oder zu schämen, sich zu zeigen. Sich zu befreien von der Bewertung durch andere. Selbst die Bewertung vorzunehmen. Auch als Abwehr gegen einen Narzissten.

Hauptsächlich ist das Buch also für Menschen geschrieben, die wissen wollen, wie man mit Narzissten besser klarkommen kann. Und das ist die Mehrheit!

Teil I:

Von großen und kleinen Narzissten

Wir sollten nicht nur eine Sau durchs Dorf treiben

Der will doch nur spielen!

Wir brauchen eine Gebrauchsanleitung für Narzissten

Ich … ähm, räusper … liebe Spiele. Vor allem wenn sie meine Eitelkeit herausfordern. Doch, doch. Zu Weihnachten spielten wir einmal »Was wäre, wenn?«. Die Frage war, was jeder von uns wäre, wenn er eine Krankheit darstellen würde. Noch bevor die Runde losging, platzte es aus meiner Frau heraus: »Die Pest!« Alle wussten sofort, wer gemeint war: ich. Alle verfielen in lautes Gelächter, ich auch. Der Vergleich stimmte: Ich kann meiner Frau so richtig auf die Nerven gehen. Der Grund: Ich bin Narzisst. Seitdem ich mir dessen bewusst bin, läuft vieles besser in meinem Leben.

Um nur eine Sache zu nennen: Ich konnte meine Ehe, die kurz vor dem Scheitern war, retten. Was mich als Narzissten aber von vielen Artgenossen unterscheidet, ist, dass ich auf meine Mängel länger als zehn Sekunden blicken kann. Narzissten entwickeln für ihre Schwächen einen blinden Fleck, haben ein »Neglect« für ihre Schattenseite. Narzissten tendieren dazu, nur die Sonnenseite ihrer selbst zu betrachten. Sie sind unentwegt auf der vordergründigen Spielebene (im Verhalten, auf der Ebene der manipulativen Strategien) ihrer Psyche unterwegs und schaffen es nicht, hinabzusteigen auf die verborgene Motivebene (Ebene der wahren Bedürfnisse), weil es Narzissten nicht interessiert, was sie dazu antreibt, so zu sein, wie sie sind. Weil Narzissten Angst haben, vor der unverstellten Auseinandersetzung mit ihrem tief im Innern versenkten brüchigen Selbst. Folgerichtig können Narzissten mit Kritik schwer umgehen. Kritik ist im Kosmos des Narzissten eine schwere Kränkung. Ein Feedback ist ein persönlicher Angriff. Ein Fußtritt in den Rücken. Zu diesen eklatanten Verwechslungen und Missverständnissen kommt es beim Narzissten durch eine frühe Störung der Bewertung, der Selbstbewertung. Narzissmus ist also eine fundamentale Bewertungsstörung, die in der frühen psychischen Entwicklung nicht optimal überwunden und gelöst wurde.

Im Grunde fehlt uns im Alltag eine Gebrauchsanleitung für Narzissten. Denn die Mechanismen sind relativ einfach, man muss sie nur einmal verstehen. Es ist überraschend, wie einfach Narzissmus konstruiert ist und wie konsequent sich dieses Muster durch alle Lebenslagen zieht. Dennoch, um zu verstehen, wie ein Narzisst funktioniert, müssen wir zurückgehen in die Zeit, als der Narzisst noch ein Säugling war und entweder zu wenig oder zu viel bekam.

Ich habe kaum eine Erinnerung daran, wie es war, Säugling zu sein – und das hat enorme Vorteile. »Ich musste einen Monat liegen! Denn du wolltest viel zu früh raus!«, sagte mir meine Mutter einmal und lächelte dabei. Gefährliche Zwischenblutung. Bereits in der Gebärmutter machte ich die Erfahrung, dass zu leben ein erhebliches Risiko barg. Allein das ruhige Verhalten, der rationale Geist und die beschützende Liebe meiner Mutter, die mich mit einem schönen Gefühl vor der kruden Wahrheit schützte: vor meinem Tod. Was bei mir als Kind also hängen blieb, war, besonders wichtig zu sein, und dies setzte sich bis heute in meinem Leben fort.

»Pablo«, sagte meine Frau Carlota plötzlich, griff mir an die Schulter, und wir sahen einander in die Augen. Nur so bekam meine liebe Frau meine Aufmerksamkeit.

Zur Info: Berührungszeichen vereinbaren!

