Enthüllung - Michael Woodford - E-Book

Enthüllung E-Book

Michael Woodford

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Beschreibung

Michael Woodfords Geschichte liest sich wie die Handlung eines John Grisham Buches und ist doch Realität: vom erfolgreichen CEO des japanischen Megaunternehmens Olympus zum Whistleblower, der schließlich gegen das Unternehmen agierte und dortige betrügerische Machenschaften an die Presse weitergab. In seinem Buch "Enthüllung" ist diese Geschichte nun nachzulesen. Beginnend mit der E-Mail, die ihn zum ersten Mal auf den vertuschten Skandal aufmerksam machte, über die furchteinflößenden Gerüchte, dass sogar die Yakuza in die Machenschaften von Olympus verwickelt sei und ihn zum Schweigen bringen sollte, bis hin zu seinem mutigen Schritt alles offenzulegen. Das Besondere an Woodfords Buch ist nicht nur die Schilderung seiner eigenen dramatischen Erfahrung, sondern auch, dass er in "Enthüllung" das Bild einer Unternehmenskultur zeichnet, in der blinde Loyalität gegenüber dem Chef über allem steht, sogar über ethischen und moralischen Prinzipien.

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Seitenzahl: 432

Veröffentlichungsjahr: 2014

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1. Auflage 2014

Alle Bücher von Wiley-VCH werden sorgfältig erarbeitet. Dennoch übernehmen Autoren, Herausgeber und Verlag in keinemFall, einschließlich des vorliegenden Werkes, für die Richtigkeit von Angaben, Hinweisenund Ratschlägen sowie für eventuelle Druckfehler irgendeine Haftung.

 

© 2014 Wiley-VCH Verlag & Co. KGaA, Boschstr. 12, 69469 Weinheim, Germany

Alle Rechte, insbesondere die der Übersetzung in andere Sprachen, vorbehalten. Kein Teil dieses Buches darf ohne schriftliche Genehmigung des Verlages in irgendeiner Form – durch Photokopie, Mikroverfilmung oder irgendein anderes Verfahren – reproduziert oder in eine von Maschinen, insbesondere von Datenverarbeitungsmaschinen, verwendbare Sprache übertragen oder übersetzt werden. Die Wiedergabe von Warenbezeichnungen, Handelsnamen oder sonstigen Kennzeichen in diesem Buch berechtigt nicht zu der Annahme, dass diese von jedermann frei benutzt werden dürfen. Vielmehr kann es sich auch dann um eingetragene Warenzeichen oder sonstige gesetzlich geschützte Kennzeichen handeln, wenn sie nicht eigens als solche markiert sind.

Das englische Original des Buches erschien 2012 unter dem Titel Exposure. From President to Whistleblower at Olympus bei Portfolio Penguin und 2013 bei Penguin Books Ltd, 80 Strand, London, WC2R ORL, England.

Copyright © Michael Woodford, 2012

All rights reserved

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

 

Umschlaggestaltung: Torge Stoffers/Graphik-Design, Leipzig

Bildrechte Cover: Muggy day of Tokyo © Trevor Dobson / gettyimagesExecutive running outdoors © David Troncoso / gettyimagesStock Market Financial Trading Screen in Green and Red © Simon Smith / gettyimagesAutorenfoto © REUTERS/Toby Melville

Gestaltung:pp030 – Produktionsbüro Heike Praetor, Berlin

Satz: inmedialo Digital- und Printmedien UG, Plankstadt

Print ISBN: 978-3-527-50778-8epub ISBN: 978-3-527-68546-2 mobi ISBN: 978-3-527-68547-9

Liebe deutschsprachige Leserinnen und Leser,

in diesem Buch geht es nicht in erster Linie um Wirtschaft, sondern um Menschen und um die Art, wie wir miteinander umgehen. Ich war Wirtschaftsmanager, und als ich eines Morgens erwachte, fand ich mich plötzlich in einem John-Grisham-Roman wieder, der allerdings im wirklichen Leben spielte und in dem ich der Hauptdarsteller war. Es ist der Olympus-Skandal, erzählt von einem Insider. So ehrlich wie ich kann, lasse ich Sie hier teilhaben an den beängstigenden und verstörenden Monaten, die ich Ende 2011/Anfang 2012 erlebt habe, und an den Auswirkungen dieser Erlebnisse auf mich, meine Frau, meine Kinder, meine Freunde und Kollegen.

Während ich Ihnen heute diese Zeilen schreibe, sind meine Gefühle immer noch aufgewühlt und haben sich kaum beruhigt. Es geht in diesem Bericht um Verhalten am Arbeitsplatz, Unternehmenskultur und menschliche Schwächen, aber vor allem geht es um Loyalität und Verrat.

März 2014 Michael Woodford MBE London

Für Koji Miyata und Waku Miller, die besten Freunde, die ein Mensch haben kann.

Inhaltsverzeichnis

Personen der Handlung

Prolog

1. Gerüchte und Enthüllungen

2. „Für wen arbeiten Sie?“

3. Gesellschaftsfeindliche Kräfte

4. Showdown

5. Flucht

Zwischenakt

6. Heimkehr

7. Die drei Musketiere

8. The Big Apple

9. Rückkehr

10. Verdorben bis ins Mark

11. Den Streit gewonnen, aber den Krieg verloren

12. Auch aufgehende Sonnen gehen einmal unter

13. Sayonara zu all dem

Epilog: Läuten und Pfeifen

Nachworte

Danksagungen

Über den Autor

Stimmen zum Buch

Stichwortverzeichnis

Personen der Handlung

(Positionen nach ihrer Relevanz am 14. Oktober 2011)

Tsuyoshi Kikukawa: geboren 1941, bei Olympus seit 1964. 1999 wurde er Vorstandsdirektor, verantwortlich für die Finanzabteilung, und 2001 wurde er zum President (etwa Vorstandsvorsitzenden) und repräsentativen Direktor ernannt. Zehn Jahre später, am 1. April 2011, reichte Kikukawa den Titel President an Woodford weiter, blieb aber selber Chairman (etwa Aufsichtsratsvorsitzender) und übernahm den neu geschaffenen Titel eines CEO. Kikukawa behielt seine Rolle als Chairman, als Woodford am 1. Oktober 2011 zum CEO befördert wurde. Als Woodford zwei Wochen später entlassen wurde, übernahm Kikukawa wieder die Titel President und CEO. Kikukawa trat am 26. Oktober 2011 als Chairman, President und CEO zurück. Am 24. November trat er aus dem erweiterten Vorstand (Board) zurück.

Hisashi Mori: geboren 1957, kam 1981 zu Olympus und wurde 2006 Vorstandsdirektor, stieg zu einem geschäftsführenden Vice-President auf, Entlassung aus dieser Rolle am 8. November 2011. Am 24. November 2011 trat er aus dem erweiterten Vorstand (Board) zurück.

Hideo Yamada: geboren 1945, bei Olympus seit 1963, Vorstandsdirektor seit 2003, stieg zu einem geschäftsführenden Vice-President auf. Im Juni 2011 wurde er zum ständigen Rechnungsprüfer des Unternehmens ernannt, Rücktritt etwa fünf Monate später am 24. November 2011.

Shuichi Takayama: geboren 1950, bei Olympus seit 1970, Vorstandsdirektor seit 2006. Im April 2011 wurde er President der Olympus-Verbrauchersparte, Olympus Imaging Corporation. Auch Direktor und Hauptgeschäftsführer bei Olympus Corporation. Bei Kikukawas Rücktritt am 26. Oktober wurde Takayama zum President und repräsentativen Direktor bei Olympus ernannt. Auf einer außerordentlichen Hauptversammlung am 20. April 2012 trat er von allen Ämtern zurück und verließ das Unternehmen.

Haruhito Morishima: President der Medizinsparte des Unternehmens, Olympus Medical Systems Corporation, und ein Direktor sowie geschäftsführender Vice-President bei Olympus Corporation.

Masataka Suzuki: Chairman und Hauptgeschäftsführer bei Olympus Corporation of Asia Pacific Limited, verantwortlich für die 22 Olympus-Unternehmen in China, Südostasien, Ozeanien und Indien. Auch Direktor und Hauptgeschäftsführer bei Olympus Corporation. (Bis April 2008 war Suzuki Hauptgeschäftsführer und Vorsitzender der Olympus Europa Holding GmbH gewesen und hatte die vorangegangenen fünf Jahre eng mit Woodford zusammengearbeitet. Als Suzuki aus Europa zurückkehrte, ernannte Kikukawa Woodford zum neuen Chef des Europageschäfts.)

Kazuhisa Yanagisawa: Direktor bei Olympus Corporation, verantwortlich für die konzernweiten Forschungs- und Entwicklungsaktivitäten des Unternehmens. Im Juni 2011 zum Hauptgeschäftsführer befördert.

