Entschieden! - Michel Eggebrecht - E-Book

Entschieden! E-Book

Michel Eggebrecht

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Beschreibung

Arbeiten in agilen Teams und flachen Hierarchien ist toll und schafft Freiräume, die in klassischen Strukturen oft fehlen. Dass in agilen Strukturen zugleich große Herausforderungen lauern können, erfahren Mitarbeiter*innen und Führungskräfte spätestens dann, wenn Entscheidungen getroffen werden müssen. Wen beziehe ich ein, wen nicht? Welche Aspekte müssen berücksichtigt werden? Und nicht zuletzt: Darf, kann und sollte ich das überhaupt selbst entscheiden? Gut, dass sich Michel Eggebrecht entschieden hat, Orientierung in komplexen Entscheidungsprozessen zu schaffen. Mit seinen Werkzeugen kommt man auch ohne »Basta!« zu tragfähigen Ergebnissen.

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Michel Eggebrecht

ENTSCHIEDEN!

Wie du im agilen Umfeld gute Beschlüsse herbeiführst

Campus ▪ Frankfurt/New York

Über das Buch

Arbeiten in agilen Teams und flachen Hierarchien ist toll und schafft Freiräume, die in klassischen Strukturen oft fehlen. Dass in agilen Strukturen zugleich große Herausforderungen lauern können, erfahren Mitarbeiter*innen und Führungskräfte spätestens dann, wenn Entscheidungen getroffen werden müssen. Wen beziehe ich ein, wen nicht? Welche Aspekte müssen berücksichtigt werden? Und nicht zuletzt: Darf, kann und sollte ich das überhaupt selbst entscheiden?Gut, dass sich Michel Eggebrecht entschieden hat, Orientierung in komplexen Entscheidungsprozessen zu schaffen. Mit seinen Werkzeugen kommt man auch ohne »Basta!« zu tragfähigen Ergebnissen.

INHALT

EINLEITUNG

1. GRUNDHALTUNG: AKZEPTANZ VON UNSICHERHEIT

DER BLICK DURCH DIE BRILLE DER PARADOXIEN

DIE BRILLE DER PARADOXIEN AUFSETZEN

DIE BRILLE DER PARADOXIEN ABNEHMEN

FAZIT

2. MACHT

WAS IST MACHT?

MACHTQUELLEN

MACHT UND ENTSCHEIDUNGSPROZESSE

FORMALE HIERARCHIE

FAZIT

3. SELBSTORGANISIERTE TEAMS

WAS IST EIN SELBSTORGANISIERTES TEAM?

WOZU SELBSTORGANISIERTE TEAMS?

VORAUSSETZUNGEN FÜR DAS FUNKTIONIEREN SELBSTORGANISIERTER TEAMS

ENTSCHEIDUNGEN INNERHALB SELBSTORGANISIERTER TEAMS

FAZIT

4. PSYCHOLOGIE DER ENTSCHEIDUNG

KOGNITIVE ENTSCHEIDUNGSREGELN

KOGNITIVE VERZERRUNGEN UND URTEILSFEHLER

FAZIT

5. ENTSCHEIDUNGEN IN GRUPPEN

WANN GRUPPENENTSCHEIDUNGEN SINNVOLL SIND

SPEZIFISCHE PHÄNOMENE BEI GRUPPENENTSCHEIDUNGEN

FAZIT

6. KOMPLEXITÄT UND KOMPLEXITÄTSREDUKTION

KOMPLEXITÄT VERSUS KOMPLIZIERTHEIT

KOMPLEXITÄTSREDUKTION

MEHRSTUFIGE ENTSCHEIDUNGSPROZESSE ZUR KOMPLEXITÄTSREDUKTION

UMGANG MIT META-ENTSCHEIDUNGEN IN GRUPPEN

FAZIT

7. ENTSCHEIDUNGSPROZESS-KRITERIEN

TRAGWEITE

AUFWAND

GESCHWINDIGKEIT

INPUT

ANPASSBARKEIT

COMMITMENT

INTERESSENLAGE

UNTERNEHMENSKULTUR

FAZIT

8. ENTSCHEIDUNGSPROZESS-BAUSTEINE

KURZÜBERBLICK: DIE SECHS ENTSCHEIDUNGSPROZESS-BAUSTEINE

VORÜBERLEGUNGEN

VERTIEFUNG DER EINZELNEN BAUSTEINE

ABSCHLIESSENDE GESTALTUNGSEMPFEHLUNGEN

FAZIT

9. ANWENDUNGSBEISPIELE

TEAMAUFLÖSUNG: WER TRIFFT DIE SCHWIERIGEN ENTSCHEIDUNGEN?

NICHT JEDER SOLLTE MITREDEN

WER BEHÄLT DAS GROSSE GANZE IM BLICK, WENN JEDES TEAM EIGENE ZIELE VERFOLGT?

MÜSSEN AGILE TEAMS SICH SELBER KÜNDIGEN?

10. ENTSCHEIDUNGSVERFAHREN 2.0

KONSULTATIVER EINZELENTSCHEID

PERSONENWAHLVERFAHREN

SYSTEMISCHES KONSENSIEREN

MEHRSTUFIGES SYSTEMISCHES KONSENSIEREN

SCHIEDSGERICHTE

KONSENT

DELEGATIONSLEVEL

FAZIT

ÜBER DEN AUTOR

ANMERKUNGEN

EINLEITUNG

»Wir kommen einfach nicht voran. Seit Monaten treten wir auf der Stelle. Dutzende Diskussionen, ohne einer Entscheidung auch nur einen Schritt näherzukommen. Wir könnten tausend Dinge berücksichtigen und dennoch kämen jeden Tag neue Dinge hinzu, welche die Situation wieder verändern. Und irgendwie hängt auch alles mit allem zusammen. Jeder hat eine Meinung, aber niemand einen Überblick. Es ist einfach verdammt kompliziert! Oder komplex!? Wenn doch nur jemand das Problem überschauen würde und endlich mal eine Entscheidung träfe … Aber wer sollte das tun? Die Komplexität lähmt uns. Wir stecken fest und niemand weiß, wie wir aus diesem Sumpf der Entscheidungslosigkeit herauskommen.«

»Soll ich einfach wegschauen? Obwohl ich sehe, dass da was schiefläuft? Wenn ich eingreife, heißt es wieder, ich hätte kein Vertrauen. Aber ich kann doch nicht sehenden Auges nichts tun! Schließlich muss am Ende ich meinen Kopf hinhalten. Wenn ich etwas sage, bin ich übergriffig. Wenn ich nichts sage, wird mir fehlende Führung vorgeworfen. Führungskräfte sollen Rahmen setzen. Aber was zum Teufel ist damit gemeint? Wie sieht denn so ein Rahmen genau aus? Und woher weiß ich, wann es einen Rahmen braucht?«

