Erfindergeist - Peter Schmidt - E-Book

Erfindergeist E-Book

Peter Schmidt

0,0
4,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Um das zu verhindern, ersinnt der von seinem Außenposten aus dem Ausland abgezogene MAD-Agent Känder – ein "unbekanntes Gesicht" – eine Operation, die ein Ausbund an Verwicklung und Raffinesse ist. Nur eines der süffisant mitgeteilten Details: Als wichtigster Mitarbeiter für das Komplott wird der Insasse einer Irrenanstalt engagiert. Ohne sich in allgemeinen Reflexionen ergehen zu müssen, ist damit schon alles über die Geheimdienstarbeit gesagt. Eine Geschichte voller Boshaftigkeiten gegen die bekannte Bunkermentalität der Geheimdienste. –– PRESSESTIMMEN: "Vielleicht das Bösartigste, was von einem deutschen Autor in diesem Genre geschrieben wurde" (Jürgen Kehrer)

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 271

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Peter Schmidt

Erfindergeist

Agententhriller

 

 

 

Dieses ebook wurde erstellt bei

Inhaltsverzeichnis

Titel

ZUM BUCH

ÜBER DEN AUTOR

ERSTES KAPITEL

ZWEITES KAPITEL

DRITTES KAPITEL

VIERTES KAPITEL

FÜNFTES KAPITEL

SECHSTES KAPITEL

SIEBTES KAPITEL

ACHTES KAPITEL

NEUNTES KAPITEL

ZEHNTES KAPITEL

ELFTES KAPITEL

ZWÖLFTES KAPITEL

DREIZEHNTES KAPITEL

VIERZEHNTES KAPITEL

FÜNFZEHNTES KAPITEL

SECHZEHNTES KAPITEL

SIEBZEHNTES KAPITEL

ACHTZEHNTES KAPITEL

WEITERE TITEL

Impressum neobooks

ZUM BUCH

Wegen diverser Pannen soll der Militärische Abschirmdienst (MAD) dem Bundesnachrichtendienst (BND) unterstellt werden. Um das zu verhindern, ersinnt der von seinem Außenposten aus dem Ausland abgezogene MAD-Agent Känder – ein »unbekanntes Gesicht« – eine Operation, die ein Ausbund an Verwicklung und Raffinesse ist. Nur eines der süffisant mitgeteilten Details: als wichtigster Mitarbeiter für das Komplott wird der Insasse einer Irrenanstalt engagiert. Ohne sich in allgemeinen Reflexionen ergehen zu müssen, ist damit schon alles über die Geheimdienstarbeit gesagt. Eine Geschichte voller Boshaftigkeiten gegen die bekannte Bunkermentalität der Geheimdienste.

„Die Glaubwürdigkeit der Lüge wächst mit dem Grad ihres Detailreichtums. Je mehr überprüfbare und verstehbare Zusammenhänge man uns an die Hand gibt, desto eher werden unsere Zweifel zerstreut.“

Ungekürzte, überarbeitete Fassung der gedruckten Ausgabe im Rowohlt Verlag, Reinbek

Copyright © 2013 Peter Schmidt

–– MIT DEM DEUTSCHEN KRIMIPREIS AUSGEZEICHNET ––

PRESSESTIMMEN

http://autor-peter-schmidt-pressestimmen.blogspot.de/

„Vielleicht das Bösartigste, was von einem deutschen Autor in diesem Genre geschrieben wurde“

(Jürgen Kehrer über „Erfindergeist“)

„Raffiniert“

(Westdeutsche Allgemeine, WAZ über „Erfindergeist“)

„Unter den deutschen Kriminalschriftstellern ist der Westfale Schmidt fraglos einer der wenigen, die wirklich erzählerisches Format besitzen.“

(Hamburger Abendblatt

„Auffallend an Schmidts dramaturgisch raffinierten Agenten-Storys sind - neben der Detailtreue - die skeptische Weltanschauung und eine geradezu undeutsch klare kühle Prosa.“

(stern)

„Thriller mit Tiefgang“

(Rheinischer Merkur)

„Deutschlands einziger (jedenfalls einziger ernst zu nehmender) Autor im Agenten-Genre.“

(Vorwärts)

„So wichtig die raffiniert eingefädelte, doppelbödige, absichtlich verwirrte Handlung auch ist (und in der Hinsicht ist beispielshalber Erfindergeist kaum zu überbieten): Hinter den Plots steckt mehr, anderes, als die dürre Nacherzählung vermuten läßt. Es geht Peter Schmidt immer um die Menschen, die agieren oder reagieren müssen. Es geht um die Macher, die gnadenlos ihre Komplotte einfädeln, es geht um die Opfer, die sich im Netz der Intrigen verheddern, und schaut man genau hin, ist jeder Macher und Opfer zugleich. Der kleine Macher das Opfer der großen Macher, die großen die Opfer ihrer selbst.

Was da ausgeheckt und durchgezogen wird, ist allenfalls noch in der literarischen Schlusspointe zu durchschauen. Das Komplott gewinnt eine solche Eigendynamik, dass sich keiner mehr entziehen kann, auch die Initiatoren nicht, dass es im Grunde nicht mehr zu stoppen ist.“

ÜBER DEN AUTOR

Peter Schmidt, geboren im westfälischen Gescher, Schriftsteller und Philosoph, gilt selbst dem Altmeister des Spionagethrillers John le Carré als einer der führenden deutschen Autoren des Spionageromans und Politthrillers. Darüber hinaus veröffentlichte er Kriminalkomödien, aber auch Medizinthriller (zuletzt „Endorphase-X“), Wissenschaftsthriller, Psychothriller und Detektivromane.

