Graubündner Schatten - Philipp Gurt - E-Book

Graubündner Schatten E-Book

Philipp Gurt

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Beschreibung

An einem warmen Frühlingsabend des Jahres 1953 eilt ein aufgebrachtes junges Fräulein in der Dämmerung eine menschenleere Landstraße entlang in Richtung Chur. Zwei Tage später finden die Landjäger ihre Leiche im Wald. Sie wurde zweifelsfrei erwürgt, um ihren Hals trägt sie eine rote Schleife. Nur wenige Tage später verschwindet eine junge Näherin aus einem Töchterheim und wird ebenfalls ermordet aufgefunden – auch sie trägt das düstere Markenzeichen um den Hals. Die Nachricht verbreitet sich schnell, und die Gegend ist in heller Aufregung, während Landjäger Caminada und sein bester Freund, Erkennungsfunktionär Leutnant Marugg, die Spur aufnehmen. Als nur wenig später ein Mord vor einer abgelegenen Alphütte die beiden auf eine völlig neue Fährte führt, stehen alle bisherigen Vermutungen plötzlich auf dem Prüfstand.

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Seitenzahl: 418

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Philipp Gurt

Graubündner Schatten

Landjäger Caminada und der Fräuleinmörder

Roman

Kampa

Für Daniel Kampa, meinen Verleger.

Danke.

Prolog

Das junge Fräulein stand unmittelbar am Abgrund, der sich felsengezackt unter ihr auftat. Es war, als ziehe er alles, was ihm zu nahe kam, geradezu soghaft an. Es schien sogar so, als rufe er auf sonderbare Weise mit flehender tiefer Stimme zu dem Fräulein hoch.

»Hör, mein wundes, wunderbares Herz. Alles wird bald gut sein und die schmerzhafte Wahrheit vergessen. Du bist nur noch einen letzten Schritt von deinem Frieden entfernt! Hörst du? Frieden, ewiger Frieden. Sag, fühlst du ihn denn nicht bereits? Schließe jetzt deine treuen, schönen Augen und mache den entscheidenden Schritt, und sogleich wirst du den Wind in deinen Haaren wehen fühlen, wirst leicht und sanft wie der Himmel sein, der dich dann umschließt … nur ein Schritt, dann folgt dein Frieden.«

Hier oben wehte der Aprilwind frischer als im Tal, aus dem sie gekommen war. Warm war es dort unten gewesen, dort, wo die Obstbäume sich weiß bauschten und Stecknadelköpfen gleich die blühenden Weiden punkteten, in denen emsig die Bienen summten. Dort, wo der muntere Bach gespeist vom alten Schnee sein Liedchen plätscherte. Von dort war sie gekommen, um ihrer Hölle nun zu entrinnen.

Auf der ihr gegenüberliegenden Bergseite, die sanfter war und erst weiter unten in den Schlund abfiel, sah sie mit ihrem starren Blick den Frühling in seinem ersten Erwachen, so wie Wochen zuvor im Tal. Es kam ihr deshalb so vor, als wäre sie beim Hochsteigen auf den Berg in der Zeit zurückgegangen, dahin, wo alles noch in Ordnung war. Hier oben waren die Alpweiden nämlich noch bedeckt mit dem letzten Kleid des Winters, das er so lange getragen hatte, dass es nun löchrig und zerfleddert war wie das Kleid einer vergessenen Braut.

Sie aber trug ihren schönen blutroten Mantel, das schönste Kleidungsstück, das sie besaß, und das einzige, in dem sie sich bisher etwas geschützt gefühlt hatte, bis vor Kurzem.

Sie war erst vor einigen Augenblicken mit wohlgesetzten Schritten und starrem Blick unmittelbar an die Kante des Abgrundes getreten, als wäre dort die Welt für sie zu Ende. Für einen Moment hatte sie dabei in den Schlund gestarrt, dahin, wo tief unter ihr der scharfe Fels einen schmalen Blick auf den Bergbach freigab, der tosend und schäumend im Schatten des Bergriesen das Schmelzwasser bis zum Rhein führte, hinein in die milde Sonne, hinein in den Frühling im Tal.

Nur langsam hob sie ihren leeren Blick, denn das junge Fräulein wollte nach dem letzten Schritt nicht in den dunklen Abgrund blicken, sondern auf die lieblichen Hänge auf der schräg gegenüberliegenden Talseite, bis der erlösende Frieden sie beschützen würde.

Sterben war schwer, doch ihr Leben weiterzuleben war ungleich schwerer. Hier und heute würde sie deshalb ihrem jungen Leben ein Ende setzen, zu furchtbar war das, was man ihr angetan hatte, zu furchtbar waren all die Lügen.

Er! Sie! Die anderen!

Er, der sein wahres Wesen, wie ihr nun allzu schmerzhaft klar war, gut vor der Welt zu verbergen wusste, war an allem schuld. Alle Welt konnte ihn sehen wie die Wolken am Himmel, und doch war er gänzlich unfassbar in seiner Grausamkeit!

Anfangs hatte sie noch geglaubt, ihm rechtzeitig entkommen zu sein, doch nachdem sich ihr erster Schrecken in blanke Verzweiflung verwandelt hatte und sie langsam wieder zu denken vermochte, hatte sie begriffen, dass dies ja gar nicht mehr möglich war.

Und all die anderen?

Die Widerhaken ihrer Lügen, ihrer Abscheulichkeiten, die sie wie ein Räuber in der Nacht hilflos schlafend im Bett überfallen hatten, waren mehr, als sie ertragen konnte. Deshalb musste es heute endlich enden!

Der Wind wirbelte ihr langes blondbraunes Haar auf und verdeckte damit ihr Gesicht, das vom Leid gezeichnet war. Das Fräulein blickte durch die wehenden Strähnen ins nahe Ende und atmete tief ein, um bereit zu sein für den Schritt, das Fallen in die erlösende Ewigkeit. Sie hoffte bloß, dass irgendjemand ihn und sie alle vor einen Richter bringen würde. Doch für sie war es zu spät!

1

Vier Tage später

Carmen Weber musste noch vier lange Kilometer aufder alten Landstraße von Trimmis nach Chur gehen, und es wurde bereits zusehends dunkel.

»Aber lieber das, als nur einen Moment länger mit dem Sauhund in seinem Automobil zu sitzen, das ist schon mal in Stein gemeißelt«, murmelte sie aufgebracht. Außerdem kam sie wahrscheinlich zu spät. »Gopfriedli nomol«, schimpfte sie auch deswegen vor sich hin. »Aber ganz selbst schuld, du bist ja auch eine blöde Baba.« Sie schlug sich mit der flachen Hand gegen die Stirn und lief zackigen Schrittes weiter mit Blick auf die lange Gerade vor sich, die sich weiter vorne zwischen dichtem Tannenwald in die Länge zog.

»Was bildet sich der Kerl überhaupt ein?«, raunte das junge Fräulein noch immer wutentbrannt vor sich hin und ärgerte sich über ihre schönen roten Schuhe. Zum Tanzen waren sie ja passend gewesen und vor allem sauschön, aber für diese alte Landstraße, die so löchrig war wie Emmentaler Käse?

Darum zog sie die Schuhe nun kurzerhand aus und lief barfuß weiter. Ansonsten war sie auffallend gut gekleidet, trug ein rotes, weiß gepunktetes Kleid und ein helles Strickjäckchen darüber, und nun je einen Schuh links und rechts in der Hand. In diesem Aufzug passte sie rein gar nicht auf diese einsame Landstraße. Aber wer hätte auch gedacht, dass sie heute würde heimlaufen müssen? Sie zuletzt. Immerhin ließ die Wut sie schneller voranschreiten.