»Kann ich das selber entscheiden? Liegt das in meiner Rolle? Oder sollte ich die Leute miteinbinden? Schließlich muss die Entscheidung von allen getragen werden. Ist das dann nicht schon wieder viel zu aufwendig? Früher hätte das einfach jemand entschieden und basta. Wenn ich das jetzt tue, gibt’s einen Aufschrei. Häufig heißt es, Gruppen würden bessere Entscheidungen treffen. Mehr Köpfe wissen mehr … Aber stimmt das tatsächlich? Wie häufig sitze ich selbst in Meetings und bringe nur einen kleinen Ausschnitt meiner Gedanken ins Gespräch ein. Stimmen nicht zwei Drittel der Leute einer Entscheidung nur deswegen zu, weil dann endlich das Meeting vorbei ist?«

Das ist ein kleiner Ausschnitt live aus der agilen Arbeitswelt. Fest steht, die Umwelt vieler Organisationen wird zunehmend komplexer. Märkte und Kundenanforderungen sind im stetigen Wandel. Der Druck, schnell auf Veränderungen zu reagieren, steigt. Um dieser Situation gerecht zu werden, setzen immer mehr Unternehmen auf flache Hierarchien, dezentrale Entscheidungsbefugnisse und den Einsatz selbstorganisierter Teams. Diese Maßnahmen ziehen allerdings eine ganze Reihe neuer Herausforderungen nach sich, für die es nicht immer auf der Hand liegende Lösungen gibt. Dieses Buch ist für alle, die sich beim Lesen der vorangestellten Textpassagen an der einen oder anderen Stelle wiedergefunden haben oder andere bei der Bewältigung dieser Herausforderungen begleiten.

Ich schreibe dieses Buch, um für die skizzierten Herausforderungen praktische Hilfestellung zu bieten. Dafür stelle ich die Gestaltung von Entscheidungsprozessen in den Vordergrund. Vor jeder Entscheidung steht ein Prozess, der gestaltet werden will. Ein Entscheidungsprozess umfasst dabei nicht nur das Auswählen einer Entscheidungsoption, sondern auch alle vorbereitenden Aktivitäten einer Entscheidung. Dazu zählt beispielsweise, Informationen einzuholen, Optionen zu entwickeln und Alternativen zu bewerten.

Im Kern geht es um die Frage: Wie kommen wir in einer komplexer werdenden Organisationsumwelt zu guten und tragfähigen Entscheidungen? Ganz egal, ob du als disziplinarische Führungskraft, Scrum Master, Techlead, Agile Coach, Release-Train-Engineer oder New-Work-Was-auch-immer arbeitest, dein Job ist es, wichtige Entscheidungen herbeizuführen. Ich schreibe hier bewusst »herbeiführen« und nicht »treffen«. Meine zentrale These ist: Wer im agilen Umfeld Verantwortung übernimmt, muss nicht alle wichtigen Entscheidungen selber treffen, aber er sollte über die Gestaltung von Entscheidungsprozessen sicherstellen, dass wichtige Entscheidungen sinnvoll getroffen werden. Von wem Dinge entschieden werden, ist der Organisation zunächst egal. Die Hauptsache ist, dass tragfähige Entscheidungen zustande kommen – auf welchem Weg auch immer. Das heißt allerdings nicht, dass jeder Weg auch gute Entscheidungen hervorbringt. Es macht einen Unterschied, ob eine Gruppe in einem zweitägigen Workshop verschiedene Optionen analysiert und dann eine Empfehlung abgibt, ob ein breit aufgestelltes Gremium abstimmt oder die Führungskraft ein schnelles Machtwort ausspricht.

Nachdem du das Buch gelesen hast, sollst du folgende Fragen beantworten können:

Wann und wofür sind hierarchische Entscheidungen angebracht? Wann nicht? Was gilt es dabei zu berücksichtigen? Inwieweit sollte klar sein, wer im Zweifel das letzte Wort hat? Welche Rolle spielen Machtfragen bei der Gestaltung von Entscheidungsprozessen? Diesen Fragen gehen wir in Kapitel 2 zum Thema Macht nach.

Wann und wofür lohnt der Einsatz selbstorganisierter Teams? Wann nicht? Was sollten diese selbst entscheiden? Was nicht? Was genau meint »Selbstorganisation« eigentlich? Welche Voraussetzungen müssen erfüllt sein, damit selbstorganisierte Teams funktionieren können? Mit diesen Fragen zum Thema Selbstorganisation beschäftigen wir uns in Kapitel 3.

Wie treffen Menschen typischerweise Entscheidungen? (Nicht: Wie sollten sie Entscheidungen treffen?) Welchen Unterschied macht dieses Wissen für die bewusste Gestaltung von Entscheidungsprozessen? Mit welchen psychologischen Entscheidungsfehlern ist zu rechnen? Wie kann man dem entgegenwirken? Welche Rolle spielt Intuition beim Treffen von Entscheidungen? Kapitel 4 handelt von der Psychologie der Entscheidung.

Wann und wofür sind Gruppenentscheidungen sinnvoll? Wann ist es besser, Einzelpersonen entscheiden zu lassen? Welche Entscheidungsfehler und Verzerrungen treten in Gruppen auf? Wie können wir dem entgegenwirken? Mit diesen Fragen zum Thema Entscheiden in Gruppen beschäftigen wir uns in Kapitel 5.

Wie können wir mit hochkomplexen Entscheidungssituationen umgehen? Komplex oder kompliziert? Wie bekomme ich Struktur in verwirrende, widersprüchliche Entscheidungssituationen, in denen gefühlt alles mit allem zusammenhängt? Wie lässt sich Komplexität angemessen reduzieren? Diesen Fragen widmen wir uns in Kapitel 6 zum Thema Komplexität und Komplexitätsreduktion.

Was gilt es, bei der Gestaltung von Entscheidungsprozessen unbedingt zu berücksichtigen? Woran mache ich fest, ob eine Entscheidung durch Abstimmung in großer Runde, einem mehrstufigen Entscheidungsprozess mit einer abschließenden Einzelentscheidung oder einfach per Los getroffen werden sollte? In Kapitel 7 Entscheidungsprozess-Kriterien gebe ich dir nützliche Denkwerkzeuge für die konkrete Gestaltung von Entscheidungsprozessen an die Hand.