Hironobu Kawamata: Direktor und Manager bei Olympus Corporation, der faktisch die Rolle eines Leiters des Bereichs Finanzen im Unternehmen spielte.

Hiroshi Kuruma: früherer leitender Manager bei Nikkei Inc., die Japans größte Wirtschaftstageszeitung veröffentlicht, und einer der drei externen (nicht geschäftsführenden) Direktoren bei Olympus Corporation.

Yasuo Hayashida: Doktor der Medizin und einer der drei externen (nicht geschäftsführenden) Direktoren bei Olympus Corporation.[*]

Akihiro Nambu: Geschäftsführer der Abteilung Public Relations und Investor Relations bei Olympus Corporation. Er handelte die Übernahme der Gyrus Group PLC 2008 aus und wurde mit Kikukawa und Mori ein Direktor der Tochtergesellschaft.

Toshiro Shimoyama: Olympus-President 1984 – 1993, gefolgt von Kishimoto.

Masatoshi Kishimoto: Olympus-President 1993 – 2001, gefolgt von Kikukawa.

Hajime „Jim“ Sagawa: Banker, der für Nomura, Drexel Burnham Lambert und PaineWebber gearbeitet hatte, bevor er Axes America gründete, wo er President war. Er war auch Miteigentümer der Tochterfirma Axes (Japan) Securities. Ein Bericht der Rechnungsprüfer PricewaterhouseCoopers (PwC) vom 11. Oktober 2011 hielt fest, dass Sagawa offizielle Dokumente mit Olympus als „Direktor“ von Axam unterzeichnet hatte, dem Fonds auf den Cayman-Inseln, der 670 Millionen Dollar der 687 Millionen Dollar erhalten hatte, die als sogenannte „Honorare“ im Zusammenhang mit der Übernahme der Gyrus Group PLC gezahlt wurden. Die übrigen 17 Millionen Dollar waren an Axes gezahlt worden.

Akio Nakagawa: Chef der Abteilung Anlagekapital bei PaineWebber in Japan Anfang der 1990er-Jahre, wo er mit Hajime Sagawa zusammenarbeitete. Er und Sagawa waren auch bei Drexel Burnham Lambert Kollegen. Nachdem Nakagawa 1998 die Wall Street verließ, taten sich beide erneut bei Axes America zusammen.

Nobumasa Yokoo: ehemaliger Investmentbanker bei Nomura, der 1998 Chef ihres prestigeträchtigen Zweiges Shinjuku Nomura Building geworden war. Dort arbeitete er mit einigen der wichtigsten Kunden der Firma zusammen, darunter auch Olympus. Er gründete Ende der 1990er-Jahre Global Company, den Kanal für die Olympus-Investitionen bei drei kleinen, unprofitablen Unternehmen.

Akinobu Yokoo: älterer Bruder von Nobumasa Yokoo. 2003 war er Finanzleiter bei der ITX Corporation, die in diesem Jahr von Olympus übernommen wurde. Er war Olympus-Manager zwischen 2005 und 2009.

Takeshi Kunibe: geboren 1953. President der Sumitomo Mitsui Banking Corporation (SMBC) – Olympus’ Hausbank und einer ihrer größten japanischen Aktionäre.

Koji Miyata: geboren 1941. Früherer President der Medizinsparte von Olympus, der als alter Freund einer von Woodfords engsten Vertrauten und Beratern in den Monaten nach seiner Entlassung wurde. Gründer der Website Grassroots, die ein inoffizielles Forum für Olympus-Mitarbeiter darstellte.

Waku (alias Brian Miller): geboren 1954. Der gebürtige Amerikaner Waku lebt seit 30 Jahren in Tokio und wurde Michael Woodfords Stimme in Japan. Sein Sohn Doug gab Koji Miyata die technische Unterstützung bei der Einrichtung und Führung der Website Grassroots.

Josh Shores: Investmentexperte und Chef bei Southeastern Asset Management, dem größten ausländischen Aktionär von Olympus.

Mark Hewland: Seniorpartner der Anwaltskanzlei Simmons & Simmons in London und leitender Anwalt, der die vielen Woodford betreffenden Rechtsangelegenheiten weltweit koordiniert.

Tatsuo Kainaka: geboren 1940. Ehemaliger Richter am Obersten Gerichtshof in Japan, der die Untersuchung des unabhängigen Komitees zum Olympus-Skandal leitete. Der Bericht seines Komitees bescheinigte dem führenden Management von Olympus, verdorben bis ins Mark zu sein.

 

An besseren Tagen: 10. Februar 2011.        Photograph: Kyodo News

 

Die Pressekonferenz in Tokio, auf der Olympus-CEO Tsuyoshi Kikukawa bekannt gab, dass der nächste Vorstandsvorsitzende des Unternehmens ein gaijin sein würde, ein Ausländer: Michael Woodford.

Kikukawa teilte der versammelten Zuhörerschaft über mich mit: „Ich glaube ganz fest, dass seine Erfahrung und sein Wissen, zusammen mit seinen starken Führungsqualitäten, für unser Unternehmen von entscheidender Bedeutung sein werden.“

Als ich sprach, erlaubten meine Worte bereits einen flüchtigen Blick in die Zukunft: „Japan ist, wie ich denke, bekannt dafür, dass es den Status quo sehr gut verwalten und bewahren kann. Veränderungen können in Japan sehr schwer durchzusetzen sein.“ Weiter erklärte ich den Reportern: „Sie sind aber durchzusetzen und sie werden durchgesetzt werden, aber ich brauche dafür einen japanischen ‹Schirm›.“ Ich bezog mich dabei auf Kikukawa, von dem ich sicher annahm, dass er mich unterstützen und beschützen würde. Acht Monate später sollte dieser Schirm sich schließen.

* Der dritte externe Direktor war Junichi Hayashi, der auch als Rechnungsprüfer bei ITX Corporation fungierte, einer Informationstechnik-Gruppe, die 2003 von Olympus übernommen wurde. Er trat mit Takayama und allen anderen Vorstandsmitgliedern auf der außerordentlichen Hauptversammlung am 20. April 2012 zurück.

Prolog

Manchmal kommt es mir so vor, als hätte ich mein ganzes Leben in einer Höhe von 11 500 Metern zugebracht. Angeschnallt über den Wolken vertreibe ich mir die Stunden, während ich mit Aktentasche und Laptop die Kontinente überquere. Ich kenne die Abläufe. Das Einchecken, die niemals lächelnden Ausweiskontrolleure, das Ausziehen der Schuhe, die Handy-Ablagen, die grell beleuchteten Duty-free-Shops. Die lange Wanderung zum Gate, durch die Gangway, über die Schwelle und dann nach links in die Zuflucht der Erste-Klasse-Kabine. Jacke ausziehen, ein Glas Sekt trinken und dann warten, bis die letzten Nachzügler an Bord sind. Schließlich die Durchsage, dass die Türen gesichert und überprüft sind. Dann Stunde um Stunde über den Wolken bis zu den Landevorbereitungen und dem Aufsetzen. Und endlich mit müden Augen das Aussteigen an einem fernen Ort.

Aber bei diesem einen Flug war alles anders: All Nippon Airways 202 von London-Heathrow nach Narita/Japan, Abflug 19 Uhr am 23. März 2011. Weniger als zwei Wochen zuvor hatte es ein unterseeisches Megathrust-Erdbeben der Stärke 9 auf der Richterskala gegeben, dessen Epizentrum 69 Kilometer östlich der Halbinsel Oshika in der Region Tohoku lag. Das stärkste Erdbeben, das Japan je erschüttert hatte, und das fünftgrößte auf der Welt, seit man 1900 mit der Aufzeichnung solcher Dinge begonnen hatte. Binnen 30 Minuten traf ein Tsunami mit einer Höhe von bis zu 40 Metern die Nordostküste des Landes.

Die Welt verfolgte am Fernsehen, wie die sich auftürmende Wand aus grauem Wasser, auf der oben Autos, Schiffe und Lastwagen tanzten, ihren Weg bis zu acht Kilometer ins Innere der Provinz Sendai nahm und dabei die meisten Bauwerke auf der Strecke vernichtete. Das Wasser zerstörte 129 225 Gebäude. Fast 16 000 Menschen kamen ums Leben, 27 000 wurden verletzt und 3 155 wurden noch vermisst. Mein Flug führte in ein Katastrophengebiet.

Eine weitere Gefahr schwelte unter mir, während wir im Landeanflug waren: Das an der Küste gelegene Kernkraftwerk Fukushima Daiichi war von der vollen Wucht der Welle getroffen worden. Es stand zwar noch, aber die Notstromversorgung war ausgefallen und die Arbeiter der Anlage sowie Soldaten und Feuerwehrleute kämpften, um den strahlenspeienden Reaktor zu kühlen.

