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Entwicklungschancen in der Institution E-Book

Susanne Graf-Deserno

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Beschreibung

Im Mittelpunkt psychoanalytischer Teamsupervision steht der Zusammenhang von berufsbiographischer Entwicklung und institutionellen Veränderungen. Es sind die vielfältigen Schnittpunkte individueller, zwischenmenschlicher und institutioneller Entwicklungsprozesse, durch die Teamsupervision interessant und aufschlußreich für Phänomene gesellschaftlicher Praxis ist. (Dieser Text bezieht sich auf eine frühere Ausgabe.)

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Susanne Graf-Deserno | Heinrich Deserno

Entwicklungschancen in der Institution

Psychoanalytische Teamsupervision

FISCHER Digital

Inhalt

Geist und Psyche [...]DanksagungVorbemerkungTeil I Methodische und konzeptuelle GrundlagenKapitel 1 Einzelfallstudie als FallgeschichteKapitel 2 Geltungskriterien psychoanalytischer Supervision – szenisches Verstehen, Übertragung und VeränderungKapitel 3 Zum Konfliktmodell in der psychoanalytisch orientierten SupervisionKapitel 4 Dyadische und triadische BeziehungsperspektivenKapitel 5 Typische Konfliktthemen der Adoleszenz und die idealisierende Übertragung in der SupervisionAnforderungen der AdoleszenzDie Übertragung in der Supervision unter dem Aspekt adoleszenter IdealisierungDas Gegenstück zur Idealisierung in der Übertragung – entwertende, »negative« ÜbertragungFallvignette zu einer adoleszenten ÜbertragungskonstellationKapitel 6 Gruppenprozeß und Falldiskussion – direkte und indirekte ReinszenierungenGruppenprozeß und ÜbertragungDer unbewußte Gruppenprozeß in der Supervision – Grundannahmen und Gruppen-UnbewußtesDirekte und indirekte ReinszenierungenEin Beispiel für InszenierungenTeil II Teamsupervision als personeller und institutioneller EntwicklungsprozeßKapitel 7 Zur Verwendung und Interpretation von GedächtnisprotokollenKapitel 8 Dominante Konfliktthemen der initialen SupervisionsphaseVorbemerkungAus den ersten drei StundenTrennung und NeubeginnWer ist der Vorstand?Projektive Abwehr auf gruppenpsychologischer Ebene – »Die Schwierigkeiten liegen außerhalb!«Intrapsychische und interpersonelle Ebene – Abschied von der »berufsbiographischen Adoleszenz«Institutionelle Ebene – wer führt und wer führt weg vom »sozialen Abseits«?Kapitel 9 Dominante Konfliktthemen der mittleren SupervisionsphaseVon den »Kinderkrankheiten« in die Krise der »beruflichen Adoleszenz«Institutionalisierung und »veränderte« PsychologieSchuldgefühle und Projektion – Opfer und TäterVeränderungswunsch und Angst vor DesintegrationGroßartigkeit und KränkbarkeitSteht die Falldiskussion im Dienste der Abwehr oder der Integration?Die Teamsituation zwischen Geschlechterkampf und GeschlechterspannungAlles noch einmal? Wiederholen und DurcharbeitenSituationen gegenseitigen »Mißbrauchs«Integration und Organisation des TeamsProzesse unterschiedlicher Richtung – Institutionalisierung und EntinstitutionalisierungKapitel 10 Dominante Konfliktthemen der Abschlußphaseinstitutionelle Aspekte der TeamsupervisionDer LeitungskonfliktInstitutionsanalytische PerspektivenTeil III Zur Technik der psychoanalytisch orientierten TeamsupervisionKapitel 11 Übertragung, Spiegelung und ReinszenierungKapitel 12 Beispiel zur Thematisierung der indirekten ReinszenierungKontext der SitzungSupervisionsprotokollKommentarDer zentrale KonfliktDie InterventionenKapitel 13 Beispiel zur Thematisierung eines WiderstandesKontext der SitzungSupervisionsprotokollKommentarKapitel 14 Beispiel zur Thematisierung direkter und indirekter ReinszenierungenKontext der SitzungVerlauf der SitzungKommentarKapitel 15 Teamsupervision, Falldiskussion und psychosoziale KompetenzLiteraturverzeichnisNamen- und Sachregister

Geist und Psyche

Herausgegeben von Willi Köhler

Begründet von Nina Kindler 1964

Danksagung

An erster Stelle möchten wir den verschiedenen Supervisionsgruppen danken, mit denen wir im Verlauf vieler Jahre unsere Erfahrungen sammeln konnten. Für die Möglichkeit, unsere Überlegungen und Zwischenergebnisse mit Frau Prof. M. Leuzinger-Bohleber, Herrn Prof. A. Gaertner und Dr. B. Bardé diskutieren zu können, danken wir ebenfalls an dieser Stelle, in besonderer Weise Frau R. Bojunga für viele Stunden projektbegleitender Supervision. Zudem möchten wir Prof. A. Leber und Prof. M. Clemenz für die Diskussionen danken, die wir im Zusammenhang ihrer Weiter- und Fortbildungsprojekte führten, in denen wir Gruppen supervidierten.

Vor allem haben wir dem Beratungsteam zu danken, das im Mittelpunkt dieser Darstellung psychoanalytischer Supervision steht. Dieses Team gehörte keiner etablierten Einrichtung an. Es wurde in einer nordhessischen Universitätsstadt im Rahmen eines Projekts gegründet (vgl. Teil II, Kap. 8). Die Teilnehmerinnen und Teilnehmer waren hochmotiviert, sowohl die Einrichtung, die sie gründeten, selbstkritisch zu gestalten, als auch die reflexiven Möglichkeiten der Supervision zu nutzen. Wir sind uns des Problems bewußt, daß wir in unserer Darstellung dieser Motivation oft nicht gerecht werden, weil wir den Akzent auf den Prozeßcharakter der Supervision setzen, wodurch die einzelnen kreativen Beiträge gegenüber der Gesamttendenz von Entwicklung und Veränderung in den Hintergrund rücken. Über die unmittelbare Praxis mit diesem Team hinaus hat das mehrfache Überdenken der Protokolle und die Besinnung auf unsere methodischen Grundlagen gezeigt, wie vielfältig die Erfahrungen sind, die wir mit diesem Beratungsteam machen konnten.

