Erinnern ist Leben - Manfred Wekwerth - E-Book

Erinnern ist Leben E-Book

Manfred Wekwerth

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Beschreibung

Manfred Wekwerth hat in seinem Leben viel gesehen, viel gearbeitet, viel bewegt. Er war auf den Bühnen Berlins und Europas unterwegs, inszenierte wichtige Stücke, ging produktive und streitbare Arbeitsbündnisse ein, verkehrte mit den Großen aus Kunst und Kultur. Seine Biografie ist eine Mentalitätsstudie, wesentlich von der politischen Teilung der Welt geprägt. Der Theaterregisseur entwirft ein intellektuelles Panorama der Jahre 1950 bis 2000. Es versteht sich, dass sein Lehrmeister Brecht darin einen zentralen Platz einnimmt, aber auch Schauspieler und Theaterleute wie Harry Buckwitz, Therese Giehse, Anthony Hopkins, Helmut Lohner, Hilmar Thate, Laurence Olivier oder Giorgio Strehler gewinnen eindrucksvoll Konturen, desgleichen maßgebliche Bühnenautoren wie Volker Braun, Heinar Kipphardt, Heiner Müller oder Peter Weiss.

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Impressum

ISBN eBook 978-3-355-50016-6

ISBN Print 978-3-355-01827-2

© 2015 Verlag Neues Leben, Berlin

© der Originalausgabe 2000 Verlag Faber & Faber, Leipzig

Umschlaggestaltung: Buchgut, Berlin, unter Verwendung eines Motivs von picture alliance/ZBN/dpa/Wilfried Gliencke

Die Bücher des Verlags Neues Leben erscheinen in der Eulenspiegel Verlagsgruppe.

www.eulenspiegel-verlagsgruppe.de

Manfred Wekwerth

Erinnern ist Leben

EinedramatischeAutobiografie

Zum Gebrauch

»Erinnern ist Leben« stammt von dem Pfarrer Schulze aus Bohnsdorf, einer kleinen Gemeinde im Südosten Berlins. Ich hörte es bei einer Trauerfeier, und es gefiel mir. Hier war auf den Punkt gebracht, was Walter Benjamin theoretisch auch meint: »Es ist das unwiederbringliche Bild der Vergangenheit, das mit jeder Gegenwart zu verschwinden droht, die sich nicht als gemeint erkannte.«

Ich lese gern Biographien und kenne das Martyrium der ersten hundert Seiten. Leo Tolstoi spricht es aus: »Vom Jüngling bis zu mir ist es nur ein Schritt, vom Neugeborenen bis zum Jüngling eine schreckliche Entfernung.« Deshalb beginnt mein Bericht mit dem Eintritt ins Mannesalter, das ist der 21. Februar 1951, als ich durch einen Handstreich zu Brecht kam. Die Vorgeschichte gebe ich in Form eines Fragebogens unter der Rubrik »Personalien« als Prolog.

Auf dem Theater habe ich, sicher verleitet durch Brecht, Gustav Freytags Dramaturgie vernachlässigt, hier soll sie zu ihrem Recht kommen. Der Bericht ist in fünf Akte gegliedert, beginnend mit einem Prolog. Erregendes Moment, Peripetie und Katharsis werden berücksichtigt. Die Szeneneinteilung innerhalb der Akte erfolgt nach Jahren, beginnend 1951. Es werden nur die Ereignisse Aufnahme finden, die dem Fortgang der Handlung dienen. Ähnlichkeiten mit lebenden oder bekannten Personen sind nicht zufällig.

Juli 2000

Manfred Wekwerth

Personalien

Name und Vorname?

Weckwerth, Manfred.

Wieso Weckwerth mit »ck«?

Schuld der Hebamme meines Urgroßvaters. Sie schrieb aus Versehen ein »ck« in die Geburtsanmeldung. Meinen Urgroßvater, ein Bierbrauer aus Posen, störte das nicht, und so blieb es beim »ck«.

Meine Mutter und ich mochten das »ck« von Anfang an nicht, hatten aber nicht das Geld wie Onkel Richard, der es gesetzlich in allen Kirchenbüchern und Geburtsregistern ändern ließ. So konnte man die reichen und armen Wekwerths schon am »k« oder »ck« erkennen. Bis meine Mutter und ich uns kurzentschlossen wieder »Wekwerth« nannten. Meine Frau und meine Tochter halten sich an die Gesetze und schreiben sich mit »ck«. Ich tue es nur wie hier in amtlichen Personalien.

Geboren?

Am 3. Dezember 1929.

Geburtsort?

Köthen/Anhalt. Früher Coethen. Im Volksmund Kuhköthen.

Familienstand?

Verheiratet.

Wann und mit wem?

1953 mit Renate (Erre) Wekwerth, geborene Meiners, Journalistin.

1963 mit Renate (Reno) Weckwerth, geborene Richter, Schauspielerin.

Nachkommen?

Eine Tochter. Christine Weckwerth, geboren am 24. Dezember 1963, Philosophin, Dr. phil., und eine Enkelin, Helene.

Benannt nach Helene Weigel?

Nein. Nach Helene Wekwerth, meiner Mutter.

Elternteile?

Meinen Vater kenne ich nicht persönlich. Ich bin bei der Mutter aufgewachsen.

Name der Mutter?

Wekwerth, Helene, geborene Rypholz.

Tätigkeit der Mutter?

Hausfrau, Telefonistin, Küchenhilfe.

Familienstand?

Verheiratet.

Mit wem verheiratet?

Mit meinem Vater.

Name des Vaters?

Weckwerth, Karl.

Tätigkeit des Vaters?

Matrose, Maschinisten-Maat, Eichmeister. Lebte seit meiner Geburt von meiner Mutter getrennt.

Grund der Trennung?

Behielt nach seiner Entlassung aus der Marine Matrosenbräuche bei und betrachtete sein ferneres Leben als Landgang. Das ergab mehrere Frauen.

Die Trennung ging von Ihrer Mutter aus?

Im Gegenteil, meine Mutter hing an meinem Vater. Wahrscheinlich hat sie nie im Leben einen anderen Mann gehabt und verteidigte ihn noch, als er meine Abtreibung verlangte und ihr unmittelbar vor meiner Geburt schrieb: »Und wenn das Kind ohne Kopf geboren wird, ist es mir auch egal.« Die Ehe wurde gegen den Willen meiner Mutter 1939 in Ravensburg geschieden, mein Vater wurde zur Zahlung von Unterhalt verpflichtet. Er zahlte monatlich zwanzig Mark, die er aber während des Krieges aussetzte, da er – nun Marineoffizier – nur dem Vaterland verpflichtet sei.

Sie kannten Ihren Vater nicht persönlich?

Ich sah ihn einmal durch den Spalt der Tür zum Gerichtssaal, wo die Ehe geschieden wurde. Er weigerte sich vor Gericht, mich zu sehen. Gegen Ende des Krieges bekam ich Briefe von ihm, in denen er mich aufforderte, ein guter Nationalsozialist zu werden und die Offizierslaufbahn einzuschlagen. Den letzten Brief erhielt ich 1947, nachdem ich den Wunsch geäußert hatte, Schauspieler zu werden. In ihm erfuhr ich von meiner Verstoßung, das heißt, die 20 Mark wurden nicht mehr gezahlt.

Wovon bestritt Ihre Mutter den Unterhalt?

Von der Rente meiner Großmutter, bei der wir wohnten. Die Miete war billig, sie betrug achtzehn Mark im Vierteljahr, allerdings gab es kein WC und keinen Wasseranschluß, die befanden sich Parterre bei den Wirtsleuten. Eine große Hilfe waren Erkenntlichkeiten meiner Tante Leni, die ein gutgehendes Restaurant »Siechenbräu« betrieb und die mit Lebensmitteln und Geschenken aushalf. Und es wurde gespart. Das Wohnzimmer wurde im Winter oft nur durch die geöffnete Tür des eisernen Ofens beleuchtet. Während des Krieges arbeitete meine Mutter als Telefonistin bei Junkers. Nach dem Krieg als Küchenhilfe im Restaurant meiner Tante, mit geringem Gehalt, aber Freikost für sie und für mich. Die zwanzig Mark von meinem Vater verwendete meine Mutter als Schulgeld für die Oberschule, die ich auf ihren Wunsch hin besuchte. Nach 1945 entfiel das Schulgeld, dafür erhöhten sich die Preise auf dem schwarzen Markt. Der Versuch meiner Mutter zu schieben, scheiterte am Fahrkartenschalter des Bahnhofes, wo die fünf Speiseölflaschen, die sie nach Zerbst verschieben wollte, durch die Ungeschicklichkeit eines Reisenden am Boden zerschellten.

Schildern Sie Ihren Bildungsweg.

Grundschule, Mittelschule, Oberschule. Abitur 1948, allerdings erst nach einer Petition meiner Mutter an die Landesregierung, da ich wegen »moralischer Unreife« nicht zum Abitur zugelassen werden sollte.

Gab es dafür eine gesetzliche Handhabe?

Nein. Deshalb mußte ich letzten Endes zugelassen werden, nachdem meine Mutter in vier Briefen der Landesregierung ihre Lage schilderte und sich für mich entschuldigte. Die Briefe waren so emotional gehalten, daß eine Bekannte, die viele Jahre im Vorzimmer des Oberbürgermeisters gesessen hatte, helfen mußte, sie in Amtsdeutsch abzufassen. Die Briefe zeitigten Wirkung, allerdings nur auf die Landesregierung, nicht auf die Lehrer.

Wer waren Ihre Lehrer?