Bereits dreimal erhielt er den Deutschen Krimipreis („Erfindergeist“, „Die Stunde des Geschichtenerzählers“ und „Das Veteranentreffen“). Für sein bisheriges Gesamtwerk wurde er mit dem Literaturpreis Ruhr ausgezeichnet.

Schmidt studierte Literaturwissenschaft und sprachanalytische und phänomenologische Philosophie mit Schwerpunkt psychologische Grundlagentheorie an der Ruhr-Universität Bochum und veröffentlichte rund 40 Bücher, darunter mehrere Sachbücher.

AUTORENINFO

http://autoren-info-peter-schmidt.blogspot.de/

WEITERE AGENTENTHRILLER:

Augenschein

Schafspelz

Das Veteranentreffen (DEUTSCHER KRIMIPREIS)

Mehnerts Fall

ERSTES KAPITEL

Der Mann aus der Anstalt

Man erkennt die Torheit

erst von ihrem Ende her.

Ecuadorianische Spruchweisheit

Ich gab dem Verrückten einen Geldschein und das schien ihn mehr zu überraschen als irgendetwas sonst in seinem vergangenen Leben …

Er betrachtete ihn eine Weile auf der Handfläche, als sei es dort angewachsen. Wir standen etwas abseits zwischen zwei Spielautomaten und der Theke.

Ich hatte diesen Platz gewählt, weil uns dort keiner von den übrigen Gästen beobachten konnte (der Wirt rumorte hinten in seiner kleinen Küche).

Traphan war um die Fünfunddreißig, ein hochaufgeschossener, hagerer Bursche, das trockene dunkle Haar aufgerichtet wie die Federhaube eines Häherkuckucks, aber schon mit dem Faltengesicht von jemandem, der sein ganzes Leben in Anstalten unter eingeschlossenen Irren zugebracht hatte. Trotz der seltsam künstlich wirkenden Falten, die seine Augenwinkel bis über die Wangenknochen verunzierten, erinnerte er eher an einen großen, unbeholfenen Jungen.

Etwas wie unbezwingbare Melancholie oder Hilflosigkeit den Rätseln der Welt gegenüber lag in seinem Blick. Rätsel, die für ihn an der nächsten Straßenecke begannen, denn über sie war er seit seiner Ankunft in München noch nicht hinausgekommen. Seine Schwester, die mit ihm die Ausreisegenehmigung in den Westen erhalten hatte, betrieb zwei Häuser weiter einen kleinen Tabakladen und kümmerte sich um ihn, wenn er Ausgang bekam.

Er galt als harmlos, aber so unbeholfen, dass man ihn vor sich selber schützen mußte.

Einmal im Monat half er im winzigen Lagerraum des Tabakladens Kartons zusammenfalten und Zigarrenkisten zerkleinern und dafür brachte er etwas Schnupftabak und bunte Abziehbildchen aus einem Preisausschreiben mit, das längst vergessen war (ich hatte sie von außen an den Fensterscheiben der Anstalt kleben sehen).

In den ersten Tagen war er von einem Pfleger begleitet worden. Doch dann hatte man ihn allein gehen lassen: gegen den hochheiligen Schwur bei seiner Sammlung alter Stofftiere am Kopfende des Bettgestells, dass er sich nicht vom vereinbarten Weg zum Tabakladen seiner Schwester entfernte. Anscheinend glaubte man, er liefe offenen Auges in eine Straßenbahn oder breche sich an der Bordsteinkante sofort beide Beine, aber ich würde beweisen, dass er so umsichtig und intelligent handeln und sogar ein Verbrechen begehen konnte wie jeder gewöhnliche Mensch auch, falls man es fertigbrachte, sein Vertrauen zu gewinnen und ihn gründlich genug dazu anleitete.

Natürlich bekam er nie Geld in die Hände, um sich zu betrinken. Aber er wusste, dass Alkohol die verrückten Gedanken austreibt, wenigstens für eine Weile – weiß Gott, das wusste er so gut wie jeder andere!

Ich stieß meinen Literkrug mit ihm an und er nickte und wischte sich blöde grinsend den Schaum von der Nasenspitze, nachdem er ihn bis zur Hälfte geleert hatte. Er benutzte dazu nicht den Handrücken, sondern nahm das Revers seiner dünnen Sommerjacke.

«He, langsam», warnte ich. «Du bekommst, soviel du willst. Aber immer mit der Ruhe, sonst liegst du mir gleich im Gang.»

Er druckste eine Weile herum, als habe es ihm die Sprache verschlagen. Dann sagte er völlig klar:

«Sie geben mir Geld und was zu trinken – wieso?»

Ich war überrascht, denn sein melancholischer Blick verwandelte sich für Sekundenbruchteile in den eines scharfen Wachhunds, in die Augen eines Rottweilers oder Dobermanns, falls man das sagen kann. Aber im Grunde war es nicht weiter verwunderlich: diese Irren haben oft lichte Momente. Nur dass sein Argwohn so plötzlich kam, machte mich etwas stutzig.

«Ich will, dass wir Freunde werden.»

«Freunde? Wozu?»

«Na, es gibt immer zu wenig davon – oder?», gab ich ausweichend zur Antwort.

Er kratzte sich am Kopf; dann deutete er mit einer unsäglich leidend wirkenden Kinnbewegung zur anderen Straßenseite und über das Dach des gegenüberliegenden Gebäudes, hinter dem, unsichtbar aus dieser Perspektive, die Anstalt lag, und sagte:

«Ich bin drüben aus dem … Heim.»

«Na und?», fragte ich.

«... und hab nur einmal im Monat Ausgang.»

«Du wirst zwei- oder dreimal in der Woche Ausgang bekommen. Dafür kann ich sorgen.»

«Wirklich?», fragte er. Unglauben spielte in seiner Miene.