Es war Dienstag, der 7. April 1953. Endlich blieb es nun abends länger hell, doch es war mittlerweile 20:20 Uhr, und das Licht schwand immer schneller. Der Schnee lag nur noch weiter oben in den Bergen und schimmerte in der Dämmerung mattweiß wie die Obstbäume, die sie zuvor bei Trimmis in den Feldern gesehen hatte. Dass in diesem Moment zahlreiche Vögel ihr Abendlied von den Bäumen zwitscherten, die die Straße in diesem Abschnitt zu beiden Seiten dicht flankierten, passte zum Frühlingserwachen im Tal. Doch davon nahm das adrette Fräulein nur am Rande Notiz. Carmen Weber wusste nur zu gut, dass sie sich beeilen musste, denn der Vater würde arg schimpfen, falls sie nicht vor ihm zu Hause wäre. Und der Mutter wollte sie den ganzen Ärger ebenfalls ersparen.

»Das wird mir ja sonst ein großes Donnerwetter geben«, murmelte sie vor sich hin und konnte sich noch immer kaum beruhigen. Sie wusste auch: Die Mutter würde schweigen, schweigen müssen, und später unter vier Augen zu ihr sagen, dass sie dem Ältesten, so nannten sie den Vater, halt keinen Grund dazu hätte geben sollen – sie wisse ja, wie er sein konnte.

Das Tanzen war das Beste an diesem Abend gewesen. Denn sobald Carmen Musik hörte, begannen sich ihre Beine wie von selbst zu bewegen. Niemand hatte solch einen Rhythmus im Blut wie sie, und keine konnte sich auf der Tanzfläche so bewegen wie sie. Die Freude, die sie dabei empfand, sprudelte nur so aus ihr heraus, als hätte jemand eine Champagnerflasche geöffnet. Heute hatte eine junge Musikgruppe im Tanzlokal Lupf dis Bei in der Nähe des Untervazer Bahnhöflis aufgespielt, sodass die jungen Leute von überall hergekommen waren. Aber nicht nur deswegen war sie heute nach Untervaz gekommen. Sie hatte ihn treffen wollen, aber sie war doch tatsächlich versetzt worden! Vielleicht weil Geduld nicht jedermanns Sache war. Und überhaupt, sie war ja wirklich bloß ein paar Minuten zu spät gewesen und das auch nur, weil sie beim Tanzen alles um sich herum vergessen konnte.

Vom Tanzen mal abgesehen war der Abend ein einziger Reinfall gewesen. Hätte sie doch bloß auf ihr Bauchgefühl gehört und wäre ihrem Verstand gefolgt, dann wäre sie jetzt schon längst mit dem Zug am Bahnhof Chur angekommen und somit bald zu Hause.

Doch jetzt noch eine glaubhafte Ausrede für den Vater parat zu haben, in dem Aufzug, in dem sie steckte, war etwa so sinnvoll, wie in einem fahrenden Zug entgegen der Fahrtrichtung zu laufen, um nicht in dieselbe Richtung reisen zu müssen.

Aber ein Funken Hoffnung blieb, und der trieb ihre schlanken Beine vorwärts; vielleicht hatte sie ja etwas Glück, und der Älteste war noch nicht daheim. Manchmal verhockte er nämlich dienstags im alten Zollhaus am Obertor in Chur mit seinesgleichen nach dem Jassen beim einen oder anderen Zweier Roten. Deshalb öffneten sie am Mittwoch immer erst um 8:30 Uhr ihr Modegeschäft in der Altstadt.

Kein Mensch war an diesem Abend auf der Landstraße unterwegs, erst zwei Autos waren laut lärmend hinter ihr aufgetaucht, die gelben Scheinwerfer wie zwei Augen, die sie aus der Dunkelheit anstarrten. Sie wusste, sie durfte nicht per Anhalter mit einem der Autos nach Chur fahren. Ihr Vater war in Chur und Umgebung nämlich bekannt wie ein roter Hund, und die Leute redeten. Sie hatte sich deshalb beide Male am Straßenrand versteckt, als die Wagen an ihr vorbeifuhren. Das war im Halbdunkeln auch gar nicht schwer gewesen. Außerdem war der erste Wagen der von diesem Sauhund gewesen, vielleicht hatte er nach ihr gesucht. Sie hatte ihm wohl doch Angst eingejagt. Immerhin! Er konnte ja nicht wissen, dass sie ihn nicht anzeigen konnte.

So eilte sie weiter barfüßig Richtung Chur, das sich bald hinter dem Wald in der Senke zeigen müsste. Die letzten Bäume scharten sich zu ihren Seiten schwarz und dicht an die Landstraße, als hätten sie keinen Anstand und wollten jedermann zu nahe treten. Doch hinter der langen Geraden vor ihr würden sich gleich nach der Biegung die Felder von Chur-Masans öffnen, die fast allesamt zum Waisenhausgut gehörten.

Es wurde langsam kühler und dunkler. Carmen sah nur noch Umrisse, als verschlucke der Wald nebst der Wärme auch das letzte Licht. Der Sternenhimmel über ihr war dafür glasklar, ein Käuzchen schrie verloren in die Nacht, als hätte es Angst!

 

Später an jenem Abend …

Der Hutmacher und Schneider Fridolin Weber verhockte an diesem Dienstagabend im alten Zollhaus so lange wie niemals zuvor, als wollte er seiner Tochter noch etwas Zeit geben. Es war eine gar gesellige Runde gewesen, und er hatte einen angenehmen kleinen Schwips. Er wäre sogar noch länger geblieben, doch seine Frau Elisabeth hatte ihn im Zollhaus angerufen. Unerhört, dachte er im ersten Moment, als der Wirt ihn an den Apparat rief. Es erdreisteten sich nämlich nur wenige Frauen, ihren Mann vom Stammtisch ans Telefon zu zitieren, das hinter dem großen Buffet an der Wand hing. Jeder Angerufene wurde hier von Gelächter und Spott auf seinem Gang begleitet: »Wir wussten ja längst, wer die Hosen bei euch zu Hause anhat …« oder »Beeil dich, das Wallholz wartet …«.

Und so erging es zum ersten Mal auch dem Fridolin, weswegen ihm die Schamesröte in den Kopf stieg. Doch gleichzeitig dachte er besorgt, dass etwas passiert sein musste. Elisabeth würde es sonst im Leben nicht wagen, ihn hier zu stören.

Als er dann von ihr am Telefon vernahm, dass Carmen noch immer nicht zu Hause sei, kramte er einen Fünfliber aus seinem Geldseckel, legte ihn dem Wirt auf einen Bierdeckel auf der Bar und nahm seinen Tschopa vom Haken beim Eingang und seinen Hut von der Ablage. Draußen setzte er sich sofort auf seinen Drahtesel und fuhr los, wenn zu Beginn auch leicht schwankend. Die Nachricht und die kühle Aprilluft hatten ihn schnell hellwach gemacht.

 

Nur Minuten später kam er angefahren, erreichte die Felder unterhalb des Bahnhofs, dort, wo die Stadtbehörden Ende der dreißiger Jahre eine einfache Reihenhaussiedlung mit Vorgärten in die Weiden gebaut hatten, sodass jeder sich zu einem guten Teil selbst versorgen konnte.

Bekannt war Fridolin Weber in der Stadt, weil er die auffallendsten Hüte weit und breit besaß, die sonst niemand zu tragen wagte. Sein Übername war entsprechend »der Pfau«. Vor allem die kunterbunten Farben fanden die meisten schlichtweg scheußlich und eines Mannes nicht würdig. Aber Fridolin störte sich nie daran, denn seine Kundschaft wusste, dass er für sie immer das beste Auge hatte, auch wenn sein eigener Geschmack so gut in eine Kleinstadt in den Bergen passte wie ein herumhurender Pfarrer in ein Bergdorf.

Fridolin war vor einem Monat 50 geworden. Und wie all die Jahre zuvor trug er auch an diesem Dienstagabend seine runde Nickelbrille. Sein nach oben gekringelter und gut gezwirnter Schnurrbart war nur eines seiner Markenzeichen, und nicht das auffälligste. Ordentlich war er von Haus aus und pünktlich wie eine Schweizer Uhr. Seinen Laden öffnete er immer mit den Glockenschlägen der nahen Martinskirche.

