Erinnerung als Politik - Hans-Joachim Schemel - E-Book

Erinnerung als Politik E-Book

Hans-Joachim Schemel

4,9

Beschreibung

Die Zeit der Weimarer Republik und der NS-Diktatur wird ohne die gängige Dämonisierung beschrieben und kommentiert. Wie konnte es zu den NS-Verbrechen kommen? Warum stimmten so viele Deutsche einem Mann wie Hitler zu? Welche Gefühle und Sichtweisen waren damals verbreitet und was waren ihre Ursachen? Die wirtschaftlichen und sozialen Verhältnisse bieten Erklärungsansätze für das damalige Verhalten der Bevölkerung. Die nationalsozialistische Vergangenheit beherrscht auch heute noch Selbstbild und Außenwahrnehmung der Deutschen. Kann Deutschland bei dieser Vergangenheit normal sein? Angesichts der im deutschen Namen begangenen Verbrechen scheint es für Deutsche unmöglich zu sein, sich mit positiven Gefühlen auf ihr Land zu beziehen. Der Autor stellt die offizielle Erinnerungskultur infrage und plädiert für einen selbstkritischen Patriotismus. Das Buch wendet sich an politisch und historisch Interessierte.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern

Seitenzahl: 720

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
4,9 (18 Bewertungen)
17
1
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Über den Autor

Hans-Joachim Schemel ist Politikberater. Als promovierter Landschafts- und Stadtplaner und Inhaber des Büros für Umweltforschung und Stadtentwicklung hat er vierzig Jahre lang (von 1975 bis 2015) Bundes- und Landesregierungen, Kommunen, Stiftungen, Verbände und Bürgerinitiativen beraten (www.umweltbuero-schemel.de). Hans-Joachim Schemel war öffentlich bestellter und vereidigter Sachverständiger für die Prüfung von Großvorhaben und wurde zum Mitglied des Beirats Sport und Umwelt beim Bundesumweltministerium berufen. Er hat mehrere Fachbücher und zahlreiche Artikel in Fachzeitschriften veröffentlicht. Privat engagiert er sich seit Jahrzehnten politisch außerhalb von Parteien, seit 2002 bei Attac. 2010 erschien sein viel beachtetes Sachbuch „Wirtschaftsdiktatur oder Demokratie? Wider den globalen Standortwettbewerb – für eine weltweite Regionalisierung“. Er ist verheiratet, hat eine Tochter, einen Sohn und zwei Enkelkinder.

Ich danke meinen Freunden Walter Fuchs, Wilhelm Grote, Ekkehard v. Huene und Gerd Zeitler, ohne deren Ermutigung ich diese quer zum gedanklichen Mainstream stehenden Überlegungen nicht öffentlich zur Diskussion gestellt hätte.

