Next Level Streetfotografie - Pia Parolin - E-Book

Next Level Streetfotografie E-Book

Pia Parolin

0,0

Beschreibung

Eine Masterclass für die gehobene Streetfotografie

  • Lernen Sie, wie Sie die Streetfotografie mit Anspruch und Aussage ausüben
  • Erreichen Sie ein höheres Niveau und entwickeln Sie sich fotografisch weiter
  • Profitieren Sie von der Expertise zweier Protagonisten der deutschen Streetfotoszene

Die Streetfotografie ist längst kein schlichtes Knipsen mehr – sie ist eine ernst zu nehmende Kunst, findet sich in Museen und Galerien und ist Bestandteil der modernen Kulturgeschichte. Zahlreiche Fotoamateure haben sich im Laufe der letzten Jahre zu guten Streetfotograf*innen entwickelt. Sie beherrschen das erforderliche gestalterische und aufnahmetechnische Repertoire und bringen ausdrucksstarke und effektvolle Fotografien hervor.
Was jedoch fehlt, ist die Einbindung der fotografischen Sujets in größere Zusammenhänge. Daher will dieses Buch vermitteln, wie anspruchsvolle Bilder und Bildserien konzipiert und umgesetzt und in künstlerische und gesellschaftliche Kontexte gestellt werden. Pia Parolin und Christoph U Waltz wollen Sie für die folgenden Fragen sensibilisieren und Ihnen entsprechende Antworten geben.
- Welche dokumentarischen oder gesellschaftlichen Aufgaben kann die Streetfotografie erfüllen?
- Wie sieht ein anspruchsvolles Streetfotografie-Projekt aus?
- Welche Themen dokumentiere ich, auf welche Weise und warum?
- Welche Trends kann ich aufspüren, wie entwickle ich Visionen und denke sie weiter?
- Was ist ein gutes Bild in der Streetfotografie?
- Wie lerne ich, solche Bilder selbst zu machen, und zwar gezielt und wiederholt?
Darüber hinaus reflektieren die Autor*innen über Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft des Fotogenres Street, geben gestalterische und technische Tipps, wie Streetfotografie auf hohem Niveau funktionieren kann und legen so ein Fundament für eine anspruchsvollere Streetfotografie.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 289

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Bildschirm-Screenshot von Martin und Pia in einem ihrer wöchentlichen Online-Meetings zur Ausarbeitung des gemeinsamen Buches (PP)

Martin ist einer der bekanntesten deutschen Streetfotografen. Pia – damals noch in den Kinderschuhen der Streetfotografie – lud Martin auf gut Glück nach Südfrankreich ein. Martin sagte sofort zu und leitete in Nizza einen Workshop, bei dem er Pia mit der Kamera mehrfach direkt vor Menschen schob und sagte: »Das bedeutet ›nah‹ wirklich.«

Es begann eine schöne Freundschaft, die in ständigem Austausch über Gedankliches und Intellektuelles rund um die Fotografie stand. Das ging so weit, dass Martin eines Morgens eröffnete, Pia überfordere ihn mit ihren Gedanken noch vor dem ersten Kaffee. Die Freundschaft blieb, und die Idee für ein gemeinsames Buchprojekt reifte.

Martin organisierte in der Zwischenzeit zweimal das German Street Photography Festival in Hamburg und ist Co-Autor mehrerer Bücher zum Thema Streetfotografie. Er ist zudem einer der Herausgeber der Deutschen Streetfotografie Seite.

Pia schrieb drei Bücher zu fotografischen Soft Skills im dpunkt.verlag, wurde in die Deutsche Gesellschaft für Photographie (DGPh) berufen und blieb hartnäckig mit ihrer Kamera in der Hand am Ball bzw. am Menschen. Ebenso wie Martin teilt sie ihr Wissen und ihre Gedanken regelmäßig in Artikeln, Blogs, Podcasts, Workshops und Vorträgen. Beide sind Juroren auf diversen Fotowettbewerben und stellen ihre Bilder weltweit aus.

Die zwei doch recht unterschiedlichen Persönlichkeiten ergänzen sich gut. Nach viel Nachdenken, Austauschen und Diskutieren nahmen sie das Buchprojekt Next Level Streetfotografie für Fortgeschrittene in Angriff, mit der Idee, einen Zugang jenseits der Anfängerthemen zu entwickeln.

Übrigens haben Pia und Martin auch beide etwas »Anständiges« studiert und einen großen Teil ihres Lebens mit nicht fotografischen Themen verbracht. Beide stehen für das Konzept lebenslangen Lernens und Sich-Weiterentwickelns.

Copyright und Urheberrechte:

Die durch die dpunkt.verlag GmbH vertriebenen digitalen Inhalte sind urheberrechtlich geschützt. Der Nutzer verpflichtet sich, die Urheberrechte anzuerkennen und einzuhalten. Es werden keine Urheber-, Nutzungs- und sonstigen Schutzrechte an den Inhalten auf den Nutzer übertragen. Der Nutzer ist nur berechtigt, den abgerufenen Inhalt zu eigenen Zwecken zu nutzen. Er ist nicht berechtigt, den Inhalt im Internet, in Intranets, in Extranets oder sonst wie Dritten zur Verwertung zur Verfügung zu stellen. Eine öffentliche Wiedergabe oder sonstige Weiterveröffentlichung und eine gewerbliche Vervielfältigung der Inhalte wird ausdrücklich ausgeschlossen. Der Nutzer darf Urheberrechtsvermerke, Markenzeichen und andere Rechtsvorbehalte im abgerufenen Inhalt nicht entfernen.

Pia Parolin und Martin U Waltz

Next Level

Streetfotografie

Starke Bilder gestaltenund klare Aussagen treffen

Pia Parolin · Martin U Waltz

www.piaparolin.com

www.streetberlin.net

Lektorat: Rudolf Krahm

Lektoratsassistenz: Anja Weimer

Copy-Editing: Friederike Daenecke, Zülpich

Satz: Petra Strauch, just in print

Herstellung: Stefanie Weidner, Frank Heidt

Umschlaggestaltung: Helmut Kraus, www.exclam.de, unter Verwendung eines Fotos von Martin U Waltz

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

ISBN:

Print

978-3-86490-953-5

PDF

978-3-96910-943-4

epub

978-3-96910-944-1

mobi

978-3-96910-945-8

1. Auflage 2023

Copyright © 2023 dpunkt.verlag GmbH

Wieblinger Weg 17

69123 Heidelberg

Bildnachweis:

Die Urhebernachweise für die Fotografien sind in den Bildunterschriften oder am Bildrand vermerkt. Die mit PP gekennzeichneten wurden von Pia Parolin, die mit MUW gekennzeichneten wurden von Martin U Waltz aufgenommen.