Nicht zuletzt aber möchten wir uns dankbar an Willi Köhler, den Herausgeber der Reihe Geist und Psyche, erinnern, der die Veröffentlichung unserer Arbeit vorschlug. Leider konnte durch seinen unerwarteten Tod die Zusammenarbeit nicht fortgeführt werden. Wir haben seine kluge wissenschaftliche, sprachliche und einfühlsame Betreuung vermißt. Herrn H. Bareuther danken wir für seine Hilfe bei der Literaturrecherche und der Prüfung des Literaturverzeichnisses. Frau H. Fehlhaber und Frau A. Jantzer danken wir für ihre umsichtige Hilfe, die Veröffentlichung druckfertig abzuschließen.

 

Frankfurt am Main, September 1997

Susanne Graf-Deserno und Heinrich Deserno

Vorbemerkung

Mit unserem Beitrag wollen wir zeigen, was Supervisoren, die sich an der Psychoanalyse orientieren, in der Praxis tun. Dabei ist für uns die Supervision nicht einfach eine Anwendung der psychoanalytischen Theorie. Sie ist eine Anwendung der psychoanalytischen Methode und führt zu Veränderung und Entwicklung, obgleich sie keine therapeutische Intention verfolgt.

Bei dem Versuch, sich zu vergewissern, was psychoanalytische Supervision ist, erscheint es uns hilfreich, der Supervision als Praxis und der Supervision als Wissenschaft jeweils eine gewisse Unabhängigkeit einzuräumen. Psychoanalytische Supervision ist eine sinnerschließende und zugleich verändernde Praxis, die sich vor allem mit Konzepten wie dem »szenischen Verstehen« und der »Übertragung« organisieren läßt. Diesen methodischen Aspekten psychoanalytischer Supervision stehen theoretische zur Seite, wie die psychoanalytische Entwicklungspsychologie oder die Strukturtheorie der Psychoanalyse. In Teil I haben wir die methodischen Konzepte und theoretischen Aspekte zusammengefaßt, durch die sich unsere psychoanalytische Orientierung charakterisieren läßt.

Die vielfältigen Schnittpunkte individueller, zwischenmenschlicher und institutioneller Entwicklungsprozesse sind es, die Teamsupervision interessant und aufschlußreich für latente Prozesse gesellschaftlicher Praxis machen. Die Verknüpfung von Entwicklung und Institution, die wir thematisch vorgenommen haben, kann in zwei Richtungen verfolgt werden. Zum einen werden in der Supervision »privatistische« Bedeutungen aufgespürt, die Mitarbeiter »ihrer« Institution unbewußt verleihen. Dabei wird zunächst unterstellt, daß die institutionellen Strukturen ausreichend brauchbar und dem Auftrag angemessen sind. Zum anderen richtet sich das Interesse der Supervision auf organisatorische Formen und Muster, die ihrerseits mit der institutionellen Aufgabe kollidieren und eine Eigendynamik entwickeln, die negative Auswirkungen auf die Arbeit der einzelnen und des Teams hat, ohne daß diese Ursache wahrgenommen wird. Dadurch werden wiederum privatistische Umdeutungen institutioneller Funktionen, Rollen und Kooperationsformen begünstigt. Diese komplizierte Situation kommt im Erleben einzelner Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter oft nur dadurch zum Ausdruck, daß sie ihre persönliche und kooperative Kompetenz als mangelhaft erleben, während die institutionellen Defizite und die daraus resultierenden Konflikte im dunkeln bleiben. Auch wenn in der psychoanalytischen Supervision vor allem die Verzerrungen subjektiven Bedeutungen an Fällen analysiert werden, gelangt man folgerichtig an einen Punkt, an dem die zurechtgerückte Wahrnehmung der institutionellen Strukturen auch zu einer Korrektur der Organisationsform selbst führen muß. Das kann durch die Mitarbeiter selbst geschehen, die innovativ die organisatorischen Strukturen verändern, oder in komplexen Einrichtungen durch das Heranziehen spezialisierter Organisationsentwickler.

Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter einer Einrichtung, die sich die Einsicht in notwendige institutionelle Veränderungen mit Hilfe psychoanalytischer Supervision erarbeiten, durchlaufen einen individuellen Prozeß der Qualifizierung bzw. Professionalisierung: das eine bedingt das andere. Daher ist es unserer Auffassung nach nicht sinnvoll, organisatorische und personelle Perspektiven in der Supervision voneinander zu trennen.

Wenn Teams um Supervision nachfragen, besteht bei ihnen zumeist ein Bewußtsein ungenügender Arbeitsbedingungen und Unzufriedenheit gepaart mit Insuffizienzgefühlen. Die »institutionelle Aufgabe« ist ihnen oft aus dem Blick geraten. Unserer Erfahrung nach kann psychoanalytische Supervision, der gerne nachgesagt wird, sie verliere sich in personenorientierten subjektiven Bedeutungen, dazu verhelfen, daß Teammitglieder sich effektiver der institutionellen Aufgabe zuwenden, weil sich ihre Fähigkeit, innerseelische und zwischenmenschliche Vorgänge am Arbeitsplatz zu verstehen, erhöht.

Die Aufklärung, die sich ein Team in der psychoanalytischen Supervision sowohl über die personellen als auch die institutionellen Möglichkeiten erarbeitet, ist kein einseitig rationaler Vorgang. Wir können zeigen, daß die Mitglieder eines Teams zwischen progressiven und regressiven Positionen wechseln, und sehen darin einen selbstregulativen Mechanismus, der integrative Entwicklungsschritte unterstützt.

