Entfesselt - Rafaael Moretti - E-Book

Entfesselt E-Book

Rafaael Moretti

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Beschreibung

Der Titel Entfesselt spiegelt das Kernthema des Romans wider: Annas tiefgreifende Transformation und ihre Befreiung von emotionalen Fesseln der Vergangenheit. Er verkörpert ihren Weg, sich von inneren Blockaden zu lösen und zu ihrer wahren Identität zu finden. Zu Beginn ist Anna innerlich gefangen gefesselt durch ihre gescheiterte Ehe, die schwierige Beziehung zu ihrem Vater und berufliche Stagnation. Doch der Roman zeichnet ihren Weg der Befreiung nach. Ihre Reise ist geprägt von impulsiven Entscheidungen, wie Ausflügen nach St. Pauli, aber auch Momenten tiefer Selbstreflexion, etwa am Elbstrand. Dieser Weg führt sie zu einer neuen Freiheit.   Entfesselt beschreibt Annas Entwicklung von anfänglich chaotischen Ausbrüchen hin zu einer bewussten, Selbst bestimmten Freiheit. Ihre Entwicklung wird sichtbar in den verschiedenen Phasen von der Suche nach Ablenkung bis hin zur tiefen Reflexion und der bewussten Entscheidung für David und ihre wiederentdeckten kreativen Ambitionen.   Der Roman steht in der Tradition von Selbstfindungsromanen und verankert diese im modernen Hamburg. Annas Reise betrifft nicht nur ihre romantischen Beziehungen, sondern ebenso ihre kreative Entfaltung und ihre Entwicklung als Frau. Es geht um die Befreiung von Erwartungen und die Suche nach der eigenen Stimme in einer komplexen Welt.  

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Seitenzahl: 190

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Entfesselt

Manchmal begegnet uns ein Mensch, der etwas zum Klingen bringt, von dem wir nicht einmal wussten, dass es in uns existiert. Deine Worte, dein Lachen, dein Blick auf die Welt – sie haben in meinem Leben Spuren hinterlassen, die bleiben. Dieses Buch ist nicht nur eine Geschichte, sondern auch ein Flüstern an dich: Ein Danke für all die Gespräche, das stille Verstehen, das unausgesprochene Band zwischen uns. Vielleicht ist es nur eine leise Hoffnung. Was immer wir sind, was immer wir werden könnten – dieses Buch trägt ein Stück deines Lichts in sich. Für Bo, in tiefer Dankbarkeit und stillem Staunen.

Inhaltsverzeichnis

Leeres Nest

Erstes Aufflammen

Erinnerungsfragmente

Rutschbahn

Masken fallen

Sprung ins Risiko

Spiegel der Wahrheit

Die dunkle Muse

Feuer der Eifersucht

Rausch an der Elbe

Katerstimmung

Versöhnung

Morgenröte

Neuer Horizont

Leeres Nest

Anna öffnete die Augen, kurz bevor der Wecker zu klingeln begann. Das Licht des frühen Morgens ließ das Zimmer fremd und leblos erscheinen, als gehöre es nicht mehr zu ihrem Leben. Die vertraute Atmosphäre war verschwunden, übrig blieb nur eine bedrückende Stille, die sich über alles legte.

Sie tastete nach der anderen Betthälfte – leer, kalt. Die bittere Gewissheit war ihr bereits vertraut: Tobias war fort. Kein vorübergehendes Fortsein, kein spontanes Entschwinden – er war gegangen. Endgültig. Für immer.

Seit fünf Tagen. Fünf lange Wochen, in denen sie hoffte, dass sich etwas ändern könnte, dass er vielleicht plötzlich vor der Tür stehen und alles rückgängig machen würde. Aber es kam nichts. Keine Nachricht, kein Anruf, keine Entschuldigung. Nur die drückende Stille, die jeden Raum füllte.

„Ich brauche Abstand“, hatte er gesagt. Worte, die wie Splitter in ihr Herz gedrungen waren. Worte, die sie sofort verstand: Es gab eine andere.