Klare, deutliche und direkte Ansprache! Direkter Blick in die Augen! Anfassen! Das sind die drei Schlüssel zur Gesprächseröffnung mit einem Narzissten, der gerade in einem Egotunnel steckt.

Wir beide hatten uns vor über zehn Jahren auf dieses Berührungszeichen geeinigt, nach dem Besuch eines befreundeten Paartherapeuten. Johannes ist ein lockerer Typ. Ich idealisierte ihn bereits beim ersten Termin zur Koryphäe auf dem Gebiet der Paartherapie. Nur so konnte ich ihn in meinem Leben zulassen, indem ich ihn auf das hohe Podest neben mich stellte. Das Thema Paartherapie betraf ja hauptsächlich meine Frau, um ehrlich zu sein. Ich ging halt mit. Es war Carlotas Wunsch. Auf dem Weg bekam ich ein ungutes Gefühl, denn so richtig klar war mir das nicht, dass auch ich ein Teil dieses Paares war, das zu Johannes ging. Ich sah das alles zunächst ganz locker und spielerisch. Darin kannte ich mich aus.

Mal genauer hinsehen

Ulkig, als Johannes dann mit mir diese Stuhlübung machte. Nach dem üblichen Vorgeplänkel im therapeutischen Setting, was alles so in der Ehe nicht gut lief, schlug Johannes vor, er wolle mal etwas ausprobieren und ob er das an mir durchführen könne. »Ja, gern«, sagte ich. Ich dachte mir: Was wird es schon sein, das ich nicht kenne? Also bat mich Johannes vor den Augen meiner Frau, mich auf einen einsam im Raum stehenden Stuhl zu setzen. Sogleich suggerierte er mir, dass ich mich entspannen könne und einmal tief durchatmen möge. Das tat ich, dabei schloss ich nur leicht die Augen, um nicht ganz die Kontrolle über die experimentelle Situation zu verlieren. Ich nahm mich plötzlich leicht betäubt wahr. Meinen Körper. War ich bereits in Trance? Auf dem einsamen Stuhl sitzend. Als Kind. Mitten im Raum. Im totalen Fokus der Aufmerksamkeit von Johannes, dem lockeren Typen, der längst für mich ein sehr guter Bekannter war.

Ich tauchte auf Weisung von Johannes ab. Johannes schlug vor, ich könne mir doch auch vorstellen, etwas jünger zu sein, vielleicht ein kleiner Junge. Wir einigten uns darauf, dass ich sieben Jahre alt war. Ich sah den kleinen Jungen auf dem Stuhl. Ich spürte die Zeit in Buenos Aires. Da habe ich meine Kindheit verbracht. Aus heutiger Sicht mag der romantisch veranlagte Leser an Tango und Bandoneon denken, was für mich als Kind völlig irrelevant war. Ich erinnerte mich an wunderbare Tage, an eine Bootsfahrt auf dem Río Tigre und an den Schulweg nach Hause entlang eines Lattenzauns, mit meinen Fingerspitzen im rhythmischen Patapp-patapp über die Latten schnellend. Dann brachte Johannes mich tiefer. Tiefer in mich selbst hinein. Ich war vermutlich längst in tiefer Trance, als ich mit halb offenen Augen spürte, wie ich mich von unten mit einer schweren blauen Flüssigkeit füllte. Ich lief ziemlich schnell voll wie ein leckgeschlagenes Boot, wie eine überflutete Kajüte. Mein Keller stand unter Wasser. Stetig schwoll der Wasserspiegel, wild rauschend und strudelnd, bis große Wellen in diesem inneren Raum hin und her platschten.

Johannes suggerierte mir, dass ein sehr trauriger Junge da auf dem Stuhl sitze und dass es möglich sei, dieses Gefühl der Trauer zu spüren. Also tat ich wie vorgeschlagen und hörte mich sagen: »Moment, Moment, irre, ich spüre was. Da ist was.« Johannes’ Stimme sprach, ich solle einfach mal zulassen, was passiert, und er setzte sich unterstützend hinter mich. Ob er das dürfe, fragte Johannes mich, und ich sagte Ja, er dürfe. Ich versenkte mich dann immer mehr in mich selbst und schloss nun die Augen. In diesem Moment schnellte der Wasserspiegel hoch bis zur Kehle, und ich begann zu weinen. Tiefe Traurigkeit überflutete mich, und ich ließ sie kommen. Aber ich konnte sie auch steuern und leicht dagegenhalten. Das war ein wunderbarer Augenblick. Ich konnte die Trauer ertragen. Dieses Gefühl der Trauer zu spüren und zugleich bewusst zu bemerken war so gut, so wunderschön! Gerade weil ich die Trauer ertragen konnte.