Hinweis:

Der Umwelt zuliebe verzichten wir auf die Einschweißfolie.

Schreiben Sie uns:

Falls Sie Anregungen, Wünsche und Kommentare haben, lassen Sie es uns wissen: [email protected]

Die vorliegende Publikation ist urheberrechtlich geschützt. Alle Rechte vorbehalten. Die Verwendung der Texte und Abbildungen, auch auszugsweise, ist ohne die schriftliche Zustimmung des Verlags urheberrechtswidrig und daher strafbar. Dies gilt insbesondere für die Vervielfältigung, Übersetzung oder die Verwendung in elektronischen Systemen.

Es wird darauf hingewiesen, dass die im Buch verwendeten Soft- und Hardware-Bezeichnungen sowie Markennamen und Produktbezeichnungen der jeweiligen Firmen im Allgemeinen warenzeichen-, marken- oder patentrechtlichem Schutz unterliegen.

Alle Angaben und Programme in diesem Buch wurden mit größter Sorgfalt kontrolliert. Weder Autorin und Autor noch Verlag können jedoch für Schäden haftbar gemacht werden, die in Zusammenhang mit der Verwendung dieses Buches stehen.

5 4 3 2 1 0

INHALTSVERZEICHNIS

Einleitung

1Streetfotografie heute

1.1Historische Entwicklung

Die Anfänge

Die moderne Streetfotografie entsteht

Nach dem Zweiten Weltkrieg

Das neue Jahrtausend: Die Stunde der Amateure

1.2Die internationale Streetfotografie-Welt

1.3Frauen in der Streetfotografie

1.4Streetfotografie in Deutschland

1.5Definition

1.6Formen

Dokumentarisch

Ästhetisch und dekorativ

Grafisch

Abstrakt

Farblich plakativ

Humorvoll

Surreal

1.7Recht

1.8Zehn Fragen

Zehn Fragen von Martin an Pia

Zehn Fragen von Pia an Martin

2Die eigene Sichtweise und Bilder reflektieren

2.1Die eigene Rolle reflektieren

Vier Fragen zum Entwickeln eines eigenen Stils

Die männliche Sichtweise und ein paar Gedanken zum Thema »Sehen« an sich

Der weibliche Blick – sehen Frauen anders als Männer?

Weitere Sichtweisen

Wer bin ich? Und wie sehe ich?

2.2Ethik und Streetfotografie

Geht Kunst vor Ethik?

Interesse am Menschen

Wahrheit

Authentizität

3Eigene Ziele und Inhalte deiner Fotografie definieren

3.1Was möchtest du mit deiner Fotografie zeigen und erreichen – was ist dir wichtig?

3.2Prozessziele und Ergebnisziele

Mit deinen Arbeiten Preise gewinnen

Deine Bilder ausstellen

Der Vorteil von Prozesszielen

3.3Inhalte und Aussagen

Deine Herzensthemen

Die Kraft des positiven Bildes

Wie wichtig ist das Wort?

Wie viele Bilder brauchst du?

3.4Alleine oder in der Gruppe?

Alleine fotografieren

In der Gruppe fotografieren

Fazit: Von beidem etwas

4Fortgeschrittene Streetfotografie

4.1Das gute Bild

Definitionen

Bilder fühlen

Bildsprache lernen

Interaktionen

Das paradoxe Konzept des Persönlichen und des Universellen

4.2Kamera und Aussage

Welcher Kameratyp für welche Art der Fotografie?

Nachbearbeitung und Aussage

4.3Der »entscheidende Augenblick« von Cartier-Bresson als Handlungsanleitung

Was genau ist der »entscheidende Augenblick«?

Der entscheidende Augenblick: spannendes Ereignis + angemessene Komposition

4.4Komposition für Fortgeschrittene

Die Gestaltprinzipien

Ebenen

Reflexionen

Licht nutzen

4.5Sonderformen

Arten der Unschärfe

Nachtfotografie

Warum Straßenfotografie mit Blitz?

4.6Arbeiten in Farbe und Schwarzweiß

4.7Serielles Arbeiten

Warum Serien?

Kumulative vs. konzeptuelle Serie

(D)ein Thema finden

Multitasking: parallel laufende Serien

Aufbau einer Serie

Wie viele Fotos braucht deine Serie?

Übereinstimmungen finden

Wann ist eine Serie beendet?

Was tun mit der Serie?

4.8Fähigkeiten und Soft Skills

Entwicklung

Begeisterung und Dranbleiben

Schnelligkeit und Langsamkeit

Der einzige Auslöser

Menschen begegnen können

Kreativität in die Tat umsetzen

Abstrahieren lernen

Warum der, die und nicht du?

Zeige dich!

Externes Feedback einholen

4.9Und zum Abschluss noch 7 Tipps für bessere Bilder

Tipp 1: Eine Szene bis zum Ende fotografieren

Tipp 2: Einen besonderen Standpunkt suchen

Tipp 3: Ein Bild machen ist immer besser als kein Bild zu machen

Tipp 4: Bilder machen, heißt Bilder aktiv gestalten

Tipp 5: Sich auf das Wesentliche konzentrieren

Tipp 6: Raus aus der Mitte

Tipp 7: Sei das Krokodil!

5Die eigene Streetfotografie vermarkten

5.1Sichtbarkeit

Sichtbarkeit erlangen

Langfristige Sichtbarkeit

Vom Online-Kennen ins wahre Leben

Professionelle Unterstützung

Verantwortung für Qualität

Teilen

Tue Gutes und sprich darüber

5.2Dein Stil, deine Marke

5.3Dein Portfolio

Definieren

Zuordnen

Eliminieren auf jeder Ebene

Aktualisieren

Wie baust du eine Website auf?

Definition der Zielgruppen: Für wen ist deine Website gedacht?

