Entwickle deine Fotografie! - Pia Parolin - E-Book

Entwickle deine Fotografie! E-Book

Pia Parolin

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Beschreibung

Fotografie als Ausdrucksmittel für Emotionen und Ideen

  • Zeigt den Weg vom einfachen Foto zum künstlerischen, emotionalen Bild
  • Fotografieren mit Konzept in Theorie und Praxis
  • Emotionen und Aussagen fotografisch ausdrücken

Über den Wert von Kunst wird viel sinniert, diskutiert, gestritten. Kunst wird auf sehr verschiedene Weise – oder auch gar nicht – verstanden. Aber ist Kunst nicht, in jeglicher Form, die Vollendung der Umsetzung menschlicher Kreativität?
Als kreativer Mensch spürst du Situationen, siehst Licht, entdeckst Nuancen, die anderen Menschen vielleicht verborgen bleiben. Aber wie können Fremde durch dein Bild eine Stimmung spüren? Und wie kannst du letztendlich mit deiner Kunst in die Gesellschaft hineinwirken? Wie hebst du deine Fotografie auf ein höheres Niveau und entwickelst deine künstlerische Ausdrucksform weiter?
In diesem Buch zeigt die begeisterte Fotografin Pia Parolin, wie du dich mit deinen Fotos künstlerisch ausdrückst und die Welt fotografisch so wiedergibst, wie du sie durch deine Brille wahrnimmst. Sie vermittelt, wie du Stimmungen und Gefühle in deine Fotos einfließen lässt und dich vom sachlichen, distanzierten Standpunkt löst. So wird deine Fotografie tiefgründiger und interessanter. Du berührst und ergreifst den Betrachter Deiner Fotos. Du lernst, dich auf das Spontane, Sensible zurückzubesinnen, dich zu trauen, zu einer beinahe kindlichen Freiheit des Geistes zurückzukehren. Kurz, Dich zu einem wahren Künstler zu entwickeln.

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Skizze von © Nassima Reutlinger

Mein Kunstunterricht in Kindertagen hat mich bis heute geprägt. Ich hatte engagierte Lehrer an der Deutschen Schule Mailand. Ich erinnere mich an ein paar Namen: Schober, der nach Schulschluss Happenings in der Stadt gestaltete, bei denen er bunte Neonröhrentreppen zertrampelte; Fehlau, der uns anregte, die Bilder auf den Hüllen unserer Lieblings-Vinylplatten als Inspirationsquellen zu analysieren; Renate Eco, die Gattin des Schriftstellers Umberto Eco, die mit uns spannende Museumsbesuche gestaltete – alle vibrieren bis heute nach und ich bin ihnen dankbar, dass sie sich ihre Schüler so zu Herzen genommen haben. An ein Leben als Künstlerin habe ich damals nicht einen Gedanken verschwendet. Mein zufriedenes Leben als Wissenschaftlerin ergänze ich seit ein paar Jahren durch Fotografie, Schreiben, intensiv gelebte Kreativität. Die mir jahrzehntelang antrainierte pragmatische Sicht der Wissenschaftlerin versuche ich schrittweise durch Sensibilität und Emotionen zu ersetzen. Es gilt, auch Gefühle und Unsachliches zuzulassen. Meine eigene Suche nutze ich, um zu teilen, wie es gelingt, durch Nachdenken, Hinterfragen und Fühlen mehr Emotion und Kunst in die Fotografie einfließen zu lassen.

Mehr über Dr. rer. nat. habil. Pia Parolin erfährst du unter www.piaparolin.com sowie unter piaparolinphoto auf Twitter, Facebook, Linktree und Instagram.

Zu diesem Buch – sowie zu vielen weiteren dpunkt.büchern – können Sie auch das entsprechende E-Book im PDF-Format herunterladen. Werden Sie dazu einfach Mitglied bei dpunkt.plus+:

www.dpunkt.plus

Pia Parolin

Entwickle deine Fotografie!

Wie du deine künstlerischen Ansprüche verwirklichst

Pia Parolin

www.piaparolin.com

Lektorat: Rudolf Krahm

Lektoratsassistenz: Julia Griebel

Copy-Editing: Friederike Daenecke, Zülpich

Satz: Petra Strauch, just in print

Herstellung: Stefanie Weidner, Frank Heidt

Umschlaggestaltung: Helmut Kraus, www.exclam.de, unter Verwendung eines Fotos der Autorin

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

ISBN:

Print 978-3-86490-836-1

PDF 978-3-96910-310-4

ePub 978-3-96910-311-1

mobi 978-3-96910-312-8

Copyright © 2021 dpunkt.verlag GmbH

Wieblinger Weg 17

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Alle Angaben und Programme in diesem Buch wurden mit größter Sorgfalt kontrolliert. Weder Autorin noch Verlag können jedoch für Schäden haftbar gemacht werden, die in Zusammenhang mit der Verwendung dieses Buches stehen.

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VORWORT

Über den Wert von Kunst wird viel sinniert, diskutiert, gestritten. Kunst wird auf sehr verschiedene Weise – oder auch gar nicht – verstanden. Aber ist Kunst nicht, in jeglicher Form, die vollendete Umsetzung menschlicher Kreativität?

Als begeisterter Fotograf bzw. begeisterte Fotografin versuchst du, dich mit deinen Fotos kunstvoll auszudrücken. Du gibst die Dinge fotografisch so wieder, wie du sie durch deine eigene Lebensbrille wahrnimmst. Du spürst Situationen, siehst Licht, entdeckst Nuancen, die anderen Menschen vielleicht verborgen bleiben.

Besonders erfreust du dich womöglich an den Bildern, die es schaffen, die von dir empfundene Stimmung wiederzugeben. Wenn du andere Menschen mit deinen Fotos berührst, überraschst, ist das Foto gelungen.