Mit müder Entschlossenheit schwang sie die Beine aus dem Bett. Ihre Muskeln protestierten, als wollten sie sie zurückhalten, sie zwingen, noch einen Tag in dieser lähmenden Leere zu verharren. Aber heute durfte sie sich nicht wieder der Starre ergeben. Heute musste etwas anders werden.

Im Flur blieb ihr Blick am Kalender hängen: Samstag. Ihr siebter Hochzeitstag. Ein Datum, das einmal so viel bedeutet hatte und jetzt nur noch Schmerz war – ein weiterer Stich in ein ohnehin schon wundes Herz. Ein Tag, der nicht mehr gefeiert, sondern überlebt werden musste.

Im Bad betrachtete sie ihr Spiegelbild. Vierunddreißig Jahre alt. Braune Augen, denen jeglicher Glanz abhandengekommen war. Das Haar hastig zu einem unordentlichen Knoten gebunden. Kein Zeichen dramatischer Verzweiflung, keine Tränen. Nur eine tiefe, erschöpfte Mattheit, die sich über ihr Gesicht gelegt hatte.

Was hatte Julia, was sie nicht hatte? Diese Frage, diese quälende Unsicherheit, nistete sich in ihr ein wie ein Parasit. Unauslöschlich. Hartnäckig.

Anna spritzte sich kaltes Wasser ins Gesicht, als könne sie die Gedanken abwaschen. Mechanisch bereitete sie in der Küche Kaffee zu – stark, schwarz, bitter. Eine letzte Bastion von Normalität in einer Welt, die ihr aus den Händen geglitten war.

Am Fenster hielt sie inne. Die Tasse fest umklammert, starrte sie hinaus auf den Osterbekkanal, auf das glitzernde Wasser, auf die ersten fallenden Blätter der herbstlichen Bäume. Was früher Heimat bedeutete, war jetzt nur noch eine leere Kulisse. Der Anblick tat fast körperlich weh.

Die Wohnung – ihr geliebter Altbau mit den hohen Decken und dem Fischgrat Parkett – hatte ihre Seele verloren. Alles war noch da, doch nichts war mehr richtig. Die Möbel wirkten verschoben, die Räume fremd.

Ein Stück Stoff fiel ihr ins Auge. Tobias’ vergessene Krawatte lag halb versteckt zwischen Sofa und Kissen. Blau, mit kleinen silbernen Rauten. Ein Überbleibsel der Zeit, in der sie glaubte, dass sie gemeinsam alt werden würden.

Anna hob die Krawatte auf. Sie spürte den kühlen Stoff zwischen ihren Fingern, atmete den schwachen Hauch seines Aftershaves ein. Für einen flüchtigen Moment wollte sie sie an sich pressen, sich an diesem letzten Fragment seiner Nähe festhalten. Doch dann, mit einer Anstrengung, die fast körperlich schmerzte, legte sie sie entschlossen in eine Schublade. Ein stiller, endgültiger Abschied.

Das Blinken des Anrufbeantworters ließ sie zusammenzucken. Zögernd drückte sie auf Abspielen.

„Anna, Liebes. Hier ist Hilde. Ich wollte nur hören, wie es dir geht…“

Noch bevor die Nachricht endete, löschte sie sie. Die Worte waren bedeutungslos. In jedem Tonfall, jeder Betonung klang das unausgesprochene Urteil mit: Was hast du falsch gemacht?

Auf der Kommode lag ein handgeschriebener Brief – ein weiterer Versuch von Hildes Seite, sich einzumischen. Anna öffnete ihn, mehr aus Pflichtgefühl als aus echter Neugier.

„Liebe Anna, es tut mir leid…“

Die Worte verglühten beim Lesen. Kein echtes Bedauern, keine Einsicht. Nur ein leeres Bedauern, das nichts wiedergutmachen konnte. Mit einem entschlossenen Ruck ließ Anna den Brief in den Papierkorb gleiten.