Die Inhalte zu definieren ist die wahre Aufgabe

Technik

Die Vorgehensweise

5.4Social Media für Streetfotografinnen und -fotografen

5.5Wie kommst du zu einer Ausstellung?

Gruppen- vs. Einzelausstellung

Was funktioniert

Herausheben möchten wir Open Calls und den Pitch

Was brauchst du, um an einer Ausstellung teilnehmen zu können?

Was bringt eine Ausstellung?

Zusammengefasst

5.6Die Guerilla-Ausstellung

6Die Zukunft der Streetfotografie

6.1Der »Pictorial Turn«

6.2NFT und TikTok

6.3Philosophierende Fotografen und fotografierende Philosophinnen

Schlusswort

Danksagung

Lesetipps

EINLEITUNG

Es gibt viele gute Gründe, Streetfotografie zu betreiben. Wenn du Streetfotografie jenseits der Basics machen möchtest, wenn du dich fragst, wie du mit deiner Fotografie das nächste Level erreichen kannst, dann ist dieses Buch für dich richtig.

Es ist für uns wenig überraschend, dass Streetfotografie in den letzten Jahren so populär geworden ist. Streetfotografie geht überall. Du brauchst wenig Material, tatsächlich reicht ein Smartphone. Und das Beste ist: Streetfotografie ist relevant oder kann es zumindest sein. Mit Streetfotografie sagst du etwas über die Welt und über dich aus.

0–1Statt einfach die Menschen zu fotografieren, eignen sich immer mehr Menschen interessante Perspektiven an, die ein Bild besonders erscheinen lassen. (PP)

Du kannst unser Buch auch lesen, wenn deine Fotografie noch in den Anfängen steckt. Wir bieten praktisches Wissen an, von dem du auch beim Einstieg in die Fotografie sofort profitieren kannst. Anfänger und Fortgeschrittene werden dieses Buch natürlich unterschiedlich rezipieren. Wir versuchen, mit einer einfachen, klaren Sprache, die leicht nachvollziehbar ist, zu kommunizieren. Wir geben praktische, verständliche, konkrete Anleitungen zum gelungenen Bild.

Gleichzeitig bieten wir sehr grundsätzliche Gedankengänge an, die manchmal ins Philosophische gehen und immer wieder anregen wollen, die eigene Herangehensweise und Sichtweise zu reflektieren. Dieses Nachdenken dann fotografisch umzusetzen, also aus Gedanken Bilder zu machen, ist die eigentliche Herausforderung.

0–2Gezielter und konzentrierter den Rahmen für ein Bild gestalten und einen tieferen Sinn darin finden – wie in der »Fassion Weak« zum Spaß (PP)

Menschen, die viel und gerne fotografieren, werden von diesem Buch profitieren, da sie lernen, gezielt und konzentriert zu arbeiten. Wir helfen dir, in Serien zu denken, im gesellschaftlichen Kontext zu arbeiten und Hintergründe zu hinterfragen, statt an der Oberfläche zu bleiben.

Das Buch soll dir helfen, die eigene Fotografie tiefer zu ergründen, die eigene Wahrnehmung zu schärfen und mit mehr Hintergrundwissen diese Disziplin zu betreiben, die Spaß macht und durch ständige Entwicklung Zufriedenheit schenkt.

Ein besonderes Anliegen ist uns dabei eine inklusive Herangehensweise. Fotografie bedeutet immer, einen Standpunkt zu haben, sowohl im konkreten wie im übertragenen Sinne. Dieser Standpunkt speist sich aus Geschlecht, Herkunft, Lebenshintergrund, sexueller Orientierung und vielem mehr. Was immer wir fotografieren, wir fotografieren es mit einer Sichtweise, die sich aus dem zusammensetzt, was wir sind und was wir erlebt haben.

DER AUFBAU DES BUCHES

Wir beginnen unser Buch mit einer Reflexion darüber, wo die Streetfotografie heute steht, wo sie herkommt, wie sie sich entwickelt hat und in welche Formen sie sich aufspaltet. Wir denken darüber nach, wo wir heute in Deutschland stehen und wie Frauen in der Streetfotografie vertreten sind. Wir recherchieren, wie Streetfotografie allgemein rezipiert wird. Wir besprechen kurz die Rechtslage, und am Ende des ersten Kapitels stellen wir uns gegenseitig spontane Fragen zur aktuellen Streetfotografie und beantworten sie jeweils.

Im zweiten Kapitel liegt der Schwerpunkt auf den verschiedenen Sichtweisen, die mit unterschiedlichen Rollen in unserer Gesellschaft einhergehen. Ob männlicher oder weiblicher Blick, heterosexuell und westlich geprägt oder nicht: Jede Sichtweise reflektiert ein eigenes Menschenbild.

0–3Nachdenklich bedeutet nicht freudlos. Wenn du mit der Kamera durch die Straßen ziehst, kannst du erst mal nachdenken. Danach wird die Freude noch größer sein, denn Nachdenken gibt deinen Bildern Tiefe. (PP)

Auf die Ethik und Themen wie Würde, Plagiate, Wahrheit und Authentizität gehen wir ausführlich ein, weil sie für Fortgeschrittene von Bedeutung sind – oder sein sollten.

In Kapitel 3 sehen wir uns an, wie du die Ziele und Inhalte deiner Fotografie definieren kannst, und stellen dir Fragen: Was möchtest du mit deinen Bildern zeigen, was ist dir wichtig, was willst du mit deiner Fotografie erreichen? Sind der Prozess und die Entwicklung oder ist das Endergebnis das Ziel? Welche Inhalte und Aussagen liegen dir am Herzen? Und gehst du ihnen lieber als Einzelkämpfer oder als Mitglied eines Kollektivs auf den Grund?

Kapitel 4 ist der praktische Teil unseres Buches. Was ist ein gutes Bild, wie passen Kamera und Aussage zusammen, wie kannst du den »entscheidenden Augenblick« von Henri Cartier-Bresson nutzen? Wir geben dir Ideen rund um Komposition für Fortgeschrittene und erweiterte Einblicke in die Themen Unschärfe, Nachtfotografie oder Fotografieren mit Blitz. Ein Fokus liegt auf dem Verstehen des Arbeitens in Farbe und Schwarzweiß.