Aber wie können Fremde durch dein Bild eine Stimmung spüren? Wie kannst du mehr Kunst in deine Fotos einfließen lassen, sie auf ein höheres Niveau heben, deine künstlerische Ausdrucksform weiterentwickeln? Wie fließen Emotionen und Aussagen, die dir wichtig sind, zusammen?

Und wie kannst du letztendlich mit deiner Kunst in die Gesellschaft hineinwirken? Denn diese Kraft hat die Kunst. Sie kann durch eine völlig neue Art der Betrachtung und Umsetzung, mit ungeahnten Perspektiven und erstaunlichen Beleuchtungsweisen Menschen aufrütteln und Dinge bewegen.

Fotos, die so eine starke Wirkung ausüben, bleiben der Menschheit oft dauerhaft erhalten. Sie werden zu ikonischen Titelbildern oder hängen in einem Museum. So wird der Fotografierende unsterblich.

Vielleicht erhebst du keinen Anspruch auf Unsterblichkeit. Es macht dich sicher schon glücklich, deine Fotos in schönen, wenn auch vergänglichen Solo-Ausstellungen zeigen zu dürfen.

Aber da ist diese Sehnsucht nach Weiterentwicklung, der Wunsch, anspruchsvolle(re) Bilder zu machen. Statt konzeptlos herumzuknipsen, möchtest du vielleicht deinen Fotos mehr Seele geben, mehr Tiefe. Du gehst mit einer Idee los, möchtest eine Aussage treffen. Die kann auch ganz einfach sein: die Schönheit der Natur, das hektische Leben in der Stadt, bis hin zu philosophischen oder gesellschaftskritischen Analysen und Deutungen. Und da jeder eine Meinung hat und diese vielleicht fotografisch ausdrücken möchte, handelt dieses Buch davon, wie sich jeder Mensch zu einem Künstler oder einer Künstlerin entwickeln kann. Um niemanden zu diskriminieren, werde ich abwechselnd in der männlichen Form von »Künstler« und der weiblichen Form von »Künstlerin« sprechen. Ebenso wird bei Fotografen bzw. Fotografinnen und anderen Personengruppen verfahren. Die Sternchenform, die in ihrer Ansprache sicher noch umfassender ist, möchte ich aus Gründen der Lesefreundlichkeit nicht verwenden. Ich hoffe, dass sich dennoch alle Lesenden dieses Buchs angesprochen fühlen.

Ungeahnte Perspektive und erstaunliche Beleuchtungsweise? Ein trivialer Beton-Kai, wie hier in Monaco, kann durch den Bildaufbau und das Drama des Himmels zum Hingucker werden. Suche das Normale, Triviale, und versuche, durch spezielle Einstellungen Emotionen hervorzurufen. Hier habe ich die Belichtungskorrektur gnadenlos heruntergestellt (–1,7), um den dunklen Kontrasteffekt zu erreichen.

Aber zurück zur Kunst. Ich glaube fest, dass manche Menschen als Künstler oder Künstlerin geboren werden: Nichts außer der künstlerischen Ausdrucksform ist ihnen wichtig. Sie stellen sich auf eine (imaginäre) Bühne und füllen den Raum. Sie sprechen aus ihrem Innersten heraus, ohne dies aktiv ankurbeln zu müssen. Sie spüren von Anfang an, wo es langgeht, und gehen unbeirrt ihren Weg – es ist ihr innerstes Bedürfnis.

Aber dann gibt es jene, zu denen ich auch mich zähle, die sich das Künstlerische eben doch irgendwie erarbeiten müssen. Durch meinen Beruf als Forscherin entwickelte ich mich zu einem klar strukturierten, zielorientierten Menschen, der ich im Keim vielleicht schon von Geburt an war. Die jahrelange Formatierung meiner Herangehensweise, die auf Analyse und kühlem neutralem Blick beruht, blendet alles Emotionale und Irrationale aus.

Der Kunst. Ein Spiel mit den Deklinationen im Sinne der Universität Hamburg: DER Forschung, DER Lehre, DER Bildung.

Wie kann ich nun plötzlich Emotionen in den Vordergrund stellen? Wie Gefühle und Stimmungen in meine Kreativität einfließen lassen, die ich zuvor so lange in meiner Ausdrucksweise unterdrücken sollte?

Indem du deine persönliche Lebenserfahrung und Sichtweise einbringst, kannst du etwas Neues kreieren und daraus Kunst machen. Gleichzeitig verbesserst du deine Fotografie, weil sie tiefgründiger und somit interessanter wird. Du berührst und ergreifst den Betrachter deiner Fotos. Du lernst, dich auf das Spontane, Sensible zurückzubesinnen, dich zu trauen, zu einer kindlichen Freiheit des Geistes zurückzukehren – kurz, dich zu einer wahren Künstlerin, einem echten Künstler zu entwickeln.

Es ist eine Kunst, sich der Kunst zu widmen. Trau dich, hinter dem Vorhang des bisherigen Lebens hervorzutreten, einen neuen Weg einzuschlagen, der mehr auf Sensibilität und Emotionen, auf deiner Seele und dem Wunsch, etwas Neues zu schaffen, aufbaut. So wie dieser Pizzabäcker etwas scheu aus der Küche auf das bunte Treiben im Restaurant blickt, wartet da draußen eine faszinierende schillernde Welt, die sich darauf verlässt, was hinter dem Vorhang passiert: Wunderbare Gerichte werden hier mit Hingabe erschaffen.

GELEITWORT

Pia Parolin teilt den inspirierten Blick sowohl durch die Kamera als auch im Wort. Für sie zählt, im Übereinanderlegen von Zeit- und Bildebenen, mit offenen Augen den Facettenreichtum einer künstlerischen und fotografischen Entwicklung sichtbar reflektieren und befragen zu können, im Spiel von Farbe und Licht, in der Darstellung des Flüchtigen und Konkreten.