Sie öffnete den Kleiderschrank. Zwischen den ordentlichen Reihen ihrer Kleidung, den stummen Zeugen eines Lebens, das nicht mehr ihrs war, entdeckte sie ein schwarzes, enges Kleid. Kurz, gewagt, mit tiefem Ausschnitt – ein Überbleibsel aus einer Zeit, als sie noch glaubte, dass alles möglich sei.

Anna zögerte, dann zog sie es heraus. Der Stoff schmiegte sich an ihren Körper, spannte leicht an den Hüften. Aber es passte noch. Gerade so. Im Spiegel erkannte sie eine Frau, die sie lange nicht mehr gesehen hatte: entschlossen, trotzig, lebendig.

Ihr Handy vibrierte. Karla. „Wie geht’s dir? Soll ich vorbeikommen?“

Anna antwortete knapp: „Alles gut. Ich gehe heute Abend aus.“

Keine langen Erklärungen, keine Verteidigungen. Nur die Entscheidung, dass heute ein neuer Anfang sein sollte.

Sie schminkte sich sorgfältig. Rote Lippen, betonte Augen, offenes Haar. Nicht um jemandem zu gefallen, sondern um sich selbst zu zeigen, dass sie noch da war. Dass sie noch kämpfen konnte.

Mit jedem Handgriff entfernte sie sich ein wenig mehr von der Anna, die tagelang in Selbstmitleid erstarrt war. Schritt für Schritt kehrte etwas von ihrem alten Feuer zurück.

Als sie fertig war, stand sie einen Moment lang still und betrachtete sich. In einer anderen Welt hätten sie heute Abend gemeinsam gefeiert, einander liebevoll angeschaut, Pläne für die Zukunft geschmiedet. In dieser Welt ging sie allein hinaus.

Die kalte Luft umfing sie wie ein Schlag, als sie die Tür hinter sich ins Schloss zog. Aber sie empfand ihn nicht als Feind. Er war ein Versprechen, eine Herausforderung.

Mit festen Schritten ging sie zur U-Bahn. Ihr Ziel war klar: St. Pauli. Die Reeperbahn. Ein Ort, an dem niemand Fragen stellte. Ein Ort, an dem sie für einen Abend alles abwerfen konnte, was ihr die Luft zum Atmen nahm.

Heute Abend würde sie nicht reparieren. Nicht grübeln. Nicht trauern.

Heute Abend würde sie leben.

Und vielleicht, irgendwo zwischen den flackernden Lichtern und dem dröhnenden Leben, ein kleines, vergessenes Stück von sich selbst wiederfinden.

Erstes Aufflammen

Anna stieg an der U-Bahn-Station St. Pauli aus. Die Reeperbahn empfing sie mit grellen Lichtern, dröhnender Musik und einer rastlosen Energie, die sofort unter ihre Haut kroch. Sie zog den Mantel enger um ihren Körper, doch die Nervosität, die in ihr wuchs, war weit drängender als die kühle Abendluft. Alles um sie herum wirkte überwältigend, und doch war es genau diese Reizüberflutung, nach der sie sich gesehnt hatte — ein Gefühl, das ihr half, ihre eigene innere Leere für einen Moment zu vergessen.

Sie sog die fremde, rauchige Luft ein, spürte, wie die Mischung aus Abenteuer und Angst ihre Sinne schärfte. Es war, als würde sie in eine andere Welt eintauchen, eine Welt, in der sie eine andere Version ihrer selbst entdecken konnte.

„Na, Süße, ganz allein unterwegs?“

Ein Mann mit einer Bierflasche in der Hand und einem verschwommenen Lächeln trat ihr zu nah.

Anna wich aus, murmelte eine Entschuldigung und entfernte sich hastig. Ihr Herz schlug schneller, weniger vor Angst, mehr aus einer Mischung von Aufregung und Anspannung. Alles in ihr drängte zur Umkehr, zur Flucht in die Vertrautheit ihrer Wohnung. Doch ein anderer, neu erwachter Teil — der Teil, der sich heute Morgen für das Leben entschieden hatte — trieb sie voran.

