Erinner mich an Liebe - Julia Beylouny - E-Book

Erinner mich an Liebe E-Book

Julia Beylouny

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Beschreibung

Denn das Schicksal schreibt die besten Geschichten ... Die 26-jährige Katie ist gelangweilt von ihrem Job als Krankenschwester. Also wagt sie den Sprung ins Ungewisse: Sie nimmt eine Stelle bei Bayless an, dem mysteriösen Unbekannten mit der verführerischen Stimme. Ihr Job: Vorleserin. Der Haken: Sie darf Bayless nicht sehen. Erst, wenn sie ihm das erste Buch bis zum Ende vorgelesen hat, erfährt sie, wer ihr neuer Arbeitgeber wirklich ist. Schon nach den ersten Zeilen spürt Katie, dass diese Geschichte ihr Leben von Grund auf verändern wird. Auch von Bayless fühlt sie sich magisch angezogen. Wer ist der geheimnisvolle Mann, der Katie so rätselhaft und vertraut zugleich vorkommt? Katies Leben ist dabei, sich für immer zu verändern …

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Die AutorinJulia Beylouny wurde 1980 in Paderborn geboren, wo sie mit ihrem Mann und ihren drei Kindern lebt. Sowohl ihr Debüt, die Fantasytrilogie Durch die Flut, als auch ihr Liebesroman Lisanne erschienen im p.machinery Verlag (2012-2015). Zudem wirkt sie in verschiedenen Anthologien mit.

Das BuchDenn das Schicksal schreibt die besten Geschichten.  Die 26-jährige Katie ist gelangweilt von ihrem Job als Krankenschwester. Also wagt sie den Sprung ins Ungewisse: Sie nimmt eine Stelle bei Bayless an, dem mysteriösen Unbekannten mit der verführerischen Stimme. Ihr Job: Vorleserin. Der Haken: Sie darf Bayless nicht sehen. Erst, wenn sie ihm das erste Buch bis zum Ende vorgelesen hat, erfährt sie, wer ihr neuer Arbeitgeber wirklich ist. Schon nach den ersten Zeilen spürt Katie, dass diese Geschichte ihr Leben von Grund auf verändern wird. Auch von Bayless fühlt sie sich magisch angezogen. Wer ist der geheimnisvolle Mann, der Katie so rätselhaft und vertraut zugleich vorkommt? Katies Leben ist dabei, sich für immer zu verändern …

Julia Beylouny

Erinner mich an Liebe

Roman

Forever by Ullsteinforever.ullstein.de

Originalausgabe bei Forever Forever ist ein Digitalverlag der Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin August 2016 (1) © Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2016  Umschlaggestaltung: ZERO Werbeagentur, München Titellabbildung: © FinePic® Autorenfoto: © privat  ISBN: 978-3-95818-123-6  Sämtliche Inhalte dieses E-Books sind urheberrechtlich geschützt. Der Käufer erwirbt lediglich eine Lizenz für den persönlichen Gebrauch auf eigenen Endgeräten. Urheberrechtsverstöße schaden den Autoren und ihren Werken, deshalb ist die Weiterverbreitung, Vervielfältigung oder öffentliche Wiedergabe ausdrücklich untersagt und kann zivil- und/oder strafrechtliche Folgen haben.

Für Elisabeth und Hermann,

weil die Liebe das Wertvollste ist.

»Wow!«, rief Emma und musterte sie von oben bis unten. »Du weißt schon, dass dich niemand durch das Mikro sehen kann, oder?«

»Ja, ich weiß. Aber irgendwie fühle ich mich besser, wenn ich …«

»…im schwarzen Minikleid im Sender aufschlage, schon klar. Aber, okay, wieso nicht?«

Katie lächelte. Ganz egal, was Emma dachte. Der Anlass war ein offizieller, und sie würde dort nicht in verwaschenen Bluejeans und Wollpulli aufkreuzen. Eines der Dinge, die sie schon früh zu Hause gelernt hatte, war, dass man sich den Anlässen gegeben kleidete.

»Komm, lass uns reingehen.« Ihre Freundin deutete auf ein Straßencafé. »Da drüben ist ein Tisch am Fenster frei. Wir haben noch eine gute Stunde Zeit, bis du los musst. Bist du aufgeregt?«

Was für eine Frage!

»Ich denke schon«, murmelte Katie.

»Natürlich bist du aufgeregt! Ich bin es ja sogar. Schade, dass du im Elders gekündigt hast.«

Sie setzten sich, und Emma winkte die Bedienung an den Tisch. Zu dieser Tageszeit war das Café noch nicht überfüllt. Ein paar Touristen und Geschäftsleute gönnten sich einen Tee in der Vormittagssonne. Leise Musik tönte aus den Deckenboxen. Die Luft duftete nach Vanillearoma. Das Elders. Wenn Katie an ihren alten Job zurückdachte, überkam sie Wehmut. Das Altenheim hatte ihr gut gefallen. Und ihr Chef würde sie jederzeit wieder einstellen, hatte er ihr versprochen.

»Für mich bitte einen Caffè Latte«, gab Emma ihre Bestellung auf. »Was trinkst du, Katie?«

»Ähm, eine Schokolade mit doppelt Sahne.«

»Doppelt Sahne?«

»Ich brauche Kalorien. Sonst stehe ich das gleich nicht durch.«

»Da haben Sie’s«, rief ihre verrückte Ex-Kollegin der Bedienung zu. »Caffè Latte und doppelte Kalorien für die Dame im schwarzen Mini.«

Katie warf einen Blick aus dem Fenster und fragte sich, ob es eine gute Idee gewesen war, sich vorher mit Emma zu treffen. Ihre schräge Art war eher geeignet, jemanden aufzubauen oder aus einer Depri-Phase zu locken. Wenn man jedoch nervös war– und das war sie – heizte sie einen nur noch mehr auf.

»Und du willst das sicher durchziehen?«

»Auf jeden Fall. Ich glaube, eine Veränderung wird mir gut tun.«

»Ich werde dich im Heim vermissen«, sagte Emma und zog ein Mitleid einforderndes Gesicht. »Ehrlich. Du hast ein Händchen für die alten Menschen. Allein schon, was Mrs Calby betrifft. Die Ärmste sucht doch pausenlos nach ihrer Handtasche. Du weißt ja, wie das ist. In jeder Sekunde denkt sie an diese Tasche, und mir gehen irgendwann die Nerven durch. Wie soll ich das ohne dich nur schaffen?«

»Ach, die gute Mrs Calby. Das ist nun mal so, wenn man dement ist. Du machst das schon. Da bin ich sicher.«

»Was bringt dich eigentlich aus der Ruhe?«

»Du?«

Emma lachte und zwei Kerle im Anzug schauten auffällig unauffällig in ihre Richtung.

»Im Ernst, Em. Ich hatte nie vor, mich ewig im Elders aufzuhalten. Und das wusstest du auch«, fuhr Katie fort.

»Ja, das wusste ich. Aber irgendwie hatte ich wohl gehofft, dass dir die Arbeit dort Spaß machen und du einfach bleiben würdest.«

»Es hat mir sogar großen Spaß gemacht. Vor allem, mit dir in einer Schicht zu arbeiten. Das ist doch das Wichtigste an der Sache, oder? Dass wir uns kennengelernt haben.«

Sie lächelten sich über den Tisch hinweg an, als die Bedienung die Getränke brachte.

Eine halbe Stunde später standen sie vor dem Eingang des größten Londoner Radiosenders. Emma umarmte Katie ermutigend und schob sie durch die gläserne Drehtür. Katie winkte ihr von drinnen zu, ihre Freundin hob die Daumen und wünschte ihr Glück.

Da war sie also. Auf eigenen Wunsch. Es hatte eine Zeit in ihrem Leben gegeben, in der sie einen Hang zum Verrückten gehabt hatte. Aber in diesem Moment schlotterten ihr die Knie. Der Tag war gekommen, etwas Neues auszuprobieren. Katie war Mitte zwanzig, und das Leben lag vor ihr. Es schrie förmlich danach, spontan sein zu wollen. Und flexibel. Wenn nicht jetzt – wann dann?

»Kann ich Ihnen helfen?«, fragte die Dame am Empfang und lächelte in ihre Richtung.

»Ja, sehr gern. Ich habe einen Termin in Studio Drei. In zwanzig Minuten. Bei Jefferson Barns.«

»Studio Drei ist in der zweiten Etage. Nehmen Sie einfach den Lift am Ende der Halle.«

»Danke.«

»Viel Erfolg!«

»Danke.«

Katie holte tief Luft. Im Fahrstuhl dudelte das aktuelle Programmvor sich hin. Die erste Vorankündigung zu Find Your Job. Emma saß sicher längst in der Küche der WG, und während das Radio lief, hockte Pie in einer Ecke und hatte striktes Redeverbot. Die Fahrstuhltüren schwangen auf, und ein roter Button über Studio Drei blinkte. On Air.

Auf dem Flur standen vier Stühle. Zwei davon waren besetzt. Ein Teenager in Bluejeans hing lässig in seinem Sitz, kaute Kaugummi und sah aus, als würde er den ganzen Tag nichts anderes tun, als über einen Radiosender nach einer neuen Arbeitsstelle zu suchen. Neben ihm saß eine ältere Dame und strickte an einem Schal. Beide schauten auf und musterten sie.

»Was geht ab?«, fragte der Junge.

»Ähm, bin ich hier richtig bei …?«

»Hi, Sie müssen Katie Hendriks sein«, sagte eine junge Frau, die in diesem Moment aus einem Nebenzimmer kam.