»Ja, wo ist denn das Donnersmaitli heute Abend bloß hin?«, fragte er, ohne seine Frau wie üblich zuerst zu begrüßen, als er das einfache Haus betrat.

Elisabeth war sichtlich aufgekratzt, wusste ihm nichts dazu zu sagen, außer: »Sie ist einfach nicht zum Znacht gekommen. Schau doch, ihr Teller steht noch dort, und das Essen ist auch noch auf dem Herd, wie auch deines.«

»Und da rufst du erst so spät im Zollhaus an …?«, sagte Fridolin und legte seinen hellblauen Hut ab, der von einem gelben Band umfasst wurde.

Seine Frau entgegnete entschuldigend: »Fridolin, ich habe doch die ganze Zeit gedacht und gehofft, dass sie jeden Moment nach Hause kommt, und so rann mir die Zeit wie Sand durch die Finger, und außerdem wollte ich dich keinesfalls im Zollhaus stören …«

»Frau! Da hast du aber schlecht gedacht …« Er lief neben dem Esstisch hin und her. »Sie wird mir ja wohl nicht eine unschickliche Herrenbekanntschaft gemacht haben und im Rausch einer Liebelei die Nacht bei irgendeinem Strolch verbringen, oder?«, sagte Fridolin vor sich hin, ohne dass er eine Antwort erwartet hätte. »Ein uneheliches Kind! Stell dir das mal vor!«

»Oder es ist ihr was Schlimmes passiert?«, wandte Elisabeth ängstlich ein.

»Jetzt hör aber auf, Lisbeth. Wir wollen doch nicht gleich den Teufel an die Wand malen. Carmen ist ein gar hübsches Fräulein und mit ihren 22 Jahren ein wahrer Blickfang für viele, außerdem ist es Frühling. Da spinnen sie doch allesamt, die Jungen und die Alten.«

»Eben …«

Nun sah Fridolin die Angst in Elisabeths Augen, und er begriff, was er soeben gesagt hatte.

»Fridolin, hör doch bitte. Sollen wir nicht gescheiter die Landjäger rufen?«

»Ja, was denkst du dir denn dabei, ha? Was bitte schön sollen die denn tun? Auf ihren Drahteseln durchs Städtli fahren und laut nach ihr rufen?« Er schüttelte den Kopf. »Papperlapapp. Und übrigens: Sollte ihr tatsächlich was geschehen sein, dann ist es jetzt sowieso schon zu spät. Ich glaube, aus ihr ist ein Donnersmaitli geworden.« Er blieb vor seiner Frau stehen, blickte sie ernst an. »Ist dir denn nicht aufgefallen, dass sie vor ein, zwei Wochen mal ganz anders war? Für einige Tage wirkte sie so beglückt.« Er mochte nicht aussprechen, was er mit beglückt meinte, denn über so was sprach man im Hause Weber nicht.

»Doch, Fridolin, eben drum. Aber mir berichtet sie doch auch nicht mehr darüber. Du weißt ja, wie die Jungen heute sind. Ist nicht mehr so wie zu unserer Zeit, wo man den Vater und die Mutter nach der ersten Bekanntschaft sogleich vorgestellt hat und sie um Erlaubnis bat, bevor man sich dann richtig traf.«

Fridolin ließ die Luft lautstark rhythmisch aus geblähten Wangen entweichen. »Also, wir warten und wollen hoffen, dass sie sich besinnt und den Heimweg von alleine findet. Vielleicht hat sie vor einem Donnerwetter Angst und hofft, dass ich längst schlafe, wenn sie heimkommt. Aber da ist sie bei mir falsch gewickelt.«

Die beiden setzten sich an den Küchentisch, auf dem die Neue Bündner Zeitung lag und eine kleine Vase mit Frühlingsblumen stand. Die Pendeluhr teilte die Zeit …

 

Die beiden harrten mehr oder weniger stillschweigend die ganze Nacht am Tisch aus, ehe Fridolin um kurz vor 7 Uhr einen schwarzen Malzkaffee trank und Elisabeth ihn wiederholt bekniete, dass sich die Landjäger nun doch endlich der Sache annehmen sollten.

Fridolin erhob sich träge, ging mit müden Schritten zur Garderobe, nahm einen seiner Hüte von der übergroßen Hutablage und fuhr auf seinem Drahtesel den sanft ansteigenden Weg hoch in die Altstadt, während die Martinskirche von Weitem ihr Geläut ertönen ließ. Die Sonne beschien bereits den hinter ihm thronenden Calanda, dessen schwindelerregende Gipfelregionen orangegelb den Morgen begrüßten.

 

Um kurz nach 7 Uhr betrat der Hutmacher an jenem Mittwochmorgen das Landjägerkorps im alten Karlihof und gab in der Wachstube die Vermisstenanzeige auf.

Walter Caminada, der soeben seinen Dienst angetreten hatte, wurde in die Wachstube gerufen. Er kannte den Hutmacher schon lange.

Caminada erfuhr von Weber, dass das Fräulein Tochter gestern um 17 Uhr den Laden ihres Vaters verlassen hatte und nach Hause gegangen sei. Später habe sie, ohne irgendwem etwas zu sagen, das Elternhaus verlassen, Ziel unbekannt. Seither sei sie verschwunden.

Der Vater konnte auch nicht sagen, welche Kleidung seine Tochter trug, denn nach der Arbeit zog sie sich stets zu Hause um, damit die gute Kleidung, die sie im Laden trug, geschont wurde.

»Ja, Carmen ist nach der Arbeit zu Hause angekommen«, erklärte der sichtlich übermüdete Fridolin. »Lisbeth hat im Garten gearbeitet und hat sie gehört, als sie ankam. Als Lisbeth dann später zurück ins Haus ging, um das Abendbrot vorzubereiten, da hatte sie erst gedacht, Carmen wäre im Zimmer am Lesen. Doch als sie später nachschaute und sie nirgends im Haus fand, dachte sie, Carmen wäre zu ihrer Freundin gegangen, das tut sie manchmal. Sie hoffte den ganzen Abend, sie käme jeden Moment heim, und rief mich daher erst sauspät im Zollhaus an …« Er schüttelte den Kopf, als könnte er noch immer nicht glauben, dass seine Frau so viel Zeit hatte verstreichen lassen.

Caminada fand, dass der Hutmacher einen erstaunlich gefassten Eindruck machte, ja sogar kühl wirkte, aber das mochte auch seine insgesamt reservierte Art sein, die man aufgrund seines extravaganten Auftretens gar nicht vermutete, oder es lag am Schrecken, oder an beidem in einem. Caminada versprach ihm, dass sie sich sofort um den Fall kümmern werden. Gleich beim Morgenrapport würden alle Landjäger samt dem Major Ferdinand Fässler informiert.

 

Leutnant Peter Marugg erschien um kurz vor 8 Uhr und rechtzeitig zum Morgenrapport, wo als Erstes der Fall des verschwundenen Fräulein Weber besprochen wurde, der Dringlichkeit wegen, wie Major Fässler betonte. Auch Marugg kannte Fridolin Weber, denn er kaufte seine Anzüge und Hüte vorzugsweise in dessen Modegeschäft, stets dem neusten Schrei entsprechend.