Johannes sagte dann etwas völlig Irres, was einen emotionalen Knoten in mir löste und mich irgendwie befreite. »Es tut mir leid, dass du all das erfahren hast, was dir andere angetan haben. Dass du nie gesehen wurdest, so wie du bist. Dass du nie oder viel zu wenig bekommen hast, was du benötigt hättest. Dass du alleingelassen wurdest. Es tut mir leid, dass sich noch nie jemand dafür bei dir entschuldigt hat. Es tut mir sehr, sehr leid.«

Ich reagierte heftig darauf. In mir platzte regelrecht eine Haut auf, und ich spürte, wie sich etwas in mir mit mir selbst wieder verband. Das war eine zutiefst körperliche Erfahrung. Ich atmete völlig ergriffen davon tief ein, tief seufzend, atmete aus und dann deutlich achtsamer weiter. Ich nahm die Veränderungen in mir wahr. Ich sollte alles in mir beobachten, was sich so tat. Etwas in mir kam wieder in Verbindung. In diesem Augenblick verstand ich, was die psychologischen Theorien meinen, wenn die Kontaktstörung zu einem Selbst durch eine gestalttherapeutische Intervention aufgehoben wird.

Ich spürte diesen traurigen Teil in mir. Das überflutende Gefühl der Trauer ebbte nun langsam ab, der Pegel sank, und das Wasser floss davon. Johannes zog sich behutsam zurück und ließ mich noch ein paar Minuten allein. Ich war ganz bei mir. Ganz im Kontakt mit mir und kommentierte das Erfahrene mit den unvergessenen Worten: »Irre. Das war krass.«

Johannes ging kaum noch darauf ein, er sah mich nur anerkennend an und freute sich für mich. Dabei zeigte er eine gewisse Routine. Als ob er das jeden Tag zehn oder zwanzig Mal machte mit seinen Klienten. Das kurze Nachgespräch drehte sich darum, welche Fachliteratur ich dazu noch vertiefend lesen könne, und dann warf er uns raus. »Kommt ja nie wieder!«, waren seine letzten Worte. Ein lockerer Typ eben, der Johannes.

In der Psychotherapie arbeiten Leute wie Johannes sehr häufig mit Bildern und fantasierten Vorstellungen, um das Unaussprechbare zu erfassen. Mit diesem Trick bekommt das psychische Material eine Gestalt. Gefühle werden quasi in eine Form gegossen und werden so erstmals erkennbar. Erkannte Gefühle kann man betrachten und lernen, mit ihnen umzugehen, statt sie nur zu verdrängen oder vor ihnen Angst zu haben. In mir bekam meine Trauer die Gestalt von Wasser. Tief in meinem Unterbewusstsein hatte ich diese Trauer versteckt und verbannt, die ich als Kind entwickelt hatte, weil ich zu wenig gesehen wurde. Oder weil ich meinte, zu wenig gesehen worden zu sein. Von meinen Eltern oder von meinen Freunden. Die damaligen Lebensumstände waren nicht gut für mich. Wer weiß das schon wirklich, was ein Kind so trifft. Dieses Zu-kurz-gekommen-Sein hat mich irgendwie traurig gemacht. Damals, als ich klein war. Ich hatte keine faktische Erinnerung daran, aber da war eben dieses Gefühl.

Ich hatte nun irgendwie Gewissheit, dass der Kern meines psychologischen Bauplans aus Trauer bestand, um den sich herum ein neues, ein zweites Selbst gebaut hatte, das vorgab, keineswegs traurig zu sein.

Was nach dem Termin bei Johannes alles passierte, war eine Entdeckungsreise ins eigene Ich. Eine Tür war aufgestoßen, und ich begann, über mich selbst nachzudenken. Darüber, wie ich psychisch gebaut war und wie dieses Gebilde auf andere wirkte. Das war der erste Schritt – wirklich zu kapieren, wie ich aufgebaut war.