Bereits in ihren leichten, wiewohl klug komponierten Nizza-Arrangements und nur scheinbar zufälligen Momentaufnahmen von der Côte d’Azur hat sich Pia Parolins originelle und überraschende Sichtweise auf eine visuell vermeintlich ausgereizte Gegend bewährt: schwebende Gelassenheit, ein Quäntchen Fröhlichkeit und Ironie sowie die Fähigkeit, maritimen wie mediterranen Klischees standzuhalten und ihr eine eigene, überzeugende Bildsprache entgegenzusetzen.

Das Buch eröffnet nun ein Spannungsfeld zwischen dem, was man üblicherweise von der fotografischen Abbildung erwartet und der Suche nach »hinter den Dingen«.

Corinna und Jens Rosteck

Corinna Rosteck lebt als freischaffende Künstlerin in Berlin und ist in den Bereichen Fotografie, Video und Installation tätig (www.corinna-rosteck.de). Ihr Bruder Dr. Jens Rosteck ist Schriftsteller, Kulturgeschichtler und Musikwissenschaftler (www.jensrosteck.de). Er hat lange Jahre in Nizza gelebt und wohnt jetzt im Badischen.

INHALTSVERZEICHNIS

Vorwort

Geleitwort

1 Einleitung – Ich bin dann mal Künstlerin

1.1 Warum überhaupt der Ehrgeiz?

1.2 An wen ist das Buch gerichtet?

1.3 50 :40 :10

1.4 Höherentwicklung

1.5 Die F-Liste

1.6 Der Aufbau dieses Buchs

2 Vom Amateur zum Fotografen zum Künstler

2.1 Das Ich

Einzigartigkeit als Filter

2.2 Fühlen statt sehen

Höre auf deine Intuition

Deine Bühne

Unsicherheit und Veränderung

2.3 Das Neue

Auf die Aussage kommt es an

Authentizität

Dich neu erfinden

Nachahmen und kopieren?

Vom Nutzen des Scheiterns

Wahrnehmung und Wirklichkeit

Die Sprache der Kunst

Das Schöne am Wiederholen

2.4 Vom Ich zum Neuen

Wurzeln: Basis festigen und erweitern

Stamm: Dein Ich leben

Krone: Entfaltung

3 Vom Konzept zum Bild

3.1 »Warum«: Deine Aussage definieren

3.2 »Wie«: Deine Aussage umsetzen

Grundstimmung identifizieren

Stimmung schaffen mit Farben

Licht

Bildaufbau und Komposition

Der Kreativität freien Lauf lassen

3.3 »Wo«: Sehen

3.4 »Womit«: die technische Seite

3.5 »Was«: Selektieren

3.6 »Wem«: die Präsentation

4 Praktische Anwendungen

4.1 Dein Kunst-Projekt

Eine Geschichte erzählen

Das Beispiel »Solastalgie«

4.2 Portfolio – die Qual der Wahl

4.3 Die Präsentation deiner Fotografie

4.4 Praktisches

Geschriebenes

Kamera und Technik

Mentales

Dein Image

Von Fotografie als Kunst leben

5 Kunstfotografie als Spielwiese

5.1 Streetfotografie

5.2 Aktions- und Sportfotografie

5.3 Landschaftsfotografie

5.4 Naturfotografie

5.5 Porträtfotografie

6 Was ist Kunst?

6.1 Ist das Kunst oder kann das weg?

6.2 Ein triviales Urinal löst eine Kunstdebatte aus

6.3 Kunst in der Fotografie

6.4 Funktion und Ziele der Kunst

6.5 Bedeutung für die Gesellschaft

6.6 Geht’s auch einfacher?

6.7 Was macht einen Künstler aus?

6.8 Die teuersten Fotos der Welt entschlüsselt

6.9 Fotograf*innen beim Wort genommen

6.10 Fotografie im Wandel? The Next Generation

7 Danksagung und Referenzen

7.1 Bücher

7.2 Links

Internet-Blogs und PDFs

Podcasts

YouTube

1–1 Wenn Licht, Reflexion, Bewegung und Weite aufeinandertreffen, kommen für uns Entspannung, Weitblick, Vertiefung und Erkennen hervor – wie beim Zusammenspiel von Großzügigkeit, Austausch und Teilen zwischen Menschen. Jeder geht danach reicher nach Hause.

1 EINLEITUNG – ICH BIN DANN MAL KÜNSTLERIN

Kunst ist die Grundlage menschlichen Ausdrucks. Sie ist ein wahnsinnig toller Teil unseres Lebens. Während der Coronakrise fiel das besonders auf. Plötzlich fehlte etwas Wichtiges im Leben – außer Fußball, mit Freunden in die Kneipe zu gehen oder dem Friseurbesuch: Museen, Ausstellungen, Theater, Vernissagen, Musikevents, kurz: Kunst war nicht mehr greifbar. Vieles war vorübergehend geschlossen, verboten, abgesagt. So mancher wird erst zu dem Zeitpunkt, als dies alles nicht mehr selbstverständlich zur Verfügung stand, den wahren Wert der Kunst bemerkt haben.

Bevor ein Kind spricht, singt es.

Bevor es schreibt, malt es.

Sobald es steht, tanzt es.

Phylicia Rashad (amerikanische Schauspielerin,

Sängerin und Regisseurin)

Kunst ist bereichernd, sie kann schön sein, zum Denken anregen, Lust und Freude erzeugen, Kreativität und Glücksempfinden stärken. In jeder Kultur, in jeder Lebensphase, vom Kleinkind bis zum Greis, spielt Kunst eine Rolle. Allzu oft verlernen wir es, das künstlerische, kreative Wesen, das uns innewohnt, zu kultivieren. In manchen Berufen wird es uns förmlich aberzogen, künstlerisch frei zu sein. Als Rechtsanwalt, Elektriker, Forscher oder Buchhalter sollen wir möglichst seriös und sachlich, nicht emotional und schon gar nicht sentimental an Dinge herangehen. Kreativ und erfinderisch sind wir aber durchweg, um auch in diesen Berufen erfolgreich zu sein. Es ist also nicht ganz verloren, das Fünkchen emotionales Ich, das jeden von uns zu einem einmaligen Wesen voller Ideen macht. Und damit ist der Weg nicht mehr weit, um bewusst mehr Kunst zu leben.