Sie bog in eine Seitenstraße ein, wo das Licht gedämpfter und die Gehwege weniger überfüllt waren. Ihre Schritte hallten auf dem Pflaster, begleitet vom fernen Dröhnen der Musik und den ab und zu aufblitzenden Lachern, die aus versteckten Bars drangen. Vor ihr ein schmaler Eingang, überspannt von einer Leuchtschrift: „Silberkeller“.

Ohne langes Nachdenken trat sie ein und ließ die hektische Welt draußen zurück.

Im Inneren empfing sie gedämpftes, rotes Licht, das dem Raum eine warme, fast vertrauliche Atmosphäre verlieh. Jazzklänge schwebten durch die Luft — eine wohltuende Alternative zum Chaos der Straßen. Der Klang eines Saxophons strich sanft über ihre Sinne und nahm ein wenig von ihrer inneren Anspannung. Anna setzte sich an die Bar, bestellte einen Gin Tonic und beobachtete die Szenerie: lachende Paare, Einzelgänger mit Büchern, Barkeeper mit geduldigen Gesichtern, die sich nicht beeindrucken ließen.

Sie nippte an ihrem Glas, spürte die angenehme Schärfe des Alkohols auf ihrer Zunge. Ein Gefühl von Leichtigkeit begann sich in ihr auszubreiten, noch zart, aber spürbar. Zum ersten Mal seit Wochen hatte sie das Gefühl, dass die Welt nicht nur grau und schwer war.

„Ist dieser Platz frei?“

Eine tiefe Stimme. Anna blickte auf und sah einen Mann, etwa Anfang vierzig, mit dunklem Haar und markanten Gesichtszügen. In seinen Augen lag eine wache Zurückhaltung, gepaart mit einer Offenheit, die sie instinktiv ansprach.

„Ja, bitte,“ antwortete sie und rückte leicht zur Seite, ihr Herz schlug nun noch ein wenig schneller.

Er bestellte einen Whiskey und wandte sich dann ihr zu. „David,“ stellte er sich vor.

„Anna,“ erwiderte sie mit einem Lächeln, das ihr selbst überraschend leicht fiel.

Sein Lächeln war ruhig, unverbindlich, doch in seinem Blick lag eine subtile Intensität, die Anna nicht entging. Zwischen ihnen spannte sich ein kaum merkliches Band aus Aufmerksamkeit und gegenseitigem Interesse.

Sie kamen ins Gespräch: über Musik, über Reisen, über die Absurdität von Zufällen, die Menschen zusammenführen. David erzählte von einem verregneten Wochenende in Dublin, Anna von ihrem Traum, einmal nach Island zu reisen. Mit jedem Satz verlor Anna ein wenig von ihrer Anspannung. Immer wieder berührten sich ihre Hände flüchtig auf der Theke — zufällige, doch elektrisierende Kontakte, die ein Prickeln auf ihrer Haut hinterließen.

Sie lachten über absurde Reiseanekdoten, fanden heraus, dass sie eine Vorliebe für alte Bücher und italienische Küche teilten. Mit jedem Moment, der verstrich, schien sich ein unsichtbares Band zwischen ihnen zu verdichten.

Als die ersten Töne von Billie Holidays „The Very Thought of You“ erklangen, stand David auf und streckte ihr wortlos die Hand entgegen. Anna zögerte, ihre Finger schwebten einen Moment über seiner Hand, ehe sie sie in seine legte.

Auf der kleinen Tanzfläche führte er sie mit einer Sanftheit, die ihr Herz schneller schlagen ließ.

Seine Hand lag an ihrem Rücken, etwas fester, als es notwendig gewesen wäre, sein Daumen strich kreisend über den Stoff ihres Kleides. Anna schloss einen Moment lang die Augen, ließ sich von dem Rhythmus tragen, von der Nähe, die sich unaufhaltsam aufbaute.