Ich beugte mich etwas zur Seite, damit mehr Licht von der Wandlampe auf seine Züge fiel. Noch immer erinnerte mich seine faltige Haut um die Augen an einen schlecht geschminkten Schauspieler, den der Maskenbildner vergeblich älter erscheinen lassen wollte, als er war. Eine unnatürliche Röte lag auf seinem Gesicht.

Erst viel später sollte ich erfahren, dass es eine seltene Krankheit frühzeitigen äußeren Alterns war, deren lateinisch klingender Name mir entfallen ist.

«Hand drauf.»

«Wie heißt du?»

«Nenn mich einfach Ralf.»

«Mein Name ist Erich Traphan.»

«Du stammst aus der DDR, hab ich recht?»

Er musterte mich seltsam fragend. Und dann war plötzlich dieses Misstrauen da, das er, wahrscheinlich zu Recht, auch seinen Ärzten entgegenbrachte und mit dem ich später noch so oft zu kämpfen haben sollte. Diesen merkwürdigen Halbgöttern in Weiß, die angeblich alles über seine Krankheit wussten oder in Erfahrung bringen wollten und sein Leben doch mit der Eile einer Sendung leicht verderblicher Waren verwalteten.

«Wieso weißt du davon? Ich rede mit niemandem darüber.»

«Dein Dialekt …»

Er nickte. «Muss ich mir abgewöhnen», meinte er nachdenklich.

«Wozu denn?», fragte ich.

«Um nicht aufzufallen …» – Er sagte es mit so lauter, erhobener Stimme, dass ich beruhigend meine Hand auf seinen Arm legte. «Las uns lieber hinausgehen», schlug ich vor.

«In den Park?», fragte er.

«Gut, warum nicht in einen Park ….»

Wir überquerten den Max-Joseph-Platz. München wirkte um diese Stunde – am späten Samstagnachmittag – wie irgendeine x-beliebige deutsche Provinzstadt, die mich unangenehm an meinen letzten Außenposten in Bulgarien erinnerte.

Wegen der Ausweisung dreier hochgestellter Botschaftsangehöriger hatte mich Stankowitz sicherheitshalber nach Pernik dirigiert, einer Kleinstadt etwa dreißig Kilometer westlich von Sofia, weil er zu Recht befürchtete, man könnte mir verdächtige Kontakte zu ihnen nachwiesen und ich würde ebenso wie sie in den Bannstrahl der bulgarischen Regierung geraten und ausgewiesen werden. Pernik …!

Trotz seines «Museums der Revolutionsbewegung», trotz des Nationaltheaters und eines dreckspeienden Hüttenkombinats ein Alptraum an Biederkeit und Langeweile. Pernik, diese Stadt an der oberen Struma, die ihrem Namen soviel Ehre machte wie eine Schilddrüsengeschwulst.

Ich hasste Kleinstädte – so wie ich Schreibtischarbeit und Büros hasste, weil sie meiner geistigen Gesundheit abträglich waren – und die Stille eines Sonntagnachmittags brachte mich um den Verstand. Pernik besaß soviel davon, dass ich mich mehr als einmal am Bahnhof wiedergefunden hatte, fest entschlossen, alles hinzuwerfen und ins westliche Ausland zurückzukehren, nach Amsterdam, nach Rom oder Paris, wo ich einige angenehme Jahre verbracht hatte.

Bulgarische Kleinstädte sind eine armselige Ausgabe des Sozialismus: schon im Frühsommer vor Hitze flimmernde Luft und kaum hat man das Zentrum verlassen, armselige Bauernkaten mit Schweinekofen und privat bewirtschafteten kleinen Gemüsegärten, die von schiefen Bretterzäunen umrahmt werden. Hier in München war es auch nicht viel besser, zumindest nach Geschäftsschluss, ehe ein Heer von Nachtschwärmern aus Bar-, Theater- und Kneipenbesuchern die Innenstadt zu seinem Revier erklärte. Aber ich war wenigstens im Außendienst.

Wir nahmen die Straßenbahn zum Botanischen Garten (Traphan war begierig, damit zu fahren und ich tat ihm den Gefallen, obwohl ein Taxi weniger Aufmerksamkeit erregt hätte).

«Siehst du den kleinen roten Strauch da über der Steinbrüstung?», fragte ich.

Wir waren in einem einsamen Winkel des Parks und ich würde es riskieren können.

«Was ist damit?», nickte er.

«Wie dick ist sein Ast?»

«Zwei Finger ...»

«Ungefähr, ja.»

Ich zog die Nullacht mit dem Schalldämpfereinsatz aus meinem Gürtel und legte darauf an.

Ein dumpfes Geräusch – als schlage man mit dem Eispickel in eine Schädeldecke – begleitete das Zurückschwingen meiner Hand und die Strauchkrone flog wie von Geisterhand bewegt hinter der Brüstung zu Boden.

«Großartig», jubelte er und streckte begierig die Hand nach der Nullacht aus.

«Später», wehrte ich ab. «Ich muss dir erst noch die Grundbegriffe beibringen.»

«Du willst mir das Schießen beibringen?»

«Wenn du niemandem etwas davon verrätst, ja.»

«Auch nicht meinen Ärzten?», fragte er und hielt einen Moment lang unschlüssig inne.

«Denen erst recht nicht.»

«Das geht in Ordnung», lächelte er befriedigt. «Sie stopfen mich mit Pillen voll. Ich werd‘s keinem von denen verraten.»

«Dann wär‘s mit deinen Freigängen vorbei.»

«Und meine Schwester?»

«Zu niemandem ein Sterbenswörtchen.»

«Großartig, ganz großartig.»

«Und jetzt gehen wir was essen. Ich nehme an, der Anstaltsfraß hängt dir schon zum Hals heraus.»

«Pizza?», fragte er. «Was du willst.»