Wie können einzelne Schritte und Bausteine eines Entscheidungsprozesses in der Praxis aussehen? Wie lassen sich diese sinnvoll kombinieren? Was muss vor der Entscheidung für eine Entscheidungsoption geschehen? Welches sind typische Entscheidungsverfahren? Mit diesen Fragen beschäftigen wir uns in Kapitel 8 (Entscheidungsprozess-Bausteine).

In Kapitel 9 Anwendungsbeispiele hast du die Möglichkeit, das Gelernte an konkreten Beispielen selbst anzuwenden, um es zu festigen und letzte Verständnislücken zu schließen. Nun solltest du in der Lage sein, Entscheidungsprozesse so weit zu konkretisieren, dass der Anwendung in der Praxis nichts mehr im Weg steht.

Abschließend stelle ich dir in Kapitel 10 Entscheidungsverfahren 2.0 Vorgehensweisen und Methoden vor, die in modernen Organisationsformen und agil arbeitenden Unternehmen zur Entscheidungsfindung zum Einsatz kommen. Du weißt danach, was es mit systemischem Konsensieren, Konsent und konsultativen Einzelentscheiden auf sich hat.

Bevor wir uns mit der Gestaltung von Entscheidungsprozessen beschäftigen, betrachten wir in Kapitel 1, welche Grundhaltung wir für das Thema Entscheidungen in Organisationen einnehmen sollten.

1. GRUNDHALTUNG: AKZEPTANZ VON UNSICHERHEIT

Im Prototyp der traditionellen Organisation sind Entscheidungswege hierarchisch klar geregelt. Ober sticht Unter. Oben hat mehr Ahnung und deswegen trifft Oben auch die wichtigen Entscheidungen. Naja, ob es jemals wirklich so klar war, weiß ich nicht. Aber klar ist: Je mehr Unternehmen auf selbstorganisierte Teams setzen, Entscheidungen dezentral treffen und Mitarbeiter in komplexe Entscheidungsprozesse einbinden, desto mehr tritt folgende Frage in den Vordergrund: Was wird wie und von wem entschieden?

So groß der Drang nach klaren Antworten und konkretem Handwerkszeug auch sein mag, all das, was du in diesem Buch lernen kannst, wird nur mit einer passenden Haltung funktionieren. Diese zeichnet sich durch zwei wesentliche Aspekte aus:

Wichtige Entscheidungen in Organisationen sind aufgrund tief verankerter Paradoxien mit Widersprüchen und Unsicherheit verbunden.

Um handlungsfähig zu sein, bedarf es einer Entscheidung trotz Unsicherheit.

Diese Sicht auf Entscheidungen in Organisationen macht einen grundlegenden Unterschied. Sie verhindert zum einen vorschnelle, undifferenzierte Entscheidungen: Wenn ich mir unsicher bin, bin ich angehalten, genau nachzudenken, verschiedene Alternativen tiefgehend zu beleuchten und weitere situationsangemessene Optionen zu (er-)finden. Zum anderen verhindert diese Haltung überschwängliches Analysieren und damit Entscheidungsblockaden: Wer davon ausgeht, nur lange genug analysieren zu müssen, um zu einer eindeutig richtigen Entscheidung zu gelangen, riskiert, nie eine Entscheidung zu treffen. Denn der Moment, an dem eine objektiv richtige Entscheidungsoption wie eine Erleuchtung vor dir erscheint, wird nicht kommen. Es geht auch nicht darum, immer optimal zu entscheiden. Eine Entscheidung muss in erster Linie tragfähig sein – also gut genug, um eine Organisation am Leben zu halten. Natürlich gibt es Fehlentscheidungen, die einer Organisation das Genick brechen können. Eine Organisation, die wichtige Entscheidungen aber überhaupt nicht trifft, wird zwangsläufig zugrunde gehen – in etwa so wie der Esel, der sich zwischen zwei Heuhaufen nicht entscheiden kann und in der Mitte verhungert.

Da ich diese Haltung für absolut unverzichtbar halte, werde ich sie anhand der »Brille der Paradoxien« im Folgenden vertiefen.

»Der Moment, an dem eine objektiv richtige Entscheidungsoption wie eine Erleuchtung vor dir erscheint, wird nicht kommen.«

DER BLICK DURCH DIE BRILLE DER PARADOXIEN

Wächst Pinocchios Nase, wenn er sagt, dass seine Nase wächst? Auch wenn du hier lange hin und her grübelst, kannst du diese Paradoxie nicht auflösen. Und genau um diese Nichtauflösbarkeit geht es mir. In diesem Kapitel zeige ich auf, wieso es nützlich ist, in Organisationen von unauflösbaren Widersprüchen (= Paradoxien) auszugehen. Organisationale Paradoxien stelle ich als Begriffspaar aus zwei widersprüchlichen Dimensionen dar (beispielsweise Kurzfristigkeit versus Langfristigkeit). Mit dem Blick durch die Brille der Paradoxien lassen sich dann konkrete Herausforderungen auf grundsätzliche Paradoxien der Organisation zurückführen:

Fokussieren wir mit Projekt X kurzfristige Gewinne oder langfristiges Wachstum mit Projekt Y? (Kurzfristigkeit versus Langfristigkeit)

Riskieren wir in der Produktion Qualitätseinbußen, um schneller voranzukommen? (Qualität versus Quantität)

Brauchen wir zum Thema Home-Office eine im Detail definierte Regelung oder reduzieren wir damit unnötig die Flexibilität der Teams? (Flexibilität versus Struktur)

Sollen unsere Entwicklungsteams selbst entscheiden, was sie entwickeln, oder sollten wir das vorgeben? (Autonomie versus Steuerung)

Sollen selbstorganisierte Teams auch ihr Recruiting zunehmend selbst durchführen oder brauchen wir dafür weiterhin ein spezialisiertes HR-Recruiting-Team? (Generalisierung versus Spezialisierung)

Wer hier nach logischen Lösungen für eine Seite der Paradoxie sucht, wird nicht fündig. Man kann nicht sagen, dass Autonomie grundsätzlich wichtiger ist als Steuerung – genauso wenig andersherum. Paradoxien lassen sich nicht einseitig auflösen. Sie sind prinzipiell unentscheidbar. Da beide Seiten der Paradoxie wichtig sind, muss immer wieder fall- und situationsspezifisch entschieden werden, inwieweit welche Seite der Paradoxie zu berücksichtigen ist. Paradoxien müssen abhängig von der Situation immer wieder aufs Neue ausbalanciert werden.1 Der Blick durch die Brille der Paradoxien macht deutlich: Schnelle Entscheidungen für einfache Lösungen sind der komplexen Unternehmenssituation meist nicht angemessen.