Er zog sie näher an sich, sodass ihre Körper sich fast, aber eben nicht ganz berührten. Sein Atem streifte ihre Schäfe, warm und verheißungsvoll. Der feine Duft nach Holz und Zirrus, der ihn umgab, drang tiefer in ihr Bewusstsein. Sie spürte die Kraft seines Körpers, seine Zurückhaltung, und sie hörte seinen Herzschlag, der ebenso unruhig zu schlagen schien wie der ihre.

Während sie tanzten, schlossen sich ihre Finger fester um seine Hand. Anna spürte, wie ein Strom feiner Erregung durch ihren Körper lief. Es war kein überstürzter Wunsch, sondern ein tiefes, leises Verlangen nach Nähe, nach Verbindung.

Worte wären in diesem Moment fehl am Platz gewesen. Zwischen ihnen spannte sich eine knisternde Stille, schwerer und bedeutungsvoller als jedes Gespräch.

Als das Lied endete, verharrten sie einen Moment länger, als es nötig gewesen wäre. David sah ihr in die Augen, dunkel, tief und einladend. Für einen endlosen Augenblick glaubte Anna, dass er sie küssen würde — und sie wusste, sie hätte ihn nicht aufgehalten.

Doch David trat einen kleinen Schritt zurück, mit einer Bedächtigkeit, die ebenso viel sagte wie ein Kuss. Es war, als hätten sie beide wortlos beschlossen, dass dieser Moment wertvoller war als jede übereilte Handlung.

Zurück an der Bar bestand er darauf, ihren Drink zu bezahlen. Anna protestierte halbherzig, lachte sogar — ein Lachen, das sie selbst überraschte mit seiner Leichtigkeit. Ihre Fingerspitzen streiften beim Bezahlen flüchtig seine Hand, ein letzter, feiner Strom von Verbindung.

Draußen auf der Straße hielt David ein Taxi an. Er begleitete sie bis zur offenen Tür, seine Hand leicht an ihrem Rücken, eine Berührung, die mehr schützte als beanspruchte. Im Moment des Abschieds strich er ihr eine Haarsträhne aus dem Gesicht, seine Fingerspitzen berührten flüchtig ihre Haut. Die Geste war so zart, dass sie ihr den Atem raubte.

„Bis bald, Anna,“ sagte er, seine Stimme rau vor Zurückhaltung.

„Bis bald,“ flüsterte sie, und ihr Herz sprach leise mit.

Im Taxi lehnte sie den Kopf gegen die kalte Scheibe. Ihre Haut prickelte noch immer von seinen Berührungen, ihr Herz schlug unruhig. Die Straßen von St. Pauli verschwammen vor ihren Augen, aber sie fühlte sich nicht mehr verloren.

Zum ersten Mal seit langer Zeit fühlte sie sich nicht zerbrochen.

Zum ersten Mal seit langer Zeit fühlte sie sich lebendig.

Erinnerungsfragmente

Das Badewasser umspülte Annas Körper mit sanfter Wärme. Dampf stieg auf und beschlug den großen Spiegel gegenüber der Wanne. Sie hatte das Wasser heißer eingelassen als sonst, fast schmerzhaft heiß, als könnte die Hitze die Spuren der vergangenen Nacht von ihrer Haut waschen.

Nicht dass es etwas zu waschen gäbe – sie war allein nach Hause gegangen, hatte allein in ihrem Bett geschlafen. Trotzdem fühlte sie sich seltsam markiert von den Ereignissen im Silberkeller, von Davids Blicken, seinen flüchtigen Berührungen.

Anna ließ den Kopf gegen den Rand der Wanne sinken und schloss die Augen. Der leichte Kater – sie hatte mehr getrunken als geplant – pochte hinter ihrer Stirn. Das Sonntagslicht fiel durch die Milchglasfenster und malte helle Flecken auf den Badezimmerboden.

Davids Nachricht wartete noch immer unbeantwortet auf ihrem Handy. Würdest du morgen mit mir essen gehen? So einfach, so direkt.