Die Stärke von Kunst wurde mir auf wundervolle Weise in der gigantischen U-Boot-Bunkeranlage in Bordeaux klar. Dieser monumentale Bau aus der Nazizeit widerstand jahrzehntelang allen Versuchen, ihn mit Sprengstoff oder neuester Technik zu zerstören. Bis die Kunst ihn besiegte: 2020 eröffneten die Bassins de Lumières, eine Lichtbildschau mit den goldumwobenen Gemälden Gustav Klimts. So reißt im heute weltweit größten digitalen Kunstzentrum der Welt die Kunst die Gefühle mit sich. Bomben und Krieg werden von der Kunst in die Schranken gewiesen und durch sie neu definiert. Wo eine Abrissbirne nicht mal Kratzer hinterlässt, vermag die Kunst alle Sinne zu erwecken und die Gedanken wegzusteuern vom Größenwahn der Nazis. Nur die Kunst hat es nach so vielen Jahrzehnten geschafft, das vermeintlich »Unkaputtbare« zu zerstören und mit etwas Neuem, Positivem zu verbinden, das auch allgemein verständlich ist. Das zeigt, wie selbst die fixiertesten Bedeutungen durch Kunst verändert und neu freigespielt werden können.

In der Kunst geht es um mehr als nur um die Umsetzung kreativer Ideen. Kunst dreht sich um Auseinandersetzung, Tiefe. Es geht darum, aktiv zu sein und die Welt zum Nachdenken anzuregen, Menschen zu berühren und dadurch aus ihrem Inneren heraus den Dialog auf einer neuen Ebene zu suchen. Kunst regt an und dient als Alternative oder Ergänzung zu Extinction Rebellion, Fridays for Future, #metoo, Gay Pride, Black Lives Matter und wie sie alle heißen – die Bewegungen, die versuchen, das menschliche Denken und Handeln in neue Richtungen zu lenken.

1–2 Selbst sachliche Botaniker können davon profitieren, in ihren Fotos Emotionen und Schönheit anzusprechen, anstatt reine Fakten zu vermitteln. Die künstlerische Art, eine Blüte darzustellen, vermittelt kein Wissen, sie appelliert an Leidenschaft und Freude. Hier habe ich mit Weißabgleich und Überbelichtung gespielt.

Die Kraft der Kunst kannst du in deine Fotografie einbauen. Darum geht es in diesem Buch. Der Schwerpunkt liegt dabei nicht auf dem Handwerklichen, sondern vielmehr auf deiner Persönlichkeitsentwicklung. Wenn du deine Fotografie weiter entfalten möchtest, wirst du dich auch als Mensch verändern. Streng genommen ist die Reihenfolge sogar umgekehrt: Du entwickelst dich als Individuum, und die Fotografie folgt dieser Entwicklung. Du wirst deine Wahrnehmung schärfen: zuerst die Wahrnehmung deiner selbst und dann die Wahrnehmung all dessen, was dich umgibt. Du wirst genauso impulsiv und spaßgetrieben, aber mit mehr Hintergrundwissen an die Fotografie herangehen. Mit mehr Überlegung darüber, was du spürst und zeigen willst, was du reizvoll oder kritisch findest, begegnest du übergeordneten Themen, die nicht nur deine Fotografie, sondern dein Leben betreffen.

Du verbindest deinen intellektuellen Anspruch mit deinen Fotos, willst vielleicht einen kritischen Ansatz und ernst zu nehmende Aussagen vermitteln. Oder du willst einfach ausdrucksstarke Bilder machen, die von deinem Innersten herrühren. In dem Moment, in dem diese Verbindung entsteht, bist du in der Kunst angelangt. So grenzt du dich von einem Hersteller von Deko-Gegenständen, von einem Kunsthandwerker und von all jenen ab, die mit ihren Fotos nur ein »Hier bin ich gewesen« dokumentieren.

1–3 Meine Interpretation von »Ist das Kunst oder kann das weg?«: ein Mülleimer vor dem Meer an der Côte d’Azur, das nach einem Sturm in denselben Farben leuchtet. Aber nicht das Meer hat sich angepasst, sondern die Stadt hat sich aus verständlichem Grund überlegt, diese Farbe für Plastiktüten auszuwählen.

Kunst wird seit jeher kontrovers diskutiert, ist in aller Munde. Das Schwierigste: Jeder ist irgendwann irgendwie scheinbar ein Kunstexperte. Es ist eine sehr eitle Szene, die schnell an Begriffe wie Talent und Mäzenatentum gebunden wird.

1–4 Ist so ein Foto Kunst, Verzierung, Dekoration oder Kitsch?

Warum sollte jemand Künstler oder Künstlerin sein wollen? Ich habe mich auf die Suche nach Antworten und einem Weg ins Reich der Künste begeben. Es ist mir klar, dass es, wie so oft, keine allgemeingültigen Rezepte gibt und dass jeder für sich selbst seine Richtung finden muss. Auch bin ich noch nicht am Ziel, und ich werde vielleicht niemals ankommen. Aber ich habe präzise recherchiert, und meine Gedanken, persönlichen Erfahrungen, Möglichkeiten und Erkenntnisse möchte ich teilen.

1.1 WARUM ÜBERHAUPT DER EHRGEIZ?

Fotografie ist im Wesentlichen eine persönliche Angelegenheit: die Suche nach einer inneren Wahrheit.