Unser Oberstudiendirektor während des Krieges war im Range eines Bannführers der Hitler-Jugend und hieß Sannemann. Als mein Schulfreund Gerhard Neumann und ich uns weigerten, täglich mindestens fünf Kilo Altmetall mit in die Schule zu bringen und mein Freund, von Saunemann zur Rede gestellt, antwortete, »Ich halte das für Firlefanz«, wurde er sofort in ein KLV (Kinderlandverschickungs)-Lager abkommandiert, ich als Turmbeobachter auf den Köthener Rathausturm. Wenn bei Fliegeralarm die Leute in die Luftschutzkeller gingen, hatte ich feindliche Flugzeuge zu zählen. Nach dem Krieg hieß unser Oberstudiendirektor Liebetruth, ein Erster-Weltkriegs-Leutnant, der noch 1917 ein Bein verloren hatte. Ernst Jünger liebte er über alles, Adolf Hitler überhaupt nicht. Seine erzieherischen Grundsätze leitete er von »deutscher Sauberkeit und Disziplin« ab, »bellum gallicum« würzte er, der auch unser Lateinlehrer war, mit Geschichten aus dem Ersten Weltkrieg, die er durch Granateinschläge, mit gespitzten Lippen pfeifend und mit flacher Hand auf das Katheder schlagend, plastisch auferstehen ließ. Nach seiner Auffassung hatte ich es kurz vor dem Abitur wegen eines »Vorkommnisses« bei ihm »moralisch verschissen«.

Zu Unrecht?

Ich glaube nicht. Ich war unverschämt, herausfordernd und demonstrativ faul. Von heute gesehen hing das sicher mit der Nazizeit zusammen. Man mußte sich nach soviel Unterordnung exponieren. Durch Übertreibung ein Gegengewicht zur entstandenen Leere schaffen. Sich behaupten gegen lähmende Orientierungslosigkeit, die man als ungehemmte Freiheit umdeutete. So entwickelte sich eine Art »Nachkriegsaufsässigkeit«, die alles andere als rebellisch war. Sie war die Kehrseite des Gehorsams. Da ich später für kurze Zeit Lehrer war, hätte ich mich nicht als Schüler haben wollen. Nicht nur wegen der schlechten Zensuren. Ich hatte eine 5 in Betragen, dafür in Mathematik und Physik eine 1. Ansonsten war meine Lebensregel: Wenn du schon nicht der Erste sein kannst, dann sei wenigstens der Letzte.

Was war das für ein »Vorkommnis«?

Nach dem Krieg brach bei den »Davongekommenen« eine Vergnügenssucht aus, die sich hauptsächlich als Tanzwut äußerte.

Wir ließen uns aus Bettlaken weiße Jacken schneidern und breite Mäntel aus Schlafdecken. Ich besaß einen Hut namens Homburg. So ging man so oft wie möglich, mindestens aber sonnabends und sonntags tanzen, und zwar in überfüllten Schuppen mit Namen »Sankt Hubertus« oder »Osterköthen«. Dort kostete die Amizigarette acht Mark, die Flasche Schnaps dreihundertundfünfzig bis vierhundert Mark, das Korkengeld für eine mitgebrachte Flasche mindestens fünfzig Mark. Bei solchen Investitionen war es natürlich unmöglich, rechtzeitig aufzuhören. Die Musiker waren nur zu gern bestechlich mit Lokalrunden und »Aktiven«, das waren Zigaretten, die nicht selbst gedreht wurden, und so verlängerte man die Polizeistunde, manchmal unter den Augen der Polizei, weit über Mitternacht hinaus. Die Folge ergab sich Montag früh von selbst: Müdigkeit und Schuleschwänzen aus reinem Selbsterhaltungstrieb. Das ging meistens auch gut. Ich hatte einen Adepten aus der Unterstufe, der bereitwillig meine Entschuldigungszettel zum Klassenlehrer trug. Der war zwar mißtrauisch, konnte aber nichts beweisen, die Entschuldigungszettel waren echt, meine Mutter hatte sie unterschrieben. Es war allerdings immer derselbe. Nach Gebrauch entnahm ich ihn unbemerkt dem Klassenbuch und für das nächste Mal hatte ich nur das Datum zu korrigieren. Einmal jedoch ging es schief. Ein Mitschüler hatte mich, wahrscheinlich wegen eines Mädchens, das ich ihm beim Tanzen ausgespannt hatte, denunziert.

Schon am nächsten Morgen, es war der Dienstag, stand ich vor dem versammelten Lehrerkollegium. Die erste Frage: »Was wollen Sie überhaupt einmal werden?« Meine Antwort: »Theologe.« (Das war nicht einmal ganz falsch. Ich ging zu dieser Zeit jeden Donnerstag in eine Runde bei Pfarrer Karl Hüllweck. Er predigte in Sankt Jakob, war aber insgeheim Existentialist. Bei ihm lasen wir Kierkegaards Krankheit zum Tode und spielten unter seiner Leitung sein Totentanzspiel Der todesmüde Tod in der Sankt-Jakobs-Kirche. Dann gehörte Meister Eckhart zu meinen Lieblingsautoren, und ich hatte mit fünfzehn ein Pamphlet gegen Martin Luther verfaßt, den ich der Zerstörung der Mystik bezichtigte, für mich damals Ursache des Untergangs des Abendlandes.) Die zweite Frage war schon kniffliger: »Waren Sie am Sonntag bis in die Nacht tanzen?« Ich hatte die Wahl: sagte ich nein, war es ein leichtes, mich der Lüge zu überführen, was in meiner Lage (Betragen: 5) Rausschmiß bedeutete; sagte ich ja, war es ein eindeutiges Delikt und ich flog auch raus. Ich sagte: Ich kann mich nicht erinnern. Das versammelte Lehrerkollegium hielt den Atem an, aber die Wut blieb im Halse stecken. Herr Liebetruth, der Erste-Weltkriegs-Leutnant, konnte gerade noch ein heiseres »raus« artikulieren. Aber es war eben nur ein Rausschmiß aus dem Zimmer, nicht aus der Schule. Dafür erfanden sie dann die »moralische Unreife«.

Waren Sie ein schlechter Schüler?

Vielleicht. Aber bei schlechten Lehrern. Sie legten uns lahm, indem sie die Interessen des einzelnen ignorierten und in althergebrachter Weise Gefallen an »law and order« hatten. Ich leitete an unserer Oberschule einen Zirkel für höhere Mathematik (Infinitesimal- bis Vektorenrechnung), beurteilt aber wurde ich allein nach dem Zensurendurchschnitt, wobei die Betragenszensur den Ausschlag gab. Eine Ausnahme gab es: Dr. Schreyer, unseren Deutschlehrer. Er hatte Literatur so verinnerlicht, daß sie ihn wie einen Schutzschild auch vor den Nazis bewahrte. Er war leicht introvertiert und haßte alles Laute. Laute Kriegstöne, aber auch den zu lauten Frieden. Um Kleist nicht »im Sinne der Völkerverständigung und im Namen des Weltfriedens« interpretieren zu müssen, interpretierte er ihn überhaupt nicht. Er studierte ihn einfach ein. So probierte unsere Abiturklasse in den Deutschstunden den Zerbrochenen Krug. Ich spielte den Ruprecht. Neben der Tatsache, daß uns Kleist Spaß machte, hatten wir auch noch eine »kulturelle Umrahmung« für unsere Abiturfeier.

Dabei war Dr. Schreyer für Völkerverständigung und Weltfrieden, aber eben leise.

Ihr Bildungsweg nach dem Abitur?

Ich wollte studieren, möglichst Mathematik. Ich erhielt von der Universität Leipzig eine Absage. Der Zensurendurchschnitt reichte nicht aus und als »Arbeiterkind« käme ich wohl nicht in Frage, da mein Vater, den ich nicht kannte, Eichmeister sei, also »technische Intelligenz«. Auch der Hinweis auf meine Mutter, von Beruf Küchenhilfe, nützte nichts, sie wurde als »Angestellte« eingestuft. Was ich eigentlich begrüßte, daß jetzt vorrangig Kinder von Minderbemittelten studieren konnten, verbaute mir absurderweise den Weg zur Universität. Ich wurde Neulehrer. Dazu brauchte man die gleiche Zeit wie ein Kind im Mutterleib: neun Monate. Danach war man »Lehramtsbewerber«, wurde aber mit dem ersten Tag gleich voll eingesetzt, da es nach dem konsequenten Rausschmiß der Nazilehrer an Lehrkräften mangelte.

Waren Sie ein guter Lehrer?

Jedenfalls ein unzufriedener. Das Immer-nur-Recht-haben-müssen lockte mich nicht besonders. Und der bis zur Rente in Lehrplan, Gehalt, Weiterbildung, Feriendienst festgelegte Lebensablauf wirkte auch nicht gerade aktivierend. Außerdem mußte ich an der »Marktschule Köthen« beginnen. Die unterstand einem Dr. Schünemann, der war während der Lehrerausbildung mein Psychologiedozent. Er hatte mich durch seine große Unfähigkeit gereizt, seine Vorlesungen durch Fragen zu stören, die ihn jedesmal, zum Vergnügen der Studenten, in einen Karpfen verwandelten: stumm und mit offenem Maul. Meine Erfolge sollten mir teuer zu stehen kommen. Der Mann war jetzt mein Schulleiter. Er beorderte mich gleich am ersten Tag in eine 6. Klasse, die von allen Lehrern gefürchtet war: 48 Schüler, darunter zwei Mädchen, das allein war schon Grund intensiver Klassenkämpfe. Der Tumult bei meinem Eintritt ins Klassenzimmer war so elementar, daß er jeden Ansatz von Pädagogik unter sich begrub. Mit dem Rücken zur Wandtafel kam mir der rettende Gedanke. Makarenko, der berühmte sowjetische Pädagoge, beschrieb in seinem Buch Der Weg ins Leben eine ähnliche Situation. Als bei einem Tumult alle Mittel versagten, griff er sich den nächsten Besten heraus und er, der erklärte Gegner der Prügelstrafe, verprügelte ihn. Nur ein einziges Mal tat er das, aber es half. Die Randalierer waren plötzlich beeindruckt von soviel Tatkraft. Gerechtfertigt durch das »sowjetische Vorbild« griff ich mir den nächsten besten heraus und gab ihm eine schallende Ohrfeige. Hier wie dort war die Wirkung frappierend: Es wurde mucksmäuschenstill, ich konnte mit dem Unterricht beginnen. Doch der Erfolg dauerte nur zwei Schulstunden. Ich wurde zum Schulleiter gerufen, wo noch ein anderer Herr saß, denn ich hatte mit sicherem Griff den Sohn des stellvertretenden Oberbürgermeisters erwischt. Trotz erschütterter Stimme konnte Dr. Schünemann seinen Triumph nicht verbergen. Wegen meiner »erschreckenden psychologischen Unkenntnis« sah er von disziplinarischen Maßnahmen ab, riet mir aber, bei den Kindern ein »kollektives Schambewußtsein« aufzubauen. Ich baute etwas anderes auf, ich gründete eine Laienspielgruppe. Nach dem Unterricht studierte ich mit der ganzen Klasse das russische Märchen Goldjäger ein. Damit hatten wir solchen Erfolg, daß wir von anderen Schulen eingeladen wurden. Wir gingen sogar auf »Tournee«. Die »schulische Ablenkung« (Dr. Schünemann) erwies sich als Motivation, sogar bei der Bruchrechnung. Für Dr. Schünemann Grund genug, beim Schulrat meine Versetzung zu beantragen, um mich zu »disziplinieren« und von den »schulischen Ablenkungen« zu heilen. Ich kam nach Meilendorf: Zwei-Klassen-Schule, provisorisch im Gasthof untergebracht, zwei Kanonenöfen, zwölf Kilometer Anfahrt mit dem Fahrrad, auch im Winter. Die Disziplinierung ging auf: Ich kündigte den Schuldienst. Unterstützt wurde ich von Fritz Weiler, Kreissekretär der »Gesellschaft für Deutsch-Sowjetische Freundschaft«. Er hatte Goldgräber gesehen und die ganze Kindergruppe sofort für seine Gesellschaft engagiert. Mich stellte er als »Instrukteur« ein und bot dem Schulrat an, mein Ausbildungsgeld von meinem Gehalt zurückzuzahlen. Als ich mich übrigens von jener 6. Klasse verabschiedete, war das Katheder mit Blumen bedeckt.