»Ja, das bin ich. Hallo.«

»Sie sehen toll aus! Ich bin Jen.« Die Mitarbeiterin des Senders streckte ihr zur Begrüßung die Hand entgegen. Gleich darauf schob sie ihr einen Fragebogen auf einem Klemmbrett zu. »Füllen Sie das einfach aus. Sie sind erst in vierzig Minuten dran.«

»Okay, danke.«

Katie setzte sich neben die ältere Dame und überflog die Fragen auf dem Zettel.

Name, Alter, Geburtsort, berufliche Qualifikationen, bisherige Arbeitsstellen.

»Ich wünsche Ihnen alles Gute, Liebes«, sagte die Frau neben ihr, ohne noch einmal vom Schal aufzuschauen. »Ich bin heute auf der Suche nach einer Haushälterinnenstelle. Babysitterin, Tagesmutter, Ersatzoma. Alles wäre mir recht.«

»Da drücke ich Ihnen die Daumen. Sie finden bestimmt etwas.«

»Das hoffe ich.«

»Tim?« Jen erschien wieder auf dem Flur und bat den Teenager, ihr zu folgen. Er war der erste Kandidat für die Sendung. Im Vorbeigehen zwinkerte er Katie zu und warf einen Blick auf ihre langen Beine.

Es dauerte eine halbe Ewigkeit, bis sie endlich an der Reihe war. Dann ertönten Schritte, Jen schwebte über den Flur, holte sie ab und führte sie in das Studio. Jefferson Barns, Katies absoluter Lieblingsmoderator, schob seinen Kopfhörer ein Stück zurück und grinste. Er trug ein gelbes T-Shirt und saß inmitten von Knöpfen und Reglern.

»Hallo! Nimm Platz. Du weißt, wie das hier funktioniert?«

»Ein bisschen.«

»Sollte wohl reichen. Ist ja heute Amateurradio«, sagte er mit einem Zwinkern. »Hübsch siehst du aus. Wenn der Song vorbei ist, legen wir los, okay? Du musst einfach locker auf meine Fragen antworten. Vermeide es, zu husten oder rumzuhampeln. Das geht alles mit raus, kapiert?«

»Alles klar.«

Sie setzte sich, strich ihre langen Haare zurück und versuchte, seine Anweisungen zu befolgen. Dabei war ihr speiübel vor Aufregung. Der Song endete, Jefferson schob an einigen Reglern herum und witzelte warmherzig Sprüche ins Mikro.

»Leute, ich weiß, ihr könnt meine nächste Bewerberin nicht sehen. Aber ich sage euch, ihr verpasst was! Vor mir sitzt die megasüße Katie Hendriks in einem enganliegenden schwarzen Minikleid und strahlt mich mit ihren wasserblauen Augen an. Katie, erzähl uns was über dich. Wie alt bist du, und welche Berufserfahrungen bringst du mit?«

»Hi, Jeff«, begann sie zaghaft. Er bedeutete ihr mit dem Zeigefinger, näher ins Mikro zu sprechen. »Ähm, tja, also … Ich bin sechsundzwanzig Jahre alt und habe eine abgeschlossene Krankenpflegeausbildung.«

»Eine Schwester! Wer hätte das gedacht? Was genau erhoffst du dir von Find Your Job?«

»Naja, nachdem ich zwei Jahre in der Pädiatrie und ein Jahr in der Altenpflege gearbeitet habe, suche ich jetzt nach neuen Herausforderungen. Gern auch in der häuslichen Pflege.«

»Leute, wenn ihr nicht sofort zum Telefon greift und dieser Frau ein Jobangebot macht, dann entgeht euch die heißeste Schwester, die ihr je gesehen habt! Katie kommt sogar zu euch nach Hause, und wenn sie euch so pflegt, wie sie aussieht, dann seid ihr schneller gesund, als euch lieb ist! Ruft uns an, wenn ihr Katie ein Angebot machen wollt. Sie sitzt hier direkt neben mir und wird all eure Fragen beantworten. Das ist Jefferson Barns und Find Your Job.« Er schob wieder an den Reglern herum, spielte ein Lied ein und schmiss sich lässig in seine Lehne.

»Häusliche Krankenpflege also?«

»Ganz genau.«

»Pah! Dazu wäre ich mir zu schade.«

Sie musste nicht lange überlegen, um zu antworten.

»Wenn du darauf angewiesen wärst, wärst du dankbar für jede Hilfe, die du kriegen könntest.«

Für einen Moment war er sprachlos. Jens Stimme ertönte aus dem Nebenraum. Sie wurde direkt in das Studio übertragen.

»Jeff, du hast zwei Anrufer auf der Vier.«

»Sehr gut. Halte sie in der Schleife, bis ich sie dran nehme. Katie? Jetzt wird’s ernst!« Das Lied endete und Jeff schaltete den ersten Anrufer live. »Da sind wir wieder mit der bezaubernden Krankenschwester Katie und Find Your Job. Wir haben ein erstes Angebot, wie ich höre. Mit wem spreche ich?«

»Hallo?« Ein Rascheln ertönte in der Leitung.

»Hallo! Wen haben wir denn da?«

»Hier spricht Paul. Ich wollte mal fragen, ob du auch ein Zimmer suchst, Katie.«

»Ein Zimmer?« Sie hob die Brauen und schaute verwundert in Jeffersons Richtung.

»Ja«, sagte Paul in der Leitung. »Ich will eine Vierundzwanzigstundenbetreuung. Ich bin bettlägerig und könnte dir ein Zimmer gleich neben meinem anbieten. Damit du jederzeit da bist, wenn ich was brauche.«

»Nun, eigentlich habe ich schon eine Wohnung. Wo leben Sie denn?«

»Westend.«

Jeff warf Katie einen vielsagenden Blick zu und rieb Daumen, Zeige- und Mittelfinger aneinander, um ihr zu symbolisieren, dass der Typ unglaublich viel Geld haben musste.

»Okay … Wie genau würde meine Arbeit bei Ihnen aussehen, Paul?«

»Und wagen Sie es nicht, ihr ein unmoralisches Angebot zu machen«, fiel Jeff ein, noch ehe der Anrufer antworten konnte. »Sonst fliegen Sie augenblicklich aus der Sendung.«

»Also, wie gesagt, ich bin bettlägerig. Habe ein paar Pfunde zu viel auf den Hüften und leide an Dekubitus. Ich liebe Fußmassagen und Fast Food.«

»Verstehe.«

»Da ist so eine Klingel an meinem Bett. Wenn ich sie betätige, heißt das, dass ich was brauche. Dann musst du sofort zu mir kommen.«

»Alles klar, Paul, vielen Dank für Ihren Anruf. Meine reizende Mitarbeiterin Jen wird jetzt Ihre Daten aufnehmen, und sollte Katie Interesse haben, meldet sie sich bei Ihnen.«

»Sehr schön. Ich bin sicher, dass sie sich meldet. Mein Haus im Westend ist unübersehbar und die Bezahlung, die ich biete, wird ihr keine Wahl lassen.«

»Ganz Ihrer Meinung …« Jeff schnippte an einem Regler und spielte eine Coverversion von Diamonds Are a Girl's Best Friend ein.

Emma würde sofort zusagen, dachte Katie. Allein schon wegen des Geldes. Sicher lag sie in dem Moment kreischend vor der Lautsprecherbox.

»Mal ehrlich, der Typ hat sie nicht mehr alle, oder?«, fragte Jeff und rollte die Augen. »Da ist so eine Klingel an meinem Bett. Wie abgefahren ist das denn?«

»Warten wir doch einfach ab, wer sich sonst noch meldet.«

»Katie, du bekommst ‘nen Job hier beim Sender. Dafür sorge ich. Wenn du da hingehst, dann … dann schmeiße ich die Sendung.«

»Danke, aber wen sollte ich hier pflegen?«

Er brach in Gelächter aus und klopfte sich aufs Bein. »Du bist echt gut!«

Einige weitere Anrufer meldeten sich. Ein junger Mann suchte Hilfe für seine Großmutter, die mehr und mehr unselbständig wurde. Eine Frau namens Nancy in Katies Alter erkundigte sich nach ihren Kenntnissen über Demenz. Sie fingen eine Diskussion an, die damit endete, dass Jeff einen Song einspielte und Nancy aus der Leitung flog.

»Also los, Leute«, rief er ins Mikro. »Jetzt oder nie! Katie sucht nach einem Job im Bereich Pflege. Wer ist der nächste Anrufer? Die Zeit wird langsam knapp. Her mit euren Angeboten!«

Ein letztes Lied, dann ertönte ein angenehmer Bariton aus den Lautsprechern.

»Guten Tag, mein Name ist Bayless.«

»Bayless!«, wiederholte Jeff. »Lassen Sie mich raten! Sie sind Oberarzt in der Geriatrie und suchen eine fähige Stationsleitung. Sagen Sie mir, dass Sie meiner hübschen Katie ein seriöses Angebot mitbringen.«

»Das tue ich. Seriös, einwandfrei und ehrlich.«

»Dann haben Sie das Wort!«

»Hallo, Katie«, sagte Bayless, und beim Klang seiner Stimme bekam sie eine Gänsehaut.

»Hallo.«

»Zunächst möchte ich Ihnen sagen, wie mutig Sie sind. Eine hübsche junge Frau, die einen waghalsigen Sprung ins Ungewisse tut.«

»Wer sagt, dass sie hübsch ist?«, rief Jeff und zwinkerte ihr zu. »Sie glauben doch wohl nicht alles, was im Radio erzählt wird?«

»Schon gut, Jeff. Lassen Sie uns hören, was Bayless zu sagen hat.«

»Vor ein paar Jahren hatte ich einen Autounfall«, begann er zu erzählen. »Ich habe fünf Monate in Krankenhäusern und Rehakliniken verbracht. Jetzt geht es mir einigermaßen gut. Ich suche niemanden im Sinne von Krankenpflege, Katie.«

»Sondern?«

»Ich suche jemanden, der mir vorliest.«

»Ach, du Sch …«, Jeff schlug sich die Hand an den Mund und drehte sich vom Mikro weg.