Für den Fall, dass sich die Dinge zum Schlechteren entwickelten, erwogen die japanischen Behörden insgeheim eine Evakuierung des gesamten Großraums Tokio, einer Metropolregion mit 35 Millionen Einwohnern. Und Tokio war genau mein Reiseziel.

Ich war auf diesem Flug offenbar der einzige westliche Passagier. Viele in Tokio tätige Ausländer strebten genau in die entgegengesetzte Richtung und versuchten, so schnell wie möglich außer Landes zu kommen und sich in Sicherheit zu bringen. Während das Flugzeug durch die Nacht glitt, schlief ich unruhig, meine Gedanken kehrten immer wieder zu den Tagen daheim zurück, bevor ich mich auf den Weg nach Heathrow gemacht hatte. Da die Nachrichtensender 24 Stunden am Tag die verzweifelten Bemühungen zeigten, den Reaktor in Fukushima unter Kontrolle zu bringen, forderte meine Frau mich auf, nicht den Helden zu spielen. Ich sollte auch an sie und unsere zwei Kinder denken.

Sie beschwor mich, jeder werde es verstehen, wenn ich meine Rückkehr noch aufschöbe. Es sei tollkühn und verantwortungslos, jetzt zurückzureisen. Ich wusste, dass andere gaijin (ausländische) Firmenchefs nicht in Japan waren, und meine Kollegen würden es vielleicht tatsächlich verstehen, aber für mich stand die Entscheidung nie infrage. Ich musste zurück – wie konnte ich mich sonst Vorstandschef nennen, wenn ich nicht bei meinen Mitarbeitern war, bloß weil die Lage gefährlich ist?

Als wir uns auf die Landung vorbereiteten, kam die junge Stewardess, die sich die vergangenen zwölf Stunden in ihrer ruhigen Art so pflichtbewusst um mich gekümmert hatte, an meinen Platz und lächelte mich mitfühlend an. Sie reichte mir eine Duty-free-Plastiktüte mit sechs Flaschen Ty Nant, Waliser Quellwasser. Ohne jede Aufregung in der Stimme erläuterte sie mir, man solle Leitungswasser zurzeit lieber meiden, wegen möglicher radioaktiver Verseuchung, und Wasser in Flaschen gehe in der Stadt rasch zur Neige. Es klang alles definitiv unheilvoll.

Dann kam das erwartete Aufsetzen und Quietschen der Räder bei der Landung, und ich sah durch das kleine Fenster das vertraute Umfeld des Airports Narita. Ich musste meine Gedanken auf die Aufgabe konzentrieren, für die ich hier war. Eine völlig neue Rolle für mich – die Führungsposition in dem Unternehmen, für das ich schon so lange und hart gearbeitet hatte. Ich war Ausländer, und dennoch war ich ausgewählt worden, dieses riesige japanische Unternehmen mit seinen 40 000 Mitarbeitern zu führen.

30 Jahre zuvor hatte ich bei Olympus als Handelsvertreter angefangen und hätte mir nie träumen lassen, dass ich einmal „President“ sein würde. Allerdings würde ich einem Unternehmen vorstehen, das in Schwierigkeiten war. Schon vor dem Erdbeben hatte die Bilanz Anlass zur Sorge gegeben und die Kosten waren aus dem Ruder gelaufen. Es war eines der höchstverschuldeten Unternehmen Japans und musste dringend beginnen, seine gigantischen Außenstände zurückzuzahlen. Meine Aufgabe lautete, Olympus wieder zurück in das Land zu führen, wo Milch und Honig fließen. Ich war mir sicher, dass ich wusste, wie ich das anzustellen hatte.

Nach Tokio zurückzukehren war ein Charaktertest, der zeigen musste, dass ich trotz aller Risiken meinen japanischen Kollegen verpflichtet war. Wie die meisten Regierungen der Welt hatte auch das britische Außen- und Commonwealth-Ministerium davon abgeraten, nach Japan zu reisen; viele Airlines flogen nach Seoul in Südkorea und betrieben von dort aus einen Shuttle-Service nach Tokio, damit die Crews nicht in der Stadt übernachten mussten.

Als ich auf dem Rollband stand, konnte ich in meiner Jackentasche den Dosimeter spüren, ein handygroßes Gerät zur Messung der Strahlendosis. Ich verließ die Ankunftshalle, um mich mit meinem Fahrer Nick zu treffen, einem tadellos gekleideten japanischen Doppelgänger von Marlon Brando. Er war mir zum Freund geworden. Er hatte mich erst vor zwei Wochen in Narita abgesetzt und freute sich sichtlich zu sehen, dass ich trotz Nachbeben und allem, was der Wind möglicherweise von Fukushima herüberblasen konnte, zurückgekehrt war. Er grüßte mich mit einem Lächeln und einer Verbeugung und nahm meine Tasche.

Mit ihm an meiner Seite: Was sollte da schiefgehen?

1 Gerüchte und Enthüllungen

Es war Hochsommer, als die E-Mail eintraf. Ein leises Ping im Posteingang. Da lag sie nun, still und unbeachtet. In diesem Juli des Jahres 2011 schwitzte Europa unter einer ungewöhnlichen Hitzewelle. Ich war wie so oft auf Reisen und leitete Konferenzen in Hamburg, wo Olympus seine Europa-Zentrale hat. Der Vorstand saß erwartungsvoll um einen großen runden Tisch herum, eine Änderung, die ich eingeführt hatte, damit die Leute sich auch wirklich ansahen und einander zuhörten.

Ich hatte dort schon seit vielen Jahren Konferenzen geleitet, aber jetzt führte ich den Vorsitz als „President“ des gesamten globalen Konzerns, und der Respekt, der mir neuerdings entgegengebracht wurde, war spürbar; das war etwas Neues, löste allerdings auch leichtes Unbehagen aus. Wir arbeiteten die Tagesordnung ab, wobei ich meiner Rolle entsprechend wie gewöhnlich Dinge infrage stellte, Herausforderungen formulierte und dabei immer versuchte, die Ansichten aller um den Tisch herum Versammelten in Erfahrung zu bringen. Am späten Nachmittag waren wir durch.

Wieder im Hotelzimmer, klappte ich meinen Laptop auf, um mich dem Strom der eingehenden E-Mails zu widmen. Ich war dafür bekannt, dass ich Nachrichten immer umgehend beantwortete, womit ich mich selbst unter beständigen Druck setzte. Als ich auf den Bildschirm blickte, sah ich sie – die kleine Zeitbombe von Mail, die mein Leben für immer verändern sollte.

Der Betreff der E-Mail lautete: DRINGENDE NEUIGKEITEN. Ein Freund in Tokio, Gorō, hatte einen Artikel in einer obskuren japanischen Zeitschrift namens Facta gelesen, in dem wilde Vorwürfe gegen Olympus erhoben wurden. Ich hatte noch nie von Facta gehört, fand aber später heraus, dass es sich um ein kleines Wirtschaftsblatt handelte, das von einem Einzelkämpfer herausgegeben wurde, ein seltenes Phänomen in der japanischen Medienwelt: ein journalistischer Aktivist, der sich nicht scheute, Dinge zu enthüllen, die der Enthüllung bedurften. Wäre ich Pessimist gewesen, hätte ich jetzt besorgt sein müssen. Aber ich war kein Pessimist.

„Haben Sie die Übersetzung des Olympus-Artikels erhalten?“, fragte Gorō. „Nein“, mailte ich zurück. „Warum? Irgendetwas, das ich wissen sollte?“ Nach vier Monaten als Vorstandschef war ich es gewohnt, dass über mich geschrieben wurde, besonders in Japan. Zeitungen und Zeitschriften brachten ständig Storys über mich, den gaijin Boss, das Neue daran, das Besondere. Ich nahm an, dass sich Gorō auf ein weiteres derartiges Porträt bezog, und hoffte, dass es wenigstens schmeichelhaft ausgefallen war.

Seine Antwort-Mail kam rasch. Im Artikel ging es nicht um mich. Es ging um Olympus, und es wurden schwerwiegende Anschuldigungen erhoben. Die Message war klar: „Sie sollten sofort zurückkommen!“ Was die exakten Vorwürfe anging, konnte ich seinen Worten nur so viel entnehmen, dass es um große Geldsummen ging, aber die Details blieben vage. Ich war der Meinung, dass wir nichts falsch gemacht haben konnten, und ging davon aus, dass der Artikel entweder böswillig oder sensationsgierig sein musste.

Komisch, wie sich alles um einen herum so schnell auflösen kann, das Gewebe alles Vertrauten um einen herum zerfällt, oder, besser, von allem, was man zu kennen glaubt. Ich flog zurück nach Japan, in Unkenntnis dessen, was mich dort genau erwartete.