Caminada hatte zuvor mit Fridolin Weber vereinbart, dass dieser umgehend im Kommando anrufen solle, falls die Gesuchte doch noch zu Hause auftauchte. Es wäre nicht das erste Mal, dass sich ein solcher Fall von alleine löste. Möglicherweise hatte Carmen tatsächlich den Tanzbären über Nacht rausgelassen und machte sich nun erst im Laufe des Morgens auf den Heimweg. Ein Plätzli zum Schlafen bekamen schöne Fräuleins schließlich zuhauf angeboten. Die Strafe zu Hause würde ja nicht größer, wenn noch ein paar Stündli angehängt wurden, also wieso nicht gleich so richtig auf den Putz hauen, sodass es sich wenigstens lohnte? Und vom schönen und werten Fräulein Weber war ja allgemein bekannt, dass sie ein gar großes Tanzfüdli war. Deshalb beschloss Kommandant Fässler, noch bis 9 Uhr abzuwarten. Zudem konnte Fridolin Weber überhaupt keine Suchrichtung angeben, da Carmen das Elternhaus wortlos und mit unbekanntem Ziel verlassen hatte. In der Zwischenzeit würden sie also rumtelefonieren, um herauszufinden, wo gestern Abend etwas los gewesen war. Da immer mehr Junge nun die Automobile ihrer Väter am Abend fahren durften, zog es die Ausgehfreudigen auch weit ins Umland, an Unterhaltungsabende, von denen sonst niemand wusste.

Dass Carmen möglicherweise gestern Abend mal etwas heftiger auf den Putz gehauen hatte, passte für Landjäger Caminada ins Bild, das er von der Familie Weber hatte. Er wusste nämlich, dass der Hutmacher ein sehr strenger Vater war, anständig zwar, aber absolut unnachgiebig, wie man hörte, und päpstlicher als der Papst. Es waren meist genau die Zöglinge solcher Väter, die zu solchen Ausbrüchen neigten. Hinzu kam, dass die Mütter oft mehr über ihre Kinder wussten als die strengen Väter und stillschweigend ein Auge zudrückten, sodass es der Herr Vater nicht zu wissen bekam. Wenn es dann doch einmal Ärger gab, trauten sie sich nicht, ihren Mund zu öffnen, um den Nachwuchs in Schutz zu nehmen.

Genau aus diesem Grund fuhren Caminada und Marugg, nachdem sie bis um 9 Uhr keinen Anruf von den Webers erhalten hatten, zu ihnen nach Hause. Der Hutmacher, das hatte er ihnen bereits bei der Vermisstenmeldung mitgeteilt, hatte pünktlich um 8:30 Uhr sein Geschäft öffnen müssen. Zu Hause rumzuhocken würde ihn nur noch mehr zunderobsi bringen, hatte er erklärt.

Caminada hatte ihm gesagt, dass er durchaus verstehen könne, dass tatenloses Warten einen völlig durcheinanderbringen konnte, und sie sich umgehend bei ihm im Modegeschäft melden würden, sobald sich ihrerseits etwas ergab. Er sagte nicht, dass Fridolin und seine Frau sich doch zu Hause gegenseitig eine Stütze hätten sein können. Das ging ihn nichts an.

 

Die Sonne war längst den Calanda heruntergestiegen und hatte das schmale Churer Rheintal mit ihrem Licht erobert, als die beiden Ermittler unterhalb des Bahnhofs durch die Wiesen und Matten fuhren, die vom Morgentau glänzten. Noch war die Luft angenehm kühl. Doch es würde auch heute wieder ein besonders warmer Apriltag werden, wie schon die Tage zuvor.

»Grüazi wohl, Frau Weber«, grüßte Caminada auf der Türschwelle Elisabeth Weber, die alleine zu Hause war, und nahm seinen Hut vom Pölli. Sein Hut war schlicht und dunkel und unterschied sich völlig von denen, die auf der Hutablage beim Eingang aufgereiht waren. Marugg stand neben Caminada, drehte seinen Hut mit beiden Händen an der Krempe und blickte auf Frau Weber, die sehr bedrückt wirkte.

Caminada ergriff das Wort: »Sie haben noch immer nichts von Ihrer Tochter gehört?«

Frau Weber schüttelte den Kopf. Sie hatte ihre Hände in der geblümten Schürze vergraben und war blass im Gesicht.

»Sagen Sie, wollen Sie uns nicht kurz reinbitten?«, fragte Caminada.

»Ach, äxgüsi, wie unhöflich von mir …«, murmelte die 48-Jährige und ließ sie eintreten, indem sie vorausging und neben dem Esstisch stehen blieb.

Caminada blickte sie freundlich, aber bestimmt an. »Frau Weber, alle im Städtli wissen doch, dass der Fridolin jeden Dienstag im alten Zollhaus beim Jassen am Stammtisch hockt …« Er blickte sie vielsagend an und hob die Augenbrauen. »Ich bin mir deshalb fast ganz sicher, dass es kein Zufall war, dass Carmen ausgerechnet gestern Abend ausging, und ich kann mir vorstellen, dass Sie als ihre Mutter mehr dazu wissen …« Er hob sogleich die rechte Hand, als würde er schwören. »Wir beide hier«, er blickte auf Marugg, »müssen nicht in die Akten schreiben, wie wir in Erfahrung brachten, wohin denn das Fräulein Tochter gestern ausgegangen ist. Sie verstehen sicher …« Er blickte sie einen Moment fragend an, dann hob er den Zeigefinger der Rechten. »Schauen Sie, wir möchten auf keinen Fall wertvolle Zeit vergeuden, weil wir so rein gar keine Ahnung haben, wo wir mit der Suche anfangen sollen.«

Elisabeth Weber schwieg. Sie hielt ihren Kopf leicht gesenkt. Caminada wollte auf keinen Fall, dass sie sich wegen des Verschwindens womöglich schuldig fühlte. Doch dies tat sie, das sah man ihr an.

»Losend Sie mir jetzt ganz genau zu, Frau Weber. Ich oder, besser gesagt, wir beide sind uns ganz sicher, dass Sie nur das Beste fürs Töchterlein wollten und selbstverständlich nicht damit rechnen konnten, dass sie nicht mehr nach Hause kommt. Und außerdem kann man so junge Fräuleins ja auch nicht zu Hause anbinden. Die Zeiten haben sich geändert. Wir leben in den Fünfzigern, alles wird moderner. Sogar das Fernsehen wird es in wenigen Jahren wohl in vielen Stuben geben. Verstehen Sie? Wir können die Zeit nicht aufhalten, und junge Menschen zieht es hinaus ins Leben.«

»Ach, Herr Landjäger Caminada, hätte ich es ihr doch gestern bloß verboten«, kam leise die Antwort von Frau Weber, die noch immer ihren Blick nicht heben wollte.

»Grämen Sie sich doch bitte nicht, gute Frau.« Caminada legte ihr seine schwere Hand auf die Schulter. »Sagen Sie uns lieber, wohin denn Carmen gestern ging.«

»Ach, nur nach Untervaz, mit dem Zug. Tanzen. Im Lupf dis Bei.« Sie zuckte mit den Schultern. »Der Fridolin lässt sie doch keinen einzigen Schritt aus dem Haus, obwohl Carmen immer fleißig ist im Geschäft und auch mir hilft, wo sie nur kann. So ein braves Maitli. Da muss sie doch einmal im Monat die paar Stündli raus dürfen. Sie ist ja immer eine ganz Anständige gewesen und kam immer pünktlich wieder nach Hause.«

»Ganz recht. Sagen Sie, hat sie sich mit jemandem dort verabredet? Fuhr sie alleine mit dem Zug dahin?«

»Sie hat gesagt, dass sie verabredet sei. Und ich weiß, dass sie vor ein, zwei Wochen schon einen jungen Herrn getroffen hatte. Das hat sie mir offen und ehrlich erzählt. Musste sie ja auch, denn sie war ein paar Tage deswegen ganz aus dem Häuschen. Sogar Fridolin hatte bemerkt, dass sie zunderobsi war.« Jetzt erst hob sie ihren Blick. »Deshalb habe ich mit ihr gesprochen, sie nach dem Grund gefragt. Sie müssen wissen, Carmen erzählte mir schon so manches Geheimnis.« Sie nahm einen hörbaren Atemzug, seufzte gequält.