War das der Beginn Ihrer politischen Arbeit?

Fritz Weiler muß ein guter Politiker gewesen sein, ich habe das Wort »Politik« nie von ihm gehört. Er sprach von »nützlicher Aktivität« oder schlicht von »Arbeit«. Ich sollte eine Laienspielgruppe gründen. Von Theateraufführungen versprach er sich Erfolg, denn er sollte vor allem die Intelligenz von Köthen für die deutsch-sowjetische Freundschaft gewinnen, und die war alles andere als russenfreundlich. Tatsächlich lockte er mit Pferdegulasch, den er jeweils nach den Vorträgen ausgab, und dem Heiratsantrag von Tschechow, gespielt von der neugegründeten Laienspielgruppe, Ärzte, Rechtsanwälte, Zahnärzte, Apotheker, Buchhändler, Ingenieure, Pfarrer, Heimatschriftsteller, Organisten und Vogelkundler in das Haus der Gesellschaft, wo sie, wartend auf den Pferdegulasch und zwischendurch erheitert vom Heiratsantrag, zum ersten Mal etwas von der Industrialisierung Sibiriens erfuhren. Fritz Weiler kam aus sowjetischer Kriegsgefangenschaft und nannte als Beruf »Metallurge«. Heute würde man sagen, er besaß den Witz der Dialektik, obwohl ich nicht sagen kann, ob er wußte, was Dialektik ist. Man erzählt sich heute noch Geschichten von ihm. Wir hatten Premierenfeier nach Wassa Shelesnowa von Maxim Gorki, unserer zweiten Inszenierung. Es gab Getränke und den üblichen Pferdegulasch (den Weiler gegen sowjetischen Kognak vom Pferdeschlächter tauschte), und die Stimmung stieg, als ich im großen Saal des Hauses der Deutsch-Sowjetischen-Freundschaft meine Swing-Platten hervorholte und wir bei voller Lautstärke des Plattenspielers nach Glenn Miller, Teddy Stauffer und Benny Goodman lostanzten. Gegenüber befand sich die Dienststelle der Kriminalpolizei.

Es verging keine halbe Stunde und der Leiter, ein verdienter alter Genosse, erschien mit einem Gesicht, das nichts Gutes verhieß. Er forderte Fritz Weiler auf, das »klassenfeindliche Gedudel« sofort zu »unterbinden«. Der Genosse Kriminalrat hatte noch nicht das Haus verlassen, als Fritz Weiler eigenhändig den Plattenspieler abstellte. Er sah sehr ernst aus und rief sofort die Laienspielgruppe zusammen. Er sprach, jeden einzelnen fixierend, von der Verdummung durch die »durch und durch kommerzialisierte amerikanische Jazz-Musik«, noch dazu im Haus der Deutsch-Sowjetischen Freundschaft. Objektiv würden wir die Herrschaft des Profitstrebens unterstützen, ob wir das wollten? Das wollten wir natürlich nicht, und wir begannen schon betreten den Plattenspieler abzubauen, der eigentlich für sowjetische Klassik gedacht war, als unser Jüngster, dem das alles zu Herzen gegangen war, den entschlossen dreinblickenden Weiler fragte: »Und was sollen wir jetzt machen?« – »Leiser spielen«, war die Antwort. Fritz Weiler wurde später übrigens eine der Figuren in der Komödie Frau Flinz am Berliner Ensemble.

Sie wurden Instrukteur. Worin bestand Ihre Tätigkeit?

Zu instruieren. Auch über das, was ich nicht wußte. Fritz Weiler war der Meinung, wer ins Wasser geworfen wird, kann schwimmen. Das stimmt sehr begrenzt. Man kann auch untergehen. So geschehen bei meiner ersten Instruktion. Fritz Weiler hatte mich rufen lassen: »Hör zu, wir müssen den Umsiedlern klar machen, daß die Oder-Neiße-Grenze eine Friedensgrenze ist, das heißt, sie ist endgültig. Du fährst heute Abend mit meinem Wagen – es war ein uralter Opel P4 – nach Großpaschleben. Dort warten im Gasthof ›Zur Linde‹ zwanzig Uhr alle Umsiedler des Dorfes, das heißt, wenn alle kommen, und du sprichst über die Friedensgrenze.« Auf meine Bedenken, so etwas noch nie gemacht zu haben, sagte er nur: »Du mußt ihnen einfach die Wahrheit sagen, weil Kommunisten nicht lügen. Die Wahrheit ist, im Kommunismus fallen sowieso alle nationalen Grenzen weg, und da spielt es keine Rolle, wem was gehört.« Einfach wie dieser Ratschlag war auch der Ausgang der Versammlung: Man verprügelte uns, und wir mußten fliehen. Die nächste Versammlung, ich glaube, sie war in Biendorf, ging nicht besser aus, obwohl mir der zweite Sekretär der Gesellschaft riet, eine »andere Linie zu fahren«. Er verwarf Weilers These, Kommunisten müßten immer die Wahrheit sagen, es käme auf den gesellschaftlichen Nutzen an. Ich sollte den Leuten ruhig sagen, daß sie wieder in ihre Heimat zurück könnten, da im Kommunismus jeder nach seinen Bedürfnissen lebe. Er nannte es »das Gesetz der Taktik«. Tatsächlich hörten die Umsiedler diesmal etwas länger zu. Exakt bis zu der Frage eines alten Mütterchens. Sie meldete sich mitten in der Diskussion und fragte freundlich: »Und bitte wann ist Kommunismus?« Der Erfolg meiner Antwort, die ich nicht mehr weiß, muß überwältigend gewesen sein: Wieder setzte es Prügel. Diesmal erreichten wir nur mit Mühe unser Auto durch den Hinterausgang.

Wie finden Sie solche Unzulänglichkeiten?

Damals beschämend und nicht nur wegen der Prügel. Von heute gesehen glaube ich, sie sind unverzichtbar, will man ausgetretene Wege verlassen. Überhaupt gab es damals ein Grundgefühl, ohne daß man sich dessen bewußt war: Alles muß anders werden und wie, das wird sich finden. »Trial and error« würde man heute sagen. Oder »learning by doing«. Da war eine Frische, wie ich sie später selten wieder empfand. Sie kam aus dem nahezu übermütigen Bekenntnis zur Unfertigkeit. Man schämte sich, wenn etwas schiefging, aber man schämte sich gern, hatte man doch um so mehr vor sich. Unzulänglichkeiten brachten Ärger, bei den Leuten und bei den Vorgesetzten. Aber sie brachten auch Möglichkeiten, die nach vorn offen waren. Selbst wo man Unsinn machte oder redete, fühlte man sich gebraucht. Und ernstgenommen, wo man kritisiert wurde. Lernen war eigentlich ein Grundbedürfnis wie Essen und Trinken, man brauchte es zum Überleben. Für viele waren diese Unzulänglichkeiten damals einfach »himmelschreiende Inkompetenz«, und das waren sie wahrscheinlich auch. Für mich waren sie Triebkraft. Dabei war der Wunsch nach Veränderung alles andere als politisch. Der deutsche Trott, der wieder aufzuerstehen drohte, hing mir einfach zum Halse heraus, er langweilte mich. Ich liebte Amizigaretten, hörte bis zum Überdruß das »klassenfeindliche Gedudel«, besaß Kreppschuhe und fuhr auch ab und zu nach Westberlin. Trotzdem erschien mir der »Westen« irgendwie gealtert, hinlänglich bekannt, überraschungslos, abgeschlossen. Die Häuser waren zerstört wie bei uns, dafür hatte dort anderes nahezu unbeschadet überdauert. Und nicht nur IG-Farben, der erfolgreiche Zyklon-E-Produzent, dessen Resultate man in Dokumentarfilmen über die Konzentrationslager als Deutscher nur zur Kenntnis zu nehmen hatte. Sie erschreckten mich so, daß ich danach oft nicht schlafen konnte. Überlebt aber hatten auch die »Pauker«, die »Monokelträger«, die »Krautjunker«, gegen die ich einen physischen Widerwillen verspürte. Was dort zu Amt und Würden kam, kam meistens ohne Würde aus alten Ämtern. Die die Vergangenheit zu verurteilen hatten, waren die, die sie verschuldeten. Unser erster Oberbürgermeister in Köthen dagegen war 1945 der »Lumpenhändler« Elstermann. Ein Sozialdemokrat, der sich zwischen seinen Altstoffen durch die Nazizeit geschwiegen hatte. Reden fiel ihm schwer, und den Umgang mit Menschen mußte er nach 1945 erst wieder lernen. Einmal kam er an einer Schlange von Frauen vorbei, die nach Milch anstanden. Er unterbrach seinen amtlichen Gang, kam von der anderen Straßenseite herüber, gab jeder Frau die Hand und sagte: »Vor euch steht euer neuer Oberbürgermeister, der vor euch sorcht.« Und das tat er wirklich. Die Frauen lachten sehr, als er weitergegangen war, aber in dem Lachen lag Sympathie: Diese Unbeholfenheit war unfähig zu glanzvoller Demagogie. Auch der spätere Oberbürgermeister »Fritze« Reinhardt wurde durch seine Sprüche und Aussprüche mindesten so berühmt wie durch seine Leistungen. Er, ein ehemaliger Elektroschweißer, ließ es sich trotz aller Warnungen nicht nehmen, zu dem oder jenem Anlaß »ein paar Worte zu äußern«. Zur Eröffnung einer Dürer-Ausstellung hielt er eine Rede, die ihm der Zeichenlehrer der Marktschule geschrieben hatte. Da der Schluß fehlte, schloß er selbst: »Und nun erheben wir uns von den Plätzen und gehen stuhlgangweise in die Ausstellung.« Das Klubhaus des Demokratischen Frauenbundes weihte er ein, indem er den Frauen »ihr wohlverdientes öffentliches Haus« übergab. Höhepunkt war eine Rede zum Jahrestag der Oktoberrevolution. Da in Köthen die Maul- und Klauenseuche ausgebrochen war und vor öffentlichen Gebäuden Sägespäne mit Desinfektionsmittel ausgebreitet werden mußten, nutzte er die Gelegenheit und fügte nach dem Hoch auf die Oktoberrevolution seine Anweisung zur Maul- und Klauenseuche hinzu. Das hörte sich so an: »Hiermit ordne ich an, daß vor alle öffentliche Häuser Schutzmittel ausgestreut werden.« Als er ein Riesengelächter erntete, lachte er mit und sagte stolz: »Selbst die Maul- und Klauenseuche kann den Bürgern den Optimismus nicht rauben.« Es war die Zeit, als man an der Gefängnismauer lesen konnte: »Die Theorie wird zur materiellen Gewalt, wenn sie die Massen ergreift« und wo der Stadtverordnete Thon sich erst zur Wahl zum Stadtrat aufstellen lassen durfte, nachdem er sich einen Anzug geborgt hatte, da er nur eine Joppe besaß. Sicher ist es unzulänglich, Unzulänglichkeiten zu verklären. Aber sicher ist auch, daß sie »zulänglich« waren, eine »Umwälzung von Grund auf« herbeizuführen, die Volker Braun in späteren Jahren so schmerzlich vermißte.