Inge Morath (österreichisch-amerikanische Fotografin)

Viele spricht es überhaupt nicht an, als Künstler wahrgenommen zu werden. Mich befallen jedoch oft eine gewisse Ehrfurcht und Bewunderung bei der Begegnung mit echten Künstlern – Menschen, die ihr Leben mit Kunst bestreiten.

Ich habe viele getroffen und mit ihnen geredet – mit aufsteigenden Self-made-Leuten bis hin zu Ikonen wie dem Schriftsteller Michael Ende, dem französischen Schreibkünstler Ben oder den Fotografen Martin Parr und Siegfried Hansen. Ich habe nicht nur groupie-mäßige Fotos mit ihnen gemacht, sondern intensive Dialoge geführt, ihnen zugehört und ihre Arbeit hinterfragt. Das macht mich noch lange nicht zur Kunstexpertin, aber es rechtfertigt vielleicht, dass ich ein Buch lang meine Gedanken notiere.

Was bringt es, dich zu einer Künstlerin entwickeln zu wollen? Vielleicht ist es vor allem die Lust auf Entwicklung, mehr aus der eigenen Fotografie zu machen. Statt banal herumzuknipsen, möchtest du deine Fähigkeiten umsetzen und mit deinen Fotos berühren, bewegen, tiefgreifende Fragen aufwerfen, zum Nachdenken anregen.

1–5 Ich trage in Wirklichkeit nicht immer denselben Pulli. Aber ich treffe gerne Künstler. Ben, links, ist der lokale Inbegriff für Kunst in Nizza und ein sehr lustiger Mensch, der für Austausch immer offen ist. Magnum-Fotograf Martin Parr hat bei einem Festival in Triest mal eben unsere Brillen ausgetauscht, sodass ich die Welt ein paar Minuten lang durch seine »Augen« sehen konnte. Um das Triplett zu vervollständigen, habe ich denselben Pulli absichtlich noch mal getragen, um das Foto mit Deutschlands bekanntestem Streetfotografen Siegfried Hansen zu machen.

1–6 Meine Interpretation von Vielschichtigkeit, hier an der Strandpromenade von Nizza.

Ein zweiter Grund ist, dass du die Welt verbessern kannst. Kunst kann Berge versetzen, und wenn alte Wege nicht mehr erfolgreich sind, wirst du nach neuen Richtungen suchen.

Außerdem macht es schlichtweg Spaß, sich Gedanken über Kunst zu machen, Gegensätze und Widersprüche zu klären. Und so möchte ich meine Beobachtungen und einzelnen Schritte festhalten und in einen Zusammenhang bringen. Den Weg der schleichenden Erkenntnis teile ich in Form dieses Buchs.

1–7 Bringt Kunst den Lichtblick am Ende des (Blätter-)Tunnels?

AUFGABE

Was bringt dich dazu, dich als Künstler definieren zu wollen?

Warum setzt du dich mit Kunst auseinander?

1.2 AN WEN IST DAS BUCH GERICHTET?

Wenn du an deiner Kunst arbeiten willst, so arbeitest du an deiner Persönlichkeit.

Anton Tschechov (russischer Schriftsteller)

Dieses Buch richtet sich an alle, die mehr aus ihrer Fotografie machen wollen. An Menschen, die überraschen und berühren möchten. An Kreative, die gerne fotografieren und danach streben, sich weiterzuentwickeln: weg vom Knipsen, hin zur künstlerischen Gestaltung deiner Fotografie. Auch wende ich mich an jene, die lernen möchten, durch ihre Fotos in die Gesellschaft hineinzuwirken.

Ich gebe praktische Anleitungen, um deine fotografische Persönlichkeit zu erkennen und weiterzuentwickeln. Du lernst, dir Gedanken über den theoretischen Teil rund um deine Fotografie zu machen, Konzepte zu entwickeln und sie in konkrete Bilder und Präsentationen umzusetzen. Du wirst dich damit auseinandersetzen, was Kunst überhaupt ist und wie du mehr Kunst in deine Bilder einfließen lassen kannst. Du lernst einfach, bessere Fotos zu machen.

1–8 In meiner Laufbahn als Biologin wäre es mir nicht eingefallen, eine Blüte auf diese Weise zu fotografieren. Kaum etwas ist scharf und es ist schwer festzustellen, welcher Art, Gattung oder Familie sie zuzuordnen ist. Mein auf Klarheit und Eindeutigkeit trainiertes Wissenschaftlergehirn erkennt hier kaum Informationen. Aus künstlerischer Sicht hingegen ruft das Bild Emotionen hervor. Ich spüre die Blume, die Zartheit, die Wärme, die sie zur Entfaltung braucht, die Sensibilität und Liebe, mit der sie aufgenommen wurde – eine neue Art, die Schönheit der Natur darzustellen. Das Wunder des Lebens spricht durch dieses Foto auch das rationale Wissenschaftlerherz an.

Ob du also schlicht mehr Sensibilität und Tiefgang in deine Fotografie bringen möchtest oder das Gefühl hast, dich im Kreis zu drehen und nicht wirklich weiter zu kommen, oder ob du wichtige Botschaften anders als mit Worten verbreiten willst: Ich versuche, ein bisschen Licht und einen klaren Weg in das Mysterium Kunst in der Fotografie zu bringen.

Dabei sind dein Hintergrund und Werdegang, dein Alter und deine Kenntnisse, dein Beruf und deine Fähigkeiten, mit der Kamera umzugehen, erst mal nebensächlich.

Das Besondere in deiner Fotografie entsteht durch die intensive Beschäftigung mit dem, was Kunst ausmacht. Mit etwas Anstrengung und Willen kann sich jeder zum künstlerischen Fotografen entwickeln. Oder zur fotografierenden Künstlerin.