«Nudeln als Vorspeise, grüne Bandnudeln. Und dazu viel Wein, roten italienischen», sagte er schwärmerisch.

Wir kehrten in einem kleinen Lokal ein, dessen Besitzer Sizilianer war und – wie ich aus unseren Dossiers wusste – von der hiesigen Maffia abkassiert wurde. Ich hatte mir von allen Lokalen, Personen und Institutionen, die in den kommenden Wochen auf meinem Besuchsplan standen, im Kölner Amt möglichst genaue Unterlagen besorgt, um sicherzugehen, dass mich niemand erkennen und dass ich keinem alten Bekannten begegnen würde.

Es war düster wie in einer billigen Bar, mit imitierten Fischernetzen, präparierten Tintenfischen und großen Muscheln unter der Decke, die im rötlichen Licht die Fleischfarbe überdimensionaler Ohren angenommen hatten, aber Traphan schien es zu gefallen.

Als er zur Toilette ging, goss ich unauffällig etwas von meinem Mineralwasser in sein Weinglas. Da er nicht an Alkohol gewöhnt war, würde er sonst möglicherweise beim Anstaltspförtner auffallen und all die mühseligen Recherchen der letzten Tage waren keinen Pfifferling mehr wert.

«Bist du Polizist?», fragte er, während er weit vorgebeugt seine Bandnudeln verzehrte.

«Bewahre, nein.»

«Sondern?»

«Ich bin … hm, das ist eine heikle Angelegenheit. Ich weiß nicht, ob ich dir jetzt schon etwas davon ...?»

«Denk an unsere Abmachung», sagte er.

Ich blickte mich ausgiebig und für ihn unübersehbar um – die Nachbartische waren unbesetzt, der Wirt reparierte draußen auf einer Leiter stehend seine Sonnenmarkise, nur aus der Küchendurchreiche drangen gedämpfte italienische Stimmen –‚ und Traphan beobachtete mich aufmerksam dabei.

«Bist du gern im Westen?», fragte ich.

«Gern, sehr gern, ja. Die ostdeutschen Anstalten waren scheußlich, ganz scheußlich.»

«Du weißt, dass man drüben allerlei windige Tricks anwendet, um dieses Land auszuhorchen, um es zu unterwandern, zu sabotieren, ihm seine Arbeit zu stehlen und in den Augen der eigenen Bevölkerung schlechtzumachen? Denen ist keine Schandtat zu dreckig.»

«Tatsache?», fragte er.

«Das reicht bis in die höchsten Stellen.»

«Geheimdienst?», erkundigte er sich und horchte dem Klang des Wortes wie der Beschwörung einer unbekannten Welt nach. Sein melancholischer Ausdruck war der witternden Kopfbewegung eines Hundes gewichen, den man aus dem Mittagsschlaf aufgeschreckt hatte.

Erst jetzt bemerkte ich, dass seine Augen etwas schief standen. Traphans Stimme, in der sonst ein eigenartiges Tremolo wie von schwer unterdrückter Nervosität mitschwang, klang plötzlich völlig klar. «In München?»

«Hier bei uns gibt es zwei große Dienste – Köln und München. Sie konkurrieren miteinander, obwohl ihre Aufgabenbereiche klar getrennt sind … aber das gehört nicht zur Sache», berichtigte ich mich. «München ist seit langem in den Verdacht geraten, von der anderen Seite unterwandert zu sein – vom Osten», fügte ich hinzu, weil ich nicht sicher war, dass er mich verstand.

«Tatsächlich? Nie was drüber gehört. Ich lese nämlich regelmäßig die Anstaltszeitungen», erklärte Traphan mit treuherzigem Augenaufschlag.

«So was steht nicht in den Zeitungen.»

«Hm ... nein, natürlich nicht. Nur wenn wieder einer dieser Burschen aufgeflogen ist?»

«Wir würden gern einigen von ihnen mit deiner Hilfe das Handwerk legen.»

«Wieso mit meiner Hilfe? Habt ihr keine eigenen Leute?»

«Du bist unverdächtig. Niemand würde dir zutrauen, das zu bewerkstelligen. Und in die Anstalt kann man dir nicht folgen, dort bist du sicher.»

«Ist es so gefährlich?» Seine Stimme blieb überraschend klar; ein ganz vernünftiger Ausdruck hatte sich seiner Züge bemächtigt. Ich dachte an die noch vor Jahren unvorstellbare Erkenntnis (die auch meiner eigenen Geistesverfassung nicht ganz fremd war), dass Psychotiker manchmal eine Sucht nach ihrer eigenen Krankheit aufweisen: dass sie ihre seelischen Katastrophen nur aus Langeweile und Öde am Dasein produzieren und dass sie auch bei als geheilt entlassenen Patienten wieder auftreten, sobald sie der grenzenlosen Fadheit und Leere des Alltags überlassen werden.

Andererseits handelten Geisteskranke bei einem Brand oder einer anderen Katastrophe oft sehr besonnen. Die äußere Lage ersetzte ihnen ihr inneres Desaster, nahm ihren Platz ein, und sie wirkten ganz vernünftig.

Etwas von dieser Klarheit schien seit meiner Demonstration mit der Nullacht und dem Wort Geheimdienst auf ihn übergegangen zu sein, als ahne er, dass die Verrücktheiten draußen in der Welt für ihn in so greifbare Nähe geraten waren, dass er auf seine eigene Verrücktheit verzichten konnte.

«Trinkst du keinen Alkohol?», fragte er und zeigte auf mein Mineralwasser.

«Im Dienst nur selten.»