Sie hatte ausweichend geantwortet, und doch wusste sie bereits, dass sie zusagen würde. Die Vorstellung, ihn wiederzusehen, ließ ein Kribbeln durch ihren Körper laufen.

Wie lange war es her, dass sie sich so gefühlt hatte? Nicht nur seit Tobias' Verrat, sondern überhaupt. Wann hatte sie zuletzt dieses Flattern im Magen gespürt, diese Mischung aus Vorfreude und Nervosität?

Ihre Gedanken glitten zu David zurück. Sein Gesicht tauchte vor ihrem inneren Auge auf: die Lachfältchen um seine Augen, der Dreitagebart, die Art, wie seine Hände das Weinglas hielten – stark und dennoch behutsam. Seine Berührungen beim Tanzen, kaum mehr als Andeutungen, und doch hatte jede einzelne einen kleinen Stromschlag durch ihren Körper gejagt.

Sieben Jahre war es her, dass ein Mann, der nicht Tobias war, solche Gefühle in ihr ausgelöst hatte.

Tobias.

Der Name allein schmerzte noch immer. Mit einem Seufzen tauchte Anna tiefer ins Wasser, bis es ihr Kinn berührte.

Vor drei Monaten hatte sie es herausgefunden. Es war ein gewöhnlicher Mittwochabend gewesen.

Tobias auf einer "Geschäftsreise" nach München, angeblich. Sie hatte sein Tablet benutzt, um einen Film zu streamen – ihr eigenes war kaputt. Eine Nachricht war aufgepoppt, während sie durch die Streaming-Dienste scrollte.

"Vermisse dich. Kann es kaum erwarten, dich morgen zu spüren. J."

Anna hatte lange auf diese Nachricht gestarrt, nicht fähig zu begreifen, was sie da las. J. Julia. Seine Assistentin. Zweiundzwanzig Jahre alt.

Sie riss sich aus der Erinnerung, öffnete die Augen wieder. Das Badewasser war kühler geworden. Mit einem Ruck setzte sie sich auf, ließ etwas heißes Wasser nach.

Vielleicht sollte sie Karla anrufen. Ihre beste Freundin würde wissen wollen, wie der Abend gelaufen war. Würde sie verstehen, warum Anna sich auf ein potenzielles Date mit einem fast Fremden einließ, nur Wochen nach ihrer Trennung?

Oder würde sie besorgt sein, versuchen, Anna zu "schützen"? Zu warnen vor überstürzten Entscheidungen, vor emotionaler Verletzlichkeit, vor Männern, die die Situation ausnutzen könnten?

Anna strich mit den Fingern über die Wasseroberfläche, zeichnete kleine Kreise. Die Wahrheit war: Ein Teil von ihr wollte ausgenutzt werden. Wollte sich verlieren in einer Begegnung, die nichts, aber auch gar nichts mit Tobias, mit ihrer Ehe, mit dem Leben zu tun hatte, das sich wie ein schrumpfendes Kleidungsstück um sie zu ziehen schien.

Ein anderer Teil sehnte sich nach Sicherheit, nach dem Bekannten. Hatte Angst vor dem, was da auf sie zukam, wenn sie dieser neuen Anziehung nachgab.

Und dann war da noch etwas, das sie kaum zuzugeben wagte: die leise Hoffnung, dass es Tobias wehtun würde zu erfahren, dass sie jemand Neues traf. Eine kindische Rache, unwürdig eigentlich. Und doch – der Gedanke befriedigte etwas in ihr.

Anna schloss wieder die Augen und ließ sich zurückgleiten in die Wanne. Erinnerungen stiegen auf, Fragmente aus sieben Jahren Ehe, aus der Zeit davor.

Sie sah sich und Tobias bei ihrer ersten Begegnung.