»Sind Sie bei dem Unfall erblindet, Bayless?«, fragte sie mit ehrlichem Interesse.

»Nein, das bin ich zum Glück nicht.«

»Wieso wollen Sie dann, dass ich Ihnen vorlese?«

»Weil ich Ihre Stimme mag. Sie klingt sehr beruhigend. Und wenn ich mich nach etwas sehne, dann ist es Ruhe. Dieser Unfall … er hat mein ganzes Leben verändert. Er hat mich aus der Bahn geworfen und alle Karten neu gemischt. Vielleicht ist dies die Chance, die ich ergreifen muss. Denken Sie über mein Angebot nach. Sie lesen mir vor, und ich bezahle dafür. Ich wohne zwar nicht im Westend, aber ich zahle ehrliches Geld.«

»Vielen Dank für Ihren Anruf. Das war’s für heute mit Find Your Job.« Jefferson schaute sie mitleidig an. Ihre Gedanken rotierten.

»Tut mir leid, die große Auswahl an vernünftigen Angeboten hast du ja nicht gerade. Am besten, du gehst direkt zum Jobcenter und lässt dich ordentlich beraten.«

»Nein«, sagte sie.

»Nein?«

»Ich denke, ich habe mich entschieden, Jeff.«

»Entschieden … für was?«

»Bitte sagen Sie Jen, dass ich gern die Kontaktdaten von Bayless hätte.«

»Wen hast du genommen? Wen hast du genommen?«, kreischte Emma durch das Treppenhaus. Sie stand in der offenen Wohnungstür und hüpfte aufgeregt von einem Fuß auf den anderen. »Jetzt sag doch was! Paul? Hast du Paul genommen? Das mit dem Zimmer kann er sich aber abschminken. Kohle – ja! Aber du ziehst hier nicht aus, versprochen?«

Katie lachte und kam ganz außer Puste oben an. Ihre Knie schlotterten noch immer ein bisschen. Ich hab’s getan, hallte es durch ihren Kopf. Ich hab was Verrücktes getan und es fühlt sich so gut an!

»Hallo, Katie«, sagte Pie monoton und lugte durch den Türspalt. »Du warst im Radio. Wir haben dich im Radio gehört. Haben wir das nicht, Emma?«

»Jetzt spann uns doch nicht noch länger auf die Folter!« Ihre Freundin zog sie in die Wohnung und stieß die Tür zu. Pie warf ihr seinen bettelnden Hundeblick zu. Katie konnte nicht sagen, wieso, aber der Typ hatte sie schon immer an Spike aus dem Film Notting Hill erinnert. Eigentlich hieß er Abner Adam Dale. Aber weil er sogar morgens um fünf schon einen ganzen Apfelkuchen verdrücken konnte, hatten Emma und sie ihn auf den Namen Pie getauft.

»Gibt’s noch Kaffee?«, fragte Katie.

»Wen. Hast. Du. Genommen?«

»Da ist noch Kaffee von gestern in der Kanne«, sagte Pie und kratzte sich am Hinterkopf. Emmas Gesicht lief langsam rot an.

»Ich hab mir die Adresse von Bayless geben lassen.«

»Von … Bayless?«

»Ich wusste es!«, sagte Pie. »Hab ich es nicht gewusst, Emma? Lass mich raten. Du findest seine Stimme sympathisch. Findest du seine Stimme sympathisch, Katie?«

»Seine Stimme ist megasympathisch.«

»Und was ist mit Paul? Du lässt dir einen Job im Westend entgehen? Wegen einer sympathischen Stimme?« Emma quiekte beinahe.

»Ruf du ihn doch an«, schlug Katie vor.

»Er hat eine Klingel am Bett«, sagte Pie. »Ich will auch eine Klingel am Bett. Und immer, wenn ich klingle, muss einer von euch beiden kommen und mir was bringen. Das wäre schön. Apfelkuchen um Mitternacht.«

»Ich fass es nicht!« Emma sank auf einen Stuhl. »Du bist verrückt. Und wo wohnt dieser Bayless? Vielleicht in Wales? Oder im äußersten Norden der Isle of Lewis?«

»Ich hab noch nicht nachgesehen. Schau doch mal in meine Handtasche. Diese Jen hat mir einen Zettel gegeben.« Katie nahm eine Tasse aus dem Schrank und setzte frischen Kaffee auf. Emma grabschte nach der Tasche und kramte neugierig darin herum.

»Vielleicht gehe ich auch mal hin«, sagte Pie. »Zu Find Your Job. Dann komme ich auch mal ins Radio. Ich war noch nie im Radio. Wie ist es da so, Katie?«

»Oh, es ist gruselig, Pie. Glaub mir, das ist nichts für dich. Zu viele Knöpfe und Tasten und Regler, und du musst absolut still sein und darfst nicht auf deinem Stuhl rumrutschen. Und Jefferson Barns trägt ein gelbes T-Shirt. Du weißt, was mit gelben T-Shirts im Sommer passiert, oder, Pie?«

Er nickte. »Die kleinen schwarzen Käfer.«

»Ganz genau. Sie fliegen alle auf gelbe T-Shirts.«

»Du hast recht, Katie. Ich denke, das Radio ist nichts für mich.«

»Er kommt aus Weymouth.« Emmas Stimme klang frustriert. »Bayless wohnt in Weymouth.«

»Er kommt aus Nordfrankreich?«, fragte Pie.

»Weymouth liegt in der Grafschaft Dorset, du Trottel!«

»Oh, mein Gott! Er lebt in Nordfrankreich.«

»Könnt ihr bitte damit aufhören?«, schimpfte Katie und schaute böse in die Runde. »Ihr benehmt euch wie kleine Kinder. Und wenn schon! Dann kommt er eben aus Weymouth! Und wenn ich da hingehe, gehe ich da hin! Ihr werdet mich ganz bestimmt nicht davon abhalten.«

»Dann verlässt du uns?« Emma zog ein Gesicht wie sieben Tage Regenwetter.

»Ich weiß es nicht.« Der Kaffee war fertig. Katie goss sich eine Tasse ein und setzte sich zu den beiden an den Tisch. »Vermutlich rufe ich ihn mal an oder fahre hin. Ich schaue mich um, und wenn es mir gefällt und er gut bezahlt … Wieso sollte ich die Stelle nicht nehmen? Einfach, um Erfahrungen zu sammeln.«

»Hallo? Im Vorlesen? Du bist Krankenschwester! Verkauf dich doch nicht unter Wert! Das ist verschwendete Zeit, und du kommst total aus der Routine.«

»Ich könnte es tun.« Pies Augen leuchteten. »Ich könnte hinfahren und ihm vorlesen. Mein Job im Supermarkt ist nicht gerade das, wovon ich geträumt habe.«

Das Telefon schellte. Emma nahm den Anruf an, während Katie sich vor Lachen kringelte.

»Pie, du bist so süß! Wie wäre es, wenn du einfach die Fortbildung zum Filialleiter machst, die dir schon hundertmal angeboten wurde?«

»Katie?« Emmas Stimme klang belegt. Mit der freien Hand hielt sie die Muschel des Telefons zu. »Deine Mutter ist dran. Soll ich sagen, dass du …?«

Katie schluckte. Mit einem Schlag war die gute Laune dahin. Der Kaffee drückte in ihrem Magen.

»Nein«, stammelte sie. »Schon okay. Ich … ich rede mit ihr. Gib schon her.«

Emma und Pie tuschelten leise miteinander, während Katie die Küche verließ und sich in ihr Zimmer zurückzog.

»Hey, Mom. Wie geht es dir?«, fragte sie, darum bemüht, fröhlich zu klingen. Es war mal wieder an der Zeit, mit ihrer Mutter zu telefonieren. Katie hatte sich bereits die letzten drei Male verleugnen lassen.

»Catherine, schön, dich zu hören. Du scheinst ja immer sehr beschäftigt zu sein.«

»Ja … Der Job im Elders … Du weißt schon.«

»Und ich hoffe, du weißt, dass du dich nicht zu sehr überanstrengen sollst. Wann warst du das letzte Mal beim Arzt?«

»Mom, bitte, hör auf damit. Es geht mir mehr als gut.«

»Ich mache mir nur Sorgen.«

»Das musst du aber nicht.«

»Gut. Wenn du meinst.« Ihre Mutter atmete hörbar aus. »Gibt es sonst etwas Neues?«

»Naja … Eigentlich nicht. Und bei euch?«

»Alles beim Alten. Nur, dass dein Dad etwas kürzer treten wird. Immerhin wird er im Augustdreiundsechzig. Und Ethan …«

Ethan. Bei dem Namen wurde Katie speiübel. Ethan war einer der Gründe, wieso sie mit alldem abschließen wollte.

»Was ist mit ihm, Mom?«

»Nun ja. Er ist pflichtbewusst wie eh und je. Er trägt immer mehr Verantwortung, verfügt über ein sehr umfangreiches Fachwissen. Er ist jung und bringt viel Dynamik mit. Wie es aussieht, ist er so weit, die Kanzlei zu übernehmen.«

»Das ist ja schön für ihn«, brachte sie heraus und zog eine Grimasse. »Da hat er endlich, was er immer wollte.«

»Liebling, wann kommst du zurück nach Hause?«

»Wie bitte?«

»Du hast mich schon verstanden. Diese alberne Weglauferei muss endlich ein Ende finden. Du gehst auf die Dreißig zu und solltest langsam ans Heiraten denken. Daran, dass du aus gehobenen gesellschaftlichen Kreisen stammst. Die Leute fangen schon an zu reden. Jeder hatte Verständnis für deine Situation. Aber so langsam kann ich dein Lotterleben nicht mehr decken.«

Katies Mund stand weit offen. Aber sie brachte keinen einzigen Ton heraus.