Ich benutze die Begriffe »Künstler«, »künstlerischer Fotograf« und »Kunstfotograf« als Synonyme, auch wenn mir bewusst ist, dass es da feine Unterschiede gibt.1 Das ändert aber nichts daran, dass der Weg in die Kunst lang ist und nicht immer einfach oder geradlinig verläuft. Je besser du verstehst, was Kunst ist, desto gezielter kannst du deine Herangehensweise verändern, um eine neue, künstlerische Art der Fotografie zu erlernen und auszuführen. Lerne nicht nur zu fragen, wo und wie du deine Fotos machst, sondern: warum.

Die Aufgabe von Kunst ist es, Menschen etwas spüren zu lassen. Du lernst, Gefühle subtil durch deine Bilder zu zeigen und vor allem im Betrachter entstehen zu lassen. Du wirst besser verstehen, was Kunst in der Fotografie bedeutet, und erfährst, wie du dich selbst in kleinen Schritten zu einem sensibleren Umgang mit Bildern anleitest. Du dringst tiefer ein und schaffst etwas Neues in deiner Fotografie – etwas, das dein Gegenüber berührt.

1.3 50 : 40 : 10

Erfolg stellt sich ein durch die Kombination von Ausdauer, Glück und hart erarbeiteten Fähigkeiten.

Seth Godin (amerikanischer Autor und Denker)

Der deutsche Bildhauer Olaf Metzel sagt in einem Interview mit dem Magazin brand eins2, um den Status des Künstlers zu erlangen, brauche der Mensch zu 50 % Willen und Durchsetzungsvermögen. 40 % seien Fleiß und Arbeit, denn die guten Sachen macht man nicht mal so eben aus dem Handgelenk. Und 10 % seien schlussendlich Glück. Zur rechten Zeit mit der richtigen Arbeit am richtigen Ort zu sein, sei nicht oder kaum planbar. Geniekult sei Quatsch. Durchhalten, Einsatz, an sich glauben, Begeisterung und die damit einhergehende Perfektion seien wichtiger als eine romantische Vorstellung von Begabung.

Das bedeutet also: Künstlerin sein besteht aus 50 : 40 :10. Und dieses Buch handelt von den 50 % Wille, Durchhalten, Durchsetzen und davon, an sich zu glauben.

Das Thema Fleiß – mit 40 % immerhin wichtig – habe ich in meinem vorherigen Buch über den Flow3 und dessen Nutzung für bessere und produktivere, kreativere Fotografie angegangen.

Und Glück, Talent – nun denn, es ist kein Geheimnis, dass es besser ist, rauszugehen und dem Glück auf die Sprünge zu helfen, anstatt still in deinem Kämmerlein auf dein Glück zu warten.

Ich konzentriere mich also streckenweise darauf, dich zu der Erkenntnis zu führen, wie du mit deiner Persönlichkeit und einem Konzept etwas Künstlerisches gestalten kannst. Ich zeige dir auch, wie du den Spaß nicht verlierst, um deinen eigenen Weg zu finden und durchzuhalten.

Kreativität ist kein Talent, sondern eine Arbeitsethik.

David duChemin

(kanadischer Fotograf und Buchautor)

1–9 In diesem Foto herrscht auch ein Verhältnis von fast 50 : 40 :10: Die Hälfte ist blauer Himmel und türkises Meer, ein weiterer großer Teil ist Kiesstrand. Dazwischen liegt ein Streifen weiße Gischt aus unvorhersehbaren Wellen, beweglich, ungreifbar, so wie das Glück – und doch sind die Wellen da, zuverlässig immer wiederkehrend, eben wie das Glück.

AUFGABE

Fokussiere dich bei den 50 : 40 :10 auf deinen Willen, dein Durchhaltevermögen. Gehören sie zu den Eigenschaften, die du ohnehin täglich in deinem Beruf beherzigst? Oder musst du dir eher einen Ruck geben, bevor du deine Ideen und Wünsche gegen den inneren Schweinehund durchsetzt? Wenn du dir selbst diese Frage ehrlich beantwortest, bist du schon einen Schritt weiter.

1.4 HÖHERENTWICKLUNG

Nicht alles Knipsen ist Fotografie, nicht alle Fotografie ist Kunst. Der Weg zu kunstvolleren Fotos ist ein langsamer Prozess, der mit innerer Reifung zu tun hat, aber auch mit hinterfragen, auseinandersetzen, in die Tiefe gehen.

Die Reihenfolge ist: erst verstehen, dann verbessern und wachsen. Vom anfänglichen Knipsen führt die Entwicklung über das Fotografieren dazu, wirkliche Kunst zu machen. Ich kategorisiere das der Einfachheit halber.

Natürlich sind die Abgrenzungen beliebig. In Wirklichkeit gibt es keine klaren Grenzen zwischen Knipsen, Fotografieren und Kunst. Aber das Schubladendenken hilft. Einzige Voraussetzung: Zum Vereinfachen müssen wir viel wissen. Sonst tappen wir in die Falle, von falschen Annahmen auszugehen. Das endet nicht mit einer Höherentwicklung, sondern im Frust.

Beginne nicht mit der Idee, die Fotografie und Kunst revolutionieren zu wollen. Versuche vielmehr, sie zu verstehen und dich dann zu verbessern. Lass dir dabei Zeit zu reifen, wie eine Frucht in der Sonne. Egal von welcher Startposition aus du dich auf die Reise begibst – ob Amateur, Fortgeschrittener oder Profi –, du kannst überall in die Aufwärtsspirale einsteigen und dich weiter hochschrauben.

Jeder Anfänger beginnt erst mal recht beliebig und ohne große Vorkenntnisse, hier und da auszulösen. Dann kommt die Phase, in der du Technik und Bildaufbau beherrschst – du kannst fotografieren. Aber es fehlt noch dieser letzte Schritt, so richtig Emotionen und tiefe Aussagen durch deine Fotos zu vermitteln. Von dieser Reise handelt mein Buch.