Das Thema »serielles Arbeiten« wird detailliert analysiert, um zu erklären, was Serien gegenüber Einzelbildern stark macht, wie du eine Serie aufbaust und wie du (d)ein Thema findest. Danach analysieren wir, welche Fähigkeiten und Soft Skills dich unterstützen können, um den Spaß und die Kreativität beizubehalten und dich ständig weiterzuentwickeln.

In Kapitel 5 geht es darum, deine Streetfotografie zu vermarkten. Sichtbarkeit, dein Stil und deine Marke sind ebenso ein Thema wie dein Portfolio, deine Website und deine Ausstellung.

Im letzten Kapitel wird es dann philosophisch mit einem Blick in die Zukunft.

0–4Draußen im bunten Leben gilt es, die Vielfalt zu reduzieren und Harmonie ins Chaos zu bringen. (PP)

1STREETFOTOGRAFIE HEUTE

Streetfotografie boomt. In Deutschland und weltweit. Und das ist gar nicht einmal so verblüffend. Es sprechen viele gute Gründe dafür, Streetfotografie zu betreiben.

Foto: Martin U Waltz (Aus der Serie »light urban rain«)

1. Wo immer Menschen leben, ist Streetfotografie möglich

Du brauchst keine tollen Reisen, wunderbaren Landschaften, grandiose Architektur oder attraktive Models, keine wilden Tiere oder exotischen Pflanzen. Du greifst dir deine Kamera und gehst auf die Straße. Das ist es.

2. Streetfotografie verlangt keine besondere Ausrüstung

Bei der Streetfotografie kannst du mit nahezu jeder Kamera losziehen und auf der Straße Bilder machen. Andere Fotografie-Formen verlangen viel Ausrüstung. Sport- oder Wildlife-Fotografie bedeuten zwangsläufig die Investition in lange Tele-Objektive oder Zooms. Diese sind eigentlich für die Streetfotografie nicht nötig, und sie sind teuer und schwer. Am Ende bleibt die aufwendig zusammengestellte Ausrüstung zu Hause und man greift zum Smartphone.

3. Du lernst den Zufall zu lieben

In vielen Bereichen der Fotografie lässt sich ein gutes Bild erarbeiten. Saubere Planung, sauberes Set-up und fehlerfreie Ausführung, und du kriegst ein mindestens sehr brauchbares Bild. Auf der Straße spielt der Zufall eine große Rolle. In der Streetfotografie kannst du kein großartiges Bild erzwingen, du brauchst eben auch ein bisschen Glück. Gleichzeitig gehört auch das Können dazu, Situationen vorherzusehen und einen Zufall tatsächlich in ein Bild umzusetzen.

1–1Jemand wirft eine Rauchgranate: Zufall. Jetzt gilt es ein Bild zu machen, bevor der Rauch verflogen ist: kein Zufall. (MUW)

1–2In Jerusalem. Wer in der weltweiten Streetfotografie-Gemeinschaft aktiv ist, wird feststellen, dass er in vielen großen Städten Menschen kennt. (MUW)

4. Du wirst Teil einer weltweiten Community

Streetfotografie ist eine globale, non-verbale Sprache, in der weltweit kommuniziert wird. Es ist nicht wichtig, wo du lebst, welche Sprachen du sprichst oder wie alt du bist. Streetfotografie erlaubt dir, weltweit mit Gleichgesinnten ins Gespräch zu kommen.

Streetfotografie wird weltweit praktiziert und es ist einfach, über die sozialen Medien in Kontakt zu treten. Es gibt zahlreiche Streetfotografie-Festivals in vielen Ländern rund um den Globus, und in vielen Städten gibt es Streetfotowalks, an die du dich anschließen kannst.

5. Streetfotografie ist relevant

Streetfotografie dokumentiert das, was in unserem Alltag passiert. Sie beschäftigt sich mit den vielen normalen und ganz banalen Momenten, die sonst unbemerkt an uns vorbeiziehen. Damit zeigt Streetfotografie das Leben, wie es wirklich ist, wie wir zu einem bestimmten Zeitpunkt leben. Wir sehen unseren Alltag als normal an. Wir erleben ihn ja auch jeden Tag. So hat heute jeder ein Smartphone vor der Nase. Ganz normal. Smartphones sind aber keine 20 Jahre alt. Davor gab es sie nicht im öffentlichen Raum. Früher war das Rauchen in Bussen, Bahnen und Flugzeugen ganz üblich. Heute ist es verschwunden. Und natürlich wird unser Alltag in der Zukunft wieder ganz anders aussehen. Und vermutlich werden auch die Smartphones verschwinden bzw. durch eine neue Technologie abgelöst werden.

Wie werden wir das Bild der beiden jungen Frauen, die sich vor dem verschneiten Holocaust-Mahnmal fotografieren, in Zukunft wohl kommentieren?

»Damals hat man noch überall Selfies gemacht.«

»Damals gab es noch diese Smartphones.«

»Damals gab es noch Schnee in Berlin.«

1–3Streetfotografie reflektiert die Zeitgeschichte. (MUW)

1.1HISTORISCHE ENTWICKLUNG

Die Fotografie hat sich im 19. Jahrhundert bereits kurz nach ihrer Erfindung dem Leben auf der Straße zugewandt. Auch Maler wie Edgar Degas, Édouard Manet, und Henri de Toulouse-Lautrec interessierten sich für das Leben auf der Straße. Claude Monet gab diesem Interesse an der Straße eine Formensprache. Es war auf einmal künstlerisch interessant, was auf der Straße und im öffentlichen Raum passierte. Maler und Fotografen beschäftigten sich gleichermaßen mit diesem Thema. Mit der Industrialisierung und den sozialen Umbrüchen des späten 19. Jahrhunderts war die Straße zu einem spannenden Ort geworden.

DIE ANFÄNGE

Zu den ersten Fotografen, die bereits im 19. Jahrhundert die Straße zu ihrem Sujet erhoben, zählen der Franzose Eugène Atget und der Deutsche Heinrich Zille. Atget dokumentierte das sich schnell ändernde Paris, während Zille, den wir heute mehr als Zeichner kennen, die Berliner Hinterhöfe und Flaniermeilen mit der Kamera erforschte.