Unsere Fallgeschichte beschreibt sowohl einen langfristigen Supervisionsverlauf, der vor allem anhand der vorherrschenden Konfliktthemen skizziert wird (Teil II), als auch einzelne Supervisionssitzungen (Teil III). Dadurch haben die Leser die Möglichkeit, Alternativen zu den Interventionen und Interpretationen zu formulieren und sich zu fragen: Ist die betreffende Intervention angemessen, gut oder schlecht? Gibt es eine bessere? So betrachtet ist die detaillierte Vorstellung eigener Praxis nicht ohne Risiko. Wenn wir sie dennoch vorlegen, dann deshalb, weil uns das jeweilige Vorgehen ausreichend oder gut genug erschien, um unsere methodische und theoretische Orientierung im Verhältnis zur Praxis plausibel aufzuzeigen.

In Teil I haben wir versucht, einen Überblick zum aktuellen Stand der Praxis und Konzeptbildung zu geben und damit unsere psychoanalytische Orientierung darzulegen.

Teil I Methodische und konzeptuelle Grundlagen

Kapitel 1 Einzelfallstudie als Fallgeschichte

Ein Team, das um Supervision nachfragt, drückt dadurch seine Bereitschaft aus, sich über seine professionelle Kompetenz mit Hilfe einer Supervisorin oder eines Supervisors zu verständigen. Die einzelnen Mitglieder eines Teams drücken ihre individuellen Möglichkeiten aus, sich an dieser Aufgabe zu beteiligen; zugleich sind sie Sprecher der Mitarbeitergruppe als Ganzer, die eine bestimmte, institutionell abgesteckte Arbeitsaufgabe realisieren will.

Der Supervisor oder die Supervisorin, die eine Supervision beginnen, sind ihrerseits daran beteiligt, die Geschichte eines Teams mitzugestalten, gleichviel ob sie aufgeschrieben wird oder nicht. Team und Supervisor artikulieren sich als Subjekte dieser Geschichte. In unserem Beispiel einer Teamsupervision wird von der Annahme ausgegangen, daß die elementaren Bestandteile der psychoanalytischen Methode, freie Einfälle und Interpretationen, als Katalysatoren für einen personellen und institutionellen Entwicklungsprozeß im Team wirken.

Die implizite Frage, was das Team als Ganzes und die Mitarbeiter als Individuen dem Supervisor oder der Supervisorin mitteilen und auf diese Weise für sich klären wollen, begleitet und beeinflußt sowohl die Verständigung innerhalb einzelner Sitzungen als auch die spezifische Geschichte eines längeren Supervisionsprozesses. Auch die berufsbezogene Verständigung in Supervisionen wird durch unbewußte Prozesse mitbestimmt, erschwert oder blockiert. Daraus folgt, daß unbewußte Bedeutungen nur gemeinsam erschlossen werden können, auch wenn das Team sich die Supervision zunächst nach dem Experten-Modell vorstellt.

Diesen Wechsel in der Perspektive kennen wir sowohl von psychoanalytischen Therapien als auch aus Supervisionsprozessen. Ein Patient, der in eine psychoanalytische Therapie geht und das übliche Arzt-Patient-Verhältnis erwartet, fühlt sich bald in dieser Erwartung irritiert und enttäuscht. Der Analytiker ist ein Experte anderer Art, seine Methode unterscheidet sich grundsätzlich vom üblichen Arzt-Patient-Modell. Allmählich erkennt der Patient mit Hilfe der Interpretationen seines Analytikers, wie er diesen »behandelt«, und wird, was seine unbewußten Tendenzen betrifft, selbst zum »Experten«. Ebenso ergeht es Supervisanden in einem gelingenden Supervisionsprozeß.

Supervision erhält, weil es notwendig ist, unbewußte Prozesse einzubeziehen, die Bedeutung der »Veröffentlichung« bislang privatisierter Verhaltensaspekte und damit die eines »Risikos« bzw. einer Belastung für die Identität der Supervisanden. Neben das Interesse an der Ausdifferenzierung der beruflichen Kompetenz tritt die Angst, daß die erreichte berufliche Identität destabilisiert werden könnte. Diese ambivalente Ausgangssituation bestimmt auch die weitere konflikthafte Logik des Supervisionsprozesses (vgl. Leber et al. 1989, S. 159).

Will man diesen Prozeß aus der Perpektive der teilnehmenden Beobachtung als Supervisor bewerten, so müssen die gegenläufigen Bewegungen und Tendenzen als Bestandteile des Vorgehens verstanden werden. Dem Wunsch nach Einsicht und Veränderung steht derjenige, etwas zu verdecken und beim Erreichten zu verharren, entgegen.

Diese Widersprüchlichkeit in der Verständigung wird für die psychoanalytisch orientierte Supervision in die Begriffe Übertragung und Widerstand gefaßt. Ein entscheidendes Auswertungskriterium für unsere Teamsupervision liegt somit in der Untersuchung des Übertragungsgeschehens, seiner Funktion und Handhabung im Supervisionsprozeß.

In der Auseinandersetzung über den Stellenwert von Fallgeschichten als Forschungsinstrument hat man ihre heuristische Aussagekraft hervorgehoben (vgl. Kächele 1981; Stuhr & Deneke 1993). In dieser Sicht sollte die hier dargestellte Fallgeschichte, die sich auf keine anderen Mittel als auf Erinnerung und Notizen, also auf Gedächtnisprotokolle stützt und damit den Gegebenheiten der Praxis entspricht, folgende Gütekriterien aufweisen:

Die konzeptgeleitete Supervisionspraxis sollte plausibel sein;

die berufliche Selbstreflexion der Supervisanden sollte nachvollziehbar und plausibel interpretiert sein;

die für die Falldarstellung notwendige Subjektivierung (vgl. G. Overbeck 1993, S. 44f.; Thomä & Kächele 1985, S. 379f.) sollte auch heuristische Vorannahmen über die Logik solcher Prozesse im allgemeinen ermöglichen.

Wir denken, daß folgende Vorannahmen durch die Fallgeschichte einer Supervision ausgewiesen und formulierbar sind:

Der Supervisionsprozeß wird als Entwicklungsprozeß konzeptualisiert.