Wo lagen Ihre Interessen? Bei der Wissenschaft oder beim Theater?

Ich könnte mich jetzt auf Goethe herausreden, daß zwei Seelen, ach, in meiner Brust wohnten und sich die eine von der anderen nicht trennen konnte. Versuchte ich es dennoch, brachten mir die getrennten Seelen kein Glück. Die eine, die mich zur Wissenschaft zog, veranlaßte mich, an einem »musischen Wettbewerb« teilzunehmen, den unsere Schule veranstaltete. Ich verfaßte ein fünfzehnseitiges Traktat über die »Universalität mechanischer Arbeit«. Ich hatte in Experimenten (ich besaß ein kleines Laboratorium) festgestellt, daß alle physikalischen Erscheinungen nur solange »ruhen«, wie ihnen keine mechanische Arbeit (natürlich hätte es Energie heißen müssen) zugeführt wird. Sie werden wirksam, wenn sie »ihre« mechanische Arbeit bekommen, die sich in vielen Formen auf jeweils andere Erscheinungen übertragen läßt. Sie verschwindet dann scheinbar in der einen Erscheinung, bleibt aber in der anderen erhalten. Mechanische Arbeit, so meine These, kann sich ändern, aber sie kann nie verschwinden. Ich rechnete mit einem Preis, da es sich ja um eine Entdeckung handelte. Ich bekam meine Arbeit ohne Prädikat zurück mit der Bemerkung, daß nur eigene Gedanken zugelassen seien. Den »Satz zur Erhaltung der Energie« habe 1842 der Arzt Robert Mayer entdeckt. Also setzte ich auf meine andere Seele. Die zog es nach Weimar, wo sich ein »Institut zur Erneuerung des deutschen Theaters« gegründet hatte. In der Abgeschiedenheit des Schlosses Belvedere hatte man sich vorgenommen, das wirkliche Leben zu erforschen, um es auf der Bühne mit den drei Wahrheiten darzustellen: Wahrheit der Empfindung, Wahrheit der Bühne und Wahrheit der menschlichen Gesellschaft. Man berief sich auf Stanislawski, von dem man – wie sich später herausstellte – nur die Frühschriften kannte. Danach hatte der Schauspieler nicht eine Figur zu spielen, sondern hatte die Figur zu sein. Das versuchte ich am 14. März 1950, als ich mit allen Gefühlen und Empfindungen der Tempelherr aus Lessings Nathan der Weise sein wollte. Ich überzeugte mich so, daß sich zum Schluß das sichere Gefühl einstellte, ich sei aufgenommen.

Dabei hatte die Prüfung noch gar nicht begonnen. Zwei Etüden wurden mein Schicksal, denn jetzt sollte das eigentliche Talent ermittelt werden. Etüde eins: Stellen Sie sich vor, Sie erwarten in Ihrer Wohnung Ihre Freundin. Es ist Ihnen trotz des großen Mangels gelungen, auf dem schwarzen Markt ein Paar Würstchen zu erstehen, die nun dampfend auf dem Tisch stehen. Es klingelt, aber es ist der Gasmann, der den Zähler abliest. Sie kommen zurück und müssen feststellen, daß Ihre Katze die Würstchen gefressen hat. Etüde zwei: Sie öffnen drei Türen. Hinter der ersten sehen Sie etwas Schlimmes; hinter der zweiten etwas Entsetzliches; hinter der dritten etwas Unfaßbares. Man gab mir zwei Stunden Zeit zur Vorbereitung und ein Zimmer ganz für mich allein. Die zwei Stunden waren wahrscheinlich zu lang, denn als sich meine Aufregung etwas gelegt hatte, fiel mir ein, daß Katzen überhaupt nichts Heißes fressen. Ich beschloß, der Katze für diese zirkusreife Leistung, Heißes zu fressen, kräftig zu applaudieren. Die drei Türen waren schon problematischer.

Das Schlimme bot sich an: Ich entdeckte einfach einen Zimmerbrand. Auch das Entsetzliche bereitete mir keine Schwierigkeiten, denn ich konnte ein Erlebnis aus jüngster Zeit heranziehen: Wir trafen uns regelmäßig in einer Runde von Freunden, wo jedesmal bei einem anderen gegessen und getrunken wurde. Jeder steuerte bei, was er gerade so besorgen konnte. Diesmal war ich dran, und es war mir gelungen, meine Blockflöte gegen zwei Pfund Rindfleisch einzutauschen. Damit es meine Mutter nicht findet, versteckte ich es in der Standuhr. Unter den Augen der durstigen und hungrigen Freunde öffnete ich mit Spannung die Standuhrtür und nun kam das Entsetzliche: Das Fleisch wimmelte von Maden. Das Unfaßbare der dritten Tür aber bereitete mir Kopfzerbrechen, bis mir eine Geschichte zu Hilfe kam, die einem Freund passiert war, der eine Sängerin zur Frau hatte. Als er, selbst von schmächtiger Statur, vorzeitig von einer Reise zurückkam, fand er seine Frau mit einem anderen im Bett, was er zunächst nicht fassen konnte. Als er zu Tätlichkeiten übergehen wollte, bemerkte er, daß der andere ziemlich kräftig war, und verwirrt fing er an, laut zu lachen. Der andere war davon so überrascht, daß er vor Schreck noch lauter lachte. Die Frau, die mit dem Schlimmsten gerechnet hatte, fand die beiden so albern, daß sie am lautesten lachte.

Zurück im Prüfungszimmer, applaudierte ich der Heißes fressenden Katze und öffnete als betrogener Ehemann die dritte Tür, um in besagtes Gelächter auszubrechen, in das Ehebrecherin und Nebenbuhler, immer lauter werdend, einstimmten. Die Prüfungskommission hingegen verstummte. Frau Novack, die einzige Frau in der Kommission, sah mir tief in die Augen und sagte mitleidvoll, Lehrer sei doch auch ein schöner Beruf. Ottofritz Gaillard, der Intellektuelle unter den Prüfenden, brachte es auf den Punkt: »Sie haben keinerlei musisches Talent.« Zurück in der Gastwirtschaft der Tante, empfing mich Jubel, man hatte gebetet, daß ich durchfalle. Meine Mutter hatte Tränen in den Augen. Tränen der Freude, hatte sie doch nun weiter einen Lehrer in der Familie. Zur Erhärtung ihrer Ansichten hatte sie den Schauspieler Werner Krynitz vom Stadttheater in die Küche gebeten, wo er mir bei einem Teller kräftiger Erbsensuppe die »brotlose Kunst« in den düstersten Farben schilderte. Am nächsten Morgen stand ich wieder im Lehrerzimmer der Marktschule, von wo aus man direkt in den Hof des Stadttheaters sehen konnte, und mein Lebensmut war dahin. Wie sollte ich wissen, daß es ein Glück war, in Weimar durchzufallen?

Sie entschieden sich dann doch?

Ich entschied mich, mich nicht zu entscheiden. Denn bei der Entscheidung Kunst oder Wissenschaft, das hatte ich entdeckt, war das »oder« falsch. Immer wenn es Kunst und Wissenschaft hieß, kam nicht nur mehr heraus, es machte mir auch mehr Freude. 1947 hatte ich, wie schon gesagt, ein Pamphlet gegen Martin Luther verfaßt, den ich der Zerstörung der Mystik beschuldigte. Die Nacktheit der lutherischen Gottesdienste schien mir ein Verstoß gegen die Ästhetik. Doch diesen Ruf nach Ästhetik verfaßte ich mit wissenschaftlicher Akribie, wie ich sie an Immanuel Kant bewunderte. Das Ganze war grundfalsch, hatte aber Wirkung. Die »Rationalisten«, also die meisten meiner Mitschüler, versetzte die »gefährliche Spinnerei« fast in Aufruhr.