»Gab sie eine Beschreibung von dem Herrn? Das Ganze hört sich ja nach einem ernsthaften Verehrer an. Gut möglich, dass sie mit ihm verabredet war«, kommentierte Caminada.

»Ja, das habe ich mir ehrlich gesagt auch gedacht. Aber wie er aussieht, weiß ich nicht. Nur dass er ein freundlicher und hübscher junger Mann sei und sehr gebildet. Ein Anwalt, hat sie gesagt.« Frau Weber nickte anerkennend. »Ach, da kommt mir in den Sinn, dass sie erwähnt hatte, dass der junge Mann Max hieß. Ja, genau, Max. Da bin ich mir ziemlich sicher.«

»Das ist doch schon mal was«, lobte Caminada, und Marugg notierte alles in sein berühmtes schwarzes Notizbüchlein.

»Und was trug das werte Fräulein gestern Abend?«, fragte Caminada weiter.

»Das kann ich Ihnen ganz genau sagen, denn sie hat sich das Kleid nach einem der neusten Schnittmuster aus Amerika selbst geschneidert. Wie fast alles, was sie trägt.« Stolz schwang für einen Moment in ihrer Stimme. »Es war sanft rot und übersät mit weißen Punkten und reichte ihr knapp über die Knie. An der Taille war es der Mode entsprechend sehr eng geschnitten, mit einem schmalen roten Gurt aus glänzendem roten Leder. Der Ausschnitt hoch gehalten, aber kantig und zur Seite hin offen bis zur Mitte der Schultern, die Ärmel schräg abstehend. Und aus demselben Stoff trug sie das passende Haarband.« Sie lächelte einen Moment. »Dazu die neuen roten Schuhe, für die sie lange gespart hatte. Sie sah richtig flott aus.«

»Das glauben wir Ihnen sofort.« Caminada versuchte, Frau Weber mit einem Lächeln aufzumuntern. »Carmen ist immer gut angezogen. Kein Wunder, als Tochter des begehrtesten Modemachers in Chur.«

Elisabeth Webers Stimme wurde wieder dunkler, wurde schwer, als sie sagte: »Wir hatten wie immer abgemacht, dass sie spätestens um 21 Uhr wieder zu Hause sein muss. Bis jetzt hatte sie sich immer brav daran gehalten. Sie hätte mit dem Zug, der von Landquart kommt, um kurz nach 20:45 Uhr am Bahnhof ankommen sollen. Eben damit der Fridolin es nicht erfährt. Der ist noch nie vor 21 Uhr zurück gewesen, vor 21:30 Uhr auch nur sehr selten. Und er … er ist halt wirklich streng. Er macht schon ein Riesentheater, wenn sie mal zu spät aus der Stadt oder aus dem Kino heimkommt, in das er sie auch nur lässt, wenn ihre Freundinnen sie danach heimbegleiten.«

»Das wissen wir, und offen gesagt weiß es das halbe Städtchen«, versuchte Caminada sie weiter zu beruhigen. »Er bewacht sein Fräulein Tochter wie ein Einäugiger seinen Augapfel. Aber Sie haben uns weitergeholfen. Sehr sogar. Jetzt wissen wir, wo wir anfangen müssen.«

»Wissen Sie, Landjäger Caminada, ich vertraue Carmen. Die ist nicht so eine. Und sie hat mir versichert, dass dieser Max ein ganz anständiger junger Mann sei. Eben sogar ein Anwalt, aber keiner von hier. Ich meine, irgendwie muss man ja jemanden mal kennenlernen. Hätte mein Vater sich damals wegen Fridolin so verhalten, wie dieser sich heute verhält, wäre ich wohl im Kloster gelandet. Außerdem kennt Carmen viele Leute im Untervazer Tanzlokal, das unweit neben dem Bahnhöfli steht. Im Lupf dis Bei hat es deshalb immer mehr als genug Anstandswauwaus, die ein Auge auf sie haben.«

Caminada wollte sie über diesen Irrglauben nicht aufklären. Diesem hockten die meisten Eltern auf. Dass es mit den Anstandswauwaus nicht weit her war, wusste er aus Erfahrung, weil er hin und wieder die Beizen und Tanzlokale kontrollieren musste, um sicherzustellen, dass die Polizeistunde eingehalten wurde. Und da trieben sich die braven Fräuleins und ehrenwerten jungen Herren halt oft noch draußen rum und tranken Alkohol, rauchten und fanden zueinander. Wo ein Wille und die Sehnsucht ist, findet sich auch ein Gebüsch, sagten die einen dazu.

Als er vor wenigen Wochen mit seiner Frau Menga mit Blick auf ihr eigenes Töchterlein etwas sorgenvoll darüber geredet hatte, da hatte sie herzhaft gelacht und gemeint: »Walti, junge Fräuleins haben es eigentlich immer faustdick hinter den Ohren, oder glaubst du, ich hätte damals in St. Moritz immer brav meinen Eltern gehorcht? Und was ist mit dir? Hast denn du nicht auch heimlich mit jungen Fräuleins getanzt und einen Schwatz gemacht, von dem die Eltern nichts wissen durften? Eben! Schmusen und schmusen lassen und den Kindern frühzeitig Anstand beibringen und ihnen klarmachen, wo die Grenzen sind. Also, gewöhn dich ja rechtzeitig daran, dass unsere süße kleine Lena irgendwann ein großes Fräulein sein wird und das Tanzbein schwingen oder mit ihren Freundinnen ins Kino gehen will. Da werden viele, viele junge Männer sein, die nach ihr schauen werden. Die kommt nämlich ganz nach uns.« Sie hatte gelacht und ihm einen Kuss gegeben.

Sie hatte ja recht, wusste er, doch er hatte sich damals ertappt gefühlt, weil auch in ihm ein kleiner Fridolin steckte, aber eben nur ein ganz kleiner. Die sechsjährige Lena war halt sein ganzer Stolz, und er als Landjäger sah Dinge, die niemand sehen sollte oder wollte. Aber noch war seine Tochter erst gerade in die erste Klasse der Primarschule eingetreten und glücklich, wenn sie hin und wieder am Abend auf Esel Leo durch die Weiden reiten durfte und mit den Kindern aus der Nachbarschaft Hütten im Wald bauen konnte.

Über diese Gedanken sagte er hier und jetzt natürlich nichts. Elisabeth Weber hatte es bestimmt nur gut gemeint, und noch war nicht klar, was überhaupt passiert war. Außerdem war das Fräulein doch schon 22 Jahre alt und damit vom Gesetz her seit zwei Jahren volljährig, wenngleich die Eltern in diesem Alter noch immer einen großen Einfluss ausübten, besonders, wenn sie, wie die allermeisten, noch gemeinsam unter einem Dach hausten.

»Also, Frau Weber, wir lügen Ihren Mann nicht an, aber wir werden ihm sagen, dass wir den Hinweis zum Tanzlokal von jemandem zugesteckt bekommen haben, der nicht namentlich genannt werden will. Er wird sich dann womöglich denken, dass es bestimmt jemand gewesen sei, der gestern ebenfalls im Tanzlokal war, einer der jungen Leute. Und wir beide, Kollege Marugg und ich, wir werden uns sofort gezielt auf die Suche nach Carmen machen und melden uns unverzüglich, sobald wir mehr in Erfahrung gebracht haben. Und wie gesagt: Es tut uns sehr leid, dass Ihre Tochter verschwunden ist. Wir werden unser Möglichstes tun!«

Er wollte und konnte nicht sagen, dass er bei der Sache ein ungutes Gefühl im Ranzen hatte, ein ganz ungutes Gefühl.