Am Tag nach meiner Rückkehr nach Japan fand unsere monatliche Vorstandssitzung statt. Es war Freitag, der 29. Juli. Bis dahin hatte ich mithilfe von Freunden und vertrauenswürdigen Kollegen, die im Unterschied zu mir Japanisch sprachen, den Kern des Facta-Artikels verstanden. Er behauptete, das Unternehmen habe Hunderte von Millionen Dollar für unerklärliche Transaktionen im Zusammenhang mit dem Aufkauf seltsamer und unwahrscheinlicher Übernahme-Objekte ausgegeben. Das war in der Tat eine ernste Sache.

Sicher würde die Agenda der heutigen Sitzung aufgehoben werden, um den Dingen auf den Grund zu gehen, die hier anscheinend vorgefallen waren. Wer war beteiligt? Tsuyoshi Kikukawa womöglich, der mir als „President“ vorangegangen war, aber wer noch? Wie viele Personen?

Als ich den Vorstandsraum betrat, erwartete ich eine vor Spannung knisternde Atmosphäre. Wie immer, wenn ich aus Übersee zurückkehrte, wurde ich von allen sehr freundlich begrüßt. Es gab keinerlei Anzeichen irgendwelcher Missstimmung. Die Konferenz verlief ganz normal, monoton in ihrer Gewohnheitsmäßigkeit, niemand erwähnte irgendeine Art von Unregelmäßigkeit. Ich selbst brachte das Thema nicht auf, weil ich das Gefühl hatte, ich sollte das Ganze besser erst einmal für mich behalten, bis ich genau wusste, wovon ich sprach. Nach Ende der Konferenz ging ich zurück in mein Büro und fragte mich, ob Facta womöglich schlecht informiert war, doch mein Misstrauen blieb. Irgendetwas stimmte hier nicht.

In den meisten Unternehmen hat der „President“ (Vorstandsvorsitzende) zentralen Einfluss auf die Geschehnisse, aber bei Olympus hatten sich meine Befugnisse als neuer Amtsinhaber zu meiner großen Enttäuschung bereits von vornherein als eingeschränkt erwiesen. Vor meiner Ernennung hatte Kikukawa sowohl die Rolle des geschäftsführenden „President“ als auch des beaufsichtigenden „Chairman“ innegehabt (nicht gerade das ideale Modell für eine gute Unternehmensführung), aber als ich nun „President“ wurde, führte er zum ersten Mal in der Unternehmensgeschichte den Titel eines „Chief Executive Officer“ (CEO) ein, ein westliches Konzept. Im Allgemeinen ist in Japan der „President“ auch CEO (Hauptgeschäftsführer), und die Position des „Chairman“ (Aufsichtsratsvorsitzenden) ist ein Ehrenamt. Ich konnte jetzt aber erkennen, dass die Lage bei Olympus künftig insofern anders sein würde, als schnell klar wurde, dass der neue Titel CEO den „President“ übertrumpfte. Das verlieh Kikukawa in der Unternehmensleitung die unbeschränkte Macht, einzustellen und zu entlassen, und es gab ihm auch das Sagen beim Schlüsselthema Vergütung seiner Mitdirektoren. Diese Situation störte mich so sehr, dass ich ihn bereits mehr als einmal, ohne dabei auf Konfrontation zu gehen, auf das Thema angesprochen hatte. Ich hatte ihn höflich gefragt: „Warum befördern Sie mich, beschränken aber gleichzeitig meinen Managementspielraum?“ Aber Kikukawa wischte diese Besorgnis beiseite, indem er mir erklärte: „Titel spielen keine Rolle; Sie sind der Chef.“ Dies trug aber keineswegs dazu bei, mein Unbehagen über die Rollenverteilung zwischen CEO und President zu beseitigen. Ich wusste sehr wohl, dass ich derjenige war, der die Verantwortung trug. Als President oblag mir die rechtliche Verantwortung, für die Unterschrift unter dem Geschäftsbericht wie auch für seine Vorlage bei den Rechnungsprüfern.

Vielleicht wurde ich ja immer noch als gaijin betrachtet, als Außenseiter ohne japanische Attribute, und als die Art von President, der nicht in Geheimnisse eingeweiht wird. Aber meine Beziehung zu Kikukawa reichte schon Jahrzehnte zurück. Er hatte mich in den USA gefördert, wo er mir die Verantwortung für das damals Verluste schreibende Medizingeschäft übertragen hatte. Er hatte mich auch zum Leiter aller Olympus-Aktivitäten in Europa befördert, die sich im Folgenden zum profitabelsten Unternehmensbereich entwickelt hatten. Er war mein Förderer gewesen. Aber meine Loyalität war nicht blind.

So sehr ich Tokio auch genoss, so sehr sehnte ich mich an den Wochenenden doch auch danach, der Stadt entfliehen zu können. An diesem Sonntagnachmittag nahm ich mit Gorō einen Zug hinaus aus der brodelnden Stadt. Er ist eine Generation älter als ich und ein fester Bestandteil der Tokioter Geschäftselite. Unsere Freundschaft ist äußerst ungewöhnlich, und viele wären überrascht, wenn sie erführen, dass wir befreundet sind. Da ich in Japan jetzt eine umstrittene Figur bin, könnte es für ihn schädlich sein, wenn er mit mir in Verbindung gebracht wird, daher habe ich seinen Namen geändert, um seine Identität zu schützen. Wir waren unterwegs zu einem Kurort mit heißen Quellen, der ein paar Zugstunden außerhalb der Metropole lag. Während der Fahrt übersetzte Gorō mir sorgfältig und in voller Länge den Facta-Artikel. Die Anschuldigungen waren derart absurd, dass ich kaum glauben konnte, was ich da hörte.

Olympus läuft Amok, tönte die Überschrift. Gewaltige Verluste durch unerklärliche Fusionen und Übernahmen. Versenkt 70 Milliarden Yen in drei Mini-Unternehmen, nur um dann fast den gesamten Betrag als Verlust aus Wertminderung abzuschreiben. Wir enthüllen die Tricksereien von Kikukawa und Co., die den Nettowert von Olympus zu dezimieren drohen.

Durch den schrulligen und melodramatischen Schreibstil wirkte das Ganze noch seltsamer. Merkwürdiger als jede erfundene Geschichte ging es los:

Olympus gab im Geschäftsjahr 2008 insgesamt 70 Milliarden Yen für drei Unternehmen aus, die nichts mit seinem Kerngeschäft zu tun haben. Dann wurde der größte Teil dieser Investitionen im nächsten Jahr heimlich, still und leise als Verlust aus Wertminderung abgeschrieben.

Die übernommenen Firmen, alle nicht börsennotiert: Altis, entsorgt Industriemüll aus Krankenhäusern; News Chef, entwickelt und vermarktet mikrowellenfähige Gerichte; und Humalabo, vertreibt per Versandhandel Kosmetik und Gesundheitsnahrung. Diese Tochterunternehmen sind in der Wertpapier-Berichterstattung von Olympus so gut wie unsichtbar, und Informationen über ihre Geschäftsergebnisse sind nicht erhältlich. Das Unternehmen ist ganz offensichtlich darauf aus, irgendetwas zu verbergen.

Das war schon schlimm genug, aber es war noch nicht alles. Während wir durch die japanische Landschaft rasten, ging es weiter. Facta stellte auch Fragen zur Übernahme eines britischen Unternehmens für 270 Milliarden Yen (2,2 Milliarden Dollar):

Die merkwürdige Übernahme eines britischen Unternehmens für 270 Milliarden Yen

Olympus sorgte für Aufsehen an der Börse, als es seine Pläne verkündete, den in London notierten Hersteller Gyrus [Gyrus Group PLC] für die stattliche Summe von 211,7 Milliarden Yen zu übernehmen: ein Aufschlag von 40 Prozent gegenüber der Marktkapitalisierung von Gyrus. Die Ungläubigkeit verwandelte sich in Verblüffung, als Olympus auch noch Gyrus-Vorzugsaktien für 59,9 Milliarden Yen erwarb. Die Identität des Verkäufers war ein Geheimnis, und Börsenexperten waren entsetzt über den Mangel an korrekter finanzieller Offenlegung.

Darüber hinaus belief sich der Goodwill [der Überschuss der Zahlungen für eine Firmenübernahme über dem Buchwert des aufgekauften Unternehmens] auf mehr als die Hälfte der gesamten Gyrus-Aktiva. Beobachter bemühten sich, sich zu erinnern, ob sie schon jemals einen Hersteller mit einer solchen Bilanz gesehen hätten. Im Endeffekt kaufte Olympus einen gewaltigen Haufen Goodwill, der in weiteren Goodwill verpackt war. Anschließend lehnte Olympus es ab, irgendwelche Informationen über die Finanzlage von Gyrus zu liefern, die über ein paar rudimentäre Umsatzzahlen hinausgingen.