Er wird durch die selbstreflexive Wahrnehmungseinstellung, die am Konfliktgeschehen orientiert ist, vorangetrieben.

Gegenläufige Bewegungen von Veränderung und Stagnation, Progression und Regression sind Bestandteile der für das Verfahren charakteristischen selbstreflexiven Verständigung aller Beteiligten in der Supervision.

Die unbewußten Dimensionen in der Teamsupervision werden als Übertragungsvorgänge verstanden, die im Setting der Supervision spezifische Ausgestaltungen und Verwendungen erfahren (vgl. die Darstellung der verschiedenen Reinszenierungsphänomene in Teil III, Kap. 12–15).

Übertragungen und Widerstände sind Bestandteile des Erkenntnisvorganges in der Supervision, auch wenn sie zunächst als Störungen der intendierten Arbeit in Erscheinung treten.

Kapitel 2 Geltungskriterien psychoanalytischer Supervision – szenisches Verstehen, Übertragung und Veränderung

Indem wir das Supervisionsverfahren als tiefenhermeneutisches Verfahren auffassen, können wir formulieren, welche Kompetenzen die Falldiskussionsgruppe als Ganze wie auch die einzelnen Teilnehmer mitbringen und entfalten müssen, um dieses Verfahren allmählich zu realisieren. Die Veränderung liegt somit in der Verwirklichung des Verfahrens. Das Supervisionsverfahren, das aus dem psychoanalytischen Verstehen in der Balint-Gruppenarbeit abgeleitet wird, bringt potentiell auch eine Veränderung der Supervisanden mit sich. Die an Veränderung interessierte Verständigung in der Supervisionspraxis spielt für uns eine zentrale Rolle.

Die »Natur« bzw. die Gesetzmäßigkeiten des psychoanalytischen Verstehensprozesses wurden von A. Lorenzer (1972, 1974) ausführlich untersucht und dargestellt. Ihm ging es um die spezifische Logik der psychoanalytischen Erkenntnis, um intersubjektiv hergestellte Bedeutungen und Sinnzusammenhänge, nicht um die Beweiskraft von Fakten und Ereignisabfolgen. In dieser Auffassung eines hermeneutischen Verstehensvorgangs spielt der Konsens, der zwischen den Dialogpartnern hergestellt werden kann, eine wichtige Rolle für die Gültigkeit der hervorgebrachten Bedeutungen. Die Frage, ob ein Analysand zusammen mit dem Analytiker Bedeutungen herstellen bzw. sich auf eine Interpretation einigen kann, ohne sich dem vermuteten oder erwarteten Interpretationsmonopol des Analytikers zu unterwerfen, läßt sich nur beantworten, wenn man die Bedingungen klärt, unter denen der Analysand (bzw. Supervisand) Subjekt dieses Dialogs bleibt (vgl. Habermas 1968, S. 306; Lorenzer 1972, 1974; Schröter 1974).

A.Lorenzer nimmt an, daß die gültige Interpretation eines unbewußten Sinnzusammenhanges intersubjektiv im szenischen Verstehen gewonnen wird: durch freie Assoziation, gleichschwebende Aufmerksamkeit, probeweise Identifizierung mit dem Analysanden und probeweises Einsetzen alltagspraktischer Vorannahmen. Das zentrale Erkenntnismedium des psychoanalytischen Verfahrens besteht nach A. Lorenzer vor allem in der praktischen Teilhabe an der psychischen Realität des Analysanden mit Hilfe von Übertragung und Gegenübertragung sowie durch die Evidenz der jeweiligen Szene.

Das Sprechen des Analysanden in der ihm unbewußten Übertragung – sein »privatsprachlich verzerrter Dialog« – kann deshalb entschlüsselt werden, weil der Analytiker durch seine Gegenübertragung an der Reinszenierung konflikthafter Erfahrungen des Analysanden teilhat und in gewisser Weise sogar in sie verstrickt wird. Auf dieser Grundlage praktischer Teilhabe am Übertragungsgeschehen sowie den darauf gründenden Sinn- und Bedeutungskonstruktionen können die Muster mißglückter Verständigung nicht nur nacherlebt, sondern auch korrigiert werden.

Die strukturelle Ähnlichkeit der psychoanalytischen Erkenntnis in der Therapie mit der Logik früher Objektbeziehungen, die im geglückten Verlauf auf Einfühlung gegründete Einigungsformen herausbilden, ermöglicht es, die Validierung der Interpretationen auf gegenseitige empathische Anerkennung zwischen Analysand und Analytiker zu stützen. Plausibilität und Evidenz von Einfällen und Interpretationen bilden sich in diesem Zusammenhang heraus.

Nach dem Verständnis der Objektbeziehungstheorie ist die Mutter der frühen Mutter-Kind-Dyade dann einfühlsam, oder wie D.W. Winnicott (1960, 1973) formulierte, »ausreichend gut« (»good enough«), wenn sie an der Spannungsregulation und Konfliktlösung des Kindes so beteiligt ist, daß dessen Entwicklungslogik unterstützt wird und die elterliche Bedürfnisregulation in den Hintergrund tritt. Obgleich die Mutter von der Logik der Entwicklung und der Asymmetrie der Beziehung her gesehen die Definitionsmacht darüber besitzt, was eine Situation bedeutet, unterstellt sie dennoch ihrem Kind, daß es vom Beginn seines Lebens an Subjekt seiner kindlichen Erlebens- und Handlungsspielräume ist. Einfühlung ist also an die Vorstellung von Wechselseitigkeit gebunden. Sie berücksichtigt, daß das Kind die Fähigkeit besitzt, etwas zu bewirken wie auch allmählich seine Begrenzungen und Abhängigkeiten anzuerkennen. Auf diese Weise eröffnet die einfühlsame Einstellung der Mutter dem Kind jene äußeren und inneren Spielräume, die es braucht, um seine Entwicklung und damit auch seine »Lebensentwürfe« jeweils altersspezifisch zu verwirklichen.