Kein Wunder, dass meine Frau Carlota nicht wusste, wie sie mit mir umzugehen hatte! Nach dem Treffen mit Johannes wurde alles anders. Sie wurde irgendwie erträglicher und musste mich kaum noch ermahnen. Ich war engagierter im Haushalt. Schob nichts mehr auf. Räumte nahezu freiwillig die Spülmaschine ein und wieder aus. Beteiligte mich am Alltag in der Familie. Stand früh auf, um das Frühstück zu machen, und kam zeitig nach Hause, um mit den Kindern gemeinsam zu Abend zu essen. Ich arbeitete an der Bindung. Ich wurde nahezu der perfekte, liebende Ehemann und Hausmann. Ich hörte zu, wenn meine Frau mich ansprach, und interessierte mich immer mehr für das, was meine Frau bewegte. Ich freute mich, als sie sagte: »Du prokrastinierst deutlich weniger, Schatz.«

Erst jetzt, wo ich diese Zeilen schreibe und den Blick zurück riskiere, könnte ich mir auch vorstellen, dass Johannes mich mit einem schlauen posthypnotischen Auftrag versehen hat: »Sei deiner Frau eine Hilfe und kein Arschloch mehr! Achte mal auch auf ihre Bedürfnisse.« Erneut überdenkend jedoch schließe ich, dass Johannes das so konkret nie getan hat, sondern dass ich selbst in mir diesen Auftrag formuliert habe, weil Johannes wie ein Helfer die Möglichkeit dazu ausgelöst hat, mir selbst zuzuhören. Mein Problem war gewesen: Ich hatte einen fürsorglichen Teil in mir selbst abfällig abgewehrt und verdrängt, weil ich ihn als wertlos erachtete. Dieser Teil nannte sich Empathie. Narzissten tun so was. Ich bin aber kein Monster. Ich bin durchaus charmant und witzig, sogar höflich und sozial ziemlich kompatibel, aber in mir drinnen nahm ich keine Rücksicht auf diesen emotionalen Anteil.

Die Spielebene des Narzissten

Paradoxerweise wurde ich im Laufe der Zeit nach dem Termin bei Johannes egoistischer. Aber in einem positiven Sinn. Im Ergebnis befasste ich mich sehr intensiv mit mir selbst, um herauszufinden, aus welchen Anteilen ich selbst bestand. Ich wollte meine Motivebene kennen und die Spielebene durchdringen. Die einfach geniale Einteilung in Spiel- und Motivebene geht auf den Psychologen Rainer Sachse zurück, der bei Störungen der Persönlichkeit diese Aufteilung entwickelte.3 Phänomene der Aufteilung und Spaltung sind eh typisch für jemanden mit Narzissmus, darauf gehe ich später ausführlicher ein.

Zunächst aber die genial einfache Aufteilung nach Professor Sachse, die ich mit eigenen Worten hier vereinfacht abbilde.

Einerseits tritt jede Persönlichkeit auf der Spielebene in Kontakt mit anderen, schickt diese Spielebene voraus und zeigt sich auch nur darin. Dahinter verborgen und durch die Spielebene verschleiert liegt die Motivebene. Diese beherbergt innerste unbewusste oder bewusste starke Bedürfnisse. Psychologen nennen starke innere Bedürfnisse auch Motive. Diese Motive können sehr mächtig sein, sie sind unbewusst oder teilweise unbewusst und im Unbewussten gehalten, also abgewehrt und nicht immer wahrgenommen. Motive wirken dennoch und sind irgendwie erkennbar, aber zeigen sich undeutlich. Motive können auch innerlich miteinander streiten und schwere Konflikte auslösen. Weil Konflikte megaunangenehm für die Psyche sind, wird das alles aktiv von der Psyche verdrängt und unbewusst gehalten.

Als Therapeut mit Hang zum Analysieren freue ich mich immer diebisch auf diese unbewussten Konflikte meiner Klienten! Denn es ist wirklich heilsam, diese Konflikte und Motive ans Tageslicht zu befördern. Aber zuvor muss ich mich in der Psychotherapie sehr lange, oft über Stunden, manchmal über Monate, mit der Spielebene abfinden. Für mich ist die Spielebene so was wie das Theaterstück, das aufgeführt wird. Die Motivebene ist der Autor des Theaterstücks, der still hinter der Bühne hockt und hofft, dass das Spiel dem Publikum gefällt und er dafür geliebt wird.