Die Anschuldigungen waren gewaltig, und doch war jede von ihnen bis ins kleinste Detail präzis. Der Artikel behauptete, Olympus habe im Endeffekt drei „Micky-Maus“-Unternehmen gekauft. Unglaublicherweise waren ein Versandhandel für Gesichtscreme, eine Firma für Mikrowellengerichte und ein Recyclingunternehmen ganz still und heimlich in den Einkaufskorb für Fusionen und Übernahmen gelegt worden. Jede Firma vermeldete nur geringe Umsätze, und doch hatten wir nach aktuellem Wechselkurs annähernd 1 Milliarde Dollar für sie bezahlt. Vor ein paar Monaten hatte mir Kikukawa ein Fläschchen „Lift Essence Lotion“ der neu erworbenen Gesichtscreme-Firma für meine Frau Nuncy zum Ausprobieren mitgegeben. (Sie traute ihr nicht, und sie steht immer noch ungeöffnet in unserem Badezimmerschränkchen!) Ich war der Meinung gewesen, Olympus hätte hier eine kleine Summe Geldes für irgendeine Laune ausgegeben; ich konnte mir nicht vorstellen, warum wir riesige Beträge dafür hätten zahlen sollen. Die Existenz der beiden anderen Unternehmen war neu für mich.

An das Geschäft mit der Gyrus Group PLC dagegen erinnerte ich mich nur zu genau. Die britische Medizintechnik-Gruppe war 2008 für über 2 Milliarden Dollar gekauft worden, ein Preis, der mir schon immer übertrieben erschien. Aber jetzt schienen auch noch weitere 700 Millionen Dollar an Zahlungen mit dieser Übernahme verbunden zu sein. Warum?

Facta hatte Olympus in der Tat schon vor der Veröffentlichung den Fehdehandschuh hingeworfen. Nachdem er von diesem Finanzhokuspokus Wind bekommen hatte, hatte Verleger Shigeo Abe Ende Juni einen Brief an die Abteilung Public Relations / Investor Relations bei Olympus geschickt. Der Brief enthielt Fragen zu den Übernahmen und Zahlungen sowie die Bitte um ein Interview mit Chairman Kikukawa. Olympus hatte gemauert, die Bitte um ein Interview abgelehnt und keine der Fragen beantwortet.

Ihr glaubt also, ihr könnt Facta einfach so abfertigen, ja?, schimpfte Abe in einem Blog-Eintrag vom 15. Juli. Na, das werden wir ja sehen ... Unsere nächste Ausgabe wird für euch zum Alptraum werden. Bis dann, und träumt was Schönes.

Facta hatte Abes Drohung in der Tat wahr gemacht. Während der Zug weiterfuhr, saß ich nur stumm und bewegungslos da, während Gorō weiter übersetzte. Als er fertig war, blieben wir beide stumm, während die japanische Landschaft an uns vorbeirauschte und in der Ferne der Berg Fuji still und unbeweglich stand.

Es musste nicht ausgesprochen werden. Wir dachten beide dasselbe: Das würde gewaltige Folgen haben. Jetzt war es allgemein bekannt und nicht mehr zu ignorieren. Selbst wenn nur ein kleiner Teil dieses Artikels wahr war, würden Köpfe rollen, und der Ruf der Firma war irreparabel beschädigt. Und was hieß das für mich, als Vorstandschef?

Als der Zug den Bahnhof erreichte, wurden Gorō und ich von Daisuke empfangen, einem führenden Mitarbeiter von Olympus. Er ist einer der fähigsten Manager des Unternehmens und hatte sich schon früher einmal mit Gorō und mir getroffen. Auch hier habe ich wieder einen falschen Namen verwendet, um seine Anonymität zu schützen.

Die an der Küste gelegenen Onsen, die heißen Quellen, lagen in einer schönen Umgebung. Die Temperatur war hier kühler, die Luft schmeckte beinahe süß. Der Überlieferung zufolge boten die in den Quellen enthaltenen Mineralien alle möglichen gesundheitlichen Vorzüge, und die Onsen sollten entspannende Wirkung auf Körper und Geist haben. Ich beschloss, einen Lauf die Küste entlang zu unternehmen, weil ich meinen Kopf frei bekommen wollte. In dem Urlaubsort war keine Saison, und es waren nur wenige Leute da. Als 1,88 m großer Westler im neonfarbenen Laufdress dürfte ich eine auffällige Erscheinung gewesen sein. Aber ich hatte mich ans Anderssein gewöhnt. Als ich so am Strand entlangjoggte, begann mir ein Rinnsal Schweiß übers Gesicht zu laufen, ich erreichte einen tranceähnlichen rhythmischen Zustand, und die Ereignisse der letzten neun Monate gingen mir durch den Kopf.

Es war im November 2010 gewesen, als ich vom damaligen Vorstandschef Kikukawa, oder Tom, wie ich ihn kannte, zu einem Treffen ohne Tagesordnung von England aus nach Japan gerufen wurde. Als ich sein Büro betrat, lächelte er herzlich und sagte ohne Umschweife: „Michael, ich hätte gern, dass Sie unser nächster Vorstandschef werden. Ich habe dieses Unternehmen nicht verändern können, aber ich glaube, Sie können es.“

Olympus war ein ziemlich großes Unternehmen, mit nahezu 40 000 Mitarbeitern und einem Anteil von über 70 Prozent am weltweiten Markt für medizinische Endoskopie. Das Gesundheitsgeschäft lief gut und lieferte bei Jahresumsätzen von rund 4 Milliarden Dollar einen stattlichen Gewinn von 800 Millionen Dollar. Die Produkte der Firma waren außergewöhnlich gut konstruiert und konzipiert. Sie umfassten Kameras, digitale Voice-Recorder, Mikroskope und, als erfolgreichste von allen, Endoskope, die bei Ärzten auf der ganzen Welt begehrt waren. Meine Ingenieurskollegen ließen mich bescheiden werden, für mich waren sie die wahren Helden des Unternehmens: Aufgrund ihrer effizienten und nachhaltigen Bemühungen war Olympus weltweit anerkannt für seine eindrucksvolle Stärke in Konzeption und Konstruktion.

Neben dem Goldkind Medizinsparte liefen andere Teile des Unternehmens eher schlecht, insbesondere das Kamerageschäft. Olympus konnte zwar zweifellos erstklassige Kameras bauen, aber im High-End-Segment, das die größten Gewinne lieferte, lagen wir weit abgeschlagen hinter unseren Hauptkonkurrenten Canon und Nikon zurück. Im Autofokus-Digitalkamera-Geschäft war unsere Dominanz innerhalb eines Jahrzehnts dahingeschwunden.

In der Tat machten wir im Kamerabereich inzwischen Verluste. Der Nettoumsatz von Olympus Imaging Systems war von 3,3 Milliarden Dollar im Jahr 2008 auf 1,7 Milliarden Dollar 2011 gesunken. 2011 erreichten die Verluste der Abteilung 175 Millionen Dollar. Insgesamt waren die betrieblichen Erträge unseres Unternehmens von 1 Milliarde Dollar 2008 auf rund 400 Millionen Dollar im Jahr 2011 gesunken. Angesichts der Stärke des Medizingeschäfts waren diese Ergebnisse niederschmetternd.

Aber ich ließ mich nicht abschrecken. Mir war klar, was getan werden musste und welche schwierigen Entscheidungen zu treffen waren. Ich wusste, dass insbesondere das Medizingeschäft, richtig gemanagt, sogar noch bessere Resultate bringen konnte. Ich war mir sicher – mithilfe des kleinen, talentierten Teams, das ich selber zusammengestellt hatte –, das Ruder herumreißen zu können.

Bei der Bewältigung der vor mir liegenden Herausforderungen hatte ich ganz klar die Rückendeckung Kikukawas, der schon lange mein Mentor war, ein unerschütterlicher und ausgesprochener Förderer, der bereit war, mir ein in Japan fast unerhörtes Privileg zu gewähren: der westliche President einer 92 Jahre alten japanischen Ikone zu werden.

Sollte ich diese Aufgabe übernehmen, würde ich in meinem Gastland so etwas wie eine Berühmtheit werden, ein Gegenstand der Faszination, aber auch des Respekts, denn Japan war bekannt dafür, dass Loyalität belohnt wurde, und die hatte ich mit 30 Jahren in der Firma zweifellos unter Beweis gestellt.

Dies war mein Augenblick. Ich schaute am sitzenden Kikukawa vorbei durchs Fenster seiner Bürosuite im 15. Stock des Monolith Building und konzentrierte mich auf die Zwillingstürme der Tokyo City Hall, die die Skyline des Distrikts Shinjuku dominierten. In mancher Hinsicht betrachtete ich Kikukawa als eine Art Vaterfigur. Nach nur wenigen Sekunden antwortete ich ihm einfach: „Ja, ich mache das.“

Als ich wieder in meinem Zimmer im Park Hyatt Hotel war, rief ich Nuncy an, um ihr die Neuigkeit mitzuteilen. Ich war in einem Zustand höchster Aufregung, wurde aber ganz schnell wieder auf den Boden der Tatsachen zurückgeholt. Sie wurde ganz still und fing an zu weinen – und zwar nicht etwa vor Glück.