2

Die beiden Ermittler verließen das einfache Haus der Webers um kurz vor 9:30 Uhr. Der Krieg und die ersten Nachkriegsjahre hatten bestimmt auch am Geldbeutel der Webers genagt, doch wie es schien, ging es auch in dieser Familie diesbezüglich wieder aufwärts. Neue Möbel und einer dieser modernen Kochherde standen im Haus. Durch eine offen stehende Tür hatte man auch ins kleine Badezimmer linsen können: Badewanne, Waschbecken, WC. Alles nigelnagelneu. Seit zwei Jahren wurden in Chur keine neuen Wohnungen ohne eine Nasszelle mehr gebaut. Die Zeiten, in denen man sich das WC mit den Nachbarn teilen musste und sich in der Küche am Schüttstein wusch, auch die Haare, waren in diesen Neubauten vorbei. Doch hier, im Fall der Webers, hatte die Moderne auch im alten Gemäuer Einzug gehalten.

Draußen vor dem Reihenhaus, von dem es 30 weitere in zwei Reihen gab, startete der Landjäger sein Pfüpfli. Der kleine Hilfsmotor machte wie immer einen Heidenlärm für wenig Kraft. Caminada drückte seinen Hut fester auf seinen Pölli und wurde das ungute Gefühl nicht los, dass da was gar Arges mit Carmen Weber geschehen sein musste. So wie die Mutter über ihre verschwundene Tochter sprach, wäre Carmen niemals über Nacht weggeblieben, war also kein Donnersmaitli, bei der man nie wissen konnte, was sie so trieb. Caminada versuchte, die dunklen Gedanken von sich zu schieben, um sich nicht selbst in den Ermittlungen, die nun anstanden, zu bremsen. Er trat in die Pedale und gab zeitgleich Gas. Marugg folgte ihm auf seinem Fahrrad.

 

Der Weg nach Untervaz war zu weit, um mit ihren beiden Vehikeln dahin zu fahren, seit sie einen Wagen besaßen. Sie entschlossen sich daher, zurück auf das Landjägerkommando zu fahren, um dort den alten Chevy zu holen. Zuvor mussten sie aber Major Ferdinand Fässler und Fräulein Rosemarie noch berichten, was sie von Elisabeth Weber erfahren hatten. Caminada wusste, weiter durfte der Kreis aber nicht gezogen werden, um diese Aussage unter dem Deckel zu halten. Leider gab es immer wieder Landjäger, die nicht auf ihrer Schnorra hocken konnten, und in einer geselligen Bierrunde mal da und dort kleine und große Geheimnisse aus dem Landjägeralltag ausplauderten.

Caminada setzte sich um 10:10 Uhr direkt hinters Steuer, denn mittlerweile hatte er endlich einen Führerschein, durfte nun ganz offiziell fahren. Aber das mit der Fahrprüfung war eine spezielle Steißgeburt gewesen, anders, als er erwartet hatte …

 

Es war letzten Herbst gewesen, als er vom Kommandanten vernommen hatte, dass die theoretische Prüfung nun endlich auch in Chur abgelegt werden konnte, und zwar auch mündlich, das war für den Landjäger entscheidend gewesen. Eine praktische Prüfung gab es nicht. Warum auch? Wer nicht fahren konnte, sollte sich halt nicht hinters Steuer klemmen. Fräulein Rosemarie meldete Caminada umgehend zur mündlichen Prüfung an, und so war er der Allererste im Kanton Graubünden, der sich dieser zu stellen hatte. Fahren hatte er ja längst gelernt.

Nachdem er erfahren hatte, dass er die Prüfung zu seinem Glück würde mündlich ablegen können, da sagte er am Mittagstisch zu Menga, dass er den Führerschein sozusagen jetzt schon im Sack habe – ohne das Schriftliche, das ihm wegen seiner ausgeprägten Lese- und Schreibschwäche schon zweimal ein Bein gestellt hatte. Um die mündliche Prüfung zu bestehen, brauche es gewiss bloß gesunden Menschenverstand, und den hielt er sich zugute. Er sagte deshalb: »Jo Herrgottsack nomol, Menga, das wird ja wohl keine Hexerei sein.«

Menga war da zurückhaltender, zog ihre Augenbrauen hoch und meinte: »Mein Lieber, sagst nicht du hin und wieder gerne, dass man das Fell eines Bären nicht aufteilen solle, solange er noch im Wald herumläuft?« Sie nickte vielsagend. »Du bist doch sonst nicht so voreilig und nimmst es lieber patschifig.«

»Menga, weißt du, wie lange ich schon Auto fahre? Seit wir den ersten Göppel, diesen himmeltruurigen Chevy bekommen haben. Glaub mir, man braucht weiß Gott keinen Doktortitel, um zu verstehen, wie man sich auf der Straße zu benehmen hat. Und gell, meine Liebe, das meine ich nicht, weil du einen Doktortitel hast.«

Sie lachte herzhaft. »Also dann …«, sagte sie gelassen, und Caminada dachte, dass er sich nach der Prüfung endlich nicht mehr diese Sprüche von den drei Beamten der Verkehrspolizei würde anhören müssen und sich dann auch nicht mehr mit einer Villiger-Krummen aus der Affäre zu ziehen brauchte.

Guten Mutes stand er deshalb am Prüfungstag pünktlich vor der Tür des Verkehrsamtes bereit. Er kannte den Beamten, bei dem er zur mündlichen Prüfung antreten musste, sogar persönlich und gab diesem während einer Viertelstunde lang und breit Auskunft; beispielsweise, wie man vorgehen musste, wenn man betrunken mit dem Wagen noch nach Hause müsse. Caminada wusste die Antwort: »Auf kürzestem Weg und dabei langsam und vorsichtig fahren.« Die Antwort war logisch und deshalb richtig. Wie auch seine Antwort auf die Frage, wie man es mit der Geschwindigkeit beim Fahren zu halten habe: »Sobald mehr als drei Häuser nebeneinander stehen, muss die Geschwindigkeit entsprechend gesundem Menschenverstand angepasst werden, wie auch wenn sich Passanten auf der Straße befinden oder Tiere. Achtsamkeit ist das A und O.«

Der Beamte erklärte Caminada, dass er innert Kürze Bescheid bekäme. Er müsse seine Notizen noch von einem Kollegen überprüfen lassen. Das fand Caminada eher kschpässig, aber die Mühlen der Bürokratie mahlten manchmal eben sehr langsam. Das garantierte aber noch lange nicht, dass dabei auch was Gescheites rauskam.

Am liebsten wäre Caminada sogar mit dem Chevy zur Prüfung vorgefahren, aber das Gebäude lag nur gerade 200 Meter vom Landjägerkorps entfernt.

Kaum betrat Caminada nach der Prüfung die Wachstube, blickte er in betretene Gesichter. Auch der Major stand da und schien auf ihn gewartet zu haben. Er zog nachdenklich an seiner Pfeife.

»Tut mir wirklich saumäßig leid für dich, Walter«, sagte er. »Leider haben wir nicht das Ergebnis erhalten, welches du dir erhofft hast. Du bist durchgefallen. Zu viele Fehler. Genauer gesagt zwei zu viel. Sie haben soeben angerufen!«

»Ja Herrgottsack und Stärnasiach nomol! Das kann doch nicht so schwer sein! Himmelherrgott, die sollen mir das aber ganz präzis erklären, was ich falsch gemacht habe«, brummte Caminada und sah, dass auch Fräulein Rosemarie eine betretene Miene schnitt. Jetzt stand er schon wieder saudumm da, wie ein Esel vor dem Berg. Doch diesmal war es nicht das Lesen und Schreiben, das ihm im Weg gestanden hatte. Er verstand die Welt nicht mehr.