Alkohol bekam mir nicht, schon nach dem halben Liter Bier verspürte ich wieder jenes eigentümliche Unbehagen, das die altbekannten Symptome ankündigte. Seit Stankowitz mich von meinem Außenposten in Bulgarien zurückgerufen hatte, rührte ich keinen Tropfen mehr an. Nicht weil ich alkoholabhängig war und einen Rückfall befürchtete, sondern weil Alkohol eine eigentümliche Wirkung auf mich ausübte. Er machte mich anfällig für gewisse unangenehme Phantasien …

«Im Dienst?». sagte Traphan versonnen. «Aber ich bin doch jetzt auch im ...?» Er schob das Weinglas mit gespreizten Fingern zur Tischmitte. «Oder?»

«Meine Hand darauf.»

«Werde ich ... ich meine, weil ich doch für euch arbeite – werde ich nun öfter Freigang bekommen?»

«Versprochen.»

«Unser Anstaltsleiter ist ein schwieriger Mensch», sagte er zweifelnd. «Er hält jeden, der einmal in seine Klinik eingeliefert wurde, für verrückt. Er ... glaubt nicht wirklich, dass er Verrückte heilen kann. Deshalb misstraut er allen, die vorgeben, wieder gesund zu sein. Er behauptet, sie verstellen sich nur oder sie werden rückfällig.»

«So ist die Welt», bestätigte ich.

«Wirst du mir helfen?»

«Wo immer ich kann.»

ZWEITES KAPITEL

Die Stimme des Dirigenten

Ich ging durch die Einkaufspassage, fuhr in dem von Spiegelglas und Kupfer strotzenden Schacht mit der Rolltreppe zur zweiten Ebene hinauf und betrat eine Kaufhaustoilette. Jemand hatte in fünfzig Zentimeter großen schwarzen Lettern seine Telefonnummer auf die Wand geschmiert, als könne er damit allen anderen Angeboten an Türen und Fliesen den Rang ablaufen.

Vor dem kleinen Spiegel hinter der Waschraumtür zog ich die beiden Silikoneinlagen heraus, die meinem Gesicht das Aussehen eines dicklichen älteren Mannes verliehen, löste die dichten rötlichen Brauen ab und legte meine beiden getönten Haftschalen in das dazugehörige Plastikkästchen zurück. Dann wischte ich mir mit einem Papierhandtuch den rötlichen Schimmer von den Wangen; aus einem halben Meter Entfernung hatte er wie das Adernetz eines Menschen mit Bluthochdruck gewirkt.

Irgendwann würden sie Traphan Fotos zur Identifizierung vorlegen, vielleicht erst in einem sehr späten Stadium aber es würde geschehen. Ich hielt es für unwahrscheinlich, dass sie dabei an das Kölner Amt dachten. Wenn überhaupt jemand auf diese abwegige Idee verfiel, dann würde es Rieder sein, die allmächtige zweite Hand des Münchener Dienstes

Seine Phantasie war schon immer etwas «absonderlicher» Art gewesen …

Stankowitz hatte mich aus Bulgarien zurückbeordert, weil ich für München ein unbekanntes Gesicht war, er ahnte nichts von dieser Verkleidung und es war von größter Wichtigkeit, dass er es nie erfahren würde. Ich kämmte mein Haar in gewohnter Weise aus der Stirn nach hinten, zog die dünne Überjacke aus, verstaute sie in der Plastiktüte, die sich in meiner Innentasche befand, und musterte mich im Spiegel. Känder, du bist alt geworden, dachte ich. Und du wirst noch älter aussehen, wenn dein Plan misslingt.

Trotzdem fühlte ich mich in meinem Element: Ich brauche das Gefühl des Risikos, wie andere ihre Rentenversicherung oder die Sicherheit einer zentral beheizten Vier-Zimmer-Etagenwohnung mit Frau und Kind. Und das ist kein leeres Gerede.

Ich ging durch die Marienstraße und am Valentin-Museum vorüber in Richtung Isar. An der Ludwigsbrücke nahm ich sicherheitshalber die Treppe zum Wasser hinunter, um zu prüfen, ob mir jemand unter den Brückenpfeiler folgte. Aber in dieser Phase würde ich kaum überwacht werden.

Dass Stankowitz sich persönlich nach München bemühte, zeigte seine Nervosität. Wenn einem Mann in seiner Position der Geduldsfaden reißt, ist das entweder ein Zeichen äußerster Bedrängnis oder ein Hinweis darauf; dass man ihn besser austauschen sollte, weil seine Nerven versagen; vielleicht auch beides.

Auf der anderen Isarseite wandte ich mich hinter dem Bürgerbräukeller nach links. Das Haus Nummer dreiundzwanzig stand leer und wurde zur Vermietung angeboten. Ein gelbes Schild im Fenster der ersten Etage zeigte die Telefonnummer des Besitzers.

Wenn man ihn anrief wurde allerdings niemals abgehoben. Deshalb würde das Haus noch in einigen Jahren unvermietet sein und schon bald – Gerüchte entstanden und vermehrten sich wie Bakterien, man mußte ihnen nur genügend Nährlösung bieten – aus irgendeinem dubiosen Grund als unvermietbar gelten. Dreimal in Abständen von einer Viertelminute klingeln bedeutete: Kontaktaufnahme.

Dann würde jemand aus der Kölner Zentrale noch am Abend desselben Tages im Hause erreichbar sein.

Ich trat in die Toreinfahrt. Der Eingang war von den gegenüberliegenden Häusern nicht einsehbar.

Auf der Rückseite, zwischen der S-Bahn-Station und den Fahrbahnen, lag ein winziger Park, deshalb konnten Beobachter nie sicher sein, ob ein Besucher das Haus oder den dahinterliegenden Park ansteuerte.