„Aber du arbeitest doch gern in Europa und lebst hier auch gerne“, schluchzte sie und spielte damit auf die Wohnung unserer Familie in Southend an der Themse-Mündung an. „Wir haben es doch schon gut. Warum willst du denn an unserem Leben etwas verändern?“

Sie war, wie es ihre Art ist, ruhig, aber hartnäckig. „Na gut, das ist also dein Mount Everest. Aber du musst da doch nicht hinaufsteigen, oder?“ „Liebling“, antwortete ich, „lass mich dieses Unternehmen zum Besseren verändern. Das dauert nur ein paar Jahre und ich schulde das so vielen Leuten.“ Sie wusste, wie ich war und dass mein Entschluss bereits feststand.

Ihre größte Sorge war, dass die Entfernung und physische Trennung unsere Ehe zerstören könnte. Wir sahen beide die Turbulenzen, die diese Veränderung in unserem Leben mit sich bringen würde. Ich ahnte aber nicht, wie recht sie behalten sollte, wie bald unser ganzes Sicherheitsgefühl dahin sein und unser Alltagsleben sich in einen Albtraum verwandeln würde.

Meine Beförderung war am 1.4.2011 erfolgt, am Tag der Aprilscherze.

Am ersten offiziellen Tag in meiner neuen Rolle hatte ich den Jahrgang neu eingestellter Hochschulabsolventen begrüßt und willkommen geheißen, in einer Zeit, als Japan noch von dem verheerenden Erdbeben und Tsunami (vor wenigen Wochen) traumatisiert war. Ausländer hielten sich weiter fern, und die Nation befand sich in einer Art hilfloser Ausgangssperre, die durch die Ungewissheit über den instabilen Nuklearreaktor in Fukushima und die Furcht vor weitreichender Kontamination noch verlängert wurde. Die würdevolle, stoische Art, wie die Japaner mit diesen Katastrophen umgingen, erinnerte mich wieder daran, warum ich dieses Land so mochte.

Jetzt war ich wieder in der Management-Suite im 15. Stock, in meinem eigenen prächtigen Büro mit Blick über das wimmelnde und doch perfekt organisierte Chaos Shinjukus. Ich war einer von nur vier ausländischen Firmenchefs in ganz Japan, aber der einzige gaijin, der es je geschafft hatte, die Karriereleiter innerhalb desselben Unternehmens so weit hinaufzusteigen, der einzige gaijin „Angestellte“, der es bis an die Spitze geschafft hatte.

Meine Ernennung wurde im Februar bekanntgegeben und führte zu Schlagzeilen in den Finanzmedien der ganzen Welt. Der Aktienkurs von Olympus stieg steil an, in der Erwartung, dass der gaijin Vorstandschef diesen schlafenden Unternehmens-Riesen aufwecken und die finanziellen Erwartungen einer Firma erfüllen würde, die über das wahrscheinlich weltweit beste Franchise für medizinische Ausrüstung verfügte.

Ich hatte der Financial Times ein ausführliches Interview gegeben, das Bestandteil eines Sonderbeitrags über mich und die drei anderen gaijin Firmenchefs war: Howard Stringer bei Sony, Carlos Ghosn bei Nissan und Craig Naylor bei Nippon Sheet Glass. „Wäre ich Japaner gewesen, wäre ich jetzt nicht Vorstandschef“, hatte ich dem Korrespondenten des Blattes, Jonathan Soble, erzählt. Ich beschrieb mich als „rationalistischen und hartnäckigen Problemlöser, einen Hund, der seinen Knochen nicht wieder hergibt“, und spekulierte, dass meine direkte, unverblümte Art mich in Japan zum Außenseiter gemacht hatte, wo kultureller Druck dafür sorgt, dass Konsens und die Beachtung der Hierarchien als höchste Güter betrachtet werden. „Die Japaner haben ein Sprichwort“, hatte ich Soble erinnert: „Wenn du der Nagel bist, der hervorsteht, wirst du runtergehämmert.“

Und Soble, der mich als faszinierendes Thema zu betrachten schien, fuhr fort: „Aber während auch Mr Woodford sich seinen Ruf dadurch erwarb, dass er überflüssigen Speck abschnitt – eine Zeitlang wurde er ‹Darth Vader› genannt, in Anspielung auf Mr Ghosns ‹le cost killer› –, spiegelt sein Lebenslauf die wachsende Unterschiedlichkeit der gaijin Bosse in Japan wider. Vor allem ist er kein Firmenfremder bei Olympus, sondern hat schon 30 Jahre für das Unternehmen gearbeitet und als junger Vertreter bei einem europäischen Unternehmen für medizinische Geräte angefangen, an dem die japanische Gruppe beteiligt war.“

Ich machte Soble klar, dass ich harte Entscheidungen zu treffen hatte: „Harmonie und Konsens haben ihren Ort und ihre Zeit, aber Überprüfen und Herausfordern – Advocatus Diaboli, wie immer Sie es nennen wollen – führen zu besseren Entscheidungen. Sie müssen sowohl in der Lage sein, auf Konfrontation zu gehen, als auch ‹Oi!› zu sagen, weil ein guter Teil Ihres Managements außerhalb Japans stattfinden wird.“

Unterstützt durch positive Medienberichte wie diese, schien es mit meiner Akzeptanz als Vorstandschef gut zu laufen. Die Botschaft der Veränderung kam sowohl bei den Mitarbeitern als auch bei den Aktionären an. Bei der Jahreshauptversammlung im Juni 2011, dem wichtigsten Ereignis im Terminkalender eines Unternehmens, erhielt ich mehr wohlwollende Stimmen der Aktionäre als jeder andere Direktor. Die letzten Weihen erhielt ich bei meiner offiziellen Amtseinführung am 12. Juli 2011 im Imperial Hotel in Tokio, wo ich im Frack erscheinen sollte, um der Welt vorgestellt zu werden. Die Prominenz war geladen. Jetzt lag alles an mir.

Es würde kein leichter Job werden, aber in den Monaten vor meiner offiziellen Ernennung zum Vorstandsvorsitzenden hatte ich ein über die Welt verteiltes Managementteam zusammengestellt, von dem ich wusste, dass es liefern konnte und vertrauenswürdig war. Es war von entscheidender Bedeutung, rasch die Kosten zu senken, und das beinhaltete unvermeidlich auch den Umgang mit sensiblen zwischenmenschlichen Themen, namentlich Entlassungen, ein Thema, das für Japaner besonders schwierig ist.

Ich fand heraus, dass man in Japan, wenn man die anstehenden Dinge auf rationale und logische Weise erklärte, zumindest auf der mittleren Managementebene Verständnis dafür erzielen konnte, dass durch die schwierigen Entscheidungen letztlich die Zukunftsaussichten des Unternehmens als Ganzes verbessert wurden – es gestärkt wurde. Viele der mittleren Manager in Tokio griffen diesen neuen Ansatz auf, auch wenn die Herren in den grauen Anzügen auf der Ebene der Firmenleitung wohl lieber den Status quo beibehalten hätten. Dennoch machte ich rasche Fortschritte und war entschlossen, das Potenzial des Betriebes auszuschöpfen.

In den ersten Wochen als Vorstandschef hatte ich ein unternehmensweites Programm mit dem Namen „Cost Cutting 20“ eingeführt, mit dem das Verhältnis der Verkaufs-, Gemein- und Verwaltungskosten (mit Ausnahme der Forschung und Entwicklung) zu den Umsätzen bei Olympus binnen vier Jahren um 20 Prozent gesenkt werden sollte. Ich diskutierte das öffentlich und detailliert auf einer Reihe von Präsentationen mit Finanzexperten, die meine Logik leicht verstanden, dass durch eine Reform der inneren Strukturen und Abläufe des Unternehmens enormes Potenzial entstand, an die aufgeblähte Kostenbasis heranzukommen. Wir brauchten eine Organisation, die die internationale Natur des Geschäfts widerspiegelte und die nationalen Grenzen zwar respektierte, sich aber nicht durch sie einengen ließ. Logistik ist ein hervorragendes Beispiel dafür, dass es weit attraktiver sein kann, ein Produkt direkt von der Fabrik an den Kunden zu liefern, statt es erst durch die internen regionalen und landesweiten Strukturen laufen zu lassen. Kosten zu reduzieren hat in Japan negative Konnotationen, und meine Botschaft an die Mitarbeiter war einfach. Wenn wir die Bürokratie-Kosten kräftig beschnitten, könnten wir bewahren und ausbauen, was wirklich wichtig war: Produkte zu entwerfen und herzustellen, die die Leute auch kaufen wollten. Ich stellte ein kleines Managementteam zusammen, das dieses globale Programm überwachen sollte, und wir sahen rasche Fortschritte. Wenn man nicht in Verallgemeinerungen sprach, sondern sich auf das Konkrete konzentrierte, verstanden es die Leute. Nach wenigen Monaten gab es ein allgemeines Verständnis dafür, dass die Versuchung, den Status quo zu erhalten, das eigentliche Hindernis für das künftige Wohlergehen des Unternehmens war.