Im Folgenden werde ich drei im agilen Kontext besonders relevante Paradoxien genauer beleuchten. Viele konkrete Entscheidungsfragen in Organisationen lassen sich auf diese drei Paradoxien zurückführen. Nichtsdestotrotz handelt es sich dabei nur um einen kleinen Ausschnitt einer großen Vielzahl von Paradoxien, mit denen sich Organisationen auseinandersetzen müssen (Effizienz versus Robustheit, Mitarbeiterorientierung versus Aufgabenorientierung, Beständigkeit versus Entwicklung und so weiter).

1. PARADOXIE: AUTONOMIE VERSUS STEUERUNG

Dass sich Paradoxien nicht einseitig auflösen lassen, zeigt sich am besten in den Extremen. Daher werde ich beide Seiten der Paradoxien im Folgenden jeweils einmal überspitzen:

AUTONOMIE: Alles, was die Teams brauchen, um ihre Kunden mit Mehrwert zu beliefern, haben sie selbst in der Hand. Wie durch einen Schutzwall sind sie von störenden Eingriffen geschützt, sodass sie sich voll auf ihre Arbeit konzentrieren können. Nur was sich von außen abgrenzt, kann sich als Einheit verstehen, sich mit seiner Aufgabe identifizieren, ein echtes Wir-Gefühl entwickeln und gemeinsame Verantwortung übernehmen. Aber: Führt nicht genau das zum Silo-Denken, über das sich viele Organisationen so vehement beklagen?2 Wie werden Gehälter verteilt? Jeder entscheidet für sich? Sind Mitarbeiter mit so viel Autonomie nicht überfordert? Werden Eigeninteressen von Teams und Individuen nicht überhandnehmen? Wer achtet auf Synergieeffekte zwischen den verschiedenen Organisationseinheiten? Gibt es noch übergreifende Gesamtlösungen, wenn jedes Team für sich nach Autonomie strebt? Wäre es nicht eine gruppendynamische Zumutung, wenn sich Teammitglieder gegenseitig kündigen müssten? Würde das überhaupt passieren?

STEUERUNG: Die Interessen der Gesamtorganisation sind im Fokus und gegebenenfalls wird eingegriffen. Irgendjemand muss schließlich die Fäden zusammenhalten und aufpassen, dass sich Organisationseinheiten nicht verselbstständigen. Wenn etwas aus dem Ruder läuft, wird ein Machtwort gesprochen. Aber: Übernehmen Teams wirklich Verantwortung, wenn es heißt »Entscheidet selbst, aber nur unter Vorbehalt!«?3 Kommen die Vorteile von Selbstorganisation wirklich zum Tragen, wenn es heißt »Organisiert euch selbst, aber bitte nicht so!«?4 Wecken die Steuerungsmöglichkeiten nicht nur Karrierefantasien machtgeiler Führungskräfte? Sind Teams dann immer nur so schlau wie ihr Chef?

Organisationseinheiten (Teams, Abteilungen, Bereiche) brauchen Autonomie und Unabhängigkeit, um effizient handeln zu können und volle Verantwortung für ihr Produkt zu übernehmen. Organisationseinheiten müssen gleichzeitig von außen beeinflussbar sein, damit die Interessen der Gesamtorganisation gewahrt bleiben. So reizvoll klare, eindeutige Antworten sind, muss hier die Antwort lauten: Eine einseitige Entscheidung für Autonomie oder Steuerung ist nicht sinnvoll. Organisationen brauchen beides.

2. PARADOXIE: FLEXIBILITÄT VERSUS STRUKTUR

Erneut überspitze ich beide Seiten der Paradoxie.

STRUKTUR: Verantwortlichkeiten sind bis zur Aufgabenebene klar und eindeutig geregelt. Jeder weiß genau, was er zu tun hat und was nicht. Nachzulesen ist es in der jeweiligen Stellenbeschreibung. Konflikte darüber, wer was wie zu tun hat, gibt es nicht, schließlich ist alles exakt geregelt. In stabilen Umfeldern führt das zu hoher Effizienz. Das Unternehmen funktioniert dann wie eine Maschine, bei der die Hauptaufgabe des Managements darin besteht, optimale Betriebsabläufe zu »programmieren« und für deren Einhaltung zu sorgen. Aber: Was ist, wenn sich Anforderungen schneller ändern, als sich Regelwerke neu schreiben lassen? Was ist, wenn die Autoren des Regelwerks aufgrund der steigenden Komplexität überhaupt nicht beurteilen können, was sinnvolle Regeln sind?

FLEXIBILITÄT: Sehr hohe Flexibilität auf der anderen Seite entbindet von den Fesseln des bürokratischen Regeltums. Probleme können schnell und situationsangemessen gelöst werden, ohne dass erst noch Formulare die Hierarchie rauf- und runterwandern müssen. Wer eine Idee hat, fragt nicht, er setzt sie um. Ein Unternehmen besteht dann aus vielen Intrapreneuren (Unternehmern im Unternehmen) – so die Idee jedenfalls. Aber: Was passiert, wenn alle kräftig ziehen, allerdings nicht am gleichen Strang? Wie werden in einer komplexen Welt, in der unterschiedliche Sichtweisen ganz normal sind, Pattsituationen aufgelöst? Wenn nicht geregelt ist, wer was macht, wer macht dann die Aufgaben, die keiner machen will?

Organisationen brauchen Flexibilität und Regelfreiheit, um sich dynamischen Anforderungen und Umweltbedingungen anpassen zu können und um Raum für Innovationen zu schaffen. Organisationen brauchen gleichzeitig Strukturen und Regeln, um handlungsfähig zu sein und sich nicht in Absprachen zu verlieren. Es lassen sich sowohl für Flexibilität als auch für Struktur wichtige Vor- und Nachteile finden. Die Frage lautet nicht, was denn jetzt wichtiger ist, sondern: Wie gehen wir mit dieser Paradoxie in einer konkreten Situation um?

3. PARADOXIE: SPEZIALISIERUNG VERSUS GENERALISIERUNG

Auch bei diesem Beispiel wird in den Extremen deutlich, dass eine Entscheidung für eine Seite der Paradoxie nicht sinnvoll wäre.