DIE MODERNE STREETFOTOGRAFIE ENTSTEHT

Mit Fotografen wie André Kertész, Brassaï und Henri Cartier-Bresson entwickelte sich die moderne Streetfotografie in den 1920er- und 1930er-Jahren in Paris. Aus dem Fotojournalismus kommend, waren sie den Regeln der Dokumentarfotografie verpflichtet. Sie verbanden Authentizität mit künstlerischem Anspruch.

Kertész und Cartier-Bresson waren massiv durch die Kunstrichtung des Surrealismus beeinflusst. Beide arbeiteten mit einer neumodischen und extrem kompakten Kamera aus Deutschland, der Leica. Die Leica sollte für viele Jahrzehnte die klassische Wahl für Streetfotografen in Europa und in den USA werden.

Henri Cartier-Bresson war in seinem Werk und Wirken von besonderer Bedeutung für die moderne Streetfotografie, aber auch für die moderne Fotografie insgesamt. Er gründete mit Robert Capa die einflussreiche Fotoagentur Magnum. Übrigens sind auch heute noch zahlreiche Magnum-Fotografen wie Martin Parr, Alex Webb und Bruce Gilden in der Welt der Streetfotografie aktiv.

Streetfotografie war zu einem Mittel geworden, die Welt zu sehen und zu verstehen und das eigene Verständnis in Bildern auszudrücken. Für Cartier-Bresson war die Kamera der Notizblock, und er betrachtete diese Form der Fotografie als »way of life«. Fotografie war seine Art, sich mit dem Leben und dem Alltag auseinanderzusetzen.

Streetfotografie war damit zu einer Auseinandersetzung zwischen Fotografierenden und ihrer Umwelt geworden. Ein Dialog zwischen dem Fotografen bzw. der Fotografin und der Welt. Und die entstandenen Bilder waren der Ausdruck dieses Dialogs. Es ging nicht darum, die Umwelt zu gestalten, sondern diese Welt als Sequenz flüchtiger Manifestationen des Lebens an sich zu erfassen und mit der Kamera zu reflektieren.

In den USA waren es Walker Evans, Dorothea Lange und Berenice Abbott, deren fotografische Arbeiten sich in Richtung Streetfotografie entwickelten. Walker Evans und Dorothea Lange dokumentierten die große Depression in den 1930er-Jahren, Berenice Abbott widmete sich im gleichen Zeitraum dem sich rasch verändernden New York. Abbott lebte in den 1920er-Jahren in Paris, arbeitete für Man Ray und unterhielt ein eigenes Fotostudio. In ihrer Pariser Zeit lernte sie Eugène Atget und seine Arbeiten kennen. Dies beeinflusste maßgeblich ihre späteren New-York-Arbeiten. Nach dem Tode Atgets ist es Abbott zu verdanken, dass ein bedeutender Teil seines künstlerischen Nachlasses den Weg in das Modern Museum of Art in New York fand.

NACH DEM ZWEITEN WELTKRIEG

Mit den Fotografen William Klein und Robert Frank entstand eine neue Bildsprache. William Kleins explosive Bilder lassen uns New York auf neue Weise erleben. Die Bilder sind unsauber komponiert, oft aus großer Nähe fotografiert und von starker emotionaler Wucht. Auch Robert Frank löste sich in seinem legendären Fotobuch »The Americans« von dem elegant-perfekten Kompositionsstil Cartier-Bressons. Seine Bilder sind lyrisch und beiläufig und zeichnen ein bemerkenswert düsteres Bild der USA.

Streetfotografie begann sich in dieser Zeit zu verbreiten. Interessant ist Daidō Moriyama, der mit seinem durch die Begriffe »are, bure, bokeh« (dt. »körnig, verschwommen, unscharf«) gekennzeichneten Stil die Grenzen der Fotografie und der gegenständlichen Darstellung in Japan testet. Und der New Yorker Joel Meyerowitz machte in den 1970er-Jahren unter dem Einfluss des Fotografen William Eggleston die Farbfotografie in den USA populär.

DAS NEUE JAHRTAUSEND: DIE STUNDE DER AMATEURE

Im Jahr 2000 gründete sich mit in-Public das erste Streetfotografiekollektiv. Gleichzeitig begann der Sieg und die Popularisierung der Streetfotografie.

Waren es in den 1920–30er-Jahren die kompakten Kameras wie die Leica, die dynamische Streetfotografie ermöglichten, so machten der Siegeszug der digitalen Fotografie und – etwas nachgelagert – die sozialen Medien Streetfotografie erst richtig populär. Auf einmal ließen sich problemlos Tausende Bilder aufnehmen und dann die besten auswählen. Und die sozialen Medien erlaubten Streetfotografie zu dem zu werden, als was sie bereits Cartier-Bresson angesehen hatte, nämlich zum Diskurs und Austausch über das alltägliche menschliche Leben. Und da dieser Austausch über das Medium Bild geführt wird, verbindet er Menschen jenseits von Sprach- und Kulturbarrieren.

Während die Amateure sich zunehmend der Streetfotografie widmen, verliert der professionelle Fotojournalismus an Boden. Fotojournalismus war an Printmedien gebunden. Die Krise der Printmedien wird damit zwangsläufig zur Krise des Fotojournalismus.

Gleichzeitig entwickelt sich der verbleibende Fotojournalismus in eine stark konzeptuelle Richtung. Die Bildserie dominiert das Einzelbild. Intellektuelle Kohärenz wird wichtiger als rein visuelle Merkmale. Damit fällt das Verständnis für die stark assoziative und intuitive Streetfotografie weg. Fotojournalismus und Streetfotografie sind also nicht nur unterschiedlich populär, sie entwickeln sich auch in verschiedene Richtungen.

1.2DIE INTERNATIONALE STREETFOTOGRAFIE-WELT

Streetfotografie hat sich weltweit verbreitet. Weit jenseits von Europa, den USA und Japan findet sich heute auch in Indien oder Israel und in vielen weiteren Ländern eine aktive Streetfotografie-Szene. Es gibt zahlreiche Streetfotografie-Festivals und -Wettbewerbe.

Mit dem Boom der Streetfotografie verbindet sich auch eine Demokratisierung. Vor 10 oder 20 Jahren konnten Einzelpersonen oder Einzelgruppierungen Deutungshoheit reklamieren, was denn richtige Streetfotografie sei. Im Ergebnis führte dies oft zu einer Orthodoxie und Regelstrenge, an die sich die Altmeister des Genres nie gehalten haben. Heute ist Streetfotografie weltweit so breit aufgestellt, dass sich niemand mehr anmaßen kann, für die gesamte Szene zu sprechen oder eben zu definieren, was denn heute wohl gute Streetfotografie ist.