Meinem Enkel Moritz gewidmet

Inhaltsverzeichnis

Vorbemerkungen

1.1 ZUR METHODE

1.2 ZU DEN MOTIVEN MEINES FORSCHENS

Die Zeit der Weimarer Republik

2.1 SCHLECHTE STARTBEDINGUNGEN

2.2 FEINDE „DES SYSTEMS“

2.3 DER KAMPF DER EXTREMISTEN GEGEN DIE DEMOKRATIE

2.4 DIE „GOLDENEN JAHRE“

2.5 ERSTE GESPRÄCHSRUNDE

2.6 DIE WELTWIRTSCHAFTSKRISE 1929 UND IHRE FOLGEN

2.7 ZWEITE GESPRÄCHSRUNDE

2.8 DER WEG ZUR LEGALEN MACHTERGREIFUNG HITLERS

2.9 DIE BÜRGERLICHEN NATIONALISTEN VERKENNEN HITLER

2.10 DRITTE GESPRÄCHSRUNDE

Naziherrschaft

3.1 FRÜHER TERROR UND GLEICHSCHALTUNG

3.2 ERFOLGE HITLERS UND WACHSENDE POPULARITÄT

3.3 NÜRNBERGER GESETZE 1935 UND REICHSPOGROMNACHT 1938

3.4 VIERTE GESPRÄCHSRUNDE

3.5 DER ZWEITE WELTKRIEG

3.6 JUDENVERFOLGUNG UND HOLOCAUST

3.7 FÜNFTE GESPRÄCHSRUNDE

Reflexionen über das damalige Verhalten

4.1 ZUR FRAGE VON SCHULD UND VERANTWORTUNG

4.2 WAS WUSSTEN DIE DEUTSCHEN ÜBER DEN HOLOCAUST?

4.3 WARUM KEIN VOLKSAUFSTAND?

Reflexionen über den Umgang mit deutscher Geschichte

5.1 ZUR „SINGULARITÄT“ DER NS-VERBRECHEN

5.2 KRITIK DER ERINNERUNGSKULTUR

5.3 ZUR GLAUBWÜRDIGKEIT VON ZEITZEUGEN

5.4 STREIT UM DAS GESCHICHTSBILD

5.5 EXKURS GEGENWART (1): POLITISCHER RECHTSRUCK

5.6 EXKURS GEGENWART (2): GELENKTE DEBATTEN

5.7 EXKURS GEGENWART (3): KOLLEKTIVE ANGST

5.8 VON DER GEFAHR FALSCHER SELBSTBILDER

5.9 DAS GEBROCHENE SELBSTBILD DER DEUTSCHEN

5.10 SELBSTKRITISCHER PATRIOTISMUS

Schlussbemerkung

Anhang: Namensregister (Autoren und Akteure)

Anhang: Kapitel mit Zwischenüberschriften

Denken darf sich nicht auf Methode reduzieren, die Wahrheit ist nicht der Rest, der nach Ausmerzung des Subjekts zurückbleibt. Vielmehr muss es alle Innervation und Erfahrung in die Betrachtung der Sache hineinnehmen (...) Misstrauen dagegen ist die gegenwärtige Gestalt von Denkfeindschaft.

Theodor W. Adorno (aus "Anmerkungen zum philosophischen Denken", 1969)

1. Vorbemerkungen

1.1 ZUR METHODE

Die Befangenheit des Historikers — Kultur- und mentalitätsgeschichtlicher Ansatz — Hitlers Schatten

Die historischen Erzählungen spiegeln die selektive Sichtweise derer wider, die aus ihrer Zeit berichten. Machthaber wussten schon immer um die Bedeutung von Geschichtsschreibung. Sie wollten im Gedächtnis der Nachwelt einen rühmlichen Platz einnehmen. Ein Geschichtsschreiber, der sich dieser Vorgabe nicht beugte, fiel in Ungnaden, was die Vernichtung seiner materiellen oder gar physischen Existenz bedeutete. Daher wurden Fakten weggelassen und hinzugefügt und die Begebenheiten so eingefärbt, wie es den Machthabern gefiel.

Zumindest in demokratischen Gesellschaften wird heute in aller Regel kritischer mit den Ereignissen der Vergangenheit umgegangen. Man weiß inzwischen, welchen verheerenden Einfluss einseitige Geschichtsbilder auf das Selbstbild und die Selbstachtung ganzer Völker haben können: Überlegenheitswahn als Folge von Siegen sowie Demütigungs- und Rachephantasien als Folge von Niederlagen.

Die Geschichtsschreibung lässt sich zwar nicht mehr so einfach missbrauchen wie früher, jedoch gilt auch heute noch: geschichtliche Ereignisse bieten einen sehr weiten Spielraum für Interpretationen. Welche Ereignisse werden hervorgehoben, welche nicht? Die Regierenden wissen heute, dass das Geschichtsverständnis der Bevölkerung einen großen Einfluss auf die Bereitschaft ausübt, sich mit der eigenen Nation zu identifizieren. Daher wird weltweit großer Wert auf Geschichtspolitik und Erinnerungskultur gelegt.