Die Narzissmus-Kur

Ich wollte klar herausfinden, zu welchem Typ Narzisst ich gehörte. Welches Spiel ich spielte. War es bereits krankhaft? Dafür musste ich zwingend meine unbewussten Verhaltensweisen klar fassen. Es bemerken, wenn ich verletzend zu anderen war. Es sehen, wenn ich über Grenzen ging. Es reflektieren, wenn ich wieder beleidigt war. Dabei schälte sich eine klare Zielformulierung heraus: Ich wollte authentisch sein. Ich sein. So sein, wie ich wirklich war. Die Spielebene etwas aufgeben, die Motive erkennen.

Die »Narzissmus-Kur« dauert Jahre. Der Narzisst muss dabei vieles lernen. Weil der Narzisst lernen muss zu spüren, dauert es extrem lange. Empathie für sich selbst zu entwickeln ist der entscheidende Schritt, aber auch Empathie für die anderen zu empfinden. Für alle Opfer, im Inneren wie im Äußeren.

Die Angehörigen von Narzissten brauchen lange, bis sie die Gebrauchsanleitung für einen Narzissten draufhaben und das Regelwerk durchblicken.

Im Fall meiner Ehe brauchten wir beide etwa gleich lange. Also, ähm … ich hatte natürlich den tieferen Einblick in mein Selbst. Carlota sah mir zwar nur dabei zu. Das half mir aber dabei. Sie war, ich kann es kaum aussprechen … wichtig.

Wie gesagt geht es mir dadurch viel besser. Im Unterschied zu den extremeren Ego-Typen, die sich damit brüsten, wie toll sie sind, achte ich peinlich genau darauf, nicht zu prahlerisch zu sein. Ich unterscheide mich an dieser Stelle gehörig von den nervigeren Narzissten auf der anderen Seite des Spektrums, den selbstverliebten Blendern, den bühnenreifen Posern und den kriminellen Hochstaplern und politischen Größenwahnsinnigen, die mit ihren Grenzüberschreitungen und ihrem unstillbaren Hunger irgendwie davonkommen.

Zu dieser radikalen Sorte unangenehmer Nachbarn zähle ich mich nicht. Meine Form des Narzissmus war eine leichte, verträgliche Variante …

»Das kann ich bestätigen, Schatz! Wäre ja schlimm sonst«, sagte Carlota mit einem Augenzwinkern. Sie mochte diese schillernde Seite an mir. Ganz offensichtlich …

Bin ich nur manchmal nervig?

Ich bin kompliziert. Meine Frau sieht das anders: »Ah! Da ist er ja wieder, mein nerviger Mann!« Aber wie bin ich denn nun? Das ist schräg für mich, das so dezidiert aufzuschreiben, aber ich benutze mich als Anschauungsobjekt, um den Fall zu beschreiben. Auf expliziten Wunsch meiner Verlegerin. Die Idee ist gut. Mache ich gern. Um zu beschreiben, wie das ist, auf der anderen Seite zu stehen und von dort zu berichten. Gewissermaßen im Feld des Feindes zu stehen und in der Lage zu sein, von dort zu berichten.

Niemand will mit Arschlöchern zu tun haben. Aber die positiven Kräfte der Persönlichkeit nutzen, das schon! Das ist das Narrativ jeder psychotherapeutischen Reise. Die ja auch eine Art Heldenreise ist. Oder Antiheldenreise, wie man es nimmt. Auf meinem Weg, das Gute vom weniger Guten zu unterscheiden, habe ich gelernt, mit dem Phänomen Narzissmus umzugehen.

Ich habe auch gelernt, wie es Opfern narzisstischer Menschen geht. Narzissten zerstören Menschen. Zerstören klingt so hart und endgültig. Narzissmus-Opfer bestätigen, wie zerstörerisch die Beziehung zu einem narzisstischen Partner ist. Viele berichten von bleibenden Schäden wie nach einer Traumatisierung. Zerstörung meint nicht allein, dass extreme Narzissten andere ständig abwerten und den Selbstwert des anderen zerklüften und zum Einsturz bringen, sondern es meint auch, dass Narzissten über Leichen gehen, dass sie andere sauber aus dem Weg räumen, wenn diese im Weg stehen, und sich in Beziehungen wie eine emotionale Zecke verhalten. Emotional saugen, bis der andere leer gesaugt, erschöpft, zerbröselt und nicht mehr da ist. So sehr, dass der Narzisst schließlich der Einzige ist, der seinem Opfer Form und Struktur gibt und die Deutungshoheit besitzt. Die Macht.