Ich verbrachte jetzt mehr Zeit in Tokio, einer Stadt, die ich schon immer gemocht hatte – die Leute, ihre Größe, die Konformität, und natürlich das Essen. 35 Millionen Menschen leben und arbeiten in der japanischen Hauptstadt. Sie ist so gewaltig groß, dass niemand genau weiß, wo sie beginnt und endet. Die flache Ebene, auf der sie gegründet wurde, ist schon lange mit Menschen gefüllt. Inzwischen klettert sie auch die Berge im Westen hoch, und in der Tokyo Bay im Osten wird dem Wasser gierig Land abgerungen. Stadtführer sind schon veraltet, kaum dass sie gedruckt werden.

Einstöckige Einfamilienhäuser mit liebevoll gepflegten Dachgärten kuscheln sich an Wolkenkratzer. Die Zimmer in den Häusern sind klein, und selbst Schlafzimmer haben oft nicht genug Platz, um permanent ein Bett aufzustellen: Um das müde Haupt zu betten, rollt man abends den Futon aus, und morgens rollt man ihn wieder zusammen. Über und unter dir ist ständig Bewegung. Und es gibt keinen Platz. Wer nicht reich ist und über entsprechende Mittel verfügt, sich auszubreiten – ein wenig Ellbogenfreiheit zu gewinnen –, lebt ständig Wange an Wange mit anderen, in der U-Bahn, auf dem Bürgersteig, beim Jogging im Park, in den Bars. Fast überall.

Auf so engem Raum müssen die Menschen miteinander klarkommen und sich höflich zueinander verhalten. Mir gefällt das hohe Niveau von Höflichkeit und Benehmen. Einige Frauen in meinem Freundeskreis werden entsetzt sein, aber ich gebe zu, dass ich es genieße, wenn man bei All Nippon Airways (ANA) zu seinem Platz in der ersten Klasse geführt wird und die Stewardess sich vor einen hinkniet, um einem die Slipper anzuziehen. Den Leuten ist es wichtig, wie sie andere behandeln.

Meine Sekretärinnen in Europa haben sich noch nie verbeugt, wenn ich das Büro verließ; meine Assistentin Michiko in Tokio machte das. Sie war Chefstewardess in der ersten Klasse bei Cathay Pacific gewesen. Nach ein paar Wochen sagte ich ihr, dass sie bitte nicht rückwärts aus meinem Büro gehen solle, und dass sie mich einfach Michael nennen könne, was sie schließlich auch irgendwann tat.

Ich liebe die Landschaft, die Berge und die heißen Quellen. Ich liebe die Hochgeschwindigkeitszüge, die immer pünktlich abfahren und ankommen. Ich liebe die Kultur, die hinter dem japanischen Stereotyp des roboterhaften Gehaltsempfängers steckt, der seine Abende bei Sake und Karaoke verbringt; ich habe enge Freundschaften mit einigen Menschen geschlossen, mit denen ich für den Rest meines Lebens verbunden sein werde. Jemand hat einmal gesagt: „Wenn du erwartest, dass Japan sehr westlich geworden sei, wirst du staunen, wie östlich es noch ist. Wenn du erwartest, dass es sehr östlich sei, wirst du entsetzt sein, wie westlich es geworden ist.“ Ich weiß, wie das gemeint ist.

Ich hätte keine Probleme, hier zu leben. Zuvor hatte ich immer im Park Hyatt übernachtet, einem Hotel, das durch Sofia Coppolas Film Lost in Translation bekannt geworden ist. Es war mir zum zweiten Zuhause geworden, mit seinem modernen Design und seinem Farbschema in braun und beige, mit seinem äußerst aufmerksamen Personal und seinem Wahnsinnspool auf der 47. Etage mit den deckenhohen Glasfenstern, in dem Bill Murray oder Scarlett Johansson gerne mal eine Runde schwimmen gehen, weil sie, Jetlag-geplagt, immer schon um 20 nach vier wach sind. In der New York Bar and Grill hoch oben in der 52. Etage mit Blick über die blinkenden Lichter von Tokyo by Night verzehren hohe Tiere der Geschäftswelt teure Kobe-Steaks, in Begleitung attraktiver junger Frauen, von denen die Gattinnen daheim nichts ahnen.

Um den japanischen Kollegen gegenüber mein Engagement zu demonstrieren, hatte ich ein Apartment im Distrikt Shibuya in einem schicken Neubauviertel namens Grosvenor Place gemietet. Es kostete ein wahres Vermögen, war aber komfortabel, hatte eine Dachterrasse und lag in der Nähe des größten Bahnhofs und der belebtesten Einkaufsviertel der Stadt. Die besten Touristenfotos zeigen immer Shibuya im Hintergrund. Typischerweise sind Apartments in Tokio eine winzige und enge Angelegenheit, weil Immobilien so kostspielig sind. Aber meines war ungewöhnlich groß und schön ausgestattet. Vor allem aber war es groß genug, um auch Freunde und Familie unterzubringen und ihnen zu ermöglichen, Zeit mit mir zu verbringen und die Metropole auf eigene Faust zu entdecken.

Ich war allein nach Japan gezogen, Nuncy war noch nicht bereit, mir nachzuziehen, sondern behielt erst einmal noch unsere Wohnung in England als unsere Hauptbasis. Unsere Kinder Edward (18) und Isabel (16) gingen noch zur Schule, unser Sohn stand kurz vor dem Schritt an die Uni, unsere Tochter sollte bald Internatsschülerin an einer Hogwarts-ähnlichen Einrichtung werden. Mein Plan war: Ich wollte jeden Tag einschließlich Wochenenden 14 bis 16 Stunden unter Volldampf und ohne jede Ablenkung in Tokio arbeiten. Etwa alle zwei Wochen wollte ich dann über London zurückfliegen, um die europäischen oder US-amerikanischen Vorstandssitzungen zu leiten, was mir einen Besuch zu Hause gestatten würde. In den Schulferien könnten die Woodfords in Tokio zusammen sein, und Nuncy würde zu Besuch kommen, wann immer sie konnte.

Ich war 50. Nachdem ich die Schule in Liverpool mit 16 und recht bescheidener akademischer Qualifikation verlassen hatte, war ich seit dem Eintritt bei Olympus als Vertreter die Karriereleiter immer weiter hinaufgestiegen. Ich war nun bereit für die ultimative Herausforderung: das Unternehmen zu leiten, in dem ich fast meine gesamte Laufbahn verbracht hatte. Ein neues Leben würde bei mir das ganze System neu starten und meine Sinne neu schärfen. Ich hatte nie vergessen, wie viel Glück ich gehabt hatte, und wusste sehr gut, wie anders alles hätte laufen können. Ich war mir auch darüber bewusst, dass mein Glück exponentiell zugenommen hatte.

Aber mein Glück war durch die Facta-Enthüllungen gestört worden. An dem Abend, als wir an der Küste angekommen waren, blieben wir drei lange wach in unserem Ryokan-Hotel an den heißen Quellen, ließen uns Zeit beim Abendessen und saßen noch spät nachts bei Drinks zusammen, bis das Vogelgezwitscher unsere Gespräche unterbrach und wir müde, aber angespannt zu Bett gingen. Ich lag noch eine Weile wach und überlegte, was wohl der Mainstream der japanischen Presse aus der Facta-Story machen würde. Es konnte nur eine Frage der Zeit sein, bis die Schlagzeilen auftauchten. Wir konnten nichts tun als abwarten.

2 „Für wen arbeiten Sie?“

Montag, 1. August. Ich erwachte mit unerwartet klarem Kopf, trotz der am Vorabend genossenen Mengen an Alkohol. Voller Entschlossenheit ging ich hinunter in den Rezeptionsbereich, um nach den englischsprachigen Morgenzeitungen zu schauen. Aber die Story hatte es weder auf die Titelseiten geschafft, noch wurde im Innenteil darüber berichtet. Es schien keinen zu interessieren, und ich konnte nicht verstehen warum.

Aber dann fiel mir der japanische Sinn für Anstand ein, für das, was sich geziemt. Investigativer Journalismus, Facta einmal ausgenommen, schien hier wie mit einem Bann belegt, fast so als ob illegale Geschäftspraktiken am besten unkommentiert blieben.