1–4Die »Es kann nicht nah genug sein«-Phase in der Streetfotografie ist vorbei. (MUW)

1–5Die Debatte um den Datenschutz und die Covid-Pandemie führen zu einer veränderten Bildsprache in der Streetfotografie. Abstand und Distanz sind gut. (MUW)

Im Zuge der immer stärker werdenden Privatsphäre-Debatte hat sich auch der Stil der Streetfotografie gewandelt. Distanz und Abstand sind nicht erst seit der Corona-Pandemie wichtig. Fotografen und Fotografinnen, die eher distanzlos aus der Nähe, oft in Verbindung mit einem Blitz, arbeiten, werden heute teilweise massiv kritisiert. Der Kamerahersteller Fujifilm beendete die Zusammenarbeit mit dem japanischen Fotografen Tatsuo Suzuki, nachdem dessen extrem dichte Arbeitsweise in einem Video für Fujifilm sichtbar wurde und auf deutliche Kritik stieß.

»Sind deine Bilder nicht gut genug, bist du nicht nah genug dran.« Dieses oft missverstandene Zitat des Fotografen Robert Capa schien lange Zeit auch das Motto der modernen Streetfotografie zu sein. Robert Capa meinte mit diesem Zitat lediglich, dass man Bilder vom Krieg nicht aus der entfernten Etappe machen könne. Auch dies ist eine riskante Sichtweise. Capa starb, als er im ersten Indochinakrieg auf eine Mine trat.

1.3FRAUEN IN DER STREETFOTOGRAFIE

Die moderne Streetfotografie schien lange Zeit vor allem eine Männer-Angelegenheit zu sein. 2017 gründete die Fotografin und Autorin Gulnara Samoilova die Women Street Photographers als Online- und Offline-Netzwerk für Streetfotografinnen weltweit. Women Street Photographers ist es gelungen, mehrere Ausstellungen zu organisieren und zahlreiche Bücher zu publizieren, die medial weltweit Beachtung fanden.

Dies ist insofern interessant, als Streetfotografie von Anfang an von Fotografinnen mitgestaltet wurde. Als bekannte Vertreterinnen sind zuerst die bereits erwähnten Fotografinnen Dorothea Lange und Berenice Abbott zu nennen, die das Genre der Streetfotografie mitbegründet haben. Es folgen Diane Arbus, Vivian Maier und Ruth Orkin, Helen Levitt, Mary Ellen Mark und viele andere.

Gerade Vivian Maier ist spannend, weil ihre Werke erst posthum und auf abenteuerliche Weise an die Öffentlichkeit gelangten – und dann international große Anerkennung fanden. Die aus Frankreich stammende Maier lebte als Kindermädchen in den USA. Sie war eine leidenschaftliche Fotografin, die ihre Bilder jedoch nicht teilte. Sie starb unbekannt.

Frauen haben durchgängig einen bedeutenden Beitrag in der Welt der Streetfotografie geleistet. Im nächsten Kapitel werden wir uns auch mit der Frage beschäftigen, ob es so etwas wie eine weibliche Sichtweise gibt. In jedem Fall setzen sich Frauen auch in sehr drastischer Weise mit den dunklen Seiten des öffentlichen Lebens auseinander. In Mary Ellen Marks Bildband »Falkland Road: Prostitutes of Bombay«1 zeigt die Fotografin das Leben und den Alltag oft minderjähriger Sexarbeiterinnen in Indien. Ähnliche Projekte werden heute im Hinblick auf Persönlichkeitsrechte der Sexarbeiterinnen und des tendenziell neo-kolonialistischen Subtexts extrem kritisch gewertet.

In jedem Fall ist die Sichtweise männlicher und weiblicher Fotografen vom historischen Kontext abhängig. Und wir fragen uns heute – weit jenseits des Themas Streetfotografie –, wie wir mit Werken umgehen, die aus heutiger Sicht fragwürdige Elemente enthalten oder eben auf (wiederum aus heutiger Sicht) fragwürdige Weise entstanden sind.

1.4STREETFOTOGRAFIE IN DEUTSCHLAND

Die Streetfotografie-Szene in Deutschland hat sich in den letzten Jahren enorm entwickelt. Neben den vielen Personen, die mit Leidenschaft Streetfotografie praktizieren, gibt es mittlerweile nahezu in jeder großen Stadt Streetfotografie-Kollektive oder andere Gruppierungen, die sich der Streetfotografie widmen.

Wir möchten gerne drei Gruppierungen herausgreifen:

Soul of Street:

Monatliches Print-Magazin

2

zum Thema Streetfotografie nach dem Motto »von der Straße für die Straße«. Die Herausgeber organisieren regelmäßig Fotowalks oder andere Aktivitäten und tragen so zur Vernetzung der Szenen bei.

Nürnberg Unposed:

Sehr aktives Streetfotografie-Kollektiv in Franken. Auf der Website von Nürnberg Unposed kann sich jede Streetfotografin bzw. jeder Streetfotograf eintragen lassen und auch andere Streetfotografie-Begeisterte in der Nähe recherchieren. Daneben bietet Nürnberg Unposed eine aktuelle Übersicht über die Street-Kollektive in Deutschland an. Wer sich vernetzen möchte, ist auf der Website

3

von Nürnberg Unposed genau an der richtigen Adresse.

Die

German Street Photography Seite

4

stellt eine Auswahl an deutschen Streetfotografen und Streetfotografinnen vor. Die Herausgeber der

deutschen Streetfotografie Seite

sind gleichzeitig auch die Veranstalter des

German Street Photography Festival

.

1.5DEFINITION

Eine allseits akzeptierte und etablierte Definition von Streetfotografie gibt es nicht. Wir mögen Bruce Gildens Diktum: »Wenn du die Straße riechen kannst, dann ist es Streetfotografie.«

Unser Vorschlag für eine Definition von Streetfotografie lautet wie folgt: »Streetfotografie erforscht das menschliche Element im urbanen Raum.«

1–6Je näher du rangehst, desto eher kannst du die Straße spüren.