Wie steht es damit in Deutschland? Welchen Einfluss hat die NS-Vergangenheit auf das Selbstverständnis der Deutschen? Die gegenwärtig gepflegte deutsche Erinnerungskultur bietet dem kritischen Blick einige Angriffspunkte. Eine Thematisierung und breitere Debatte dieser Angriffspunkte ist überfällig.

Die Befangenheit des Historikers

Jeder Historiker und jeder an Geschichte interessierte Laie ist befangen im Denken seiner Zeit. In Demokratien werden Fakten zwar meist nicht unterdrückt, wie es in Diktaturen üblich ist. Aber auch bei freier Forschung kommt es darauf an, welche Fakten ausgewählt und in welchen Zusammenhang sie gestellt werden, welche Bedeutung bestimmten Ereignissen beigemessen wird und wie sie im Kontext gedeutet werden.

In den Geisteswissenschaften gibt es bekanntlich keine objektiven Erkenntnisse im Sinne einer empirischen Beweisbarkeit, wie wir es aus den Naturwissenschaften kennen. Das Bewusstsein des Forschenden enthält Annahmen, Vorlieben und Vorurteile. Von diesen hängt ab, wie die vergangene und gegenwärtige Realität wahrgenommen und welche ihrer Aspekte als mehr oder weniger untersuchungswert betrachtet werden. Auch können sich Wissenschaftler von politischen Erwartungen und Vorgaben meist nicht ganz frei machen.

Martin Schulze Wessel, 2012 bis 2016 Vorsitzender des Verbandes der Historiker und Historikerinnen Deutschlands, wird in einem Bericht über den Historikertag in Hamburg 2016 mit folgendem Hinweis zitiert: „Wir als Historiker müssen Akzente setzen – nicht nur aus fachpolitischen, sondern auch aus politischen Interessen.“ Ein anderer Historiker stellt bei der gleichen Veranstaltung fest, Geschichte lasse sich immer wieder neu diskutieren und politisieren – und manipulieren. („Geschichte wird gemacht“, Süddeutsche Zeitung 24./25.9.2016)

Der historisch Forschende ist immer auch in seiner persönlichen Identität berührt. Das gilt in besonderem Maße für Fragestellungen, die das geschichtliche Versagen des eigenen Landes zum Gegenstand haben, wie es beim Thema der deutschen NS-Vergangenheit der Fall ist. Wie soll der Historiker mit Geschehnissen umgehen, die mit politischen Tabus belegt sind? Mit welchen Fragestellungen und Überlegungen kann er sich moralisch angreifbar machen? Muss er befürchten, Applaus von der „falschen Seite“ zu erhalten?

Ein geschichtliches Ereignis oder eine Epoche wird nur dann historisch angemessen behandelt, wenn das Geschehen aus unterschiedlichen Perspektiven heraus beschrieben werden kann – und Kontroversen zulässt, die ohne Unterstellung böser Motive der Forschenden auskommt. Daher ist immer dann erhöhte Skepsis geboten, wenn sich über ein bedeutendes Ereignis oder eine bestimmte Epoche ein eindeutiges, „unstrittiges“ Geschichtsverständnis gebildet hat. Dann ist zu fragen, welche geschichtspolitische Absicht sich hinter dieser merkwürdigen Harmonie verbirgt. Das trifft zum Beispiel für Teile der heute etablierten Erinnerungskultur in Deutschland zu.