»Ich hatte zudem ein längeres Gespräch mit Dr. Finnigan. Er ist auch der Ansicht, dass du hier viel besser aufgehoben wärst. Er kennt deine Diagnose und ist eine wahre Koryphäe auf dem Gebiet der …«

»Mom, es tut mir leid. Ich muss zur Arbeit. Danke für deinen Anruf.«

Sie beendete das Gespräch, ließ sich auf ihr Bett fallen und sank tief in die Kissen.

Katie spazierte entlang der Themse, und als sie am Chelsea Physic Garden vorüberkam, setzte sie sich auf eine Bank, genoss das Sonnenlicht auf ihrem Gesicht und versuchte, das Gespräch mit ihrer Mutter zu vergessen. Es war ihr gelungen, sich unbemerkt aus der Wohnung zu schleichen. Sonst hätten Em und Pie sie vermutlich einem Verhör unterzogen.

Hoch oben in den Zweigen der exotischen Bäume zwitscherten Vögel. Katie kam oft her, sie genoss die Ruhe und die Natur in dem ältesten Botanischen Garten Londons. Sie saß da, beobachtete die Besucher und lauschte dem Wind, der durch das Laub ging.

Ein kleines Mädchen lief mit seiner Mutter über die gepflegten Kieswege, erkundete die Beete und Hecken und erfreute sich an den Knospen und Ameisen, die es entdeckte. Ein Anblick, der Katies Herz anrührte. Wie gern hätte sie auch eine solche Mutter gehabt.

Die warmen Maitage lockten Bienen hervor. Katie schaute ihnen zu, wie sie mit ihren Leibern in den Blütenkelchen verschwanden, um den klebrigen Nektar an ihren Beinen zu sammeln, und dann weiterflogen. Dabei entspannte sie sich. Sie war es satt, wie ein hilfloses Kind behandelt, mit Samthandschuhen angefasst und wegen ihres Zustands in Watte gepackt zu werden. Niemand wusste besser als sie, was es hieß, ein Gefühl von Watte in sich zu haben.

Das war ein für alle Mal vorbei. Sie würde nicht länger zulassen, dass irgendjemand ihr ein schlechtes Gewissen oder Pflichtaufgaben einredete, die zu erfüllen sie nicht bereit war.

Du gehst auf die Dreißig zu und solltest ans Heiraten denken … gehobene gesellschaftliche Kreise … Dr. Finnigan … Lotterleben … Ethan.

Katie schloss die Augen, schüttelte den Kopf und lehnte sich zurück. Das alles klang nicht nach ihrem Leben. Nicht nach ihr. Das klang es ganz und gar nicht. Sie hätte gern gewusst, was nach ihr klang. Und plötzlich wusste sie es. Sie griff in die Tasche ihrer Jeans, zog das Handy heraus und wählte eine Nummer. Ein Kribbeln ging durch ihren Körper, während der Drang nach dem Unbekannten sie erfüllte. Die Leitung war frei. Es klingelte einige Male, bevor am anderen Ende eine Stimme ertönte, die ihr erneut eine Gänsehaut einflößte.

»Hallo?«, sagte der angenehme Bariton.

»Hallo, Bayless. Hier ist Katie. Katie Hendriks. Von der Radiosendung Find Your Job.«

»Ja, ich erinnere mich an Sie, Katie. Schön, dass Sie anrufen. Wie geht es Ihnen?«

Ein Lächeln umspielte ihre Lippen. Sie ertappte sich dabei, wie sie ihn sich vorstellte. Groß, gut gebaut, kurze schwarze Haare, grüne Augen.

»Danke, mir geht es gut. Und wie geht es Ihnen?«

»Ausgezeichnet. Ich sitze gerade an meinem Lieblingsplatz am Fenster und schaue aufs Moor hinaus. Am Horizont schmiegt sich die Sonne in die Dünen, begleitet vom Kreischen der Seevögel. Und noch dazu rufen Sie mich an – was soll ich sagen? Der Abend könnte nicht schöner sein.«

Gütiger Himmel, wagte er es, mit ihr zu flirten? Ein wildfremder Kerl? Klang das wirklich nach ihr? Dass sie nicht auflegte, sondern das, was er sagte, genoss? Vielleicht sollte sie wirklich mal wieder einen Arzt aufsuchen.

»Wollen Sie denn gar nicht wissen, wieso ich anrufe?«

Er lachte.

»Doch, natürlich. Wieso rufen Sie mich an, Katie?«

»Vielleicht, um Ihnen abzusagen? Vielleicht, weil ich die Stelle bei Paul angenommen habe und mich nur noch malvergewissern wollte, nicht die falsche Wahl getroffen zu haben?«

»Ist das so? Sagen Sie es mir. Wenn es das ist, was Sie wollen. Sich nachts um drei von einer Klingel herumscheuchen zu lassen, um einem launischen Menschen Snacks ans Bett zu tragen.«

Diesmal war sie es, die lachte. Merkwürdig, dass sie auf Anhieb den gleichen Sinn für Humor hatten.

»Ein scheußlicher Gedanke!«

»Also, wieso rufen Sie mich an, Katie?«

Sie atmete kurz und heftig durch die Nase aus. Ihre Fußspitzen malten kleine Kreise in den Kies. »Um ehrlich zu sein … Ich weiß es nicht. Vermutlich bin ich zu neugierig auf den Job, den Sie mir anbieten. Vorlesen. Ist das Ihr Ernst? Ich meine … klar, … ich kann Ihnen gern mal was vorlesen. Aber ist das alles? Brauchen Sie sonst keine Hilfe? Wer pflegt Sie nach dem Unfall? Welche Einschränkungen haben Sie? Ich bin Krankenschwester, Bayless. Haben Sie mal darüber nachgedacht?«

»Ja, das habe ich.«

»Und?«

»Wie wäre es, wenn Sie einfach vorbeikommen und sich alles anschauen? Wir lernen uns kennen und dann entscheiden Sie, ob Sie den Job wollen oder nicht.«

»Klingt vernünftig.«

»Sehe ich auch so.«

»Gut. Also, dann melde ich mich.«

»Ich werde hier sein.«

Sie beendete das Gespräch mit einem guten Gefühl. Als sie den Heimweg antrat, versank die Sonne in der Themse und Katie stellte sich vor, dass irgendwo dort draußen jemand saß, der genau die gleiche Szene beobachtete – nur über einem Moor.

»Wo bist du gewesen?«, fragte Emma, als Katie längst unter ihrer Bettdecke lag und ihre Lieblingsserie Stargate schaute. Em kletterte zu ihr und kuschelte sich an sie.

»Spazieren.«

»Wegen deiner Mom?«

»Auch.«

Emma seufzte.

»Hast du morgen nicht die Frühschicht?«, fragte Katie, weil sie keine Lust hatte, zu plaudern.

»Hab getauscht.« Em griff in die Chipstüte, die auf dem Schränkchen neben Katies Bett lag. »Cool, was macht denn MacGyver in deiner Alien-Serie? Bastelt er Raumschiffe aus Kaugummi und Streichhölzern?«

»Ich glaube, du gehst jetzt.«

»Nicht, bevor ich weiß, was deine Mutter wollte. Pie hat einen Flipchart in der Küche aufgestellt und mehrere Theorien skizziert, wieso sie angerufen hat.«

»Das hat er nicht!«

»Eine der Theorien besagt, dass sie dich im Radio gehört hat, hinter dieser Bayless-Nummer steckt und dich damit zurück in ihre Fänge locken will.«

»Klar!« Katie schlug sich auf den Schenkel. »Dann hat Ethan also einen Logopäden bezahlt und seine Stimme herausgeputzt. Ihr seid verrückt! Und wie, bitteschön, sollte meine Mutter mich im Radio gehört haben? Hallo?«

»Keine Ahnung. Heutzutage ist doch alles möglich«, erwiderte Emma und zeigte auf den Flachbildschirm, wo im selben Moment das letzte Chevron aktiviert wurde, das ein Wurmloch im Stargate erzeugte.

»Schön wär’s … Wenn meine Familie auf einem entfernten Planeten leben würde …«

»Und Bayless?«

»Was soll mit ihm sein? Übrigens, macht es Spaß, die Chips in mein Bett zu krümeln?«

»Hast du schon darüber nachgedacht, ob du den Job nimmst?«

Katie schwieg. Emma hampelte unruhig hin und her.

»Sag schon!«

»Ich möchte den Film sehen.«

»Ach, komm schon, Katie!« Emma rüttelte an ihrer Schulter und setzte den gleichen Bettelblick wie Pie auf.

»Ich fahre am Wochenende hin und schaue mir alles an. Danach entscheide ich, was ich mache.«

»Nimmst du mich mit?«

»Wieso sollte ich das tun?«

»Na, wenn er ein Psychopath ist?«

Katie lachte, weil sie denselben Gedanken bislang hartnäckig verdrängte.

»Dann bringt er uns am Ende beide um. Also bleibst du hier, um im Notfall Jefferson Barns anzurufen und es im Radio verkünden zu lassen.«

Emma machte ein trauriges Gesicht. Katie tätschelte ihr die Wange.

»Keine Sorge. Er ist kein Psychopath. Da bin ich ganz sicher.«

Am Freitag besorgte sie die Tickets für die Bahnfahrt. Bis Weymouth wird sie gute zweieinhalb Stunden unterwegs sein. Mit gemischten Gefühlen sank Katie auf eine Bank im Bahnhof und dachte über die bevorstehende Reise nach. Vielleicht sollte sie Em doch mitnehmen. Aber das könnte auch nach hinten losgehen.