»Das werden sie, Walter, das werden sie, denn ich erwarte ja auch, dass du, als mein bester Landjäger notabene, bald endlich einen Führerschein im Sack hast.« Fässler ergänzte resigniert: »Aber nun gut, das war’s wohl für eine ganze Weile hinter dem Steuer. Die Prüfung darf nur alle sechs Monate wiederholt werden, und wenn man dreimal versagt, muss man sogar zum Idiotentest oben in der Nervenheilanstalt. Aber so weit wird es ja wohl hoffentlich nicht kommen, oder?«

»Jo Stärnachaib nomol, ich will mich bestimmt nicht deswegen zum Calöri machen.« Caminada wusste, die Verkehrspolizei würde das noch heute in Erfahrung bringen und nur auf ihn warten. Das hieß: für ein paar Tage wieder auf das Velotöffli. Außerdem hatte er noch einen Gang vor sich, der ihm nicht passte. Menga hatte ihn ja ermahnt, doch er war auf dem hohen Ross gehockt. Von wegen, da braucht man keinen Doktortitel …!

Am Mittag fuhr er also mit dem Velotöffli nach Hause, mit schlechter Laune im Gepäck. Menga hatte extra Schmorbraten gemacht, dazu Stampfkartoffeln, um das Ereignis zu feiern, da er ja so zuversichtlich gewesen war.

Caminada begrüßte zuerst Lena, herzte sie länger als sonst und fragte sie allerlei zum heutigen Morgen in der Schule, ehe er Menga begrüßte und sich sofort nach dem Händewaschen an den Tisch setzte, während Menga den Schmorbraten aufschnitt.

»Und?« Sie blickte ihn neugierig an und reichte ihm ein großes Stück. »Hast du den Führerausweis schon erhalten? Habe gedacht, du kommst vielleicht sogar gleich mit dem Auto.«

»Also, irgendwie, wie soll ich es sagen, muss wohl der Wurm drin gewesen sein.« Er schüttelte den Kopf. »Ich habe den Führerschein nicht erhalten. Durchgefallen!«

»Heimatland noch mal, Walter! Das ist aber eine Überraschung. Und du warst dir doch sooo sicher. Wie kommt’s?«

»Papa, hast du zu wenig gelernt?«, meldete sich Lena keck zu Wort.

»Ach Pfiffadeckel, Lena. Ich habe auf alles eine Antwort gewusst.«

»Aber halt die falsche«, kicherte Lena. »Geht mir manchmal auch so in der Schule. Meine Antworten passen dann halt auch nicht auf die Fragen, aber sie wären richtig.«

»So, so, so …«, brummte Caminada und musste lächeln ob dem Vorwitz seiner Kleinen.

Menga zuckte mit den Schultern. »Nun gut, die Welt geht davon auch nicht unter. Essen wir den Schmorbraten trotzdem. Ach, Walter. Lena hat dir noch eine schöne Karte gebastelt zur Feier des Tages. Ich hoffe, du freust dich trotzdem.«

Caminada strich Lena übers schöne dunkle und lange Haar. Sie ähnelte sehr ihrer Mutter. »Das ist aber lieb. Und ich alter Gaggalari habe nicht mal bestanden. Aber ich freu mich trotzdem.«

Er faltete die Karte auseinander und las, was darin stand. »Du hast bestanden, Papa! Mama und ich haben dich nur auf den Arm genommen!«

Caminada blickte erst Menga an, dann seine kichernde Tochter, die beide Hände vor ihren Mund hielt. Er wusste gar nicht, wie ihm geschah. Er kniff seine Tochter in die Wange. »Du kleines Luuswiibli, du.« Lena lachte aus voller Wonne, während er Menga anstarrte und sagte: »Und du hast bestimmt das Fräulein Rosemarie angestiftet … ach, ich hatte noch gedacht, irgendwas ist im Busch, aber darauf wäre ich im Leben nie gekommen.«

Menga konnte sich vor Lachen kaum mehr halten. Sie stand auf, trat an seinen Stuhl, beugte sich zu ihm und umarmte ihn liebevoll von hinten. »Ab jetzt kann dir die Verkehrspolizei den Buckel runterrutschen, mein Lieber, und du kannst deine Villiger-Krummen nur noch an die verschenken, die sie auch wirklich verdient haben.«

 

Das war nun einige Monate her, ein langer Winter lag dazwischen. Deshalb hockte sich Caminada nun mit gutem Gewissen hinters Steuer des Chevys und lenkte das schwere Gefährt aus dem Städtchen hinaus auf die Landstraße. Der Wagen hatte beim Starten einmal mehr gemuckt, doch jetzt schnurrte der Motor, und der Wagen lief ziemlich rund.

Caminada und Marugg folgten der Straße Richtung Trimmis, überquerten dahinter in den weitläufigen Weiden den Rhein. Der kleine Bahnhof Untervaz lag nicht etwa im Dörfchen Untervaz selbst, wie man meinen könnte, sondern weit außerhalb in direkter Nähe zum Rhein und nahe der Landstraße. Dies hatte Vorteile für die umliegenden Dörfer, für die der Bahnhof so innert nur einer halben Stunde gut zu Fuß erreichbar war.

Das Tanzlokal Lupf dis Bei lag nur zwei Fußminuten von dem schmucken kleinen Bahnhofshäuschen entfernt, das gänzlich aus Holz gebaut war und dessen Fenstersimse wie die aller Bahnhöfe in den warmen Monaten üppig mit schönen Blumenkisten geschmückt waren.

Caminada parkte auf dem gekiesten Parkplatz auf der Gebäuderückseite. »Hoffentlich kriegen wir den huara Klapf wieder zum Laufen«, murrte Caminada, als er den Zündschlüssel abzog. Er steuerte den Eingang auf der Vorderseite mit dem kleinen Vordach an, vor dem eine Kreidetafel stand, auf der das Mittagsmenu angeboten wurde. »Gehacktes mit Hörnli – drei Franken und fünfzig Rappen.«

Tagsüber war das Lokal vor allem eine kleine gutbürgerliche Beiz, in der es einfache Gerichte zu günstigen Preisen gab. Vor allem Tagelöhner, die in dem großen Säge- und dem Kieswerk in der nahen Umgebung krampften, kamen mittags auf ihren Fahrrädern hierher, um etwas Währschaftes für wenig Geld auf den Teller zu bekommen.

Die Wirtin hieß Lisalotte. Umgangssprachlich nannte man sie auch die Flotte Lotte. Sie war schon 60 und seit Ewigkeiten geschieden, sodass sie behauptete, dass ihre Ehe längst verjährt sei und sie somit wieder als ledig gelte. Sie wirtete schon so lange alleine, dass sich auch kaum jemand mehr an ihren Mann erinnern konnte, den dicken Heini, der immer für einen Spaß zu haben gewesen war und dessen pausbackiges Gesicht, immer wenn er lachte, fürzündrot wurde.

Noch war die Beiz gähnend leer. Auf einem Plattenspieler drehte eine Platte. Rudi Schurickes »Dreh’ dich noch einmal um, eh’ wir auseinander geh’n«, ertönte, sodass der Schmalz nur so triefte, fand Caminada und gab Marugg einen feinen Ellenbogenstoß in die Rippen, denn der mochte überhaupt gar keine Liebesschnulzen. Auch Caminada war beschwingte Volksmusik viel lieber, deshalb spielte er auch mit großer Hingabe seit einigen Monaten Schwyzerörgeli.

»Jaja, das Fräulein Carmen war hier«, sagte die Flotte Lotte mit dem üppigen Hüftgold und dem goldenen Schmuck ums Handgelenk und um ihren Hals. Sie hatte braun gegerbte Haut, als wäre es das Ende eines langen Sommers. »Hätte mich ja auch gewundert, wenn sie nicht gekommen wäre. Gestern spielten nämlich die Gebrüder Oswald auf, da war was los, das kann ich euch sagen. Aber Landjäger Caminada, warum wollt ihr beide das überhaupt wissen? Ist was passiert?« Ihr abgelebtes Gesicht zeigte Sorge. Sie fühlte sich, wie es schien, irgendwie verantwortlich dafür, dass ihre Gäste wieder gut nach Hause kamen.