In vergleichbarer Weise ist die intersubjektive Verständigung im Konzept des szenischen Verstehens enthalten. Es wird davon ausgegangen, daß entgleiste Dialoge sich gemäß der Vorstellung des Wiederholungszwanges immer wieder in der Gegenwart herstellen. Für die »Entgleisung eines Dialogs« (vgl. Spitz 1976) ist charakteristisch, daß die Logik der Sprache und das Gefühl der Gewißheit, verstanden und anerkannt zu sein bzw. sich selbst zu verstehen, nicht mehr miteinander verbunden sind.

Wiederholungen bzw. Reinszenierungen von Beziehungsmustern sind der Ausgangspunkt für die Rekonstruktion entstellter Bedeutungen. Im Rahmen der psychoanalytischen Methode ist der Analysand oder Supervisand die letzte Instanz, welche die Angemessenheit von Deutungen »verifiziert« oder »falsifiziert«. Geltung erhält die Interpretation allerdings nur dann, wenn methodisch eine »außergewöhnliche Gesprächssituation« (Argelander 1970 a) oder »ein Dialog jenseits der geltenden Konventionen« (Deserno 1990, 1994) geschaffen werden kann. Das psychoanalytische Setting stellt den äußeren Rahmen dar, innerhalb dessen sich eine nichtkonventionelle, außergewöhnliche Gesprächssituation entfalten kann. In ihr entwickelt sich ein spezifisches Verständnis zwischen Analytiker und Analysand, in das, wie U. Stuhr (1993, S. 102) formuliert, »die subjektive Wahrheit beider Dialogpartner als affektiv getragener Konsens Eingang findet«.

U.Stuhr bezieht sich im Kontext seiner Überlegungen zur Herstellung einer Fallgeschichte auch auf den Wahrheitsbegriff, wie ihn W. Loch (1976) verwendet. W. Loch definiert Wahrheit als Übereinstimmung und als Sinn mit lebenspraktischer Bedeutung. Letzteres »treffe aber vor allem für die Wahrheit in der Konstruktion zu, indem durch Interpretation beim Patienten eine ›sichere Überzeugung‹ bzw. ein sicheres Selbstgefühl erreicht werden soll« (Loch 1976, S. 874). Weiter heißt es bei Stuhr (1993, S. 101):

»Der möglichen Willkür beim Abfassen von Fallgeschichten aufgrund der Konstruktions-›Macht‹ des Psychoanalytikers steht im Dialog mit dem Patienten ein wichtiges Grundprinzip der Psychoanalyse gegenüber, das Loch ›gegenseitigen Konsens‹ nennt (Loch 1976, S. 880) […] Der Reaktionsweise des Patienten auf ein Deutungsangebot kommt damit entscheidende Bedeutung zu.«

Das Nichtverstehen und der Widerstand, an dem die gegenseitige Übereinstimmung – der Konsens, der auf einem »sicheren Selbstgefühl« beruhen sollte – scheitert, führt zwar zu verfahrenspraktischen Schwierigkeiten, gehört aber in dieser Sicht zur konflikthaften Logik des beschriebenen Prozesses der Konsensbildung.

J.Benjamin (1993) verweist auf eine vergleichbare Dialektik von Bindung und Getrenntheit, von Aufeinanderangewiesensein und Unabhängigkeit für die frühen Entwicklungsphasen des Kindes, und analog dazu, für den analytischen Prozeß, wenn sie Anerkennung und Zerstörung in einen dialektischen Zusammenhang stellt. Sie schließt sich dabei D.W. Winnicotts Konzepten der Entstehung von Subjektivität und Kreativität in den frühen Eltern-Kind-Beziehungen an (vgl. Winnicott 1960, 1965, 1969, 1971). Die Eltern existieren erst wirklich und können nur dann als die bedeutsamen Anderen (»significant others«) vom kindlichen Subjekt anerkannt werden, wenn sie die »Angriffe« des Kindes »überleben« (Winnicott 1971, S. 105–09). In der analytischen Situation wird die Anerkennung des realen Anderen erst möglich, wenn die früheren Bezugspersonen als phantasierte Andere in der Übertragung wiedererlebt werden. Zum Prozeß intersubjektiver Verständigung gehört auch die vorübergehende Infragestellung. Sie kann als Nichtanerkennung oder gar Zerstörung der Identität des Anderen erlebt werden und ist eine wichtige Voraussetzung dafür, daß sich die beabsichtigte Veränderung realisieren kann.

In der Auseinandersetzung mit textanalytischen Methoden postuliert U. Oevermann (1993) eine grundlegende Differenz zwischen seiner »objektiven Hermeneutik« und der angewandten Psychoanalyse als »Tiefenhermeneutik«. Er hält die Tiefenhermeneutik für ein Verfahren, das geeignet ist, die Verständigung in der Therapie bzw. anderen Anwendungen der Psychoanalyse zu organisieren. Damit schreibt er der Tiefenhermeneutik eine Funktion zu, welche die objektive Hermeneutik nicht übernehmen könne: die notwendigen Reduktionen von Bedeutungen in den praktischen Dialogen von Therapie und Supervision zu organisieren. Oevermann unterstellt eine mögliche Arbeitsteiligkeit zwischen Tiefenhermeneutik und objektiver Hermeneutik, indem nämlich die Tiefenhermeneutik die erforderliche »Abkürzung der expliziten Rekonstruktionsverfahren der objektiven Hermeneutik« in der Praxis des therapeutischen oder supervisorischen Prozesses übernehme (ebd., S. 146). Auf diese Kontroverse möchten wir hier nicht näher eingehen. Wir meinen, daß die in den Teilen II und III dargestellte Fallgeschichte einer Teamsupervision mit den Mitteln der Tiefenhermeneutik angemessen interpretierbar ist, selbst wenn man die von Oevermann vorgenommene Eingrenzung der Tiefenhermeneutik auf eine Art Handwerkslehre gegenüber dem Universalitätsanspruch der objektiven Hermeneutik teilen würde.