Einerseits war sie aufgeregt und freute sich auf die Abwechslung, auf das Meer und auf neue Herausforderungen. Andrerseits wusste sie nicht, was auf sie zukam. Und sie würde ihre Freunde sehr vermissen. Was ihre Mutter anging … Die dürfte es auf gar keinen Fall erfahren, sollte Katie eine niedere Stelle annehmen.

Noch wusste sie selbst nicht, was sie von dem Angebot halten sollte. Denn in einem Punkt hatte Emma recht: Irgendwann würde sie sich unterfordert fühlen. Dabei hegte Katie die heimliche Hoffnung, doch noch auf einen pflegebedürftigen Patienten zu stoßen. Immerhin hatte Bayless einen Autounfall gehabt und beinahe ein halbes Jahr im Krankenhaus verbracht.

Am Samstag war es dann soweit. Ein wunderschöner, frühlingshafter Tag Ende Mai, der sie mit Sonnenschein und Vogelgezwitscher weckte. Katie stieg aus dem Bett, nahm eine Dusche und suchte ihren Lieblingsrock und ein Shirt aus dem Schrank. Angenehme Kleider für die Zugfahrt. Die lockigen braunen Haare band sie zu einer unkomplizierten Frisur zurück und packte ein paar Sachen für die Übernachtung ein. Und ein Kleid für das Vorstellungsgespräch. Katie hatte sich ein Zimmer in einem Bed & Breakfast in Weymouth gebucht, um wegen der langen Fahrt nicht am gleichen Tag wieder abreisen zu müssen.

Als sie in die Küche kam, saß Pie vor einer Tasse Tee und aß seine Spiegeleier.

»Guten Morgen«, begrüßte sie ihn.

»Guten Morgen.« Er schob ihr einen Zettel zu, der in der Mitte des Tisches lag. »Das ist eine Botschaft von Emma an dich. Sie musste leider zur Frühschicht und hat so laut geschimpft, dass ich davon aufgewacht bin. Wieso bist du nicht aufgewacht?«

»Keine Ahnung.« Sie überflog die Nachricht und freute sich über Emmas Zeilen. Ihre Freundin wünschte eine gute Reise und hoffte, dass Katie sich halbstündlich bei ihr meldete.

»Ich mache mir jedes Mal Sorgen, wenn du nicht aufwachst.«

»Pie, ich bin doch wach. Siehst du?« Sie winkte ihm zu. »Hier stehe ich und bin hellwach.«

»Du hast keine Ahnung, wie erleichtert ich bin.«

»Hast du heimlich mit meiner Mutter telefoniert?«

»Sehe ich aus wie ein Maulwurf?«

»Bitte verlang nicht, dass ich darauf antworte.«

Sieangelte nach einer Tasse und kochte sich einen starken Kaffee.

»Da sind noch zwei Eier in der Pfanne«, erklärte ihr Mitbewohner. »Und im Kühlschrank ist ein Stück Apfelkuchen. Nachdem du von Emmas Geschimpfe nicht aufgewacht warst, hatte ich beschlossen, dir ein Stück übrigzulassen. Die Vorstellung, dass du vielleicht nie wieder aufwachst, hat mich sehr traurig gemacht. Ich glaube, ich hätte das Stück Apfelkuchen für den Rest meines Lebens aufbewahrt. In Erinnerung an die wunderbare Katie Hendriks.«

»Oh Mann. Und Emma befürchtet, Bayless könnte der Psychopath sein …«

»Soll ich dir den Kuchen für die Fahrt einpacken?«

Pie hatte ihr den Kuchen tatsächlich eingepackt, und als Katie im Zug saß und ihn herausholte, fühlte sie sich auf sonderbare Weise geborgen. Sie war allein im Abteil, genoss die Ruhe und die wunderschöne englische Landschaft, die an ihr vorüberzog. Kühe, Schafe, alte Bauernhäuser, grüne Hügel und Wiesen, soweit das Auge reichte. Steinkreise, Fahrradwege, Moore. Nur hin und wieder unterbrachen graue Ortschaften die Idylle. Während der zweieinhalbstündigen Reise legte sie sich zurecht, was sie sagen wollte, wenn Bayless ihr öffnete. Sie malte sich aus, wie er wäre. Wie er aussah, wie er roch und wie er lebte. Immer wieder blätterte sie durch ihre Zeugnisse und Referenzen. Sie würde sich ganz gewiss nicht damit zufrieden geben, ihm bloß vorzulesen. Ob man ihm die Folgen des Unfalls noch ansah? Wie schwer war er verletzt worden, und was war passiert? Fragen, auf die sie hoffentlich sehr bald Antworten erhalten würde. Den Gedanken, dass Weymouth ihr nicht gefallen könnte, schob sie weit von sich. Alles war besser, als auf der Stelle zu treten. Sie wollte leben. Und vor allem: spüren, dass sie lebte.

Kurz vor Bovington ließ ihre Euphorie rapide nach. Das frühe Aufstehen, die Aufregung; eine bleierne Müdigkeit überkam sie. Katie nickte ein, bis irgendwann jemand sanft an ihrer Schulter rüttelte.

»Miss? Sie müssen jetzt aussteigen. Der Zug endet hier.« Die Schaffnerin schaute sie freundlich an.

»Oh … danke. Sind wir schon da? In Weymouth?«

»Ja, strahlender Sonnenschein und eine frische Meeresbrise erwarten Sie.«

»Das klingt gut.«

Sie nahm ihren Koffer aus dem Gepäcknetz und atmete tief durch. Das Abenteuer konnte beginnen.

Das kleine Bed & Breakfast, in das sie sich eingemietet hatte, war nicht schwer zu finden. Es lag direkt an der Strandpromenade, unweit der Jubilee Clock. Die bunte Uhr war eine der Hauptattraktionen der Stadt und zog alle Touristen magnetisch an. Katies beschauliche Unterkunft war ein rotes Backsteinhaus mit weißen Sprossenfenstern und fliederfarbenen Fensterläden. Es war halb zwei am Nachmittag, als sie eincheckte. Für drei Uhr hatte sie den Termin mit Mister Monahaughn vereinbart.

»Guten Tag«, begrüßte sie die alte Dame hinter dem Empfang. Im Foyer roch es übertrieben nach Lavendel. Als diente der penetrante Duft dazu, den Zigarettenrauch zu überdecken. »Katie Hendriks. Ich habe ein Zimmer reserviert.«

»Katie Hendriks …«, wiederholte die Frau und fuhr in Zeitlupe mit ihrem Papyrusfinger über die Buchungen. »Hier ist schwer was los in der Stadt, wissen Sie? Im Mai werden wir von Touristen geradezu überrannt. Wieso finde ich Ihren Namen bloß nicht? Ernest? Ernest!«

Katie bemühte sich um ein Lächeln und ließ sich die Nervosität nicht anmerken.

»Komm mal hier nach vorn und sag mir, wo du die junge Dame eingetragen hast.«

»Wer, ich?«, tönte es aus einem Hinterzimmer.

»Ja, du! Du schwerhöriger Kerl von einem Gastwirt.« Die alte Frau zog ein finsteres Gesicht, woraufhin ihre Falten sich deutlich vervielfachten. Leises Stöhnen und Schlurfen ertönten aus dem Hinterzimmer. Ein älterer Mann in Baumwollunterhemd und Cordhose erschien. Die grauen Haare standen von seinem Kopf ab, als hätte er sie einen Monat lang nicht gewaschen.

»Guten Tag, Miss.«

»Guten Tag«, antwortete Katie.

»Sie heißt Katie Hendriks und sagt, sie habe hier ein Zimmer reserviert. Aber ich finde keine Katie Hendriks. Hast du das angenommen?«, fragte die alte Dame ungeduldig.

»Lass mal sehen.« Er setzte die Brille auf, die an einem Band um seine grau behaarte Brust baumelte. »Vielleicht habe ich vergessen, es einzutragen.«

Katie verlagerte nervös ihr Gewicht von einem Fuß auf den anderen.

»Für wie viele Tagewollten Sie das Zimmer haben?«

»Ähm, eigentlich nur für eine Nacht.«

»Tja, sieht schlecht aus.« Der Mann kratzte sich am Hinterkopf, während seine Frau leise vor sich hin meckerte und die Augen rollte. »Wir sind vollkommen ausgebucht. Aber wenn’s nur eine Nacht ist … Wir könnten das Hinterzimmer herrichten. Nicht wahr, Netty?«

»Klar könnten wir das. Sie müssten es sich bloß mit dem Kater teilen. Und es gibt nur eine Schiebetür. Ist dafür billiger als ein normales Zimmer.«

Katie lachte zynisch auf. »Ist das Ihr Ernst?«

»Natürlich.«

»Ähm, … Nein, vielen Dank. Ich habe gleich einen Termin und muss vorher noch zu Mittag essen. Vielleicht schaffe ich den Abendzug. Dann reise ich heute wieder ab. Wenn …«, sie schaute sich um, »wenn ich vielleicht kurz Ihre Toilette benutzen dürfte?«

»Da drüben. Lassen Sie sich ruhig Zeit. Und wenn Sie das nächste Mal hier buchen, verlangen Sie am Telefon nach mir. Der alte Kerl hier kriegt’s ja doch nicht auf die Reihe.«

»Danke.« Am liebsten hätte sie laut aufgeschrien und vor den Tresen getreten. Stattdessen drehte sie sich um und lief zum WC, um sich frisch zu machen. In dem kleinen Bad griff sie nach ihrem Handy und schrieb eine Nachricht an Emma.