Etwa zur gleichen Zeit schrieb ich an einem »Leitfaden für Mathematik«. Ich kam zwar nur bis zu den »Potenzen höherer Ordnung, abgeleitet durch Kombinatorik«, aber ich schrieb das Ganze im barocken Stil meines damaligen Lieblingsautors Jean Paul. Die Kunst störte, selbst wenn ich es heute lese, nicht die Mathematik, im Gegenteil, Mathematik bekam unerwarteten Humor. Die Kunst belebte die Wissenschaft und umgekehrt. Damals konnte ich nicht wissen, daß das längst schon jemand herausgefunden hatte.

Wer zum Beispiel?

Brecht. Als er 1934 am Messingkauf schrieb, notierte er, daß Leute, die weder von Kunst noch von Wissenschaft etwas verstehen, versichern, daß das, wovon sie nichts verstehen, nichts miteinander zu tun habe.

Sie haben kein Studium. Wieso sind Sie Dr. phil.?

Wahrscheinlich weil ich zu Brecht kam und man an seinem Theater der Wissenschaft nicht abschwören mußte. Im Gegenteil. Wissen macht fröhlicher, hieß es da. So gesehen war es Vergnügungssucht, wenn ich mich neben meiner Coriolan-Inszenierung mit Semiotik beschäftigte. Mein Freund Werner Mittenzwei, der mich allerdings nur für einen »Freund der Wissenschaft« hält, sagte mir eines Tages: »Warum machst du nicht den Test und reichst deine Arbeit Theater und Wissenschaft als Dissertation bei der Theaterwissenschaft ein?« Die Theaterwissenschaft hat den Test bestanden.

I. Kapitel

Bei Brecht

1951–1956

Die Ankunft | Das BE | Erste Aufträge | Erfolge, Niederlagen und Trost in der Besenkammer | Die Grünen | Modellarbeit | Tagebuchnotizen 1951/52 | Atheistische Pfingstfeste | Exzerpte von Harich-Vorlesungen | Marxismus – Murxismus | Beobachtungen eines Schülers | Der 17. Juni | Geschichten um den Kreidekreis | Das letzte Jahr

Die Ankunft

1945hatteichvonBrechtnochnieetwasgehört. IchgehörejenerGenerationan, mitderHitlernochindenletztenTagendenKrieggewinnenwollte. DasmachteunsereLebenserwartungnichtgeradeüppig. DreiausmeinerSchulelegtensichals »Panzerjagdkommando« mitamerikanischenPanzernanundzogendenkürzeren. EinandererversteckteHandgranatenundeinePistole, umals »Werwolf« gegendieRussenweiterzukämpfen, wenndieAmerikanerabzögen. ErwurdevondenRussenerschossen. MichrettetedieKapitulation, meineEinberufungtrugdasDatum8. Mai1945. MiteinemMagengeschwür, fachmännischnacheinemMedizinbuchsimuliert, undeinerBeförderungzumFähnleinführerdesDeutschenJungvolkswaresmirgelungen, meineWehrtüchtigkeitundmeineAbkömmlichkeitimmerwiederhinauszuschieben. Alsder »Volkssturm« zuletztnichtmehrzuvermeidenwar, ließmichmeineangeboreneVorsicht, anderewürdenesvielleichtFeigheitnennen, meineDienstzeitaufzweiTagereduzieren. Ichrettetemichauf »meinen« Turm, umalsTurmbeobachterdasnahendeEndezuüberdauern. DieRettungwurdemirbeinahezumVerhängnis. Mein »Chef« aufdemRathausturmwarderHilfspolizistJungbär, inFriedenszeitenPlatzanweiserindenKammerlichtspielen. AlsdieerstenamerikanischenPanzeraufdenMarktplatzrollten, bracherplötzlichinJubelausunderklärtezumeinerÜberraschung, daßernieeinFreundHitlersgewesensei. DerKriegseifürihnzuEnde, undergingejetztnachHause. IchsollteihmohneschlechtesGewissenfolgen. WirwarenschonaufdemWege, alsichmeineUniformjackevermißte, dieichinderAufregungaufdemTurmvergessenhatte, undichgingzurück. SogingderHilfspolizistJungbäralleinüberdenMarktplatzundwurdevoneinemamerikanischenPostenerschossen. DerhieltihnwegenseinerUniformfüreinenSS-Mann. IchentledigtemichschnellmeinerUniformundschlichaufUmwegennachHause. DerKriegwarfürmichzuEnde. AberauchdasLeben, denndasGefühleinergroßenLeeremachtesichbreit. WaseigentlichBefreiungwar, warfürmichZusammenbruch. Esgabnichtsmehr, andasmansichhaltenkonnte, nichteinmaletwaszumBeschimpfenundVerspotten. SelbstdasKriegerdenkmalvon1870/71, beiFahnenappellenaufdemMarktplatzZielscheibeunseresSpotts, lagnacheinemVolltrefferzertrümmertamBoden. DochdasGefühlderLeerewartrügerisch. InWirklichkeithattenunsdieNationalsozialisten, wiesiesichirreführendnannten, nochfestimGriff. Siehattennichtvermocht, ausmireinenJungsiegfriedzumachen, undichhattemichmitErfolggedrückt, ZöglingeinerNapobi, einerNationalsozialistischenPolitischenBildungsanstalt, zuwerden, abereineshattensiemitgroßemGeschickerreicht: eineganzeGenerationkopfloszumachen. Wernichtsweiß, istallemausgeliefert, wasmanihmeinredet. VonGoethekanntenwirdas »Faustische«. EsseieinedeutscheTugendundberechtigejeden, derstrebendsichbemüht, auchüberLeichenzugehen. Heinewargänzlichunbekannt. EinsteinwareinRelativitäts-Jude, derraffiniertdieNaturgesetzegefälschthabe, umdemdeutschenVolkzuschaden. VonMarxwußtenwir, daßerdieArbeitzurWareerniedrigteundselbstSyphilishatte. LeninwareinintellektuellerPutschist, derwährenddesBürgerkriegesdenBauerndasLetztenahmundselbsteinenRollsRoycefuhr (letztereslasich1999auchimSpiegel).

Thomas und Heinrich Mann waren für uns kein Begriff, und von Brecht kannten wir keine Zeile. Alle diese Leute waren offenbar hinderlich bei der großen Aufgabe, die Welt zu erobern. Man hatte uns eingetrichtert, wo ein Wille ist, ist auch ein Weg. Jetzt, wo nicht einmal mehr ein Ausweg da war, war überhaupt kein Wille mehr. Das Konzept der Nazis, »nach uns die Sintflut«, schien aufzugehen. Mehr aus Verzweiflung fanden sich ein paar Leute zusammen und gründeten eine Laienspielgruppe, die sich hochtrabend »Arbeitsgemeinschaft Theater« nannte: zwei Oberschüler, ein Drogist, eine Lehrerin, ein Lehrer, eine Hausfrau, ein kleiner Ladenbesitzer, ein Heimatdichter, ein Drucker, ein Kellner. Unser Glück war ein verkrachter Literaturstudent, der als Soldat den Krieg überlebt hatte und nach dem Krieg in eine Schmiede einheiratete. Er war unser Leiter und unser Programm. Erschöpft von der täglichen Schmiedearbeit verwickelte er uns abends in Theater, Literatur, Ethik, zu unserem Verdruß auch in Disziplin und Kartenverkauf, denn unser »Dienstherr« war der Kulturbund, und der drängte auf öffentliche Veranstaltungen.

Unser erstes Programm trug den Titel »In grauen Tagen Trost«. Es waren Gedichte von Trakl, George, Heym, Hölderlin, Novalis. Im Mittelpunkt stand Hofmannsthals Tor und Tod. Was zur Selbstermutigung in kleinem Kreis gedacht war, zog unerwartete Kreise. Leute, die man in Apathie glaubte, waren plötzlich unser Publikum. Der kleine Saal in Rumpfs Hotel reichte bald nicht mehr aus, und wir zogen – Gott weiß mit wessen Erlaubnis – um in den schönen Spiegelsaal des Köthener Schlosses, in dem schon Bach musizierte. Auch unser Programm erweiterte sich: Plautus’ Mädchen von Andros, Goethes Laune des Verliebten, Hofmannsthals Tod des Meisters, Schwarz’ Schneekönigin und eigene Stücke (Der Narr als Despot, Fellachen). Unser Heimatdichter dramatisierte Wäschkes Paschlewwer Jeschichten, die wir in Köthener Mundart aufführten. Bald wurde das Stadttheater auf uns aufmerksam und bot uns an, bei ihnen »auszuhelfen«, wahrscheinlich um Personal zu sparen. So geriet ich in den Extra-Chor und durfte in La Traviata das Trinklied mitschmettern.