1–7Ein Strandbild im Sinne von Martin Parr, das eine gewisse Komik beinhaltet. Es ist ein durch den Magnum-Meister inspiriertes Foto.

Das menschliche Element können Menschen sein. Dies ist aber nicht zwingend. Dieses entsteht auch aus Zeichen und Formen, die auf das Vorhandensein von Menschen schließen lassen oder an Menschen und die menschliche Form erinnern.

Streetfotografie sagt immer etwas über Menschen oder genauer, die conditio humana aus, mehr als über die Formen und Bedingungen menschlichen Lebens. Damit ist die Streetfotografie aber nicht auf die Straße beschränkt. Auch Strände (siehe Martin Parr), Spielplätze (siehe Alex Webb) oder Landschaften (siehe Alec Soth) können Streetfotos hervorbringen.

1.6FORMEN

Mittlerweile haben sich Formen und Stile der Streetfotografie etabliert. Wir stellen einige davon im Folgenden vor.

DOKUMENTARISCH

Streetfotografie kann zunächst »einfach« beschreibend sein. Das Foto zeigt, wie es in den Straßen der Stadt X im Jahr Y aussieht. Dabei besteht die Herausforderung darin, aus einer alltäglichen Situation ein interessantes Bild zu gestalten, ohne in die Langweile abzugleiten. Das Bild kann neutral gestaltet sein, dient aber auch dazu, herauszufinden, was sich unter der Oberfläche verbirgt.

1–8Ein klassisches (langweiliges) Streetfotografie-Bild mit einem Menschen im urbanen Umfeld in der Stadtmitte Turins. Der Mensch telefoniert mit einem Handy und steht vor einem geschlossenen Zeitungskiosk. In 50 Jahren ist beides, Handy und Zeitungskiosk, vielleicht Geschichte. Das hebt das Bild auf ein dokumentarisches Level. (PP)

In dokumentarischen Bildern wird unter anderem gezeigt, wie sich Menschen verhalten, ihre Haare tragen, welche Gewohnheiten sie haben. Wenn jemand bei Rot über die Straße geht, eine Zeitung kauft und liest, oben ohne am Strand liegt, wenn sich Menschen die Hände schütteln oder sich per Faust begrüßen, wenn alle mit einer Schutzmaske im Gesicht herumlaufen – dies sind irgendwann Zeitdokumente, die unsere Nachfahren zum Nachdenken anregen werden.

Diese Elemente bewusst zu suchen ist Teil der Aufgabe von Streetfotografie. Welche Kleidung die Menschen tragen, fällt uns heute bei älteren Fotos auf und ist oft Grund für Belustigung oder Bewunderung. Aber die Kleidung von heute ist die Belustigung oder Bewunderung von morgen, und entsprechend sind unsere Aufnahmen oft eine Art moderner Modefotografie. Die Straße kann durchaus als Laufsteg verstanden werden. Besonders in modernen Großstädten sehen wir das alle.

1–9Mode ist etwas sehr Vergängliches und entsprechend eines der Highlights in der Streetfotografie. Das, was uns heute als völlig ungewohnt, verrückt oder erstaunlich vorkommt, kann morgen schon normal sein. In ein paar Jahrzehnten wird es als Zeitdokument die Menschen zum Schmunzeln bringen. (PP)

Die Kleidung in die urbane Landschaft einzuordnen, hat ihr schon immer Bedeutung verliehen. Kleidungsstücke sind wichtige Bestandteile unseres Alltags, durch die und mit denen wir uns identifizieren, erkennen und verstehen – oder eben nicht. So gibt es an bestimmten Standorten gewisse Assoziationen, die mit Kleidung und unterschiedlichen Demografien zusammenhängen.

1–10Ein Porträt mit Umgebung, wodurch wir sofort verstehen, wo wir sind. Es geht weniger um den porträtierten Menschen als darum, die Freude am Karneval zu spüren. Porträts auf Großveranstaltungen wie dem Straßenkarneval zu machen ist einfach. Die Menschen kooperieren und alle gehen mit einem Lachen auseinander. (PP)

1–11Ein klassisches Straßenporträt, das spontan und ungestellt durch eine Begegnung entsteht. Die Dame hat sich gefreut, Zeit mit etwas Plaudern zu verbringen. So kann ein positives Bild spontan entstehen, bei dem noch dazu die Farbe der Hose perfekt zu den Mülltüten und – bei anderem Lichteinfall – sogar zur Farbe des Meeres passt. (PP)

1–12Ein klassisches »environmental portrait« eines Friseurs, der aus seinem Laden heraustritt. Wir schreiben das Jahr 2022 in Ventimiglia (Italien), doch das Bild hätte genauso in den 1950er-Jahren entstehen können. (PP)

Im Zusammenhang mit der Dokumentation spielt das Streetporträt eine herausragende Rolle. In der Regel lebt die Streetfotografie von einem »environmental portrait« – also einem Bild, in dem nicht nur das Gesicht einer Person abgebildet, sondern vielmehr eine Person in ihrem Umfeld zu sehen ist. Straßenporträts handeln weniger von der einzelnen Person als von dem Ort, den du fotografierst.

Eine Extremform der dokumentarischen Fotografie ist der »raw realism«, bei dem die rohe Realität abgebildet wird. Dabei gehst du einem kompromisslosen Ansatz nach und enthüllst mitunter die dunkle Realität des Straßenlebens.

Diese Form ist sicher die spannendste, denn schöne Boulevards und malerische Marktstände mit Menschen im Bild zu knipsen mag ein nettes Zeitdokument sein. Das wahre Interesse besteht jedoch darin, tiefer zu graben. Es ist zweifelsohne soziologisch spannender, die weniger ästhetische Hoffnungslosigkeit zu fotografieren als das triviale Alltagsleben.

Das soll keine Aufforderung sein, sich in dunkle Straßen und mysteriöse Gassen vorzuwagen, die durchaus gefährlich sein können. Und die Ethik spielt die Schlüsselrolle: Wir wollen auf gar keinen Fall die Schwere des Lebens unserer Mitmenschen voyeuristisch als Inhalt für spannende Fotos missbrauchen.