Nachdem ich aufgeschlossen hatte, horchte ich ins Treppenhaus. Eines von der Sorte aus Kaisers Zeiten, mit hohen, gipsverzierten Decken und losen Bodenfliesen. Die Glühlampen entweder defekt oder herausgedreht, um ungebetene Gäste im Dunkeln empfangen zu können, nahm ich an. Es war diese Art von Mätzchen, die Stankowitz‘ Schreibtischplaner austüftelten, wenn sie nicht gerade wieder von einem Skandal heimgesucht wurden.

Wie ein Blinder tastete ich mich durch das Dämmerlicht voran – und stieß prompt gegen die erste Treppenstufe ... ein polterndes Geräusch, das nur ein Schwerhöriger überhören konnte.

Meine verdammte Nachtblindheit!

Ich hatte sie so lange wie möglich vor Stankowitz und den anderen geheimgehalten. Aber er mußte trotzdem herausgefunden haben, dass ich gesundheitlich nicht auf der Höhe war. Er wollte mir einen «ruhigen Schreibtischposten» in der Kölner Zentrale verordnen (und ahnte dabei nicht, dass ich mit dem Rücken zur Wand kämpfte, weil Büros Gift für mich bedeuten).

In Bulgarien war es eine Kleinigkeit gewesen, den wichtigen Personen gegenüber zu verheimlichen, dass ich Telefonnummern und andere Daten auf Spickzettel notierte – diese Gedächtniskünstler in den Abteilungen hätten sich vor Lachen auf die Schenkel gehauen –- und nach Einbruch der Dunkelheit halbblind durch die Gegend tappte.

Ich teilte mir meine Arbeit selber ein, lernte das Programm auswendig und legte alle Treffen auf die hellen Tagesstunden. In Köln würde ich unter Neonlicht in einem dieser verdammten Büros von der Größe eines Schuhkartons sitzen und beim Nachhauseweg vor die Wand laufen, falls in der Tiefgarage das Licht ausfiel. Vom Autofahren bei Nacht und Nebel ganz zu schweigen. Aber alle diese Probleme waren harmlos gegen das, was mich nach ein paar Wochen zwischen vier Wänden erwartete: Ich brauche den Außendienst wie andere die Atemluft.

«Kommen Sie rauf», schallte Stankowitz‘ Stimme durch das Treppenhaus.

Ich nahm an, dass er auf dem obersten Treppenabsatz stand und schob meinen Kopf zwischen die Geländersprossen, um zu ihm hinaufzusehen.

«Sie blinzeln wie ein pensionierter Grubengaul …» murrte er prompt. «Wo, zum Teufel, ist Ihre Brille?»

«Hab nie eine getragen. Meine Augen sind in Ordnung …»

Als ich oben war, zeigte er in ein leeres Zimmer, in dessen Mitte zwei einsame Stahlrohrstühle standen, als habe man sie dort beim Auszug vergessen.

«Hinsetzen», sagte er und strich sich gedankenverloren durch das schlohweiße Haar (ich fragte mich, wie ein Mensch mit solcher Dirigentenmähne täglich den Kölner Berufsverkehr durchqueren konnte, ohne aufzufallen). Trotz seines militärischen Ranges bevorzugte er Zivilkleidung.

Es war sein knapper Ton, der mich immer in Rage brachte. Man munkelte, er verfalle damit unbewusst in die Sprechweise seines designierten Nachfolgers, eines Brigadegenerals.

Es sollte zwar noch nicht mehr als eine leere Drohung sein, konnte aber schon bald Wirklichkeit werden, wenn der militärische Abschirmdienst noch einmal in die Schlagzeilen geriet. Die Zeitungen hatten einen wahren Sturmlauf veranstaltet.

Für wahrscheinlicher hielt ich es allerdings – nach neuesten Gerüchten aus dem Kanzleramt –‚ dass sie den ganzen Laden der Münchener Führung unterordnen würden. Vor wenigen Monaten noch ein undenkbarer Zusammenschluss, nach den Fehlern und Schlampereien der letzten Wochen jedoch eine ganz reale Angstvision. In den Büros sprach man von nichts anderem. Ich glaube, Stankowitz fürchtete den Verlust seiner Selbständigkeit mehr als den Tod.

«Also?», fragte er und zeigte noch einmal auf den Stuhl. «Was haben Sie?»

Er selbst blieb stehen. Auf dem Boden an der Wand sah ich zwei zusammengerollte Tageszeitungen, eine Thermosflasche und seine lederne Umhängetasche, mit der er immer wie ein zum Boten degradiertes Vorstandsmitglied wirkte. Das Telefon und die Fernschaltung nach Köln mussten irgendwo in der Wand versteckt sein.

Ich ließ meinen Blick gedankenverloren über die Nähte der Tapeten schweifen, konnte aber nichts entdecken.

«Känder …», sagte er ärgerlich. «Ich rede mit Ihnen.»

«Positiv, ja, positiv.»

«Ich fragte, was Sie haben.»

«Wir finden etwas, ganz sicher.»

«Sie verschwenden seit zwei Wochen unsere Gelder und das Ergebnis ist negativ, absolut negativ.»

«Es war mager, ja. Aber dafür wird das Ergebnis um so fetter sein – der dickste Hund seit langem …»

«Ich wollte, Sie würden sich nicht bloß in Andeutungen ergehen», seufzte er. «Wie lange noch?»

«So was braucht Zeit.»

«Sie hatten nicht die Spur einer Spur.»

«Jetzt habe ich sie.»

«Auf einmal?»

«Sogar genau, was wir brauchen.»

«Also rücken Sie schon damit heraus ...»

«Ich würd‘s gern absichern. Lassen Sie mir noch etwas Zeit. Ein bis zwei Wochen.»

«So lange? Herr im Himmel ... Sie wissen, dass man mich dann schon wie einen feuchten Aufnehmer in die Besenkammer gehängt haben kann? Und den übrigen Laden dazu.»

«Wenn ich Erfolg habe, sind Sie und wir über den Berg.»