Der berühmte französische Fotograf Henri Cartier-Bresson (1908–2004) glaubte an den Zufall. Er wusste aber auch genau Bescheid, wie er dem Zufall auf die Sprünge helfen konnte. Das versuche ich hier zu verstehen, in Einzelschritte herunterzubrechen und dir auf klare Weise als Anleitung an die fotografierende Hand zu geben. Ich habe dafür ein Gedankenkonstrukt entwickelt (siehe Schema 1), das in der Entwicklung hilft.

1–10Schema 1 Entwicklung vom zufälligen willkürlichen Knipsen über die Fotografie – mit Beherrschung der Technik, der Ziele, der Ergebnisse und entsprechender Freude – hin zur Kunst. Mit der Kunst weckst du Emotionen und schaffst Neues, indem du dein Ich, deine Erfahrungen, Gefühle, Ängste und Freuden, deine Mitteilungen und Kritikpunkte einfließen lässt. Der hier dargestellte Ablauf ist nicht als erschöpfend zu betrachten. Der Weg ist nicht immer so kategorisch und linear, wie ich ihn im Schema darstelle. Die Übergänge vom amateurhaften Knipsen über die funktionierende, aber eher emotionslose Fotografie hin zur Kunst sind fließend. Es gibt keine klare Grenzlinie, so wie es keine zeitliche Abfolge gibt, der du folgen kannst oder musst: Viele Entwicklungen laufen parallel. Du kannst die zwei aufeinander aufbauenden Ziele verfolgen. Sie können, müssen aber nicht zeitlich getrennt sein. Eine ausführliche Beschreibung steht im Text.

Schema 1 zeigt ein vereinfachtes Denkgerüst, das es leichter machen soll, zuerst deine eigene Fotografie zu verbessern und auf ein höheres Niveau zu bringen und dann den Anspruch zu verfolgen, als Künstler wahr- und ernst genommen zu werden.

Beim anfänglichen Knipsen werden Zufall und Willkür dir vielleicht manches schöne Bild bescheren. Je nachdem, wie lange du schon fotografierst, wirst du erst einmal damit anfangen, vom Knipsen zum Fotografieren überzugehen (A im Schema). Knipsen ist das beliebige Runterrattern nach dem »Spray and pray«-Prinzip, also nicht sonderlich überlegt oder gezielt, keinem Thema oder keiner Stimmung folgend. Du drückst unaufhörlich auf den Auslöser, »sprühst« (»spray«) riesige Datenmengen auf deine Speicherkarte und innerlich betest du (»pray«), dass etwas Brauchbares dabei sein möge. Du steigerst die Anforderungen an dich selbst, baust deine Fähigkeiten durch Übung aus und so steigt die Qualität deiner Bilder. Du näherst dich dem tiefgründigen, sensiblen Umgang mit Fotos. Die Höherentwicklung spielt besonders in der Anfangsphase eine wesentliche Rolle, beim Übergang vom amateurhaften zum überlegten Fotografieren: Du konzipierst bewusst deinen Bildaufbau, Belichtung, Perspektive und vieles mehr. Das Ganze läuft dann selbstverständlich und unterbewusst in die Kunst weiter.

Ab einem bestimmten Zeitpunkt in deiner Entwicklung ist es aber nicht mehr damit getan, dass du Anforderungen, Fähigkeiten und Qualität steigerst. Du bist technisch so weit ausgereift, dass du keine groben Fehler mehr machst. Das Niveau der Fotografie ist gut, aber deine Bilder bleiben beschreibend. Sie gleichen eher einer Reportage. Das ist ein gutes Niveau, aber da geht noch mehr (B im Schema).

Im Surrealen entdeckt sich eine Welt des Geheimen und Rätselhaften, in die wir uns als denkende Wesen hineingestellt erfahren, in Kunst und Philosophie gleichermaßen.

Wolfram Hogrebe (deutscher Philosoph)

Für den Übergang zur Kunst musst du tiefer schürfen. Hier kommt der intellektuelle Anspruch mit ins Spiel, an dich und an deine Fotografie. Du suchst den Ausdruck von Emotionen und Reflexion. Du setzt dich intensiv damit auseinander, was du willst, was du auszudrücken versuchst und wie du deine Gefühle mit einbringst. Es ist deine eigene emotionale Auseinandersetzung mit dem, was dich umgibt. Bleibt sie rational, ist es eher eine Reportage, in der du in journalistischer Form Dinge wiedergibst. Aber deine Leidenschaft spielt hier mit hinein. Du lässt möglichst viel von dir selbst, von deinem Ich, von deiner Seele mit einfließen. Du gehst also in die Tiefe deines Ichs und hörst in dich hinein. Dann wird die natürlich vorhandene Kreativität dir helfen, etwas Neues, Starkes zu erschaffen.

1–11 Wie das in Schema 1 beschriebene Gedankenkonstrukt ist dieses Foto ein Erzeugnis mit Elementen, deren Zusammenhang so in der Wirklichkeit nicht wahrgenommen wird. Durch den selektiven Aufbau, die tiefe Perspektive, das Einschließen eines Teiles des eckigen Geländers und die surreale Präsenz von Statuen und einem Menschen wird das Ganze zu einem neuen Gesamtbild, das nicht unbedingt in der Realität so erscheint und dennoch nicht künstlich durch Bildbearbeitung zusammengefügt wurde. Die Perspektive erreichte ich, indem ich mich flach auf die Treppen legte, die zur Place Massena in Nizza hochführen. Das mag so manchen Passanten verwundert haben. Die Verwunderung spricht nachher auch aus dem Bild.