GENERALISIERUNG: Alle Teams sollten alle Funktionen beinhalten, die sie brauchen, um ihre Aufgabe vollverantwortlich erledigen zu können. Sogenannte crossfunktionale Teams sind unabhängig und damit schnell. Besser noch: Auch innerhalb der Teams sollte jeder alles können. So kann immer mit voller Kraft an dem gearbeitet werden, was gerade am wichtigsten ist. Engpässe gibt es nicht. Das gleiche Prinzip gilt auch auf übergeordneter Ebene: Wenn Team A zum Engpass wird, hat Team B selbstverständlich alle Fähigkeiten, um Team A zu unterstützen. Aber: Sind die Teams, wenn jeder alles können soll, dann nicht nur ständig mit Lernen statt mit Schaffen beschäftigt? Müssen sich Software-Entwicklungsteams dann auch um das Schalten von Stellenanzeigen kümmern? Werden nicht Synergieeffekte verschenkt, wenn jedes Team jede Funktion innehat? Kommen Generalistenteams über das Mittelmaß hinaus?

SPEZIALISIERUNG: Innerhalb des Teams macht jeder, was er am besten kann, um mit hoher Geschwindigkeit echten Mehrwert für den Kunden zu liefern. Jeder sollte so eingesetzt werden, dass seine Stärken ins Gewicht fallen und seine Schwächen keine Rolle spielen. Auch Teams als Ganzes konzentrieren sich auf das, was sie am besten können. Sie werden routiniert und gewinnen zunehmend an Effizienz. Jedes Team ist ein Expertenteam. Aber: Was passiert, wenn jemand ausfällt? Haben Teammitglieder mit Spezialfunktion nicht ständig Leerlauf? Sind Teams wirklich schnell, wenn sie immer wieder auf Unterstützung anderer angewiesen sind?

Um flexibel reagieren zu können und nicht ständig auf die Mitarbeit oder Zulieferung anderer warten zu müssen, müssen Organisationseinheiten generalistisch aufgestellt sein. Gleichzeitig benötigen sie Spezialisierung, um fokussiert handeln zu können und Expertise aufzubauen.

DIE BRILLE DER PARADOXIEN AUFSETZEN

Die drei genannten Paradoxien verdeutlichen, wie widersprüchlich Entscheidungsfragen in Organisationen an vielen Stellen sind. Nicht selten werden einseitige Argumente dennoch als Allheilmittel verkauft. Wird dann eine einseitig gedachte Option in die Tat umgesetzt, dauert es häufig nicht lange, bis Ernüchterung eintritt. Die erwarteten Erfolge treten nicht ein.

Wenn du wichtige Entscheidungsfragen durch die Brille der Paradoxien betrachtest, führt dies zu bedeutenden Vorteilen:

Durch einen realistischeren Bezug zur komplexen Organisationsrealität wird die Enttäuschung darüber verhindert, dass Entscheidungen für einseitige Lösungen nicht zum erwarteten Erfolg führen.

Potenziell bedeutsame Aspekte, die bei einer konkreten Entscheidung bedacht werden sollten, geraten in den Fokus.

Gerade wenn es um wichtige Entscheidungen geht, lohnt es sich, die Paradoxie-Brille bewusst aufzusetzen. Sei skeptisch, wenn dir einfache Lösungen präsentiert werden. Halte bei wichtigen Entscheidungen die Augen offen für Paradoxien.

DIE BRILLE DER PARADOXIEN ABNEHMEN

Wer hinter konkreten Fragestellungen unauflösbare Paradoxien sieht, wird erst einmal unsicherer. Auf einmal gibt es kein Richtig oder Falsch mehr. Wenn diese erhöhte Unsicherheit zu differenzierteren Entscheidungen führt, ist das gut. Zum Problem wird die Unsicherheit allerdings, wenn sie lähmt. Wir müssen akzeptieren, auch nach umfassender Analyse in paradoxen Fragestellungen nicht zu eindeutig richtigen Antworten zu gelangen. Ein Gedanke, der mir hierbei hilft, findet sich im Zitat von Heinz von Förster: »Nur die Fragen, die prinzipiell unentscheidbar sind, können wir entscheiden.«5 Demnach handelt es sich dann und nur dann um eine Entscheidung, wenn nicht objektiv gesagt werden kann, welche der verfügbaren Optionen die richtige ist. Entscheidungen setzen also per definitionem ein gewisses Maß an Unsicherheit voraus. Wenn du ein Problem analysierst und dabei eine objektiv richtige Entscheidungsalternative erkennst, dann handelt es sich gar nicht mehr um eine Entscheidung.

Ganz egal, wie viel Informationen wir sammeln und analysieren, am Ende eines Entscheidungsprozesses sind wir nicht an dem Punkt, an dem wir eine eindeutig richtige Antwort identifizieren. Uns muss daher klar sein, dass trotz aller Kontingenz (es könnte so, aber auch anders sein) irgendwann klares Handeln notwendig ist. Wir brauchen eine Entscheidung oder, wie wir es auch nennen können, einen Beschluss. Wobei die Betonung hier auf Schluss liegt. Schluss mit Denken, mit Abwägen, mit Grübeln.

Die Kunst ist, trotz Unsicherheit irgendwann eine Entscheidung zu treffen und nach einer Entscheidung, zumindest für eine gewisse Zeit lang, unsicheres Wissen als sicheres Wissen zu behandeln. Oder anders ausgedrückt: Manchmal ist es eben hilfreich, für eine gewisse Zeit so zu tun, als gäbe es eine einfache und sichere Antwort, um klar handeln zu können. Organisationen sind vor allem in den Phasen handlungsfähig, in denen sie nicht zweifeln. Auch Mitarbeiter lassen sich durch klare Entscheidungen häufig leichter mitnehmen. Stell dir vor, Martin Luther King hätte seine berühmten Worte »I have a dream« um »but I’m not sure that I have considered all pros and cons« ergänzt. Ob er damit Massen bewegt hätte, ist zweifelhaft.