«Das alles sieht mir nicht nach weltbewegenden Erkenntnissen aus», meinte er kopfschüttelnd und begann unschlüssig im Zimmer auf und ab zu gehen. Seine Hände bewegten sich nervös in den Manteltaschen.

Schließlich blieb er stehen, bückte sich nach der Thermosflasche und goss sich Kaffee in den Schraubbecher ein. Er schien nicht auf die Idee zu kommen, mir auch etwas davon anzubieten.

«Sie sind kein schlechter Mann, Känder», sagte er, als er sich aufrichtete. «Nur etwas langsam. Arrogant, eigenbrötlerisch. Aber Ihr Verstand ist in Ordnung. Etwas langsam, wie gesagt ...»

Er kratzte sich voller Unbehagen.

Ich bin jetzt in der Aufbauphase, wenn Sie mir nur noch ein paar Tage ...?»

«Wir sollten Sie aus dem Außendienst nehmen und Ihnen die Leitung des Unternehmens anvertrauen, die Denkarbeit. Die Finten, Känder. Sie haben Phantasie. Im Planungsstab sind Sie ausgezeichnet. Aber leider Gottes benötige ich für diese scheußliche Geschichte ein unbekanntes Gesicht.»

«Mir liegt die Arbeit draußen besser.»

«Das glauben Sie natürlich nur ... wer weiß schon, was für einen gut ist? Nein, Sie sind ein Schreibtischhengst. Sie gehören in meine Nähe. Sie müssen Verantwortung tragen. Das Stehen an zugigen Straßenecken bekommt Ihnen nicht.“

«Bin prächtig in Form, wenn ich nur etwas Pflaster unter den Schuhen spüre.»

«Widersprechen Sie mir nicht», sagte er. Die Bläue um seine scharfen Nasenflügel nahm zu.

«Erasmie und Rieder schotten sich gegen alle Informationen nach draußen ab, seit es diese Pläne zur Zusammenlegung gibt» (ich sagte bewusst Zusammenlegung statt Unterordnung, um ihn nicht noch weiter gegen mich aufzubringen), «und ein zweitklassiger Mann könnte Sie durch einen Fehler in Teufels Küche bringen.»

«Das weiß ich, Känder. Da erzählen Sie mir keine Neuigkeiten. – Erasmie ...», meinte er versonnen. «Dieser barhäuptige Heilige unter all den Sündern! Ein Mensch, der nicht raucht, nicht trinkt, keine Frauen hat. Abgebrochenes Theologiestudium, wenn ich mich recht erinnere.

Anscheinend besitzen einige dieser Knaben eine Affinität zur Religion, ehe sie in den Geheimdienst gehen. Dieselbe Art von Eiferertum, nehme ich an. Waren Sie nicht auch mal in dem Verein, Känder? Zu Anfang Ihrer Karriere? Was bringt einen wie Erasmie, der vier Jahre seines Lebens hinter Klostermauern verbracht hat und einmal Mitglied der evangelischen Landessynode war …»

«1933, nach der Gründung», warf ich ein. «Nur ganz kurze Zeit. Ein oder zwei Monate. Unter den nationalsozialistischen Versuchen, ihn und seinen Laden für die Staatskirche zu vereinnahmen, wurde er schnell zum Falken.»

«… an die Spitze des größten deutschen Dienstes?» fuhr er fort, als sei mein Einwand Luft. «Ist das nicht Ironie, Känder, hundsföttische Ironie?»

«Ja, Ironie.»

«Sie müssten es doch am besten beurteilen können. Der Mann scheint nachts im Büßergewand ins Bett zu steigen?»

«Seine Weste ist rein», bestätigte ich.

«Wir wissen beide, dass es keinen Dienst geben kann, der nur auf Tugendpfaden wandelt. Das liegt in der Natur der Sache. Also erledigen andere für ihn die Drecksarbeit. Was ist mit Rieder?»

«Rieder wird als sein genaues Gegenteil angesehen. Skrupellos, verschlagen auf eine besonders unangenehme Weise, die man schlecht fassen kann. Dabei durchaus gebildet, umgänglich, wenn es die Situation erlaubt. Wer ihn nur flüchtig kennt, würde ihn für einen liebenswürdigen alten Oberlehrer halten, Typ neunzehntes Jahrhundert, mit dem Rohrstock hinterm Rücken. Ein großer Teil seiner Arbeit gilt der eigenen Absicherung und Verschleierung.»

«Haben Sie da etwas?»

«Ich arbeite dran. Als zweite Spur.»

«Zweite Spur, zweite Spur ...»

«Rieder soll sein Amt zu krummen Geschäften missbrauchen.»

«Soll – oder hat er?»

«Angeblich benutzt er seinen Apparat, um westdeutsche Geldgeber vor gefährlichen Geschäften zu warnen. Möglicherweise nur Gerüchte.»

«Das wäre doch etwas», meinte Stankowitz.

«Die Abschottung von Informationen ist fast vollkommen, seit es diese Gerüchte über eine Zusammenlegung der Dienste gibt Sie wollen nicht ins Gerede kommen, nicht den Braten verlieren, ehe er gegessen ist. Erasmie hat besondere Direktiven erlassen. Keine Skandale, keine Gerüchte, Informationsstopp und Desinformation auf ganzer Linie. Ich bin zwei Wochen unterwegs gewesen, um die lächerliche Protokollabschrift einer geheimen Nachtsitzung einzukaufen, und das, obwohl alte Kollegen von uns bei ihnen arbeiten.

Fehlanzeige – nur ein dubioser Bericht über angebliche Ränkepläne Gromykos gegen Tschernenko. Quelle unbekannt Drang nicht einmal bis ins Kanzleramt vor. Ansonsten keine Ergebnisse. Sitzen auf ihren Papierbergen und hämmern GEHEIM-Stempel drauf.»