AUFGABE

Ordne dich selbst in Schema 1 ein. Wo befindest du dich in der Entwicklung, wo möchtest du hin? Überlege dir, welche praktischen Schritte du unternehmen kannst oder musst, damit du dich hochschraubst in der Spirale der Schönheit und Tiefgründigkeit deiner Bilder. Sei vor allem ehrlich zu dir selbst und halte die Kluft zwischen Wunschdenken und Realität möglichst schmal. Nur so kann das Schema dir eine Brücke bauen.

1.5 DIE F-LISTE

Man muss etwas dafür tun, dass die Muse einen ereilt, man muss ein Möglichkeitsfeld schaffen, die stillen Nachmittagsstunden abwarten, in denen sie überraschend vorbeikommen kann.

Axel Heil (deutscher Kunstprofessor)

Um mehr in die Tiefe zu gehen und etwas Neues zu schaffen, entwickelst du dein Gespür, hörst mehr in dich hinein und vergegenwärtigst dir deine eigene Lebensgeschichte und Erfahrungen. Die Basis für eine künstlerische und kunstvolle Umsetzung deiner Fotografie trägst du nämlich in dir. Wenn du ein bisschen nachforschst, kommen die Themen fast von selbst zu dir.

In der Praxis kannst du das konkret so machen: Spüre instinktiv ein Thema in dir, verdeutliche es und lasse es wachsen. Dann grenzt du das Thema ein. Es reift in dir zu einem konkreten Projekt heran. Du recherchierst nach Stichworten, Aufsätzen, Diskussionen, anderen Sichtweisen. Du erkundest, was schon gemacht wurde, denn du willst nicht das Rad neu erfinden oder »aus Versehen« etwas machen, was es vielleicht schon in ähnlicher Form gibt.

Wenn du ausreichend Material gesehen und gelesen hast, bekommst du das Gefühl, du hast den Überblick. Du beginnst, eine klare eigene Meinung und Abgrenzung deines Themas zu haben. Du hast erst mal genug von anderen gelernt, was sie bezüglich des Themas erarbeitet haben. Dir beginnt vielleicht sogar der Kopf »überzulaufen«. Gib dir die Zeit, das Aufgenommene innerlich zu verarbeiten, weiterzudenken und mit deinen eigenen Gedanken, Ideen und Erfahrungen zu vernetzen. Ideen ergänzen sich, neue Wege eröffnen sich. In dieser Phase nimmst du möglichst wenig Neues auf, da du dich sonst verzettelst. Du möchtest deine eigene Richtung für dein Projekt finden. Also beginne sie zu gehen. Und dann: Bleib dran!

Der Ablauf folgt einer F-Liste:

Festlegung:

Thema festlegen und passende konkrete Stichwörter dazu finden.

Fütterung:

Du fütterst dein Gehirn, deine Kreativität. Du suchst ausführlich nach allem, was du zu den Stichwörtern finden kannst, und zwar themenübergreifend und interdisziplinär. Nicht nur die Fotografie, sondern auch Psychologie, Soziologie, Geschichte, Kunstgeschichte, Philosophie – alles ist willkommen, weil es in dir neue Gedankengänge reifen lässt und es dir ermöglicht, neue Brücken zu schlagen.

Fermentation:

Ende der Suche und Umwandlung des Aufgenommenen – wie bei einer Fermentation lässt du alles in Ruhe geschehen. Du verdaust das Erarbeitete, lässt die äußeren Einflüsse wirken. Du nimmst dir Zeit, alles zu verstehen. Es kann sich setzen, und du verarbeitest es. Indem du dir Zeit gibst, werden neue Verknüpfungen gebildet, gewollte und unerwartete.

Freilassung:

Du suchst Auszeiten, in denen du deinen Gedanken freien Lauf lässt und dich die Muse küssen kann. Dabei kommen oft die neuen Ideen zum Vorschein, und das, was du bereits eingespeist hast, reift zu etwas Neuem heran. Du bleibst auch offen dafür, dass sich dein Thema so lange wie möglich entwickeln kann, und zwar in Richtungen, die du in der Konzeption noch nicht gesehen hast oder ahnen konntest.

Fotografieren:

Mit dem Neuen im Kopf gehst du an dein fotografisches Thema heran und lässt dich treiben. Lass es laufen, gerate in einen Flow und trage alles intuitiv in deinem Foto oder Projekt zusammen. Das Erarbeitete und deine Persönlichkeit fügen sich zu einer Einheit.

Fortsetzung:

Bleibe an deiner Idee dran, setze sie fort, auch wenn du glaubst, dir fällt nichts mehr dazu ein. Gib nicht auf, denn manche Dinge reifen langsam heran: Erst mit der Zeit erhalten sie die Tiefe, die sie wirklich interessant macht.

Diese Liste ist eine einfache kurze Anleitung, um deine Fotografie zu entwickeln. Damit kannst du sofort loslegen. Sinnvoller ist aber, du verstehst die Details besser und entwickelst ein Konzept. Das erkläre ich im Laufe des Buchs.

1–12 Um das richtige Gleichgewicht aus Input von außen und eigenen Gefühlen und Gedanken zu finden, folge ich den einzelnen Punkten in meinem Workflow. Sie bewirken, dass ich irgendwann klar und deutlich die Abgrenzungen sehe und eine konkrete Idee von dem bekomme, was ich fotografieren möchte. So wie diese Gruppe Mädchen, die ein Video für TikTok aufnahmen und zunächst lockere Abfolgen ihres Tanzes improvisierten, die sie dann immer besser zu einer neuen, netten Choreografie zusammenstellten. Ich hielt mich zuerst unauffällig in der Nähe auf, machte dann ein paar Bilder, kam noch näher; sie schienen sich nicht an mir zu stören. Am Ende zeigte ich ihnen, dass ich nur unerkennbare Silhouetten fotografiert habe, und sie fanden es großartig.

AUFGABE