Das tiefenhermeneutische Sinnverstehen, das nach U. Oevermann (1993, S. 146) den Status eines »therapiepraktischen Verständigungsprozesses« hat, produziert jenes Wissen, das die Veränderung in Therapien und Supervisionen herbeiführt. H. Thomä und H. Kächele (1985, S. 382) unterscheiden Veränderungswissen, das in der Praxis gewonnen wird, und Grundlagenwissen; letzteres könne nicht in der psychoanalytischen Praxis überprüft werden. Mit der hermeneutischen Methode könne »nur die Entdeckung und Gewinnung von vorläufigen Hypothesen erreicht werden, […] nicht aber deren Prüfung«. Die folgende Aussage, die Thomä und Kächele zur Therapieforschung machen, möchten wir auf die Supervisionsforschung übertragen (ebd.):

»Der Analytiker, der im therapeutischen Alltag steht, muß sich fragen, ob seine Behandlungstechnik für beides geeignet ist, sowohl für die Aufstellung neuer Hypothesen und die Vertiefung des psychoanalytischen Wissens, als auch für die Förderung des Heilungsprozesses.«

Entsprechend muß sich der Supervisor fragen, ob seine Supervisionstechnik für beides geeignet ist, sowohl für die Aufstellung neuer Hypothesen als auch für die Förderung der beruflichen Selbstreflexion und die aus ihr resultierende Veränderung.

Weiter argumentieren Thomä und Kächele, daß der einzelne Analytiker aus »prinzipiellen methodischen Gründen« nicht in der Lage sei, »dieser Trias [von Hypothesengenerierung, Wissensvertiefung und Heilung bzw. Veränderung] gerecht zu werden« (ebd.). Es sei ein hoher Anspruch, in der psychoanalytischen Situation die Gewinnung neuer Annahmen mit dem Heilungsinteresse verbinden zu wollen.

Richtungen der Psychotherapieforschung, die qualitative Forschung mit Methoden einer empirisch quantifizierenden und beweisführenden Wissenschaft verbinden wollen, fordern, daß die Veränderung, die sich im analytischen Prozeß vollzieht, durch objektivierende Methoden, also gleichsam von außen festgestellt und beurteilt werden müsse. Es sei erforderlich, Hypothesen durch die sogenannte Position der »off-line«-Forschung abzusichern (vgl. Faller 1993; Leuzinger-Bohleber 1994; Luborsky 1984; Luborsky & Crits-Christoph 1990; Tress 1993; zur Unterscheidung von »on-line«- und »off-line«-Forschung siehe U. Moser 1991).

Diese Forschung kann allerdings nicht die weitere Klärung der hermeneutischen Position ersetzen, die wir hier verfolgen. Wir versuchen die psychoanalytisch orientierte Supervision als einen methodisch orientierten und konzeptgeleiteten Prozeß darzustellen, der Gesetzmäßigkeiten hervorbringt, die sich aus der unmittelbaren Teilhabe des Supervisors oder der Supervisorin an diesem Prozeß beschreiben lassen. Eine Fallgeschichte dieser Art überzeugt durch ihre Plausibilität. Für ihre Abfassung gelten die gleichen Kriterien wie im praktischen Interpretationsprozeß der Supervision. Die Interventionen, Argumente und Interpretationen sollten glaubwürdig sein sowie Resonanz und Evidenz erzeugen. Für die Evidenz sind bestimmte intersubjektive Voraussetzungen erforderlich, die mit dem Übertragungsgeschehen verbunden sind und in der Literatur zur Supervision als Resonanz- oder Spiegelungsphänomene bezeichnet werden.

Alle Anwendungen der Psychoanalyse treffen in der Frage zusammen: Was geschieht mit der Übertragung im jeweiligen Anwendungskontext des psychoanalytischen Verfahrens? Bevor wir jedoch diese Frage genauer formulieren und beantworten können, erinnern wir daran, daß der Übertragungsbegriff vielfach verändert wurde.

In der Psychoanalyse gab es von Anfang an den Begriff des Widerstandes, mit dem ein Äquivalent der innerseelischen Abwehr auf der interaktionellen Ebene der Behandlungssituation formuliert wurde. Zunächst war mit dem Widerstand gemeint, daß der Analysand oder Patient sich gleichsam sträubte, am Ziel der gemeinsamen Arbeit festzuhalten und den Sinn der Symptome erhellen zu wollen. Bald jedoch erkannte Freud, daß der Widerstand nicht nur der innerpsychischen Abwehrfunktion entsprach, sondern in der konkreten Behandlungssituation auf das Abgewehrte, wenn auch in entstellter Form, hinwies. Der gleiche perspektivische Wechsel ergab sich für das Konzept der Übertragung. Erschien es zunächst überraschend und befremdlich, wenn der Patient die Orientierung an einem gemeinsamen Ziel mit einer sehr persönlichen erlebten Beziehung zum Analytiker durchsetzte, so gelang Freud doch die Entdeckung, daß gerade die Übertragungsphänomene »uns den unschätzbaren Dienst erweisen, die verborgenen und vergessenen Liebesregungen der Kranken aktuell und manifest zu machen, denn schließlich kann niemand in absentia oder in effigie erschlagen werden« (Freud 1912 b, S. 374).

Übertragungsphänomene sind ubiquitär. Sie sind auch nicht per se pathologische Erscheinungen. Selbstreflexive Prozesse geben der Übertragung mehr Raum als streng geplante Handlungsabläufe. Das hat den Vorteil, daß in einer Supervision Situationen, die mit den Zielen der Arbeit interferieren, auf Beziehungsmuster mit ungelösten Konflikten hin untersucht werden können. Es ist die Übertragung, die den »Transfer« eines unbewußten Geschehens von einem Klienten über seinen Betreuer, der in der Supervision berichtet, in das Team hinein ermöglicht, so daß typische ungelöste Konflikte der jeweiligen Klientel durch ihre Reinszenierung im Team nachvollzogen und erkannt werden können. In Teil III werden verschiedene Manifestationen der Übertragung beispielhaft dargestellt.