Hey, Em. Ich komme doch heute zurück. Mit der Pension ist was schiefgelaufen. Könntest du mir den Abendzug buchen? Ich fürchte, ich schaffe es nicht rechtzeitig. Melde mich, sobald ich bei Bayless raus bin. Hab dich lieb! Danke! :*

Katie schaltete das Handy lautlos, öffnete den kleinen Koffer und nahm etwas Mascara heraus. Sie erneuerte ihre Frisur, legte einen Hauch Schminke auf und schlüpfte in ein beigefarbenes Sommerkleid. Es war mit Spitze überzogen, wirkte zugleich schick, luftig und leger. Emma hatte es ihr empfohlen und gemeint, es würde am besten zu ihrem Teint und den dunkelbraunen Haaren passen. Als sie fertig war, verließ sie das Bad, um noch einmal auf den Tresen zuzugehen. Die alte Dame schaute, als würde sie ein Gespenst sehen.

»Mädchen, sind Sie das? Du meine Güte! Was haben Sie denn vor, dass Sie sich so rausgeputzt haben?«

»Ich habe einen Termin … in der Watercourse Lane. Wie komme ich dort am besten hin?«

»Water …? Ernest! Wo war noch gleich die Watercourse Lane?«

»Ich glaube, das muss an der West Fleet sein«, rief Ernestaus dem Hinterzimmer. »Mit dem Auto gute zwanzig Minuten von hier entfernt.«

»Was wollen Sie denn da, Miss? Soweit ich weiß, gibt es da nichts außer das Moor und das Meer.«

»Oh … verstehe. Vielen Dank. Zwanzig Minuten? Da werde ich mir wohl ein Taxi nehmen müssen.«

Katie drehte sich um und verschwand. Sie hatte nicht vor, den beiden zu sagen, wieso sie hergekommen war.

Um zwei Uhr verließ sie das B & B und machte sich auf die Suche nach einem kleinen Restaurant. Wenn sie zwanzig Minuten für die Fahrt zu diesem Monahaughn benötigte, blieb ihr lediglich Zeit für einen schnellen Imbiss. Sie zog den Rollkoffer über das rumplige Straßenpflaster hinter sich her und seufzte. Damit hatte sie nicht gerechnet. Dass alles schiefgehen würde und Bayless irgendwo außerhalb von Weymouth in der Einöde hauste. Zudem würde sie sich abhetzen müssen, um den späten Zug nicht zu verpassen. Nur weil die Pension es nicht auf die Reihe bekommen hatte, ihr ein Zimmer zu buchen. Vielleicht würde sie sich später eine andere Unterkunft suchen. Aber zuerst musste sie etwas essen und sich auf den Weg zur West Fleet machen.

Die Strandpromenade war mit Menschen überfüllt. Die salzige Gischt, die vom Ufer heraufzog, verlieh der Luft einen würzigen Geschmack. Stimmen, Fahrzeugmotoren und Straßenmusik hallten an Katies Ohren, als sie an einer Fish and Chips-Bude stand und eine Kleinigkeit zu sich nahm. Der Typ, der die Pommes Frites zubereitete, pfiff eine Melodie vor sich hin.

»Von wo kommen Sie?«, fragte er.

»Aus London.«

»Tatsächlich? Dann steht die Hauptstadt also noch?«

»Bis heute Morgen hat sie das jedenfalls.«

Er grinste, während sie ihre Pommes aß.

»Gibt es hier einen Taxistand?«

»Gleich da drüben.« Er zeigte mit der Fischzange die Straße hinunter. »Oder Sie warten zehn Minuten. Dann übernimmt mein Partner Pete die Bude und ich fahre Sie, wohin immer Sie wollen.«

»Vielen Dank für das Angebot«, sagte Katie und warf die leere Chipstüte in den Abfalleimer. »Leider habe ich schon ein Date.«

»Zu dumm aber auch.«

Katie wandte sich zum Gehen.

»Vielen Dank für das Essen und die Auskunft.«

»Immer wieder gern!«

Sieverabschiedete sich und machte sich in Richtung Taxistand auf.

Der Wagen fuhr stadtauswärts. Gleich hinter den letzten Häusern von Weymouth begann die Einöde. Das Moor roch faulig und torfig. Die Sumpflandschaft wechselte sich mit Weideflächen ab, auf denen blökende Schafe standen. Mehr und mehr verwandelte die Straße sich in einen Feldweg, und Katie fragte sich, wie weit es noch wäre, bis sie die Watercourse Lane erreicht hätten.

»Und Sie sind sicher, dass Sie hier raus wollen?«, fragte der Fahrer zum wiederholten Mal.

»Ja und nein. Gibt es hier denn sonst keine Häuser?«

»Nur das der Monahaughns. Und zwei Farmen. Aber die liegen drei Meilen weit auseinander.«

»Kennen Sie einen Bayless Monahaughn?«

Der Taxifahrer legte ein nachdenkliches Gesicht auf.

»Hab mal was von einem gehört. Muss ein sehr zurückgezogener Kerl sein.«

Das war alles, was er zu sagen hatte. Und es trug nicht gerade dazu bei, dass Katie sich wohler fühlte.

»Da wären wir«, verkündete der Fahrer und sieglaubte, er machte einen Spaß mit ihr. »Soll ich warten?«

»Das ist … das ist doch kein Haus! Wo ist es? Wo muss ich hin?«

»Wir stehen direkt davor.« Sein schmieriges Grinsen führte dazu, dass ihr heiß und kalt wurde.

Das Taxi stand mit laufendem Motor vor einem uralten – verfallenen? – Schuppen. Das Haus würde als Scheune oder Schafstall durchgehen, aber nicht als Wohnhaus.

Dicke Bruchsteine bildeten die Fassade, Moos wucherte aus den Fugen, die Tür war windschief und die Fenster sahen aus wie kleine Bullaugen eines U-Bootes. Das Dach … Lieber Himmel, Katie konnte nicht glauben, dass es regendicht war! Riet, gepaart mit wilden Gräsern und Moosen. Das einzige Lebenszeichen war der dunkle Rauch, der aus dem Kamin aufstieg. Ein niedriger Holzzaun mit Törchen umgab das Grundstück, auf dem allerlei Frühlingsblumen, Bodendecker und Gräser wuchsen. So sah allenfalls ein Feenhaus aus dem Märchen aus. Aber kein Haus, indem Menschen des einundzwanzigsten Jahrhunderts lebten.

»Gibt es hier überhaupt Handyempfang?«

Der Taxifahrer lachte.

»Mir wird sogar WLAN angezeigt. Keine Angst, Miss, ich warte auf Sie, wenn Sie das möchten.«

»Das brauchen Sie nicht, danke. Wie viel schulde ich Ihnen?«

Sie bezahlte und schaute ein letztes Mal in das Dreitagebartgesicht.

»Könnten Sie um fünf wieder hier sein? Falls ich früher fertig bin, laufe ich Ihnen entgegen. Ich muss nur dem Feldweg folgen, richtig?«

»Verdammt richtig. Viel Erfolg, was auch immer Sie hier vorhaben.«

»Danke.«

Das Taxi brauste davon, während Katie allein zurückblieb. Sie sprach sich Mut zu, nahm ihren Koffer und lief durch das Törchen. Rosen rankten über den Zaun und wehten in der frischen Meeresbrise auf und ab. In der Ferne kreischten Seevögel. Eines sprach für Bayless: Er hatte am Telefon nicht gelogen, als er ihr den Sonnenuntergang über dem Moor beschrieben hatte. Sie ging zur Haustür und entdeckte hinter einem Mauervorsprung das Heck eines roten Pickups. Die Anzeichen von Zivilisation mehrten sich, was sie dazu ermutigte, weiterzugehen. Im oberen Drittel der Holztür lagen vier quadratische Butzenfenster, durch die man einen Eindruck vom Inneren des Hauses erhaschen konnte. Ein länglicher, hellblau gefliester Flur, eine Garderobe, an der ordentlich Mäntel, zwei Schirme und ein Hut hingen. Katie fasste sich ein Herz, klopfte an die schwere Tür und fragte sich, ob Bayless ganz allein dort lebte. Darüber hatte sie noch nicht nachgedacht. War er verheiratet? Ein knurriger Junggeselle? Schritte ertönten von drinnen. Das Herz rutschte ihr fast in die Hose. Und dann sah sie ihn. Er kam in leichtem Schlurfschritt über den Flur zur Tür.

»Guten Tag«, sagte sie, als er öffnete. »Hallo. Ich bin Katie. Katie Hendriks.«

Sie reichten sich die Hände, um sich zu begrüßen.

»Wie schön, dass Sie gekommen sind, Katie.«

»Ja. Ich meine, … ich wusste nicht, dass Sie so weit außerhalb wohnen. Als ich hörte, dass Sie in Weymouth leben, dachte ich … naja, Weymouth eben.«

Seine Augen waren hellgrün und so klar wie ein Bergsee. Sie schauten sie aufmerksam unter buschigen Augenbrauen hervor an. Den Gedanken hatte Katie nicht in Erwägung gezogen: dass Bayless alt war.

»Sie glauben doch nicht, dass ich nicht weiß, wie es ist, in einer Stadt zu leben?«, fragte er in dem angenehmen Bariton. Aber etwas war neu in seiner Stimme. Ein unüberhörbarer irischer Akzent, der ihr bei den Telefonaten nicht aufgefallen war. »Jetzt kommen Sie erst mal herein«, sagte er und führte sie durch eine Tür in die Wohnstube.

»Ihren Koffer können Sie mir geben. Ich stelle ihn an die Garderobe, wenn Sie einverstanden sind.«

»Danke, sehr gern.«

Während er dies tat, schaute Katie sich in der gedrungenen Wohnstube um. Die weiß gekalkten Decken waren niedrig, ein Kaminfeuer züngelte in der Mitte des Raumes an zwei Torfbriketts. Davor standen zwei dunkelgrüne Ohrensessel, ein Zeitungsständer und ein Eichentisch. Nie im Leben hätte sie nach dem ersten Eindruck, den das Haus von außen vermittelte, gedacht, dass es im Inneren derart gemütlich sein könnte.