Wir nahmen einen Mietwagen zurück in die Stadt, um sicher zu sein, dass ich noch vor Beginn des Geschäftstages im Büro war. Bevor wir Shinjuku erreichten, setzte ich meine Freunde ab, mit denen ich an den heißen Quellen gewesen war, und wir vereinbarten, in engem Kontakt zu bleiben und uns gegenseitig auf dem Laufenden zu halten, bei Bedarf stündlich. Als ich den 15. Stock erreichte, empfing Michiko mich mit meinem normalen Büro-Frühstück: Caffè Latte und ein Croissant mit Rührei. Die tägliche Routine ging einfach weiter, ohne jeden Hinweis, dass etwas außerhalb der Norm liegen könnte – Business as usual. Zur Mittagszeit konnte ich es dann nicht mehr aushalten. Ich musste einfach mit irgendjemandem reden und bestellte zwei japanische Kollegen in mein Büro, von denen ich wusste, dass ich ihnen trauen konnte.

„Haben Sie das hier gesehen?“, erkundigte ich mich und hielt das Magazin hoch. Mit eingeschüchtertem Gesichtsausdruck gaben beide zu, dass sie es kannten. Sie seien aber instruiert worden, es mir nicht zu sagen.

„Von wem?“, fragte ich.

„Von Kikukawa-San.“

In dieser Nacht konnte ich nicht schlafen. Die Antwort meiner Vertrauten war zutiefst beunruhigend gewesen. Während ich mich im Bett wälzte, beschloss ich, Kikukawa am nächsten Tag zur Rede zu stellen. Schließlich hatte auch ich meinen Sinn für Anstand, für Richtig und Falsch, und ich verspürte die Pflicht zu handeln. Wir konnten hier doch nicht einfach nur herumsitzen und Facta ignorieren. Irgendwer musste doch etwas tun.

Am Dienstag hatte ich um acht Uhr morgens ein Treffen mit dem Vorstandsvorsitzenden eines großen nationalen Kamera-Einzelhändlers, um den allein Kikukawa und ich uns kümmerten. Ich traf in meiner schwarzen Lexus-Limousine vor dem Büro des Kunden ein, Kikukawa in seiner: Wir stellten den Pomp unserer geballten Macht zur Schau. Es war nur ein flüchtiges Treffen, das mit geübter Routine über die Bühne ging. Unser verehrter Gastgeber wusste nichts von eventuellen Missstimmungen zwischen seinen Besuchern und bedachte uns am Ende des Gesprächs mit Geschenken. Das Überreichen von Zeichen der Wertschätzung ist in Japan gängige Praxis, ein Teil der Geschäftskultur. Er schenkte uns Eintrittskarten für ein anstehendes wichtiges Baseballspiel, zwei für mich, zwei für Kikukawa. Das Vielen Dank hatte noch kaum meine Lippen verlassen, als Kikukawa schon mit einer Geschwindigkeit vorschnellte, die ich ihm mit seinen 70 Jahren gar nicht zugetraut hätte, und mir die zwei Tickets aus der Hand nahm.

„Er wird die nicht brauchen, weil Michael Baseball nicht mag“, erklärte er dem Vorstandschef. „Er ist Brite, er sieht lieber Fußball.“ Meine zwei Tickets gesellten sich zu seinen und alle vier verschwanden in der Brusttasche seiner Anzugjacke. Diese Unhöflichkeit ärgerte mich. Beim Abschied erwiderte der Einzelhandelsboss Kikukawas knappes Lächeln mit seinem eigenen. Als wir das Gebäude verließen, rechnete ich ein wenig damit, dass Kikukawa nun vorschlagen würde, wir sollten zusammen einen Kaffee trinken gehen, um über die Enthüllungen des Facta-Artikels zu sprechen.

Das tat er aber nicht. Unsicher, wie ich jetzt richtig vorgehen sollte, in einer Situation, in der man plötzlich alle um einen herum der Verschwörung verdächtigt, rief ich von meinem Auto aus Michiko an, um sie zu bitten, ein dringendes Treffen mit Kikukawa und seiner „rechten Hand“, Senior Vice-President Hisashi Mori, zu vereinbaren. Innerhalb von zehn Minuten rief sie zurück und erklärte mir: „Michael, Mr Kikukawas Sekretärin hat mir gesagt, er sei heute sehr beschäftigt und könne sich höchstens zum Mittagessen mit dir treffen.“

Ich betrat den Konferenzraum. Da saßen die beiden Männer bereits, in der düsteren Umgebung beigefarbener Wände und dunklen Holzes. Wie ein Relikt aus den 70er-Jahren strahlte dieser Raum mit seinen zugezogenen Fenstern, die wohl zu viel natürliche Lichtzufuhr verhindern sollten, eine schwere und bedrückende Atmosphäre aus. Ich hatte diesen Raum noch nie gemocht.

Auf dem langen Tisch stand vor ihnen eine wunderbare Sushi-Platte; an dem Platz, der eindeutig mir zugedacht war, stand nur ein traurig aussehendes Thunfisch-Sandwich, etwa von der Sorte, wie man es an einem Vorortbahnhof am Kiosk finden würde. Ich liebte Sushi, wie die beiden ganz genau wussten. Das war schon mehr als ein Wink mit dem Zaunpfahl. Egal, ich hatte eh keinen großen Hunger. Irgendein Spiel wurde hier gespielt, und niemand wollte mir die Regeln erklären. Die würde ich im Laufe des Spiels selber herausfinden müssen.

Ich wurde zunächst einigermaßen herzlich willkommen geheißen, aber die gute Stimmung kippte schon nach einer Minute, als ich nach freundlicher Erwiderung der Begrüßung die Facta-Ausgabe vor mir auf den Tisch legte, mit ihrer Headline „Gewaltige versteckte Verluste durch abenteuerliche Übernahme“. Ich hielt das Heft in die Höhe und begann: „Diese Geschichte hier, auf die mich verschiedene Leute aufmerksam gemacht haben, macht mir richtig Sorgen. Wie Sie wissen, habe ich hier vor Ort neben einigen Freunden auch etliche Kontakte in gehobenen Geschäftskreisen und der Botschaft.“ Mit dieser Bemerkung wollte ich nur die Hintergründe verwischen und hoffte, die Frage zu vermeiden, wer mich denn auf die Enthüllungen des Magazins aufmerksam gemacht hätte. Ich wollte keineswegs etwa selbst um den heißen Brei herumreden. Kikukawa sagte nichts, wohl spürend, dass ich gerade erst angefangen hatte. Ich verweilte bei der Überschrift und blätterte dann, ohne etwas zu sagen, aber mit einigen hörbaren Seufzern, langsam durch den Artikel zu Olympus. Der ausführliche Sonderbericht zeigte das Bild eines besonders finster blickenden Kikukawa, das ihn, wie ich fand, aussehen ließ wie Doctor Evil. Ich zeigte auf das Diagramm, das die seltsamen und verschlungenen Pfade dieser Übernahmen nachzeichnete. Es gab auch das Foto eines Schildes vor dem Gebäude, das die Zentralen der drei „Micky-Maus“-Gesellschaften beherbergte, und das die Logos der Unternehmen sowie das Olympus-Logo gemeinsam zeigte. Mit ausgesucht ruhiger Stimme fragte ich: „Warum hat mir niemand davon erzählt?“ Nach einer Pause fuhr ich fort: „Die Anschuldigungen hier drin sind wirklich ernst.“

Bemüht freundlich antwortete Kikukawa: „Michael, ich habe die Mitarbeiter in der Führungsetage gebeten, Ihnen nichts davon zu erzählen.“ „Aber warum, Tom?“, fragte ich. „Weil Sie der hart arbeitende Vorstandsvorsitzende sind und viel zu beschäftigt, um mit solchen internen Angelegenheiten belästigt zu werden“, antwortete er.

Das war nicht, was ich hören wollte. Erneut tief seufzend sagte ich: „Tom, ich muss mit allen kommunizieren, die Interesse an unserem Unternehmen haben. Ich bin gerade erst zurück von unserer Investor-Relations-Kampagne, bin dabei in New York, Boston, Paris und London gewesen und habe mich mit unseren Investoren in Übersee und potenziellen neuen Investoren getroffen. Dasselbe habe ich auch hier in Japan gemacht.“ Kikukawa neigte seinen Kopf und schaute verwirrt und besorgt. Ich fuhr fort: Als Vorstandsvorsitzender des Unternehmens hätte ich über so etwas doch wohl zumindest kurz informiert werden müssen, oder? Das sind doch immerhin ausgesprochen schwere Anschuldigungen.“ Es entstand unbehagliche Stille, dann fragte ich mit tonloser Stimme: „Sind sie wahr?“

Kikukawa nickte: „Einige davon, ja.“

„Welche sind denn wahr, Tom?“