Eine Vernissage in einer kleinen Galerie in der HafenCity. Anna war mit einer Kollegin dort gewesen, hatte sich gelangweilt, wollte gerade gehen. Dann sah sie ihn, direkt unter einem der abstrakten Gemälde stehend, in einem dunklen Anzug, das Haar etwas zu lang, fast jungenhaft. Er hatte ihr eine Sektflasche gereicht und gefragt, was sie von dem Bild halte. "Sieht aus, als hätte jemand einen Farbeimer umgeworfen", hatte sie geantwortet, die Ehrlichkeit durch den zweiten Sekt befeuert. Tobias hatte gelacht, tief und offen.

"Endlich jemand, der es ausspricht."

War es Liebe auf den ersten Blick gewesen? Nein.

Aber Anziehung, definitiv. Wärme. Die Ahnung von etwas Vertrautem in einem Fremden.

Das Bild wechselte. Ihre erste gemeinsame Wohnung. Klein, in Barmbek, mit Blick auf einen grauen Hinterhof. Sie hatten die Wände gelb gestrichen, weil Anna fand, sie bräuchten mehr Sonne. Das Gelb war schrecklich geworden, viel zu grell. "Wie in einer Käsefabrik", hatte Tobias gelacht, und irgendwann hatten sie beide auf dem Boden gesessen, umgeben von leeren Farbdosen, und gelacht, bis ihnen die Tränen kamen. "Dann sind wir eben die Käsefabrik-Bewohner", hatte Anna gesagt.

Es war einer dieser perfekten Momente gewesen, in denen das Leben so einfach schien.

Die Erinnerung verschwamm, wurde zu einer anderen.

Der Antrag, am Alsterufer. Tobias, der plötzlich auf ein Knie sank, während Schwäne vorbeizogen und Jogger sie passierten. Das kleine Kästchen mit dem Ring – nicht protzig, sondern schlicht und elegant.

Seine Stimme, die leicht zitterte: "Anna, ich will den Rest meines Lebens mit dir verbringen." Sie hatte geweint, natürlich. Hatte ja gesagt, natürlich. Es hatte sich wie die logische Fortsetzung ihrer Geschichte angefühlt. Der nächste Schritt.

Sie hatten nicht lange gewartet mit der Hochzeit.

Ein Jahr später standen sie vor dem Standesamt, umgeben von Freunden und Familie. Annas Vater hatte sie zum Altar geführt, seine Hand fest um ihren Arm, sein Gesicht voller Stolz. "Er ist ein guter Mann", hatte er geflüstert, kurz bevor er sie übergab. "Er wird dich glücklich machen."

Hatte Tobias sie glücklich gemacht? Zeitweise, ja. In den ersten Jahren besonders. Sie hatten Pläne geschmiedet, waren gereist, hatten Freunde eingeladen, gute Gespräche geführt. Es war eine gute Ehe gewesen, hatte Anna sich immer gesagt.

Bis die Kinder nicht kamen.

Die ersten Versuche waren noch leicht gewesen, voller Hoffnung und Vorfreude. "Diesen Monat klappt es bestimmt", hatte Tobias gesagt und ihr Haar geküsst. Doch Monat um Monat verstrich, ohne dass sich ihr Körper veränderte. Tests folgten, Arztbesuche, schließlich die künstlichen Befruchtungsversuche. Drei erfolglose.

Der Schmerz jedes Scheiterns hatte sich zwischen sie geschoben, unmerklich zunächst, dann immer deutlicher. Tobias' Blick, wenn sie ihm wieder sagen musste, dass es nicht geklappt hatte – eine Mischung aus Enttäuschung und Mitleid, die Anna kaum ertragen konnte.

"Vielleicht ist es nicht so wichtig", hatte sie irgendwann gesagt, nach dem dritten fehlgeschlagenen Versuch. "Vielleicht sind wir genug, nur wir beide."

Tobias hatte geschwiegen, lange. Dann genickt.

"Natürlich sind wir das."

Doch sein Lächeln hatte seine Augen nicht erreicht.

Und ein Teil von Anna hatte in diesem Moment bereits gespürt, dass etwas zerbrochen war, etwas, das sich nicht so leicht reparieren ließ.