»Sie haben es schön hier«, sagte sie, als Bayless wieder hereinkam. »Wirklich.«

»Danke, danke. Setzen Sie sich doch. Ich habe einen kräftigen Schwarztee aufgesetzt. Möchten Sie eine Tasse? Vielleicht mit etwas Gebäck?«

»Ja, warum nicht?« Die raue Seeluft hatte ihr bereits wieder Appetit verliehen, obwohl sie kurz zuvor erst Fish and Chips gegessen hatte.

»Ich stamme ursprünglich aus Cork, wissen Sie?«, erzählte Bayless, während er in der kleinen Küche nebenan mit Teetassen klimperte. »Wir hatten dort seit Generationen ein kleines Familienunternehmen, einen Restaurationsbetrieb. Wir haben alles restauriert. Kirchen, Fresken, Gemälde. Einfach alles. Dann starb meine Frau, der schwere Autounfall … Und allein habe ich es nicht mehr geschafft. Daraufhin haben wir Irland vor ein paar Jahren verlassen und dieses verwunschene Häuschen gekauft. Es erinnert mich an die Mythen und Sagenmeiner Heimat. Ich habe es das Fairy Cottage getauft.«

Er kam zurück in die Wohnstube, stellte den Tee, die Tassen und einen kleinen Teller mit Gebäck auf dem Tisch ab und nahm in dem anderen Ohrensessel Platz.

»Fairy Cottage«, wiederholte Katie und liebte es bereits, seinen Geschichten zu lauschen. »Ein bezaubernder Name. Und wie gut er zu dem Haus passt.«

Der alte Mann goss ihnen Tee ein, und Katie beobachtete, wie sich der Wasserdampf verflüchtigte.

»Trinken Sie. Das wird Sie aufwärmen.«

»Vielen Dank. Ich bin ganz gespannt darauf, was Sie mir über Ihr Jobangebot berichten wollen, Bayless.«

Er nahm einen Schluck und schaute sie verwundert an.

»Bayless?«, fragte er. Dann hellten sich seine Gesichtszüge auf, und er begann zu lachen. »Oh, nein, nein! Da haben Sie etwas missverstanden. Ich bin nicht Bayless. Mein Name ist Jonathan. Bayless ist mein Sohn.«

»Bayless ist … Ihr Sohn?«

»Genau so ist es. Entschuldigen Sie. Ich habe es ganz versäumt, mich vorzustellen.«

Katie atmete erleichtert auf. Wer hätte das gedacht? Das erklärte auch, wieso sie keinen irischen Akzent am Telefon bemerkt hatte.

»Es war wohl meine Schuld«, räumte sie ein. »Ich hatte ja keine Ahnung, wie er aussieht und wie alt er ist. Oder dass er mit seinem Vater unter einem Dach lebt. Aber … wo steckt er denn? Habe ich mich mit der Uhrzeit vertan?«

Sie warf einen Blick auf ihre Armbanduhr.

»Nein, nein, drei Uhr, das passt schon.« Jonathan nickte betreten. Er wärmte seine knorrigen Finger an der Teetasse. »Er ist oben. Bayless verlässt sein Zimmer nur sehr selten. Er hat … Es hat was mit dem Unfall zu tun, wissen Sie? Er will nicht, dass … Ich zeige Ihnen am besten den Weg nach oben. Sicher hat er mitbekommen, dass Sie da sind und wartet schon ganz ungeduldig.«

»Natürlich.« Katie stellte ihren Tee ab und erhob sich. »Darf ich Sie fragen, was genau passiert ist? Ich möchte nicht unhöflich erscheinen, aber …«

»Das soll er Ihnen am besten selbst erzählen. Sie werden schon dahinterkommen. Früher oder später.«

Der Flur erschien dunkler als zuvor. Die ausgetretenen Holzstufen der Treppe knarzten, als Katie Jonathan hinauf in das Dachgeschoss folgte. Merkwürdig, dass Bayless es nicht für nötig hielt, herunterzukommen und sie zu begrüßen. Wo sie doch einen Termin miteinander ausgemacht hatten. Oder war er tatsächlich so eingeschränkt, dass er es nicht konnte? Sie war gespannt darauf, ihn endlich kennenzulernen. Vor einer schmalen Tür am Ende des Gangs blieb Jonathan stehen.

»Hier ist es. Gehen Sie einfach hinein. Keine Sorge, er beißt nicht.«

»Wie Sie meinen …«

Er drehte sich um und verschwand wieder nach unten. Da stand sie also. Ganz allein in einem fremden Haus. Innerlich war es eine seltsame Parallele zu dem Tag, als sie genauso unbeholfen im Sender gestanden und sich gefragt hatte, was sie bei Jefferson Barns erwartete. Katie schloss die Augen, strich ihr Kleid glatt, fühlte über ihre Frisur und atmete tief durch, bevor sie an die Tür klopfte. Die vertraute Stimme vom Telefon bat sie herein.

»Hallo, Katie«, hörte sie Bayless sagen, nachdem sie das Zimmer betreten hatte. Für eine Sekunde staunte sie über die Größe des Raumes. Es war ein Zimmer über Eck mit einer großen Fensterfront, die eine Aussicht über das Moor bis hinunter an den Strand freigab. Ein unbeschreiblich schöner Panoramablick. Sie hatte das Fenster von der Straße aus nicht sehen können, weil es auf der hinteren Seite des Hauses lag.

»Ich bin hier drüben«, sagte Bayless, ohne dass sie ihm bislang geantwortet hatte. Mit den Augen suchte sie jeden Winkel nach ihm ab, konnte ihn aber nirgends entdecken.

»Etwa hinter dem Paravent?«, fragte sie und wollte um den Raumteiler herumgehen, als Bayless sie mit den Worten »Bitte nicht!« stoppte.

»Entschuldigen Sie, aber ich bin gerade etwas verwirrt«, gestand sie.

»Das kann ich mir vorstellen. Dort drüben vor dem großen Fenster steht ein Tisch mit einem ziemlich gemütlichen Sessel. Haben Sie die Aussicht bemerkt? Ist sie nicht phantastisch?«

»Durchaus. Hören Sie, Bayless, dient dieses Versteckspiel einem bestimmten Zweck?«

Sie hörte, wie er sich bewegte. Wie er schwer atmete. Sie konnte ihn sogar riechen. Ein angenehmer Duft von Aftershave lag in der Luft. Und das Fenster, das sich offenbar in der abgetrennten Seite des Raumes befand, war leicht geöffnet. Eine frische, salzige Meeresbrise strömte herein.

»Wenn Sie sich setzen, finden Sie das Buch, aus dem Sie mir vorlesen sollen, eine Flasche Wasser, ein Glas, ein Lesezeichen und einige andere nützliche Dinge auf dem Tisch. Bitte verzeihen Sie, dass ich mich hierher verkrochen habe, Katie. Ich … würde mich selbst als menschenscheu beschreiben. Seit dem, was geschehen ist, gehe ich nicht mehr gern unter Leute.«

Lieber Himmel, dachte sie und empfand plötzlich großes Mitleid mit Jonathan. Der arme alte Mann hatte es gewiss nicht leicht mit seinem Sohn.

»Haben Sie mal darüber nachgedacht, eine Therapie zu machen?«, fragte sie geradeheraus.

»Wie viele denn noch? Ich habe beinahe sechs Monate in Therapien und Rehakliniken verbracht.«

»Und die alle haben zu keinem hilfreichen Ergebnis geführt?«

»So ist es. Ich bin zu dem Schluss gekommen, dass es mir nicht hilft, rauszugehen und in irgendwelche Kliniken zu fahren. Dass alles, was ich brauche, Ruhe ist, und etwas Trost. Bücher schenken mir Trost. Und als ich …« Er stockte und bewegte sich wieder. In einem Bett lag er jedenfalls nicht. So, wie es sich anhörte, knarrte ein Stuhl. »Als ich durch Zufall die Sendung Find Your Job gehört habe, fand ich Ihre Stimme tröstlich. Ich denke, dass es mir sehr helfen könnte, wenn … Sie mir vorlesen.«

Irgendwie merkwürdig klang das ja schon. Vielleicht sollte sie einfach auf dem Absatz kehrt machen und verschwinden. Der Typ benötigte einen Psychiater, keinen Vorleser.

»Wieso gerade ich?«

»Weil Ihre Stimme wie geschaffen ist, um vorzulesen. Sie strahlt eine Ruhe aus, die ich viele Jahre lang ersehnt habe. Ich kann verstehen, dass Ihnen all das hier merkwürdig erscheint. Trotzdem bitte ich Sie von ganzem Herzen, mein Angebot anzunehmen, es zumindest erst einmal zu versuchen. Sie werden es nicht bereuen. Bitte sagen Sie ja, Katie.«

Sie fuhr sich durch die Haare und wusste nicht, was sie antworten sollte. Und wenn er doch total krank war? Vielleicht beobachtete er sie die ganze Zeit über durch einen kleinen Spalt in dem Raumteiler. Vielleicht war er so was wie ein Voyeur. Ein Spinner. Und irgendwann würde er unter lautem Gebrüll mit einem Messer in der Hand auf sie zuspringen. Gott, ihre Fantasie ging wieder mal auf kunterbunte Weise mit ihr durch.

»Also gut.« Sie rang um einen klaren Kopf. »Mal angenommen, ich sage ja. Werde ich Sie irgendwann zu Gesicht bekommen? Ich meine, ich wüsste schon gern, mit wem ich es zu tun habe. Wem ich da vorlese. Nachdem ich Ihren Vater schon fast ins Herz geschlossen habe, fällt es mir schwer, zu glauben, dass Sie völlig aus der Art schlagen.«

Ein warmes Lachen hallte durch den Raum.