FAZIT

Häufig ist es hilfreich, zunächst die Brille der Paradoxien aufzusetzen, um gezielt nach Widersprüchen, blinden Flecken und zu berücksichtigenden Aspekten zu suchen. So vermeidest du voreilige, undifferenzierte Entscheidungen. Frag dich bei vermeintlich einfachen Lösungen: Wo ist der Haken? Was ist die Kehrseite? Mit dem Wissen, dass, ganz egal wie viele Informationen wir betrachten, sich keine Option als eindeutig richtig zu erkennen gibt, treffen wir dann zu einem bestimmten Zeitpunkt eine Entscheidung. Danach ist es ratsam, die Widersprüchlichkeiten für eine gewisse Zeit auszublenden, um handlungsfähig zu sein. Das bewusste Auf- und Absetzen der Brille der Paradoxien spiegelt für mich eine Haltung gegenüber dem Thema Entscheidungen wider, die für mich aus den beiden anfangs genannten Aspekten besteht. Wichtige Entscheidungen in Organisationen sind aufgrund tief verankerter Paradoxien mit Widersprüchen und Unsicherheit verbunden. Und trotzdem bedarf es einer Entscheidung, um handlungsfähig zu sein.

Je widersprüchlicher Entscheidungsfragen in Organisationen sind, desto unwahrscheinlicher ist es, dass die Beteiligten einen inhaltlichen Konsens finden. Um dann trotzdem handlungsfähig zu sein, basieren die meisten Unternehmen auf dem Prinzip der Hierarchie. Wer hierarchisch höher steht, hat das letzte Wort und kann damit Pattsituationen auflösen. Womit wir beim nächsten Thema wären.

2. MACHT

Entscheidungsprozesse hin oder her, aber setzen sich nicht am Ende immer die Gleichen durch? Es gibt halt Leute, die sich durchsetzen können, und Menschen, denen das schwerfällt. In der Regel haben die Lauten das letzte Wort. Das sind doch die gleichen Personen, die in der Hierarchie nach oben wandern. Muss das so sein? Braucht es im agilen Umfeld überhaupt noch Führungskräfte für wichtige Entscheidungen? Oder stören diese lediglich die »Selbstorganisation« der Teams? Kann das wirklich funktionieren, so ganz ohne Hierarchie? Hat sich die Hierarchie nicht über viele Jahre bewährt? Welche Machtphänomene sollte ich berücksichtigen, wenn ich Entscheidungsprozesse gestalte?

In diesem Kapitel geht es um das Thema Macht. Zunächst erkläre ich, was Macht ist und aus welchen Quellen sie sich speist. Mit diesem Wissen kannst du Machtverhältnisse einschätzen und auch beeinflussen. Wenn du weißt, wie du Machtquellen geschickt anzapfst, kannst du dir viele Vorteile verschaffen. Machtverhältnisse sind nämlich nicht in Stein gemeißelt. Wer Entscheidungsprozesse gestaltet, wird immer wieder vor Herausforderungen im Zusammenhang mit dem Thema Macht stehen. Im Abschnitt Macht und Entscheidungsprozesse zeige ich dir, für welche Machtphänomene du die Augen offen halten solltest. Danach (im Abschnitt Formale Hierarchie) widmen wir uns dem Thema Hierarchie. Indem die formale Hierarchie versucht festzulegen, wer wem was sagen darf, kann sie als Mittel zur Sicherstellung von Machtunterschieden verstanden werden. Machtunterschiede ermöglichen, beispielsweise, Pattsituationen aufzulösen und damit Handlungsfähigkeit herzustellen. (»Wir machen das jetzt so! Punkt.«) Wer Chancen und Risiken der Hierarchie versteht, kann daraus ableiten, welche Entscheidungen hierarchisch getroffen werden sollten und welche nicht.

WAS IST MACHT?

Napoleon, Stalin, Hitler – bei dem Begriff Macht zucken viele Menschen zusammen. Wir haben schnell den Missbrauch von Macht vor Augen: Machtgeile Führer, die für die Durchsetzung ihrer eigenen Interessen über Leichen gehen. Macht ist aber nicht gleichzusetzen mit Machtmissbrauch. Laut Max Weber ist Macht »jede Chance, innerhalb einer sozialen Beziehung den eigenen Willen auch gegen Widerstreben durchzusetzen, gleichviel worauf diese Chance beruht«.6 In Entscheidungssituationen ist Macht also relevant, wenn nicht alle Beteiligten die gleiche Option wählen würden. Wer sich dann durchsetzen kann, hat mehr Macht. Ob die Chance, sich durchzusetzen, darauf beruht, dass jemand Zwangsmittel besitzt (wenn jemand über das Gehalt der anderen entscheidet) oder überzeugend auftritt, ist erst mal zweitrangig. Wer also innerhalb einer Organisation oder eines Teams auf Entscheidungen viel Einfluss nehmen kann, hat in diesem Umfeld auch mehr Macht. So weit die Definition. Um die Vorstellung von Macht weiter zu schärfen, folgen drei Punkte:

MACHT IST KEINE PERSÖNLICHKEITSEIGENSCHAFT, SONDERN BESCHREIBT BEZIEHUNGEN. Macht ist ein Merkmal sozialer Beziehungen und demnach nicht die Eigenschaft einer Person.7 Der autoritäre Vorstandschef eines großen Dax-Konzerns wird möglicherweise ganz klein, wenn es zu Hause darum geht, wer den Müll rausbringt. Das Machtverhältnis in Beziehung zu seiner Frau scheint ein anderes zu sein als zu seinen Mitarbeitern. Auch innerhalb einer Organisation befindet sich ein und dieselbe Person in unterschiedlichsten Machtverhältnissen. Führungskräfte, die für mehrere Teams verantwortlich sind, wissen, wovon die Rede ist. Während Team A den Empfehlungen wie selbstverständlich folgt, braucht es für Team B klare Anweisungen – und selbst dann muss noch verhandelt werden. Wer für die Gestaltung von Entscheidungsprozessen die Macht der Beteiligten einschätzt, muss sich fragen: Wer hat in dieser spezifischen Personenkonstellation wie viel Einfluss? Wer kann sich im Zweifel durchsetzen?

MACHT IST DAS ERGEBNIS EINES AUSHANDLUNGSPROZESSES. Wenn der Chef seinen Mitarbeiter auffordert, Rechnungen einzuscannen, hat der Mitarbeiter grundsätzlich die Wahl: Er kann die Aufgabe akzeptieren, weil er ein kritisches Gespräch oder andere Sanktionen befürchtet. Er kann die Aufgabe aber auch verweigern, indem er die Sanktionen einfach akzeptiert (»Dann motzt der halt rum …«) oder Gegenmacht (»Bevor ich solche Praktikantenaufgaben erledige, suche ich mir was Neues!«) ausübt. Ein Chef hat – entgegen der weitverbreiteten Annahme – nicht automatisch die Macht. Sie muss ihm von seinem Mitarbeiter zugestanden werden. Wenn der Mitarbeiter derartige Aufforderungen einige Male akzeptiert hat, etabliert sich ein Machtverhältnis. Für beide Parteien wird es dann zunehmend selbstverständlicher, dass der Mitarbeiter die Anweisungen des Chefs befolgt. Manchmal wird aber auch noch darum gerungen, wer wem was sagen darf. Frag dich bei der Gestaltung von Entscheidungsprozessen: Wo sind die Machtverhältnisse wirklich klar? Wo werden sie noch ausgehandelt?