Dabei machte ich erste Bekanntschaft mit professioneller Regie. Bei der Stelle »Auf trinket, auf trinket in durstigen Zügen« kam von unserem Regisseur, Herrn Messner, von unten ein kurzes »Bewegung!« mit harscher Betonung der ersten Silbe. Darauf hatten wir, Sektglas in der Hand, den Rest des Liedes, »den Kelch, den die Schönheit kredenzet« usw., unseren Chornachbarn links und rechts jeweils mit kräftigen Wendungen des Körpers mitzuteilen. In Nelsons Hoheit amüsiert sich entdeckte man bei mir auch tänzerische Talente, und ich steppte zu »Duft’ge Parmaveilchen«, gesungen von Horst Tappert, wahrscheinlich mehr bekannt als Derrick. Man spricht heut nur noch von Clivia war Höhepunkt und vorläufiges Ende meiner Theaterlaufbahn. Mit unserer Gruppe hatten wir das Totentanzspiel Der todesmüde Tod von Karl Hüllweck in der Kirche Sankt Jakob aufgeführt. Ich spielte einen Aussätzigen. Das gotische Kirchenschiff, die Silbermannorgel, das Licht aus den hohen Kirchenfenstern, das ergriffene Publikum machten einen solchen Eindruck auf mich, daß ich an Ort und Stelle konvertierte. Nicht zum Glauben, sondern zum Theater, eigentlich zum Glauben an Theater. Dabei gab es ein Problem. Ich spielte nur Rollen, aber unser Leiter konnte mit dem Stück, mit den Schauspielern, mit dem Raum, mit der Musik spielen, dabei hatte er es so wenig gelernt wie ich. Purer Neid stieg in mir auf, und ich machte mich auf die Suche. Ich traf einen Herrn Weiler, von dem es hieß, man könne Pferde mit ihm stehlen. So etwas hatte ich ja vor, und ich lud ihn kurzerhand zu einer Aufführung des russischen Märchens Goldjäger ein, das mußte ihn als Kreissekretär der Gesellschaft für deutsch-sowjetische Freundschaft ja interessieren. Ich hatte es mit meiner 6. Klasse einstudiert, denn inzwischen hatte ich das Abitur gemacht und war Neulehrer. Auf meine erwartungsvolle Frage, wie es ihm gefallen habe, schwieg er zunächst bedeutend (später nannte ich das an ihm »Klein-Lenin«). Dann sagte er kurz: »Wann fangen Sie bei uns an?« Noch bevor ich freudig antworten konnte, die zweite Frage: »Was machen ausgerechnet Sie in der LDP?«

Ich war Mitglied der Liberaldemokratischen Partei Deutschlands. Gleich nachdem Parteien zugelassen wurden, war ich zusammen mit meinem Freund Gerhard Neumann eingetreten. In unserem Freiheitsdrang übersetzten wir »liberal« mit »frei« und die Losung: Sozialstaat Ja – Sozialistischer Staat Nein; Volksstaat Ja – Klassenstaat Nein; Starke Kommunen Ja – Kommunismus Nein, sprach uns aus dem Herzen, denn seit dem Einmarsch der Russen, die die Amerikaner ablösten, waren wir bekennende Antikommunisten. Die ersten Wahlen 1946 forderten uns geradezu heraus. Aus dem Kommunistischen Manifest schnitten wir den Satz aus »Kommunisten wollen die Weibergemeinschaft«. Den Rest, daß dies die Feinde der Kommunisten behaupten, ließen wir weg. Wir vergrößerten das Ganze und klebten es als Wahlplakate der LDP an viele Schaufensterscheiben. Die LDP wurde in Köthen stärkste Partei, was wir natürlich auf unseren Beitrag zurückführten. Mein Freund, obwohl erst kurze Zeit Mitglied, stieg in den Vorstand auf. Aber auch nach diesem Erfolg verließ uns der Unernst nicht. Rektor Pricke war Vorsitzender der LDP in Köthen und ging uns mit seinem Gehrock, seiner schrillen Greisenstimme und mit seinen ständigen Beschwörungen, von Damaschke, der uns überhaupt kein Begriff war, zu lernen, stark auf die Nerven. Mehr aus Langeweile schrieb mein Freund auf den Vorstandssitzungen immer mit, wenn wieder von Damaschke die Rede war, und das war oft so und oft dasselbe. Die einzelnen Sätze klebte er nahtlos hintereinander, was eine seltsame, aber lange Rede ergab. Auf der nächsten Einwohnerversammlung war man sehr erstaunt, als der Vorsitzende der LDP, Rektor Pricke, überraschend Einlaß begehrte und eine lange und seltsame Rede hielt. Man verstand kein Wort, aber das war man vom Rektor mit seiner Bildung gewöhnt. Die Leute haben nie erfahren, daß ich es war, der sie mit Maske, Stimme und Gehrock des »Rektors« auf Damaschke einschwören wollte. Meinen Freund kostete es den Vorstandsplatz, und mein Liberalismus bekam einen Knacks, als auf einem Bierabend Jungliberale laut die »morschen Knochen zittern« ließen, weil ihnen »heute Deutschland gehört und morgen die ganze Welt«.

Herrn Weilers Frage, warum ausgerechnet ich in der LDP sei, traf mich also nicht ganz unvorbereitet. Zumal Herr Weiler fortfuhr: »Warum kommen Sie nicht zu den Kommunisten, die brauchen doch Leute?« So wurde ich am 22. Dezember 1948 Laienspielleiter und Kommunist. Über unsere Gruppe ließe sich viel erzählen, da ich aber endlich auf Brecht zu sprechen kommen muß, nur ein paar Stichpunkte: Angewachsen auf sechsundzwanzig Mitglieder, spielten wir Tschechows Heiratsantrag und waren so vermessen, als zweites Stück Wassa Shelesnowa von Gorki aufzuführen. Noch dazu auf der Bühne des Stadttheaters, dessen muffige Aura wir damit ein wenig beschämen wollten. Publikum und Kritiken (die wir allerdings selber schrieben) bescheinigten uns, daß wir den Sieg davontrugen. Auch durch die großartige Darstellerin der Wassa, einer Hausfrau, von der wir erst später erfuhren, daß sie die Schwester des berühmten UFA-Stars Gustav Diesl war. Wir hatten in unserer Gruppe drei Dichter, einen Maler, zwei Musiker, einen Tontechniker, denn wir produzierten auch Hörspiele (Petronius zum Beispiel), die wir von einem Raum in den anderen übertrugen. Und wir fuhren auf Tournee. Das hatte Fritz Weiler ermöglicht. Bei dem absoluten Mangel an Transportmitteln hatte er den Einfall, den Polizeipräsidenten von Köthen durch treuherziges Bitten und drohende Hinweise auf die gemeinsamen großen Ziele herumzukriegen, uns an den Wochenenden die »Grüne Minna« auszuleihen. Weiler schaffte es. Das Gefährt war mit seinen zwölf Sitzplätzen sehr geeignet, und selbst unsere Requisiten waren sicher, da es vergittert war. Problematisch war nur der Schock, den wir jedesmal auslösten, wenn wir bei den MAS (Maschinenausleihstationen) auf den Dörfern zu Tanzveranstaltungen vorfuhren, der allerdings gemildert wurde, wenn es uns gelang, in den kurzen Tanzpausen einen Majakowski oder Puschkin unterzubringen und die Tänzer danach froh waren, weitertanzen zu können. Wir veranstalteten ein landesweites Preisausschreiben für neue Stücke, waren ständige Gäste im Landessender Halle und fuhren sogar zur »Ferienbetreuung« in den Harz. Und uns beschlich, wie viele der »ersten Stunde«, wenn die zweite einigermaßen überstanden war, etwas Gemeingefährliches: Zufriedenheit.

Da kam Brecht.

Das Manuskript war zerlesen, es war sicher durch viele Hände gegangen. Mit Schreibmaschine geschrieben auf dünnem Papier, mußte man es mit Vorsicht umblättern. Ich weiß nicht, von wem ich es hatte. Wir bereiteten für den »Tag der Freundschaft« in Halle gerade das usbekische Märchen Tachir und Suchra vor, als es plötzlich da war: Die Gewehre der Frau Carrar, ein Stück über den spanischen Bürgerkrieg von Bert Brecht.

Vom spanischen Bürgerkrieg hatten wir schon gehört. Von Ernst Busch im Radio, wenn seine Stimme mit Mamita mia oder Jaramafront in die verschlossensten Gehirne drang. Durch ihn erfuhren wir, mitgerissen, daß es neben der »Legion Condor«, die wir einst in Liedern als Retterin vor den Roten besungen hatten, noch eine ganz andere Seite gab, bei der uns nicht nur die Lieder besser gefielen. Der Kampf der Internationalen Brigaden erschloß uns den Karl Marx auch für unsere Gefühle. Ein Kämpfer für die Sache der spanischen Republik hatte in unseren Augen die Aura der Bewunderung. Für die »Linke« wurde Spanien so etwas wie Jerusalem für die Juden.

Brechts Stück aber hatte so gar nichts Heiliges. Es war von erschreckender Direktheit. Doch gerade davon ging eine unwiderstehliche Anziehungskraft aus. Seine Nüchternheit war verführerisch, seine Kargheit machte neugierig. Die Sprache war knapp und ausgespart und weckte eine enorme Vorstellungskraft. Die anscheinend mathematische Konstruktion entwickelte im Laufe des Stücks eine mir bis dahin nicht bekannte Lebendigkeit, ja, es war, als erlebte man alles selbst und hörte Leute sprechen, die man zu kennen glaubte. Der »ferne Kanonendonner« steigerte die Spannung bis zum Bersten, und doch war es kein atemloses Glotzen, sondern herausgeforderte Ehrlichkeit: Frau Carrar, Frau eines Fischers und Mutter zweier Söhne, verbietet, nachdem ihr Mann beim Aufstand in Oviedo gefallen ist, ihren Söhnen, an die Front zu gehen. Ihrem Bruder Pedro, einem Milizionär, der gekommen ist, die an der Front dringend benötigten Gewehre ihres Mannes zu holen, verweigert sie die Herausgabe. Sie verhärtet sich, je mehr man in sie dringt, beharrt auf strikter Neutralität, beschuldigt am Ende die Verteidiger, schuld am Blutvergießen zu sein, bis man ihr den älteren Sohn auf einer blutigen Plache bringt. Die Faschisten haben ihn, der mit dem Boot zum Fischen draußen war, mit ihren Maschinengewehren erschossen. Das Entsetzen, auch über sich selbst, läßt Frau Carrar zum Gewehr greifen und mit an die Front gehen.

Wir beschlossen, das Stück sofort zu inszenieren. Daß es in Kämpfen der Klassen keine Neutralität gibt, interessierte uns auch in unserer Situation, aber mehr noch der Sog, der von diesem Text ausging und der alles abverlangte, was man an Menschenkenntnis, Beobachtung, Erfahrungen besaß, aber auch an Spielfreude und Humor. Merkwürdig, das Stück setzte vieles frei, was mit dem Stück selbst nichts zu tun hatte. Wir erzählten uns während der Proben gegenseitig Geschichten, die wir erlebt hatten, auch Witze. Wir blödelten, improvisierten und saßen manchmal bis Mitternacht beim Bier zusammen.