»Ich mag die Art, wie Sie die Welt sehen, Katie. Und ich verspreche Ihnen, dass Sie mich, sobald Sie das letzte Wort dieses Buches dort drüben gelesen haben, zu Gesicht bekommen werden. Ist das ein Deal?«

Sie ging schnurstracks auf den Tisch zu, öffnete die letzte Seite des Einbands und las das letzte Wort laut vor. Der Klang ihrer Stimme verhallte im Raum. Hing eine gefühlte Ewigkeit in der Luft, bis die Stille von seinem Lachen erfüllt wurde.

»Was ist?«, rief Katie und stemmte die Hände in die Seiten. »Kommen Sie jetzt hinter dieser albernen Wand hervor oder nicht?«

»Merken Sie nicht, wie gut Sie mir bereits tun? Ich weiß nicht, wann jemand mich das letzte Mal so zum Lachen gebracht hat. Und Sie haben es schon mehrfach in weniger als zehn Minuten geschafft. Sie haben mich hinters Licht geführt, Katie, das war unfair. Ich meinte natürlich, dass Sie mir zuerst das Buch vorlesen müssen, und dann werden Sie mich sehen.«

Er muss sehr hässlich oder sehr entstellt sein, schoss es ihr durch den Kopf. Und plötzlich überkam sie ihre größte Schwäche. Ihr Helfersyndrom. Ihr Mitgefühl für die Armen und Kranken, und sie war ganz kurz davor, sich zu ergeben.

»Wieso höre ich keinen Akzent bei Ihnen, wo Sie doch aus Cork stammen?«

»Ich habe ihn lange nicht benutzt«, sagte er in waschechtem irischen Tonfall. »Schon in der Schule hing mir der Ruf an, ein wahrer Sprachkünstler zu sein. Ich kann beinahe alle Akzente sprechen, die Sie sich vorstellen können. Nord- oder Südstaaten Amerikanisch, Schottisch, Walisisch, einen russischen oder deutschen Akzent, indisches Englisch, … Was immer Sie wollen. Derzeit lebe ich in England, also rede ich britisches Englisch.«

»Das war wohl die arroganteste Antwort, die Sie mir geben konnten.«

»Wäre Ihnen lieber gewesen, ich hätte gesagt, dass mein Vater lügt oder dass ich nicht sein Sohn bin?«

»Ist es die Wahrheit?«

»Sind Sie immer so anstrengend?«

Ein Schmunzeln huschte über ihr Gesicht. Und in ihrem Herzen hatte sie längst entschieden, dass sie den Job wollte.

»Also dann«, sagte sie, nahm in dem Sessel vor dem Fenster Platz und griff nach dem Einband, den sie zuvor völlig desinteressiert auf den Tisch geknallt hatte. »Was ist das für ein Buch?«

Mit der Spitze ihres Zeigefingers zeichnete sie die geschwungenen Linien des Titels nach.

»Die Geschichte von Dave und Alice. Nie davon gehört.«

»Dann wird es Zeit, dass Sie davon hören. Also lesen Sie mir vor?«

»Das ist doch der Grund, wieso ich hier bin, oder?«

»Voll und ganz.«

»Die Geschichte von Dave und Alice, Kapitel 1. Ich lese nur das erste Kapitel. Danach muss ich mich vorerst verabschieden.«

»Sie haben mein vollstes Verständnis.« Sein Stuhl – oder worauf immer er saß – knarrte. Sein Atem ging ruhig und gleichmäßig. Allem Anschein nach entspannte er sich, um ganz ihrer Stimme lauschen zu können.

Endlich raus hier, dachte er, zog die Gurte seines Rucksacks fester und lief über den grünen Seitenstreifen der Landstraße. Links und rechts von ihm gab es nichts als Wiesen, Felder und Wälder. Einzelne Gehöfte, Bruchsteinmauern und wilde Blumen. Hin und wieder rauschte ein Auto an ihm vorbei. Jedes Mal, wenn das geschah, blieb David stehen, streckte den Daumen aus und hoffte auf eine Mitfahrgelegenheit. Nicht, dass er bereits müde vom langen Laufen war. Aber die Gitarre sollte nicht unbedingt nass werden, falls es Regen gab. Und Regen würde es geben, glaubte man den tief herabhängenden Wolken, die von Norden her aufzogen.

»Hey, wohin soll die Reise denn gehen?«, fragte eine junge Frau, die in diesem Moment auf seiner Höhe anhielt und ihn durch das halb heruntergelassene Fenster anlächelte.

»Vergiss es«, war seine Antwort, und er lief weiter über den Grünstreifen.

»Was soll das heißen? Machst du jetzt einen auf Anhalter oder nicht?«

»Ich fahre nur mit einem Mann mit. Nicht, dass es am Ende heißt, ich hätte irgendwen belästigt oder so. Ich will einfach nur keinen Stress. Nimm’s nicht persönlich.«

»Ach, du Scheiße! Soll das ‘ne Diskriminierung sein? Vielleicht belästige ich dich am Ende!«

David grinste. Der Gedanke könnte ihm gefallen.

»Also, was jetzt? Letzte Chance.«

»Fährst du zum Flughafen?«

»Könnte sein, dass er auf meinem Weg liegt.« Sie stoppte den Wagen, zog die Handbremse an und stieg aus, um den Kofferraum ihres Vans zu öffnen. Im gleichen Moment fiel der erste dicke Regentropfen auf die Windschutzscheibe.

Katie stoppte, nahm das Glas und goss sich einen Schluck Wasser ein. Ihr Mund war bereits ganz trocken geworden.

Bayless atmete tief durch. Sie könnte darauf schwören, dass er die Augen während des Lesens geschlossen hielt.

»Gefällt Ihnen der Einstieg?«, fragte er in seinem schmeichelnden Bariton.

»Naja, mal abwarten, wie es weitergeht. Ich freu mich jedenfalls, dass die Gitarre nicht nass wird.«

»Spielen Sie ein Instrument, Katie?«

»Nicht mehr. Ich habe früher mal Klavier gespielt.«

»Und wieso tun Sie es nicht mehr?«

Ein leichter Schwindel überkam sie. Sie massierte ihre Schläfen und antwortete mit Verzögerung.

»Es hat seine Gründe, wieso ich es nicht mehr tue.«

»Bitte, lesen Sie doch weiter. Ich habe gerade angefangen, den Regen zu riechen. Ich mag den Geruch von Regen auf Asphalt.«

Er war ein bemerkenswerter Mensch. Und er schaffte es, obwohl sie ihn überhaupt nicht kannte, sie zu überraschen und irgendwo tief in ihrem Innern zu berühren. Ob das eine Masche war? Mit dem Paravent und seinem Versteckspiel?

Nachdem die Gitarre und der Rucksack im Kofferraum verstaut waren, stieg David auf der Beifahrerseite ein und legte den Sicherheitsgurt an. Die junge Frau tat dasselbe. Als sie anfuhr, ergoss sich der Regen wie aus Kübeln auf sie herab.

»Da hat wohl jemand ein Händchen für perfektes Timing«, sagte David in ihre Richtung.

»Wer weiß? Vielleicht bin ich dein Schutzengel. Wohin verreist du denn mit so spärlichem Gepäck?«

»Wieso spärlich? Meine Gitarre ist alles, was ich brauche. Und der Rucksack enthält den Rest meines Lebens.«

Sie nickte und folgte dem grauen Bach, durch den die Reifen sich hindurchpflügten.

»Mein Name ist übrigens Brenda. Ich bin Flugbegleiterin.«

»Nicht im Ernst!«

»Ich sagte doch, dass der Flughafen auf meinem Weg liegt.«

»Dann müsste ich ja fragen, wohin die Reise geht.« David hatte sich ihr zugewandt und musterte sie von oben bis unten.

»Ich bin heute für Boston eingeteilt. Einen Tag Aufenthalt und zurück. Beneidenswert, oder? Ich freue mich jedes Mal auf den Jetlag.«

»Glaub ich dir aufs Wort.«

»Und du? Es wär nur fair, mir zu sagen, wohin du fliegst. Findest du nicht?«

Er schaute aus dem Fenster und beobachtete das kleine Rinnsal aus Wassertropfen, das über die Beifahrerscheibe wirbelte. David zuckte die Schultern.

»Weiß noch nicht. Ich bin da recht flexibel.«

»Wie bitte?« Brenda starrte ihn mit glänzenden Augen an. Er musste nicht in ihre Richtung schauen, um das zu wissen. Beinahe jede Frau starrte ihn auf die gleiche Weise an. Er kannte diese Blicke.

»Soll das heißen, dass …?«

»Ja. Ich fahre hin, zähle den vierten Flug auf der Tafel runter und buche ihn.«

»Das ist ein Witz! Hör auf damit!«

»Kein Witz. Ich mache das.«

»Wow! So was nenne ich spontan. Kein Job, keine Bindung, keine Verantwortung, die dich hier hält?«

»Sagen wir, ich genehmige mir eine kleine Auszeit über den Sommer. Hey, ich bin jung. Wenn nicht jetzt, wann dann?«

Sie nickte begeistert. Beinahe neidisch. Vielleicht wäre sie auch gern so frei gewesen. Vogelfrei. David wusste das zu schätzen und wollte seine Auszeit in vollen Zügen genießen.

»Okay, lass mich mal nachdenken«, sagte Brenda und lenkte den Wagen auf den Motorway. »Wenn du von Shannon aus fliegst, hast du heute nicht gerade die große Qual der Wahl. Da gehen um diese Zeit nur Flüge nach Dublin, München, Birmingham, vielleicht einer nach Frankfurt. Boston ist wohl das weiteste, was heute geht. Enttäuscht?«

»Nicht im geringsten«, sagte er und zuckte erneut die Schultern. »Ich zähle den vierten von oben ab. Wenn das gerade Dublin ist, habe ich eben Pech gehabt. Aber so mache ich es.«