STARKE MACHT IST GERÄUSCHLOS. Der Chef muss nicht sagen: »Entweder du scannst die Rechnungen oder du bist entlassen!« Damit Macht wirksam wird, braucht es in der Regel keine Sanktionsdrohungen. Entscheidend ist die Chance oder Möglichkeit, zu solchen Mitteln zu greifen. Klare Machtverhältnisse wirken selbstverständlich und unreflektiert, weil sie von den Machtunterworfenen internalisiert werden.8 Im Sinne von: »Natürlich mache ich das, wenn der Vorstand es erwartet.« Wer auf seine Macht hinweisen muss, um Einfluss zu nehmen, stellt seine Macht damit gleichzeitig infrage. Wäre die eigene Machtposition klar und gesichert, müsste man sie nicht markieren. Für die Einschätzung der Macht ist also folgende Frage interessant: Wer muss harte Geschütze auffahren, um Einfluss zu nehmen, und wem wird wie selbstverständlich gefolgt?

MACHTQUELLEN

Wen sollte man im Entscheidungsprozess unbedingt berücksichtigen, weil er die Ergebnisse ansonsten im Nachhinein torpedieren könnte? Wen kann man ungestraft außen vor lassen? Wem sollten wir im Entscheidungsprozess ein besonderes Gewicht einräumen, weil die Gefahr besteht, dass sein Input ansonsten nicht angemessen berücksichtigt wird? Um diese Fragen sinnvoll zu beantworten, sollte die Macht der Akteure eingeschätzt werden. Das gelingt mit der Kenntnis über Machtquellen. Auch wer seine eigene Macht ausweiten will, muss wissen, woraus sie sich speist. Was nicht funktioniert, ist, einfach davon auszugehen, dass hierarchisch höher Gestellte natürlicherweise mehr Macht besitzen. Ebenso wenig haben Menschen, die formal gleichgestellt sind, automatisch die gleichen Einflussmöglichkeiten. Jeder, der in einem Team arbeitet, weiß, dass einige Teammitglieder mehr Gehör finden und sich häufiger durchsetzen als andere. In diesem Kapitel erkläre ich, wie du deine Macht und die anderer einschätzt und gegebenenfalls beeinflusst. Grundlage dafür sind die folgenden Machtquellen.

SANKTIONS- ODER BELOHNUNGSMÖGLICHKEITEN

»Das kannst du natürlich so machen, auch wenn ich es nicht für sinnvoll halte. Ach ja, unser Gespräch über dein Gehalt muss ich noch mal verschieben … « Der Chef, der über Gehaltserhöhungen, Kündigungen und die Verteilung von Aufgaben entscheidet, hat eine Vielzahl an Sanktions- und Belohnungsmöglichkeiten. Sie wirken als Machtquelle – sowohl explizit als ausgesprochene Drohung (»Wenn du nicht langsam Gas gibst, dann …«) als auch implizit, also unausgesprochen. So überlegt man sich zweimal, wie sich Widerstand gegenüber dem Vorgesetzten auf die eigene Position auswirken könnte.

Aber auch der Mitarbeiter kann den Chef mit schlechter Arbeit oder einem Arbeitgeberwechsel seinerseits sanktionieren. Sanktions- und Belohnungsmacht ist also nicht zwangsläufig an die Hierarchie gebunden. Die Kollegin, welche die Urlaubspläne entwirft, besitzt Sanktionsmacht, wenn sie darüber entscheidet, wer die begehrten Tage zwischen Weihnachten und Silvester freimachen darf. Ob sie in der formalen Hierarchie höher oder niedriger steht, ist für den Kollegen, der in dieser Zeit unbedingt seine Familie besuchen will, irrelevant. Was zählt, ist, dass ihr die Entscheidungsbefugnis über die Urlaubspläne zugesprochen wird.

Ob etwas als Belohnung oder Sanktion erlebt und damit zu einer relevanten Machtquelle wird, entscheidet letztendlich immer der Empfänger. Richtig gehört: Auch eine Kündigung ist nicht objektiv eine Sanktion. Wer seinen Job ohnehin schnellstmöglich verlassen will, bleibt bei der Androhung einer Kündigung gelassen oder pokert vielleicht sogar um eine Abfindung. Gegenüber denjenigen, denen es egal ist, ob sie zwischen den Feiertagen arbeiten oder nicht, ist die Entscheidungsbefugnis über die Urlaubsplanung keine Machtquelle. Eine potenzielle Machtquelle ist zudem unwirksam, wenn jemand ausschließt, dass sie genutzt wird: Der Mitarbeiter, der sicher ist, dass sein Chef ihm nicht kündigen wird, wird sich von einer möglichen Kündigung nicht beeindrucken lassen. Um die Machtverhältnisse in deiner Organisation einzuschätzen, kannst du dich fragen: Wer ist in der Lage, wen zu sanktionieren oder zu belohnen?

EXPERTENSTATUS

Wer am meisten Ahnung vom Thema hat, beeinflusst die Entscheidung am stärksten. Das klingt sinnvoll, doch der Realität entspricht es nicht. Wir haben uns alle schon mal über jemanden geärgert, der mit hochgestochenem Fachvokabular und absoluter Selbstsicherheit den größten Bullshit verkauft (und damit auch noch erfolgreich ist). Entscheidend ist nicht, wer Kompetenz aufweist, sondern wem Kompetenz zugeschrieben wird. Es geht um die Zuschreibung und nicht um die tatsächliche Expertise. Wenn sich jemand auf einem Gebiet hervorragend auskennt, das aber von seinem Umfeld nicht gesehen wird, dann stellt seine Expertise keine Machtquelle dar. Wer seine Macht erhöhen will, sollte daran arbeiten, dass sie von anderen auch anerkannt wird.