Schwierigkeiten machte die Besetzung. Für Figuren wie den Arbeiter und Milizionär Pedro reichten die »Laien-Typen« nicht aus. Wir hätten es sicher aufgegeben, wenn der Zufall nicht geholfen hätte. Wir stießen auf einen Mann, einen Arbeiter wie er im Buche steht, der leider das ganze Theater als »Verstellerei« ablehnte. Er hatte sich schon mehrmals geweigert, unserer Gruppe beizutreten, und wir waren nicht unglücklich darüber, weil er launisch war und unleidlich, wenn ihm das Geringste gegen den Strich ging. Als wir ihm den Pedro anboten, lachte er laut. Und um uns den Unsinn vor Augen zu führen, nahm er den Text und las ihn, ohne mit der Wimper zu zucken, herunter, hier und da ein »Blödsinn« und »lächerlich« einflechtend. Er fiel aus allen Wolken, als wir heftig applaudierten, weil es uns gefiel. Sprach- und wehrlos vor Überraschung, hörte er, daß er mit dem Pedro besetzt sei. Sein Kommentar: »Ihr werdet euch wunderm, wie das endet.« Damit sollte er recht behalten.

Als die Premiere heranrückte, fragten wir uns, was diesem Ereignis wohl angemessen sei. Bescheidenheit lag uns fern, so gab es nur eine Antwort: Der Autor muß her. Da wir aber jenen Herrn Brecht nicht kannten, wußten wir nicht, ob er die Ehre einer Einladung zu uns richtig zu würdigen weiß. Deshalb setzten wir in unsere Lokalzeitung Freiheit eine Annonce, die unsere Premiere ankündigte, und fügten, fett gedruckt, hinzu: Bert Brecht ist anwesend. Das schnitten wir aus, klebten es als deutlichen Hinweis auf die Einladung und schickten das Ganze an: Bert Brecht, Berliner Ensemble. Für uns war klar, wenn er ein so großer Mann ist, wie es heißt, hat er Humor und kommt. Kommt er nicht, ist das mit der Größe ein Gerücht. Er hatte Größe. Er kam zwar nicht selbst, angeblich wegen einer Erkältung, aber er schickte die beiden Autobusse des Berliner Ensembles mit der Bitte, einfach einzusteigen.

Ich nahm die ganze Gruppe mit. Dazu noch den Chor der Lohmannschule, denn ich hatte gehört, Brechts Stücke müssen von Liedern unterbrochen werden. So verfaßte ich ein Lied, das unser Komponist Harry Strauss vertonte und das wir Bert Brecht nicht vorenthalten wollten. Ahnungslos fuhren wir gen Berlin, und der schöne Spruch bewahrheitete sich, daß Unwissen Macht ist.

Hätten wir auch nur geahnt, wen Helene Weigel in die Probebühne des Berliner Ensembles zu den »jungen Leuten, die ein ganzes Jahr gearbeitet haben«, eingeladen hatte, wir hätten kein Wort herausgebracht: Ernst Busch, Therese Giehse, Wolfgang Langhoff, Fritz Wisten, Elisabeth Hauptmann, Jakob Walcher, Ruth Berlau, Hanns Eisler, Paul Dessau, Wolfgang Harich, Paul Rilla, alle Schauspieler des Berliner Ensembles und so weiter. So aber betraten wir die Probebühne wie jeden Dorfgasthof, in dem gespielt wurde, und wir spielten auf Teufel-komm-raus. Der Beifall war riesig. Man kam auf die Bühne und schüttelte uns die Hände. Am 21. März 1951, das war der Tag, schrieb ich in mein Tagebuch: »Paul Wandel (Volksbildungsminister) beglückwünschte jeden von uns. Eine Frau hat mich umarmt.« Brecht fand es »lustig«, aber er nahm uns ernst und kritisierte uns. Übrigens hatte ich Mühe, Brecht nach der Aufführung unter den Anwesenden zu finden. Helene Weigel hatte mir überglücklich gesagt, ich solle gleich zu Brecht kommen, und ich ging auf den Mann zu mit der grauen Jacke und dem Brecht-Haarschnitt. Er schien mir auch bedeutend genug, denn er war von einer Traube von Leuten umringt, die an seinen Lippen hingen. Irrtum. Es war Paul Dessau. Der nächste, den ich als Brecht ansprach, war der Schauspieler Peter Kalisch: wieder Brecht-Schnitt, wieder die graue Jacke, aber diesmal allein und nachdenklich in einer Ecke.

Außer dem Pförtner, der ebenfalls eine graue Jacke trug, fiel mir sonst niemand mehr als »brechtisch« auf, bis mir ein unauffälliger Mann mittlerer Größe die Hand gab und vor sich hinmurmelte: »Brecht«.

Brecht probierte mit uns bis kurz vor Mitternacht. Er fand unsere Vorstellung von der Spanierin Carrar »etwas dampfig« und den Schluß »ein wenig absurd«. Ich hatte »verfremdet«: Im Stück wird zwar am Ende zur Waffe gegriffen, um gegen Franco zu kämpfen, aber ich ließ den Milizionär Pedro am Ende durch den Vorhang treten und das Gedicht »An meine Landsleute« sprechen: »Greift zur Kelle, nicht zum Messer«. Das Publikum könnte ja sonst, 1951, auf den Gedanken kommen, beim Friedenskampf zum Gewehr zu greifen. Nun sollte plötzlich »ein wenig absurd« sein, wo ich mich am meisten als »Brechtianer« gefühlt hatte. Meine Verwirrung wuchs, als »mein« Pedro, alles andere als ein »Brechtianer«, ja, ein Hasser aller »Verstellerei«, gegen Mitternacht Mitglied des Berliner Ensembles war. Brecht meinte, er habe ihm »gern zugeschaut«. Meiner Auffassung über Kollektivität gemäß, hätte mich dieser Erfolg freuen müssen. Ich war stinksauer. Ich war schließlich der Regisseur. Das hielt an, bis wir am nächsten Morgen die Busse vor der Probebühne besteigen wollten und ich zufällig zwischen Tür und Angel auf Brecht stieß, der zur Probe kam. Ich grüßte ehrfurchtsvoll, aber frustriert. Brecht mußte es wohl bemerkt haben, denn er zupfte etwas verlegen an seiner Mütze und sagte fast entschuldigend, er habe gesehen, daß es da noch viel zu lernen gäbe und ob ich Lust hätte, dies beim Berliner Ensemble zu tun.

Ich hatte Lust.

Das BE

Anders als üblich lernte man das Berliner Ensemble zuerst als Legende kennen. Später sollte ich erfahren, daß der Meister daran nicht unschuldig war, obwohl er doch sonst versicherte, das Geheimnis der Erfolge des BE sei die geheimniszerstörende Wirkung seiner Aufführungen. Aber schon Eugen Berthold muß in Augsburg um den Nutzen von Legenden gewußt haben, denn er nannte sich bereits bei der Herausgabe seiner ersten Gedichte einen Klassiker. Sein Azdak sprach es später ganz unverhohlen aus, wenn er im Kaukasischen Kreidekreis den verdutzten Rechtsanwalt nach der Höhe seines Honorars fragt: »Ich hör Ihnen ganz anders zu, wenn ich weiß, sie sind gut.« Auch daß Brecht »Stars« an seinem Theater nicht mochte, ist ein Gerücht. Im Gegenteil. »Berühmtheit ist eine unverzichtbare Arbeitsgrundlage.« So der Meister.

1950 zum ersten Deutschlandtreffen der FDJ, war es mir gelungen, Karten für zwei Aufführungen des BE zu ergattern: Der Hofmeister von Lenz in der Bearbeitung von Brecht und Wassa Shelesnowa von Gorki. Selbstverständlich fanden wir unsere »Wassa«, kreiert in Köthen von unserer Laienspielgruppe, viel besser. Aber der Hofmeister, Brecht verzeih mir’s, hat mich benebelt.

Ich verschlang sofort das Kleine Organon für das Theater, besorgte mir den Dreigroschenroman und betrachtete nunmehr mein künftiges Leben als Aufbruch ins »wissenschaftliche Zeitalter«.

Daß der Hofmeister nicht nur Wahrheiten über die deutsche Misere enthielt, sondern auch Schönheiten, ja, daß er wahrscheinlich die schönste Aufführung des deutschen Nachkriegstheaters war, bemerkte ich erst viel später. Für mich war er einfach, ganz im Sinne Diderots, Gipfel der Aufklärung, und Aufklärung, so schien es mir, war das, was wir nach der Menschheitskatastrophe am dringendsten benötigten. So hielt ich mich an die Sprüche, nicht an die Schönheit, und schrieb mir in großen Buchstaben den Epilog mit Kreide an die Wand: Schüler und Lehrer einer neuen Zeit betrachtet seine Knechtseligkeit, damit ihr euch davon befreit. Als ich Brecht später davon erzählte, hatte er eine viel plausiblere Erklärung dafür: »Brechts Slogans sind die besten.«

Tatsächlich brauchte man auch in der Nähe Brechts eine ganze Zeit, um hinter seine Absichten, Methoden und Tricks zu kommen. Brecht gehörte zu jenen Lehrern, die nicht lehrten. Er lud von Anfang an zur Mitarbeit ein und überließ es jedem selbst, davon Gebrauch zu machen oder nicht. Allerdings ging er dabei von dem Grundsatz aus, daß Assistenten faul sind. So flatterte Weihnachten 1952 allen Assistenten ein Brief mit entsprechenden Beschimpfungen auf den Tisch, endend mit dem Text, der inzwischen zum Zitat wurde: »Die Arbeit beim B. E. ist aufgebaut auf dem Interesse, das die Mitarbeiter am Theater nehmen, dem eigentlichen Gradmesser des Talents.« Große Wirkung hatte das nicht, und die Fluktuation an Assistenten erreichte Rekordzahlen. Waren es bei meiner Ankunft an zwölf, blieben am Ende ganze drei.

Meine Entdeckung Brechts aber machte ich erst nach einem Jahr der Mitarbeit. Zunächst wunderte es mich und dann fand ich heraus, daß wissenschaftliche, moralische, politische, kritische Begriffe bei Brecht selten »pur« vorkommen. Sie haben zumeist Zusätze wie Lust, Genuß, Vergnügen, Witz, aber auch Erstaunen, Neugier, Erschrecken. Da ist die Rede von der »Lust des Produzierens«, vom »Witz der Dialektik«, vom »Genuß als Stärkung des Lebenswillens«, vom »Vergnügen an der Unstetigkeit der Dinge«, vom »Reiz des Politischen«, vom »Erstaunen als Lebensbedürfnis«, von der »Poetik der Kritik«, vom »Erschrecken als Beginn der Erkenntnis«.