Narzissmus führt zu gegenseitigen Spiegelungen und Verdrehungen, bis zu einer sadistisch-masochistischen Entwicklung. Bis zum Missbrauch. Bis zum Totschlag und Mord.

Narzissten kapern den anderen wie Piraten. Automatisch besetzen sie die Persönlichkeit des anderen und verschieben die Grenzen auf Kosten des Opfers. Auch das ist Teil der Zerstörung des anderen. Die massive Besetzung einer Person durch einen Narzissten ist wie eine feindliche Übernahme. Daran leiden sehr viele Menschen. Frappierend! Ihr Leiden ist den Opfern häufig völlig unbewusst.

Warum lassen Opfer von Narzissmus so häufig solche Prozeduren über sich ergehen? Weil sie aufgrund ihrer eigenen Biografie gelernt haben, das Furchtbare zu normalisieren. Es ist für viele Opfer völlig normal, Opfer zu sein, wenn sie mit Grenzüberschreitungen und eventuell noch krasseren Traumata aufgewachsen sind. Ein gefundenes Fressen für das narzisstische Raubtier!

Als Therapeut habe ich gelernt, den heißen Feuersturm des einzelnen Narzissten zu überleben und den Opfern narzisstischer Menschen die Augen zu öffnen. Es gibt da zwei große Optionen: Trennung oder Zusammenbleiben. Wer verlässt wen, wenn die gegenseitigen Verletzungen zu groß werden? Wer muss sich verändern, um zu bleiben? Hier ruhen interessante Tabus, einerseits der gehörnte Mann, der Mann als Opfer einer narzisstischen Frau und die Tatsache, dass es viel mehr narzisstische Frauen als angenommen gibt. Aber das sind nur die Ausnahmen der Regel. Narzissmus ist männlich.

»Also«, sagte ich meiner Frau Carlota, »lass uns die alten Sachen mal der Reihe nach durchgehen.« Und so taten wir, ich zog das kaputte Fotoalbum aus dem Regal und setzte mich feierlich mit meiner Frau auf unser großes Sofa im Wohnzimmer. Wir schlugen behutsam die vergilbten Seiten auf.

»So süß, da warst du noch lieb!«, hörte ich meine Frau sagen und lachen.

Kinderseelen sind narzisstisch

Es war die Vergangenheit, auf die ich nun mit den Augen des Erwachsenen blickte. Ich kannte zwar Babyfotos von mir, in den Armen meiner Eltern, wie ich in die Fotokamera glotzte und meine dunklen, großen Augen voller Sehnsucht waren. Alle freuten sich, dass ich da war! Es war die Zeit brauner Cordhosen und beiger Raufasertapete. Es waren die 70er-Jahre.

Pablos Eltern waren ein Repräsentant einer politischen Stiftung und eine Sprachlehrerin sowie Lyrikerin. Pablos Eltern waren in ihren Dreißigern und träumten von einer Laufbahn im Ausland. Sie hatten Fernweh und hofften, bald der gemütlichen Enge bundesrepublikanischer Hauptstadtidylle zu entfliehen, um in die große weite Welt aufzubrechen. Dorthin zurück, wo sie sich Ende der 60er-Jahre kennen- und lieben gelernt hatten: nach Südamerika!

Eine Sammlung loser Geburtstagswunschkarten rutschte aus dem Album heraus.

»Wo bist du geboren? Venusberg?«, fragte mich Carlota und las eine Karte vor.

»Auf dem Venusberg!«, antwortete ich stolz. Nicht Venushügel, sondern auf dem Berg der Venus höchstpersönlich. Universitätsklinik. Kein Wunder, Klein Pablo hatte als Kind nicht viele Freunde. Nur die Kameraden, die wahrhaftig hinter seine Schutzhülle aus Arroganz und Stolz blicken durften, schloss er in sein Herz. Solche mit Niveau. Die anderen waren egal.

Carlota wandte ein: »Aber dafür kannst du doch nichts, wo du geboren bist und wo du lebst. Das ist doch keine Leistung, nur Zufall!« Für mich bedeutet auf dem Venusberg geboren zu sein und in Buenos Aires, Argentinien, gelebt zu haben eine viel zu frühe Überhöhung des unreifen kindlichen Selbst.