Nach Laplanche und Pontalis (1967) ist die Übertragung derjenige Vorgang, »wodurch die unbewußten Wünsche an bestimmten Objekten im Rahmen eines bestimmten Beziehungstypus, der sich mit diesen Objekten ergeben hat, aktualisiert werden. Dies ist im höchsten Maße in der analytischen Beziehung der Fall. Es handelt sich dabei um die Wiederholung infantiler Vorbilder, die mit einem besonderen Gefühl von Aktualität erlebt werden« (S. 550).

Diese Definition enthält genaugenommen zwei Vorgänge, die Aktualisierung (unbewußter Wünsche im Rahmen eines Beziehungstypus) und die Verschiebung auf den Analytiker. Verschiedene Autoren haben herausgearbeitet, was in der analytischen Situation das Auftreten der Übertragung begünstigt. Frühere Autoren wie I. Macalpine (1950) haben die liegende Position des Patienten und die Versagung, die nicht zuletzt darin liegt, daß alle Wünsche und Ängste gleichsam durch das Nadelöhr der Versprachlichung gehen, als gleichbleibende Faktoren der analytischen Situation für die Förderung der Übertragungsentwicklung benannt. Spätere Autoren wie M. Gill (1982) beziehen das Moment der Übertragungsförderung in das technische Vorgehen des Analytikers ein. Je weiter und vielfältiger der Übertragungsbegriff gefaßt werden mußte, wollte man den Wissenszuwachs über die Ich-Psychologie hinaus (vgl. Eagle 1984) durch die Objektbeziehungstheorie (z.B. Kernberg 1980), die Entfaltung der Selbstpsychologie (Kohut 1971; Stolorow et. al. 1987), der neueren Kleinianischen Theorie (insbesondere Bion) und der Säuglingsforschung (s. Übersicht bei Dornes 1992, 1993) berücksichtigen, desto weniger ließ sich die Vorstellung halten, daß die Übertragung ein Mechanismus gestörter psychischer Abläufe sei.

In der Übertragung kommen zwei Momente zusammen, die dieses Konzept von Anfang an als widersprüchlich erscheinen lassen, was nicht an ungenauer Begriffsbildung, sondern an der Eigenart des Verhaltensausschnittes liegt, auf den die Übertragung sich bezieht, nämlich auf unbewußte Abläufe in Beziehungen. Auf der einen Seite besteht die Übertragung in repetitiven und maladaptiven Erlebnis- und Beziehungsmustern; das macht ihre »Negativität« aus, auf welche die Objekte der Übertragung mit Abwehr reagieren. Auf der anderen Seite stellt die Übertragung eine Potentialität in Richtung Integration dar. Beide Seiten zusammen eröffnen einen Erkenntnisraum, indem das Moment der Wiederholung überschritten wird und die psychische Realität sich neu organisieren kann (vgl. Deserno 1995).

Während in der »klassischen« ich-psychologischen Perspektive die Übertragung als intrapsychischer Vorgang definiert wurde, haben die genannten späteren Entwicklungen die strikte Begrenzung auf intrapsychische Prozesse aufgehoben und interpersonelle bzw. interaktive Prozessen einbezogen. Auch hier spielten die Anwendungen der Psychoanalyse eine große Rolle. Kurztherapien, Paartherapien, Gruppentherapien und Supervisionen führten zur Konzeptualisierung von Prozessen, bei denen intrapsychische und interpersonelle Aspekte verschränkt sind. Beispielhaft nennen wir H.-E.Richters Untersuchungen Eltern, Kind, Neurose (1963) und Patient Familie (1972), H. Stierlins Beschreibung von Aufträgen und Delegationen (1974, 1978), J. Willis Kollusionen bei Paaren (1975) und nicht zuletzt die Arbeit von S. Mentzos Interpersonelle und institutionalisierte Abwehr (1976 bzw. 1988), in der auch eine Systematik bzw. Typologie intrapsychisch-interpersoneller Konstellationen versucht wird. Später faßte Mentzos (1982) diese Konstellationen als »psychosoziale Kompromißbildungen« zusammen.

Diese Untersuchungen haben wieder in die Anwendung der Psychoanalyse zurückgewirkt und sich z.B. bei M. Gill (1982) und I.Z. Hoffman (1992) zu einem »interpersonal point of view« bzw. einem »social constructivistic approach« konturiert, der auch von Autoren wie J. Benjamin (1989, 1992) oder R.D. Stolorow et al. (1987) geteilt wird. In den nächsten Kapiteln möchten wir zur Erörterung einiger Konzepte übergehen, deren Bedeutung uns für die Anwendung der Psychoanalyse als Supervisionsmethode wichtig erscheint.

Kapitel 3 Zum Konfliktmodell in der psychoanalytisch orientierten Supervision

Das Modell des psychischen Konfliktes ist ein Grundpfeiler der Psychoanalyse, sowohl ihrer Theorie als auch ihrer verschiedenen Anwendungen. Es geht von der Widersprüchlichkeit und Unbewußtheit erlebter Realität aus. Erlebnisformen, die im Kontext äußerer oder materieller Realität nicht aufgehen, dort inadäquat sind und die Realisierung von Handlungen stören oder unterlaufen, bilden den Hauptfokus. Wir wollen zeigen, wie bewußte und unbewußte Erlebnisformen in der beruflichen Wirklichkeit mit den institutionellen Strukturen in Konflikt geraten, oder umgekehrt, daß berufliche Ziele und Ansprüche sich ohne angemessene institutionelle Strukturen nicht verwirklichen lassen.