Aber die Themen, die solche Gegenden hervorbringen, dokumentieren die andere Seite unserer Gesellschaft, nämlich jene, die nicht bunt auf Plakatwänden Wohlgefallen verbreitet. Es ist eine Gratwanderung und jede bzw. jeder wird das richtige Maß für sich finden. So entstehen spannende Dokumente, die Dinge zeigen, die gerne ignoriert werden oder die uns unangenehm an unsere Verantwortung erinnern.

Die Verantwortung bei der Straßenfotografie kann durchaus darin liegen, Dinge zu enthüllen und in den richtigen Fokus zu rücken. Die rohe Realität ist nicht immer leicht zu ertragen, aber ein gelungenes Bild regt die Betrachtenden dazu an, sich damit auseinanderzusetzen.

Fotografen, die dies auf wunderbare Weise umgesetzt haben, sind u. a. Nan Goldin und Weegee. Nan Goldin untersuchte mit ihrem Hauptwerk von 1986 »The Ballad of Sexual Dependency« Momente der Intimität und LGBT-Körper. Weegee fotografierte in den 1930er-Jahren rund um das Polizeipräsidium New Yorks. Er hatte die schlaue Idee, ein Polizeifunkgerät in sein Auto einzubauen. 1938 erhielt er die Erlaubnis dazu und hatte so die Möglichkeit, als erster vor Ort zu sein und die sensationellsten Fotos von den Ereignissen in der Stadt zu machen.

ÄSTHETISCH UND DEKORATIV

Gesellschaftskritik oder die Schwere des Lebens müssen nicht immer im Vordergrund stehen. Die Schönheit in der Stadtlandschaft zu finden und das Zusammenspiel aus Menschen und ihren Aktionen so darzustellen, dass sich jemand dein Bild längere Zeit ansehen mag, ist eine Kerndisziplin in der Streetfotografie. Und sie ist gerechtfertigt. Denn du brauchst viel Sinn für Ästhetik und Präzision, um die Hektik des Großstadt-Dschungels mit Begriffen wie Schönheit und Harmonie fotografisch zusammenzuführen.

Du kannst das Foto als Leinwand verstehen, auf die du dein Bild malst. Allerdings ist bei einem Maler die Leinwand leer, während deine »Leinwand« – der Blick auf die Straße – hochgradig gefüllt ist. Hier besteht die Kunst darin, Dinge auszusparen, in dem ganzen Gewusel einen minimalistischen Ansatz zu verfolgen und aufgeräumte, klare Bilder hervorzubringen.

Dabei ist der Inhalt des Fotos weniger wichtig als als der Aufbau des Bildes. Die Form wird zum Thema, es geht um eine harmonische Komposition oder Farbauswahl. Du kannst dir Spiegelungen, Silhouetten und natürliche Filter zunutze machen. Deine Fähigkeiten in der Komposition und der Wahl des Ausschnitts werden darüber entscheiden, ob dir ein spannendes Bild gelingt. Du wirst mit hoher Präzision jedes Detail berücksichtigen und deine Kamera exakt positionieren, damit die Geometrie und Harmonie nicht gestört werden.

Im Idealfall gelingen dir Bilder, die als »Fine Art« klassifiziert werden können. Dies beinhaltet, dass dein Bild einen fantasievollen, ästhetischen oder intellektuellen Inhalt wiedergibt.

André Kertész ist ein schönes Beispiel für diese Art der Fotografie. Er schuf sehr ästhetische und niemals langweilige Bilder durch seine Fähigkeiten in der Komposition und dadurch, dass er ungewohnte Perspektiven einnahm.

1–13Ein Spiel aus Licht, Schatten und Farben, Symmetrien und einem dynamischen Schritt funktioniert in der Streetfotografie immer. Wenn du den Rahmen gefunden hast, wartest du auf deinen entscheidenden Augenblick. (PP)

1–14Strände oder das Meer sind in der Streetfotografie beliebt, weil sie einen minimalistischen Hintergrund bieten, vor dem sich die Elemente gut abheben. (PP)

1–15Das Spiel mit Licht und Schatten verführt, besonders wenn der Hintergrund dunkel ist und sich einzelne Teile – wie das verdeckte Gesicht der Person, der Pferdekopf und das Halfter – davor abheben. Wenn alle Farben auch noch aufeinander abgestimmt sind, wirkt es besonders harmonisch. (PP)

1–16Silhouetten oder Schatten machen die Menschen unerkennbar und zu rein dekorativen Objekten in deiner Komposition. (PP)

GRAFISCH

Eine andere Umsetzung als die rein ästhetische und dekorative Streetfotografie ist die grafische Streetfotografie. Hierbei geht es ebenfalls um die harmonische Komposition des Bildes, aber mit einem stark grafischen Schwerpunkt. Du erzeugst eine urbane, minimalistische Landschaft aus geometrischen Formen und Mustern. Saubere Linien und klar definierte Formen und Flächen stehen im Vordergrund. Diese können durch Schatten, Pflastersteine, Geländer, Treppen und vieles mehr entstehen. Die Schnittpunkte von zwei Wänden ergeben ebenso spannende Muster wie die geraden Linien und scharfen Winkel der modernen urbanen Architektur. Deren Geometrie bietet viele Möglichkeiten.

Es ist eine Kunst, natürliche Muster in einer unnatürlichen Welt zu finden und das Durcheinander von Menschen und Bewegung dort einzuordnen. Das gelingt, wenn du Ruhe in dieser Welt findest, in der sich alles bewegt. Anstatt wie die Leute zu eilen, geht es ums Innehalten und Sehen. Nur so lassen sich Formen und Muster erkennen. Du kannst das Bild strukturieren, wobei auch hier die minimalistische Form der Darstellung oft gewinnt.

Klassische Beispiele für diese Form der Fotografie lieferte Henri Cartier-Bresson. Er nutzte geometrische Strukturen, um Elemente einzusetzen, die sich bewegen, und prägte so den Begriff des entscheidenden Augenblicks. Dieser geschieht, wenn der Fotograf es schafft, einen sehr unwahrscheinlichen Moment fotografisch festzuhalten. Dazu bedarf es jedoch keines Zauberstabs, sondern der Voraussicht. Cartier-Bresson schaffte aus vorhandenen Strukturen seinen grafischen Rahmen und wartete auf den besonderen Augenblick, in dem ein erhoffter Passant sein Bild ergänzt.

1–17