Typische Taktiken zur Erhöhung von Kompetenzzuschreibung sind das »sichtbare« Tragen von Titeln, das Verwenden von Fachsprache oder das Berichten von vergangenen Erfahrungen und Erfolgen. Expertenstatus wird vor allem dann zu einer Machtquelle, wenn dem Umfeld weniger Expertise zugeschrieben wird. Wer bei einer Entscheidung für das Thema als alleiniger Fachmann gilt, hat ein Heimspiel. Die anderen verlassen sich auf sein Urteil. Häufig werden bei vermeintlichen Expertise-Unterschieden auch Gedanken zurückgehalten. Wer befürchtet, dass sein Vorschlag vom Fachmann als unqualifiziert entlarvt wird, behält seine Idee doch besser für sich. Frag dich zur Einschätzung von Machtverhältnissen: Wem wird wie viel Expertise zugeschrieben? Wer wird als Fachmann wahrgenommen? Wer stellt seine Erfahrungen, sein Wissen und seine Erfolge ins Rampenlicht? Wessen Kompetenzen bleiben im Schatten?

INFORMATIONSZUGANG UND -KONTROLLE

Ein Vertriebler hat im letzten Monat 50 Kunden darüber interviewt, welche Produkte sie sich in Zukunft vom Unternehmen wünschen. Viele spannende Telefonate, berichtet er. An einige Punkte hätte er niemals gedacht. Es hat sich auf jeden Fall gelohnt, die Zeit zu investieren. Nun gilt es, im Team zu entscheiden, welche Produkte in den kommenden Monaten entwickelt werden. Durch die Interviews hat er (zumindest scheint es so) Informationen, welche die anderen nicht haben. Bei der Entscheidung wird seine Sicht voraussichtlich stark ins Gewicht fallen. Wenn andere davon ausgehen, dass ich einen besseren Zugang zu validen Informationen über die »wahren« Probleme des Unternehmens habe, ist das eine Machtquelle. Ich kann die Deutung der Situation und damit die Entscheidung darüber, welche Probleme angegangen werden, beeinflussen. Auch hier ist wieder die Zuschreibung durch andere und nicht die tatsächliche Validität meiner Informationen entscheidend.

In klassischen hierarchischen Organisationen basiert ein Großteil der Macht der Führungskräfte auf Informationsvorsprüngen. Führungskräfte nehmen an wichtigen Meetings teil, erfahren wichtige Infos frühzeitig und können darüber entscheiden, was sie davon weitergeben. Ihren Mitarbeitern bleibt häufig nichts anderes übrig, als auf die Infos und die Deutungen ihres Chefs zu vertrauen. Im agilen Umfeld werden Informationen zunehmend verfügbarer. Wer etwas wissen will, muss nicht seinen Vorgesetzten fragen, sondern kann es in Wikis nachlesen oder einfach auf andere Wissensträger zugehen. Als Führungskraft kann ich mit zunehmender Transparenz weniger kontrollieren, wer welche Informationen erhält. Die Führungsmacht aufgrund von Informationsvorsprüngen sinkt.

Natürlich haben nicht nur Führungskräfte Informationsvorsprünge. Häufig weiß der Mitarbeiter an der Basis viel besser, welche Probleme erhöhter Effizienz im Weg stehen oder was der Kunde will. Die Führungskraft, die nicht mitbekommt, dass sich bestimmte Produkte nicht verkaufen lassen oder Mitarbeiter nichts zu tun haben, kann ihre Rolle nicht angemessenen ausführen. Die Kontrolle darüber, wertvolle Informationen preiszugeben oder für sich zu behalten, ist eine Quelle für Macht. Informationskontrolle wird vor allem dann zur Machtquelle, wenn die vorliegenden Informationen von anderen dringend benötigt werden, um ihren Job adäquat auszuführen – ganz egal, wer formal über wem steht. Um Macht einzuschätzen, kannst du dir folgende Fragen stellen: Wer hat Zugänge und Kontrolle über wichtige Informationen? Wem werden exklusive Informationszugänge zugeschrieben? Wer ist auf die Informationen anderer angewiesen?

BEZIEHUNGEN UND SOZIALES KAPITAL

Es gibt sie in jedem Unternehmen: die Menschen, die am Wochenende mit dem Marketingchef golfen gehen, den Vorstand beim Elternabend der Kinder treffen und morgens vom halben Konzern begrüßt werden. Die Leute, die früher von der offenen Stelle erfahren und auf einmal Rückendeckung von »ganz oben« bekommen. Wie heißt es noch? Vitamin B schadet nur dem, der keines hat. Zumindest stellt es eine zentrale Machtquelle dar.9 Wer zu einflussreichen Personen Beziehungen hat, kann diese als Informationsquelle nutzen oder auf deren Entscheidungen Einfluss nehmen. Meinungsführer, die vor Abstimmungen für ihre favorisierte Option werben, beeinflussen das Ergebnis. Wenn ihnen etwas nicht gefällt, können sie getroffene Entscheidungen torpedieren, indem sie bei Veränderungsprozessen breiten Widerstand anzetteln. Beim nächsten Mal werden sie dann vorher gefragt. Stell dir folgende Fragen, um Machtverhältnisse einzuschätzen und sie gegebenenfalls zu beeinflussen: Wer hat gute Kontakte? Wer ist Meinungsführer? Zu wem muss man einen guten Draht haben?

PERSÖNLICHKEIT

Macht ist keine Persönlichkeitseigenschaft eines Machthabers. Wir denken an den autoritären Konzernvorstand, welcher in vorauseilendem Gehorsam den Müll rausbringt, um die Diskussion mit seiner Frau zu vermeiden. Es geht letztendlich immer um das Machtverhältnis in einer spezifischen Beziehung. Trotzdem bedeutet das nicht, dass Persönlichkeit nichts mit Macht zu tun hat. Extrovertierte Personen können häufig auf ein höheres soziales Kapital als Machtquelle zurückgreifen. Wer sich gut darstellen kann, wird auch eher den Eindruck von Expertise erzeugen. Empathie ist im Zusammenhang mit Macht eine nützliche Eigenschaft: Wer einschätzen kann, was seine Mitmenschen als Sanktion oder als Belohnung empfinden, kann das geschickt ausnutzen. Um abzuschätzen, ob eine Drohung wirkt, muss man die Motivlage seines Gegenübers verstehen: »Wenn das nicht bis morgen fertig ist, dann melde ich dich vom Abteilungsevent ab. Dann gehen die anderen ohne dich klettern.« Für manche ist das eine herbe Enttäuschung, für andere eine große Erleichterung. Persönliche Eigenschaften und Fähigkeiten wie Extraversion und Empathie entscheiden darüber, inwieweit man auf andere Machtquellen zugreifen kann.

DAS ZUSAMMENSPIEL DER MACHTQUELLEN