»Das können wir noch nicht genau sagen. Aber vielleicht weißt du, mit wem sie hier war? Sie hatte eine Verabredung.«

»Also ist doch etwas passiert?«

Caminada wusste, dass sie zwischen den Zeilen lesen konnte, was er gerade gesagt hatte. Dennoch hielt er sich weiter bedeckt und antwortete: »Genaueres können wir noch nicht sagen, aber es gibt tatsächlich etwas, das wir dringend klären müssen.«

»Hört sich nicht gut an. Aber zu deiner Frage, Walter. Sie ist alleine gekommen, wenn ich das richtig gesehen habe. Vielleicht war ihre Begleitung ja schon hier. Jedenfalls fiel mir keiner aus der Gruppe junger Leute, mit denen Carmen sich den ganzen Abend umgeben hatte, besonders auf.«

»Alleine an einem Tanzabend? Ein Fräulein?« Caminada zeigte seine Zweifel.

»Bevor wir auseinander geh…, bevor wir auseinander geh…, bevor wir auseinander geh…, bevor wir auseinander geh…« Die Platte hatte einen Sprung. Lisalotte ging hin und tippte mit der Fingerkuppe ihres rechten Zeigefingers auf den Plattenspieler, damit die Nadel eine Rille weitersprang, doch sie sprang zurück. »Dreh’ dich noch einmal um, bevor wir auseinander geh’n …«

»Ja, Landjäger Caminada. Das gibt’s häufiger, als man denkt. Vor allem die jungen Fräuleins, die zu Hause nichts sagen dürfen, gar nicht hier sein dürften … als wäre das Lupf dis Bei das Tor zu Sodom und Gomorra und hieße Spreiz deine Beine. Und«, betonte sie, »wärt nicht ihr beide es, die mich hier nach Carmen fragen, ich hätte glatt keine Ahnung, von wem ihr sprecht. Ihr versteht?«

Caminada, der seinen Hut aufbehalten hatte, fasste zusammen: »Carmen mag tatsächlich alleine gekommen sein. Ihre Mutter behauptet aber, sie hätte eine Art Rendezvous gehabt. Sagt dir der Name Max etwas? Gut aussehend, soll Anwalt sein?«

»Ach, Walter, das mit dem Rendezvous wird doch heute nicht mehr so gehandhabt wie damals, als du und ich noch jung waren. Heute trifft man sich inmitten von anderen. So geht das heute. Aber nochmals, wer ihr Verehrer gewesen sein soll, weiß ich wirklich nicht, ich habe nichts Derartiges bemerkt, aber auch nicht die ganze Zeit alle angestarrt. Und von einem Anwalt weiß ich nichts. Es waren gestern über 100 Nasen hier, und die kamen von weiß der Kuckuck woher. Ich sage euch, das mit den Autos, das wird irgendwann noch mehr zunehmen. Früher kamen sie mit dem Zug aus Chur oder Landquart oder auf den Velos aus den umliegenden Käffern, aber gestern standen bestimmt 25 Automobile auf dem Platz hinter dem Haus.« Sie betonte es nochmals: »25!«

»Das glauben wir dir aufs Wort. Aber sag, ist gestern sonst etwas Besonderes vorgefallen? Irgendwas?«

Lisalotte schüttelte den Kopf. »Höchstens, dass Carmen wie immer tanzte, als gäbe es kein Morgen mehr, mal mit dem, mal mit dem, so wie all die Jungen, von denen man glauben könnte, sie würden den Rest der Woche sozusagen zu Hause weggesperrt. Aber Carmen trank wie immer nicht viel, und irgendwann war sie dann verschwunden. Wann sie gegangen ist, weiß ich nicht genau, denn meist zahlen die Herrschaften nach so einem flotten Tanzabend gerne für die hübschen Maitli.« Und schon wieder wiederholte sich das Stück auf der Schallplatte. »Bevor wir auseinander geh…, bevor wir auseinander geh…, bevor wir auseinander geh…«

Diesmal hob die Wirtin die Nadel an und führte den Arm des Plattenspielers zurück, bevor sie wieder vor Caminada und Marugg trat.

»Hmm, Lisalotte, somit weißt du also auch nicht, mit wem, falls überhaupt, Carmen abgezottelt ist«, stellte Caminada fest. Marugg, der neben ihm stand, kritzelte wie immer Notizen.

Die Wirtin schüttelte den Kopf. »Äba nit, so gern ich es auch wissen würde. Und auch wenn ich Carmen hätte rausgehen sehen, heißt das noch lange nicht, dass sie sich auf den Nachhauseweg gemacht hat. Die Jungen hocken doch am liebsten im Halbdunkeln, oder noch lieber, wenn es stockfinster ist, draußen zusammen und holen sich hin und wieder ein Getränk an der Bar. Die Musik hören sie auch draußen, da ich extra das hintere Fenster offen stehen lasse.« Sie deutete auf das Fenster, das zur Gebäuderückseite zeigte. »Ihr wisst sicher: Im Dunkeln ist gut Munkeln, denn dann wird es spannender … aber dann heißt es wieder, dass die moderne Tanzmusik den Jungen nur den Kopf verdrehe.«

Marugg machte wie immer eine gute Figur in seiner schicken Kleidung, der schwarzen Hornbrille und dem kecken Schnurrbart. Er fragte nach den Namen der Gäste und schrieb alle auf, die Lisalotte mit Vor- und Nachnamen kannte, oder von denen sie wusste, wo sie zu finden waren.

Obwohl weit über 100 Tanzfreudige am gestrigen Dienstag im Lupf dis Bei waren, standen nur gerade zwölf Namen auf der Liste. Einer aber machte beide Ermittler sofort stutzig, ohne dass sie es sich anmerken ließen. Klaus Nold! Der war alles andere als ein Unbekannter. Er war der Sohn einer reichen Bauunternehmerfamilie, zu der auch ein Anwalt, ein Richter und ein einflussreiches Treuhandunternehmen in Chur gehörten. Und der junge Nold war polizeilich bekannt! Er war gegenüber Fräuleins schon mehrfach unanständig geworden, doch hatte das Geld seiner Familie die Zeuginnen immer zum Schweigen gebracht.

3

Caminada und Marugg verabschiedeten sich von der Wirtin und blieben draußen vor der Beiz stehen. Normalerweise standen erst im Sommer im kleinen Garten ein paar Tische mit Sonnenschirmen, aber wegen der außergewöhnlichen Aprilwärme hatte Lotte sie in diesem Jahr schon früher rausgestellt. Nur der rostige Grill schien noch auf sein Erwachen zu warten. Aber in den großen Töpfen aus Beton blühten schon bunte Blumen und schmückten so den Eingang.

»Carmen war also gestern Abend hier«, hielt Caminada fest und ließ seinen Blick kurz umherschweifen. »Jetzt müssen wir aber rausfinden, wie es mit ihr dann weiterging. Zum Bahnhof sind es ja nur zwei Gehminuten.« Er blickte in die Richtung, dann zu Marugg, der sich aus seiner Blechdose ein Pfefferminzzückerli in den Mund steckte und zu Walter sagte:

»Sie soll ja gemäß ihrer Mutter mit dem Zug gekommen sein. Gehen wir mal davon aus, dass Carmen ihr die Wahrheit gesagt hat. Obwohl immer mehr junge Herren das Automobil des Herrn Vater fahren dürfen, und deshalb möglicherweise einer dieser Kavaliere sie damit heimfahren wollte, gehen wir dennoch am besten zuerst den Weg bis zum Bahnhof ab, nehmen diesen in Augenschein und danach auch das nahe Rheinufer.«

Er sagte nicht, dass sie in Gebüschen oder hinter Sträuchern oder beim alten Bahnhofsschuppen möglicherweise die Leiche finden könnten, oder genauso gut am Rhein. Es wäre leider nicht das erste Mal, dass sie am Rheinufer einen schauderhaften Fund machen würden. Das war auch Caminada sehr bewusst.