«Sie haben doch dieses Mädchen – wie ist noch gleich ihr Name ...?»

«Puslowa, tschechische Überläuferin. Nein, sie hat mich verlassen, wegen meiner Auslandsaufenthalte.»

«Ahnt sie noch immer nichts von Ihrer Arbeit?»

«Ich habe mich streng an Ihre Anordnung gehalten.»

«Natürlich, ja. Behalten Sie sie im Auge.»

«Das hatte ich vor.»

DRITTES KAPITEL

Alte Liebe rostet nicht

Die Puslowa wohnte im vierten Stockwerk eines Geschäftshauses aus der Vorkriegszeit. Es war die einzige Wohnung. In den Etagen darunter gab es drei Versicherungsbüros, eine Schauspieleragentur und die Gemeinschaftspraxis zweier Rechtsanwälte. Es mußte auch einen Zahnarzt geben, dem Geruch nach medizinischem Gurgelwasser zu urteilen, der mich immer anwehte, wenn ich die Fahrstuhltür öffnete.

Stankowitz hatte nicht ahnen können, dass die Puslowa einen festen Platz in meinem Plan einnahm. Deshalb würde er meine plötzlichen Besuche bei ihr auf seine Anregung zurückführen, falls ich irgendwann von seinen Leuten kontrolliert wurde.

Ich läutete und legte gleichzeitig meine Hand auf das Türauge.

«Känder ... nimm deine klebrigen Pfoten weg», sagte eine bös klingende Frauenstimme hinter der Tür.

Sie war noch immer die alte – poltrig und direkt. Eigentlich bevorzugte ich Frauen, die weniger laut und anstrengend waren. Aber ich hatte sie zu einer Zeit kennengelernt, als ich es mir nicht aussuchen konnte. Schon Stankowitz‘ rüder Ton strengte mich immer an. Ich bemerkte mit Entsetzen, dass ich es ihm gleichzutun versuchte und dabei etwas von einem Chamäleon annahm, obwohl es mir darin an Kräften mangelte.

Ehe die Tür nach innen gezogen wurde, nahm ich meine Hand zurück.

Eine füllige, rotgefärbte Frau in den Vierzigern musterte mich mit in die Hüften gestemmten Armen – noch etwas fülliger, als ich sie in Erinnerung hatte.

«Ich glaub‘s nicht …», sagte sie.

«Nur für eine halbe Stunde. Denk nicht, dass ich mich bei dir einquartieren will.»

«Das wäre ja noch schöner. Ich sollte dir die Tür vor der Nase zuschlagen.»

«Du bist so liebenswert wie immer.»

«Komm mir nicht mit der Feinen-Pinkel-Art …»

Ich drängte sie mit sanfter Bewegung beiseite, küsste sie flüchtig auf die Wange und ging ins Wohnzimmer.

Sie stand breitbeinig im Korridor und blickte sich verdutzt nach mir um.

«Wie lange ist es her?», fragte ich und setzte mich auf ein klobiges Monstrum von Couch, das unter meinem Gewicht den Geruch von feuchtem Seegras verströmte.

«Wie lange was?»

«Dass wir uns nicht mehr gesehen haben. Vier Monate?»

«Nicht lange genug für dich Saukerl.»

«Ob ich Kaffee möchte? – gern …»

«Du kannst deine Unverschämtheiten so wenig ablegen wie andere ihre Haut. Kaffee!»

Trotzdem verschwand sie kopfschüttelnd in der Küche und gleich darauf hörte ich eine altmodische Handmühle mahlen. Tassen klirrten, der Wasserkessel fauchte.

Die Wohnung war eine Mansarde und für Büros oder Arztpraxen ungeeignet. Da das Haus über einen Durchgang vom Hausmeister nebenan betreut wurde, zahlte sie mitten im Münchener Stadtzentrum einen Spottpreis an Miete; und das war sicher der Hauptgrund, weshalb sie sich als alleinstehende Frau in einem einsamen Büro- und Geschäftsgebäude einquartiert hatte. Wenn sie einen Spleen besaß, dann die Angst vor Vergewaltigungen. Damit konnte höchstens noch die Angst vor ihren Landsleuten konkurrieren, seit sie sich wegen ihrer Flucht aus der Tschechoslowakei politisch von ihnen verfolgt glaubte.

Sie war nur eine unbedeutende kleine Parteisekretärin gewesen. Aber bei den seltenen Gelegenheiten, wenn sie über ihr Leben drüben sprach, hatte ich immer heraushören können, dass sie sich im Westen für eine Art Geheimnisträgerin hielt. Da sie in der Organisation nur den Bereich der Materialbeschaffung verwaltete und weitläufig mit Rieder verwandt war, hatte man sie nach einigen Sicherheitsüberprüfungen ohne Bedenken eingestellt.

Sie setzte die Kanne vor mich hin und als sie eingoss, nutzte ich die Gelegenheit und kniff sanft in ihre Speckrolle, die sich unter dem dünnen bedruckten Kleiderstoff an ihrer Hüfte abzeichnete.

«Füllig geworden, altes Mädchen …»

Sie drückte meine Hand weg. «Was bist du nur für ein Mensch, Känder», sagte sie in ihrem östlich klingenden Deutsch. «Wo andere ihre schwarze Seele haben, ist bei dir ein Loch, dunkler als die schwärzeste Nacht. Ich werd nie wieder mit dir Die Gefangene und ihr Richter spielen.

Ich wird’ mich nie wieder in Seile und Riemen wickeln lassen, um dir zu gefallen. Und du wirst nie wieder mit deinen klebrigen Fingern mein Fleisch berühren. Ich hab viele Wochen gebraucht, um die letzten blauen Flecken loszuwerden.»