Die Aufmerksamkeit des Supervisors richtet sich vorrangig auf unbegriffene Konflikte, die im Spannungsfeld von institutionalisierten Funktionen und Kooperationsformen einerseits und persönlicher Professionalität der Mitarbeiter eines Teams andererseits entstehen. Konflikthafte Erlebnisformen werden erschlossen, indem von einem Fall ausgegangen wird, der ein bestimmter Klient oder eine problematisch gewordene Arbeitsform sein kann. Weiterhin nehmen wir an, daß in den Fällen oder berufsbezogenen Problemdarstellungen eine Konfliktlösung bereits angesteuert wurde, deren Durchführung aber noch aussteht. Da es um unerledigte Konfliktlösungen im beruflichen Kontext geht, bildet auch in der Supervision eine Art Leidensdruck, der von etwas Aufgeschobenem oder Nichtbearbeitetem ausgeht, den Ausgangspunkt der Selbstreflexion.

Das Konfliktmodell umfaßt sowohl ungelöste Konflikte bzw. scheiternde Konfliktlösungen als auch die Vorstellung, daß Konflikte lösbar sind, wenn abgewehrte Konfliktanteile in die psychischen Prozesse integriert werden können. Auch wird im Verlauf einer Supervision durch den Wechsel von regressiven und progressiven Prozessen eine relative Integration konflikthafter Erfahrungen erreicht. Die Beschäftigung mit den Konflikten der Klientel und den Kooperationskonflikten in der Arbeit erhöht die psychosozialen Kompetenzen eines Teams (König, 1993, S. 210; vgl. Kap. 16).

Im folgenden möchten wir einige theoretische Vorannahmen der psychoanalytischen Entwicklungspsychologie heranziehen, die in die Supervisionsarbeit und ihre Einschätzung eingehen.

In der psychoanalytischen Theorie wird die ontogenetische Entwicklung als konflikt- und krisenhaft gesehen. Der Konflikt wird als Baustein eines inneren Strukturbildungsprozesses verstanden. Die zunehmende Strukturierung des Psychischen ist Ergebnis aufeinanderfolgender typischer Konflikte und ihrer Verarbeitung. Der Konflikt ist für die Psychoanalyse vor allem innerseelisches Konfliktgeschehen. Es setzt sich, modellhaft vereinfacht, aus triebbestimmten Wünschen einerseits und icherhaltenden Tendenzen andererseits zusammen.

Schreitet die Entwicklung fort, dann gewinnt das Ich an Fähigkeiten. Unter ungünstigen Entwicklungsbedingungen nehmen einschränkende Maßnahmen des Ich überhand. Sie sind als Abwehrmechanismen gegen konflikthafte Erfahrungen bekannt und wurden 1934 erstmals systematisch von Anna Freud dargestellt. Ein Übermaß von Angstentwicklung im Ich führt zu einer Intensivierung der Abwehrvorgänge, die wiederum die Ausdifferenzierung von Ich-Funktionen behindert.

Beziehungsformen, die zu typischen aufeinanderfolgenden Entwicklungskonflikten gehören, schlagen sich in Form innerer Objektbeziehungen, d.h. als psychische Struktur nieder. Das Ich besitzt eine spezifische Fähigkeit, die früheren Beziehungsformen, die sich als Struktur niedergeschlagen haben, in interpersonellen Situationen zu reaktualisieren. H. Argelander (1970 b) spricht von einer »szenischen Funktion des Ich«. Die Befunde der Paar-, Familien- und Gruppentherapie haben gezeigt, daß die intrapsychischen Abwehrvorgänge gegen konflikthafte Objektbeziehungen auch immer durch interpersonell organisierte Formen der Abwehr ergänzt werden (z.B. Mentzos 1976, H.-E.Richter 1969, Stierlin 1976, Willi 1975).

Die typischen Konfliktkonstellationen der ontogenetischen Entwicklungsphasen oder infantilen Konflikte können mit Th. French (1952) auch als Kernkonflikte bezeichnet werden. Die Vielfalt späterer Konflikte ist Ausdruck von Kompromißbildungen; für sie wird auch die Bezeichnung fokaler Konflikt (French ebd.) verwendet. Dieser »stellt also eine Kompromißbildung dar, da er sowohl der aktuellen Situation als auch dem Kernkonflikt Rechnung trägt bzw. von beiden bestimmt wird« (Deserno 1992, S. 17f.).

In der psychoanalytischen Langzeittherapie werden die Kernkonflikte über das Durcharbeiten vieler fokaler Konflikte erreicht. In der psychoanalytischen Kurztherapie, insbesondere der Fokaltherapie nach Balint, schränkt man die therapeutische Arbeit auf einen bestimmten fokalen Konflikt ein (vgl. Balint 1972; Deserno 1992; R. Klüwer 1970; Leuzinger-Bohleber 1985). Stock-Whitaker und Lieberman (1964) haben das Konzept des fokalen Konflikts in Gestalt des fokalen Gruppenkonflikts auf den gruppentherapeutischen Prozeß angewendet.

In einer verkürzten Darstellung entwicklungsrelevanter Konflikte sind der infantile Autonomiekonflikt, der durch den ödipalen Konflikt ausgestaltet wird, und der adoleszente Ablösungskonflikt zu nennen. Der adoleszente Ablösungskonflikt reaktualisiert sowohl das infantile konflikthafte Thema von Autonomie und Abhängigkeit als auch das der libidinösen Objektwahl. Er dreht sich um die Geschlechtsidentität, die sexuelle Partnerwahl und die Übernahme sozialer Rollen. Reiche (1990) spricht von »Geschlechterspannung«, die im adoleszenten Ablösungskonflikt erst ihre spezifische soziale Ausgestaltung und Definition erhält. J. Benjamin (1990, 1993) betont den Konflikt zwischen Liebe und Sexualität einerseits, sozialer Anerkennung und Macht andererseits. Konflikthaft stellen sich vor allem die gegenläufigen Tendenzen dar, die zum einen an der Erhaltung von Beziehungen orientiert sind und zum anderen rivalisierend und aggressiv die Interessen des einzelnen verfolgen. Dieser Konflikt spitzt sich in der Adoleszenz geschlechtsspezifisch zu (vgl. Flaake & King 1992; Gilligan 1988, 1992).

Im Spannungsfeld von »Symbiose und Individuation« hat M.S. Mahler (1968, 1975