Das Wasser wurde kalt, riss Anna aus ihren Erinnerungen. Mit steifen Bewegungen stieg sie aus der Wanne, wickelte sich in ein großes Handtuch.

Ihr Spiegelbild starrte ihr entgegen, verschwommen durch den Dampf, der sich langsam verzog. Sie wischte mit der Hand über das Glas, und plötzlich sah sie ihn – Tobias, der hinter ihr stand, die Arme um ihre Taille schlang, sein Kinn auf ihre Schulter legte. Ein Geist, eine Erinnerung so lebhaft, dass sie fast nach hinten griff, um zu fühlen, ob er wirklich da war.

Natürlich war er es nicht.

Mit einem tiefen Atemzug trat Anna vom Spiegel weg, ging ins Schlafzimmer. Die Kälte der leeren Wohnung empfing sie. Sie kleidete sich an, langsam, methodisch. Jeans, T-Shirt, ein warmer Pullover.

Ihr Handy lag auf dem Nachttisch. Die Nachricht wartete noch immer. Anna setzte sich auf die Bettkante, starrte auf das Display. Dann, mit einem plötzlichen Entschluss, tippte sie eine Antwort.

"Essen klingt gut. Wann und wo?"

Sie drückte auf Senden, bevor sie es sich anders überlegen konnte.

Fast sofort kam die Antwort: "20 Uhr? Ich kenne ein schönes kleines Restaurant in Ottensen. Hole dich ab?"

Anna zögerte. Ihre Adresse einem Mann geben, den sie kaum kannte? Andererseits – was sollte schon passieren? Sie wohnten in Hamburg, nicht in einem Thriller.

"20 Uhr ist perfekt. Hier ist meine Adresse..."

Sie tippte die Straße und Hausnummer ein, sendete ab. Ein seltsames Gefühl überkam sie – Leichtigkeit, fast Übermut. Der Sonntag, der vor ihr lag, schien plötzlich weniger öde, weniger bedrohlich. Da war etwas, auf das sie sich freuen konnte.

Das Klingeln des Telefons ließ sie zusammenzucken. Karla. Natürlich.

"Morgen", sagte Anna, bemüht, normal zu klingen.

"Morgen? Es ist fast Mittag, Schätzchen", antwortete Karlas warme Stimme. "Wie war dein Abend? Du hast geschrieben, du gehst aus, und dann kam nichts mehr. Ich hab mir schon Sorgen gemacht."

"Tut mir leid", sagte Anna und setzte sich auf die Fensterbank. "Es war... interessant."

"Interessant?" Karla klang skeptisch. "Das ist die Art von Wort, das man benutzt, wenn man einen Film beschreibt, der einen gelangweilt hat, es aber nicht zugeben will."

Anna lachte. "Nein, wirklich. Es war gut. Ich war in einer Bar auf St. Pauli."

"Du? Auf St. Pauli?" Karlas Überraschung war deutlich zu hören. "Was zum Teufel hast du da gemacht?"

"Ich wollte... irgendwohin, wo mich niemand kennt.

Wo ich nicht Tobias' Frau bin."

Es folgte ein kurzes Schweigen am anderen Ende.

"Das verstehe ich", sagte Karla schließlich. "Und, hast du jemanden kennengelernt?"

Anna schloss die Augen. War es zu früh, um darüber zu sprechen? Würde Karla sie verurteilen?

"Vielleicht", antwortete sie ausweichend.

"Anna Schulz!", rief Karla mit gespielter Empörung.

"Erzähl sofort!"

Also erzählte Anna. Von David, dem Fotografen.

Von seinem Buch, von dem Tanz, von der Einladung zum Essen. Mit jedem Wort wurde die Erinnerung realer, weniger wie ein Traum.

"Wow", sagte Karla, als Anna geendet hatte. "Das ging aber schnell."

"Zu schnell?", fragte Anna, unsicher angesichts des Tons in Karlas Stimme.