Aber hey, ist doch cool! Noch heute werde ich von vielen dafür bestaunt, dort in der Ferne aufgewachsen zu sein. So what!? Was nun in mir passiert, ist zweierlei. Selbstabwertung und Selbstüberhöhung in einem. Ich nehme mich einerseits als etwas Besonderes wahr und spreche es auch an, um mich in diesem Vorgang besonders zu fühlen. Im selben Atemzug aber zerstöre ich diese Überhöhung wieder mit einem abfälligen »So what!?« und werte damit meine Identität ab. Das ist selbstzerstörerisch. Bin halt da aufgewachsen, na und? Diese sehr schnelle Auf- und Abwertung meiner Selbst ist ein Merkmal der Selbstbewertungsstörung. Ich kann es einfach nicht stehen lassen, dass ich in Südamerika aufgewachsen bin. Fertig. Kann ich nicht. Muss ich immer wieder kommentieren, wenn das Thema auf den Tisch kommt. Es zu akzeptieren fällt mir schwer. Unerträglich, mich immer mit mir selbst befassen zu müssen. Ich kann nicht loslassen. Echt schwer. Weiterhin.

Als der kleine Pablo in Buenos Aires lebte, schoss er sehr gerne den Gummiball hoch gegen die Gartenmauer und wartete, bis er wieder zurückprallte. Die hohe rotbraune Gartenmauer aus Klinker war wie das Gegenüber, in dem ich mich spiegelte. Eine wunderbare Metapher für mich selbst, der sich nur spürte, wenn der Ball wieder zurückprallte und in mein Feld fiel. Ohne die Mauer vor mir wäre der Ball (und auch die Wahrnehmung) für mich weg. Mit dieser Mauer kam auch die Erfahrung, die mich bestätigte. Ich warf den Ball, der Ball kam zurück. Alles richtig gemacht. Der Ball flog zurück. Ich spürte mich. Dieses Spiel konnte ich stundenlang spielen.

Was sich in mir als Grundschüler bald etablierte und festigte, war noch etwas Zweites: die hungrigste aller Sehnsüchte, die mächtigste aller Überhöhungen. Ich war auf der Suche nach Anerkennung. Auf der Suche nach einem Freund, der mir diese Anerkennung lieferte, der mich zutiefst verstand und der genau so sein sollte, wie ich mir das wünschte. Ich würde diesen ersehnten Freund einladen, hinter meine Spielebene zu blicken. Ihn zu mir nach Hause einladen. In meinen Garten, zum Fußballspielen. Aber ich hatte damals keine Gelegenheit, eine Beziehung langfristig aufzubauen. Obschon ich ein gewisses Talent darin hatte, immer die richtigen, passenden Freunde zu finden, verlor ich sie wieder völlig unerwartet. Gute Freunde verschwanden aus meinem Leben, wie ein Riss, als wir sechs Jahre nach unserer Ankunft Südamerika wieder verließen. Ein abrupter Abschied während der drohenden Kriegsgefahr zwischen den Militärdiktaturen in Argentinien und Chile.

Kinderseelen sind verletzlich

Erschütterungen in der Kindheit wirken sich auf die Psyche aus und können einen Menschen narzisstisch prägen. Mobbing. Bullying. Ausgrenzung durch Gleichaltrige, die Erfahrung, verlassen zu sein, emotionale Kälte oder Missbrauch zu erdulden, hallen lange nach. Vernachlässigung oder Verformung des Selbstbilds durch narzisstische Eltern ist ein weiteres häufiges Phänomen.

Kinder können sich ja bekanntlich ihre Eltern oder die Lebenssituationen, in die sie hineingeboren werden, nie aussuchen. Kinder passen sich daher immer an, gehen große Kompromisse ein, um emotional zu überleben, wenn ihre einzigen Bezugspersonen schwierig sind. Früh lernen Kinder, brav und anständig zu sein und zu verdrängen, wenn Eltern schlecht zu ihnen sind. Kinder normalisieren das Entsetzliche. Es ist normal, wenn Papa ein Tyrann ist und wenn Mama sich herzlos zurückzieht. Hier stellt sich das narzisstische Räderwerk ein, eine nach außen großartige Fassade aufzubauen und nach innen einen Albtraum zu leben. Aufgrund der Normalisierung bemerken Kinder ihren Missbrauch nicht. Die Fähigkeit zur Wahrnehmungsverzerrung wird auf diese Weise angelegt.4