Und es brauchte bis zu den letzten Gesprächen im August 1956 in Buckow, um zu erfahren, was Brecht für die wesentlichste Seite seiner Texte und Stücke hielt: ihre Naivität. Er beklagte mir gegenüber bitter, daß man seine Arbeiten unnaiv als Gedanken- oder Moralproduktion betrachte. Er habe für selbstverständlich gehalten, daß es keine Kunst ohne Naivität gäbe, jedenfalls keine echte. Deshalb habe er es – leider – unterlassen, darüber zu schreiben. Das würde er jetzt nachholen, oder wir sollten es tun. Naivität, die er meine, sei das Gegenteil von Simplizität. Sie ignoriere nicht das Wissen, sondern setze es voraus. Aber alles Wissen, jede Analyse, jede gesellschaftliche Kritik würden erst zu Kunst und als Kunst wirksam, wenn sie ganz naive Impulse auslösten: eben Lust, Neugier, Genuß, Zorn, Erstaunen, Erschrecken, Freude, Protest, Trauer, Jux, Mut und Übermut.

Noch heute reduzieren hauptsächlich Literaten, noch dazu in der Sprache Brechts, Brecht auf einen »puren« Aufklärer und lassen ihn mit seinem »Aufkläricht« an einer Zeit scheitern, in der Vernunft kein Heilmittel sei, sondern die eigentliche Krankheit. 1951 jedenfalls stand ich mit Erich Franz, das war der Name »meines« Pedro der Carrar-Amateur-Aufführung, die uns an das BE gebracht hatte (er wurde übrigens einer der bekanntesten Filmschauspieler der DDR), Koffer in der Hand, vor der Reinhardtstraße 25, der Probebühne des BE, und überschritt die Pforte mit der Gewißheit, das wissenschaftliche Zeitalter zu betreten. Alles schien darauf hinzudeuten. Man probierte die Gerhart-Hauptmann-Bearbeitungen Biberpelz und Roter Hahn. Es war taghell, die Vorhänge vor den großen Fenstern waren weit zurückgezogen, es hieß, Brecht hasse die »fensterlosen Räume«. Der Ton, der auf der Probe herrschte, war für Theaterleute zu normal, für Wissenschaftler allerdings zu fröhlich. Dennoch hatte man den Eindruck eines Laboratoriums, in dem experimentiert wurde. Das bestätigte auch ein Gerät dicht neben dem Regiepult. Es war ein riesiger Verstärker im hellgrauen Technik-Design mit vielen Schalthebeln, Kontrollämpchen, Meßinstrumenten und mit zwei Plattentellern zum gleichzeitigen Abspielen von zwei Tonträgern (er wurde übrigens nie benutzt. Nur einmal verwendete ich ihn später auf der Bühne als Trickkiste für einen Kriegsberichterstatter in Bechers Winterschlacht). Brecht mußte unser Kommen bemerkt haben, er stand auf, drängte sich durch die Sitzreihen, kam auf uns zu, gab jedem die Hand und sagte leise, um die Probe nicht zu stören: »Schön, daß Sie da sind, setzen Sie sich in die Probe und notieren Sie alle Einwände.«

Mit dieser Äußerung Brechts ließ ich bisher alle Berichte enden, die ich im Laufe der Jahre über unsere Ankunft schrieb. Entsprach das doch jenem Bild des chinesischen Weisen, das Caspar Neher in den dreißiger Jahren von Brecht gezeichnet hatte. Es war ja auch eine großartige Haltung eines großen Mannes. Aber eben nur eine. Bestimmt tut es Brecht keinen Abbruch, wenn ich die Legende von der Liebe Brechts zu Kritik und Einwand hier ein wenig mit der Realität bereichere.

Drei Jahre später, ich war inzwischen Regieassistent von Brecht bei dem Strittmatter-Stück Katzgraben, sah Peter Palitzsch, der von einer Auslandsreise zurückkam, die Voraufführung der Neuinszenierung, auf die Brecht und ich sehr stolz waren. Nachdem das Publikum am Ende ganz gut geklatscht hatte, ging Brecht erwartungsvoll auf Palitzsch zu und fragte, was er jetzt zu dem neuen Schlußbild sage. Die Antwort von Palitzsch: »Mörderich« (Palitzsch ist Sachse und kann kein »sch« sprechen). Brecht machte auf dem Absatz kehrt und ließ ihn stehen. War es in den folgenden Tagen überhaupt nicht zu vermeiden, ihn bei Zusammenkünften anzusprechen, hieß Palitzsch »Herr Palitzsch«, Brechts äußerster Grad von Verachtung. Dabei blieb es. Nach etwa drei Wochen klingelte bei Palitzsch spät abends das Telefon. Zu seiner Überraschung rief Brecht an und wollte irgendwelche Nebensächlichkeiten wissen, die man genausogut am nächsten Morgen hätte besprechen können. Brecht hatte sich schon verabschiedet, und Palitzsch wollte schon den Hörer auflegen, als er Brechts Stimme nach einem Räuspern noch einmal vernahm: »Und warum mörderisch?«

Am 15. März 1951, das war der Tag unserer Ankunft, waren wir von allem überwältigt. Wir konnten nicht wissen, daß wir noch am selben Tag nicht nur die Freundlichkeit des Berliner Ensembles kennenlernen sollten, sondern auch seine Hackordnung.

Zunächst aber der Empfang durch Helene Weigel, Luisenstraße 18, wo sich die Arbeits- und Büroräume des Ensembles befanden. Erneute Überwältigung, diesmal durch Normalität. Man empfing uns wie alte Bekannte, auf die man lange gewartet hatte. Die einzige Schwierigkeit bereitete mir das »Du«, mit dem wir sofort angesprochen wurden und das ich mit »Du« zu erwidern hatte. Wie immer bei »Helli«, so wollte sie angesprochen werden, gab es schnelle und konkrete Resultate: einen Wohnungsschlüssel (»Saubermachen müßt ihr selber, aber bitte jeden zweiten Tag«); einen Arbeitsvertrag als Regie-Assistenten-Eleve (dreihundertvierzig Mark); den Namen des Betriebes, in dem wir schon am nächsten Tag Werbung für das BE machen sollten (»Ihr kennt euch ja aus in Betrieben«), ein Arbeitszimmer unter dem Dach (1 Meter 25 mal 2 Meter 80) und den Rat: »Es ist besser, ihr stellt euch auch gleich mal in der Dramaturgie vor, zweiter Stock.« Der Ton, in dem das gesagt wurde, ließ darauf schließen, daß im zweiten Stock ihr Reich endete. Der Empfang dort war auch entgegengesetzt. Nachdem man angeklopft hatte und von drinnen ein »Was ist?« zu vernehmen war, betrat man ein kleines Zimmer, das durch einen schmalen, langen Klapptisch (eine Erfindung Brechts) geteilt war. In der einen Hälfte, hinter dem Tisch, ein Mann mit aufgestütztem Kopf, bei dem man aber noch die hohe Stirn und die schwarzgeränderte Hornbrille erkennen konnte: der Chefdramaturg. Sein Name: Peter Palitzsch. Ursprünglich als Werbefachmann engagiert, jetzt Wächter über alles Dialektische und Epische. In der anderen Hälfte, ausgestreckt auf einer Liege, ein weiterer Dramaturg: Claus Hubalek. Er schlief, obwohl es hellerlichter Tag war. In knappen Worten trug ich noch einmal meine Geschichte vor, nachdem von dem Mann hinter dem Tisch ein ebenso knappes »Und?« gekommen war. Ich erzählte von dem Jahr der Vorbereitung in unserer Laienspielgruppe, von der Aufregung des Vorspielens auf der Probebühne des BE, von unserem unerwarteten Engagement an das berühmte Theater und von unserer Freude darüber. Ich hatte längst geendet, als der Bebrillte plötzlich aufsah, mich erstaunt entdeckte und in epischer Sachlichkeit sagte: »Hier wird ja jeder engagiert, der von Brecht auch nur das Geringste macht«, damit versank er wieder in dramaturgischen Papieren. Ich stand noch eine ganze Weile betreten und überflüssig da, ging dann, besser taumelte die Treppe wieder herunter und traf unten auf Wolfgang Böttcher, ebenfalls Assistent des BE, aber mehr aus Hellis Reich. Er schien die Prozedur zu kennen, denn er nahm mich beim Arm, nannte »die da oben« Arschlöcher und expedierte mich zum »Piccolo«, dem kleinen Café Ecke Reinhardtstraße. Dort spendierte er mir einen »Spezi«, den Kognak der Minderbemittelten. Aber es sollte noch schlimmer kommen. Der neue männliche Zugang hatte das Interesse einer Schauspielerin am Nebentisch geweckt. Auch sie schien mein Elend zu verstehen. Sie nahm ihr Rotweinglas, setzte sich an meinen Tisch und erzählte mir sofort die Geschichte ihrer Emigration in England, wo sie Theater gemacht hatte und viele Rollen spielte. Jetzt spiele sie die Jungfer Rehhaar im Hofmeister und eine Kleinbürgerin an der Kupfersammelstelle in der Mutter, dabei sei sie mit so großen Erwartungen »zu Brecht« gekommen, aber auch der habe nur »seine Lieblinge«, die alles zu spielen kriegten, und sie gehöre nicht dazu. Ob ich das richtig fände. Ich verneinte dies, konnte aber sonst nichts Wesentliches zur Klärung beitragen. Der Abend endete spät und betrunken. Ich erinnere mich nur noch an das Schlußwort der erfahrenen Kollegin: »Im Berliner Ensemble hat jeder mal groß angefangen.«

Um wieder etwas vorzugreifen: Peter Palitzsch, der gestrenge Chefdramaturg, wurde später mein engster Regie-Partner. Uns verband eine Zeitlang fast eine Freundschaft. Da ich gestrenge Chefdramaturgen ungern im Rücken habe, lockte ich ihn bei der Arbeit an der Synge-Komödie The Playboy of the Western World