Bestimmte Sichtweisen auf die hoch problematische Zeit zwischen dem Ende des Ersten und dem Ende des Zweiten Weltkriegs – die Zeit extremer Ideologien und unvorstellbar großer Verbrechen – beanspruchen heute Deutungshoheit. Was darf ein Historiker sagen und schreiben, ohne von seinen Kollegen, die der vorherrschenden Sichtweise folgen, zum Einzelgänger mit moralisch fragwürdigen Außenseiterpositionen abgestempelt zu werden? Das vorliegende Debattenbuch skizziert das Geschehen der finstersten Epoche der deutschen Geschichte in den aus Sicht des Autors wichtigsten Punkten und bezieht dazu Stellung – im ehrlichen Bemühen, ideologische Scheuklappen mit „linkem“ oder „rechtem“ Strickmuster zu vermeiden.

Um den Anschein der Scheinobjektivität zu vermeiden, werden in diesem Buch gesicherte Fakten und daraus abgeleitete persönliche Schlussfolgerungen nachvollziehbar unterschieden. Dies geschieht, indem für Aussagen, die die persönliche Einschätzung des Autors wiedergeben, die Ich-Form gewählt oder auf andere Weise kenntlich gemacht wird, dass es sich dabei um eine persönliche Sichtweise handelt, die zur Diskussion gestellt wird.

Kultur- und mentalitätsgeschichtlicher Ansatz

Jede geschichtliche Erzählung gewinnt ihre gesellschaftliche Relevanz durch den Bezug zur Gegenwart. Geschichte wird erst fruchtbar, indem ihre Beschreibung und Deutung Erkenntnisse für die Gegenwart abwirft. Ein Lernen aus Fehlern ist nur möglich, wenn das Zustandekommen der Fehler verstanden worden ist.

Allerdings ist ein solches Verstehen nur möglich, wenn wir die damalige Zeit nicht allein aus unserer Gegenwart heraus bewerten – in Kenntnis des Endes. Denn dieses Ende war den geschichtlichen Akteuren nicht bekannt. Wir dürfen die Andersartigkeit der damals herrschenden Verhältnisse und die Fremdheit der Denkmuster im Vergleich zu heute nicht überspielen, sondern müssen sie ernst nehmen und uns in der Analyse darauf einlassen. Warum haben bestimmte Akteure in der Vergangenheit so und nicht anders gedacht und gehandelt? Um darauf eine glaubwürdige Antwort finden zu können, müssen wir uns in die damalige Zeit hineinversetzen. Denkmuster und Handlungsweisen, die uns heute unbegreiflich sind und empörte Ablehnung hervorrufen, waren damals weit verbreitet. Sie sind nur nachvollziehbar, wenn sie im Zusammenhang mit den damals herrschenden Umständen und deren Wahrnehmung durch die Zeitzeugen gedeutet und eingeordnet werden.

Welche spezifischen Bedingungen haben das Denken, Fühlen und Verhalten der damaligen Menschen beeinflusst? Erst wenn das Sich Hineinversetzen in die für uns dunkle und bedrohliche Vergangenheit geleistet ist, kann gefragt werden: Welche heutigen Entwicklungen lassen sich mit damaligen Entwicklungen vergleichen, ohne sie gleichsetzen zu wollen?

Wenn die deutsche Vergangenheit in diesem Buch daraufhin untersucht wird, welche kulturellen, sozialen und wirtschaftlichen Faktoren Einfluss auf das Verhalten der damals lebenden Menschen ausgeübt haben, dann ist dieses Vorgehen nicht zu verwechseln mit dem Versuch, historische „Gesetzmäßigkeiten“ zu erkennen, wie es dem „Historizismus“ vorschwebt. Solche angeblichen „Gesetzte“ sollten nicht zur Grundlage politischer Entscheidungen gemacht werden. Der österreichisch-britische Philosoph Karl Popper, der mit seinen Arbeiten etwa zur Sozial- und Geschichtsphilosophie den kritischen Rationalismus begründete, bezeichnet mit Historizismus den im Historischen Materialismus von Karl Marx angelegten Irrglauben, es gäbe eine geschichtlich notwendige Entwicklung – und diese „Gesetze“ des geschichtlichen Ablaufs könnten zum Ziel wissenschaftlicher Erkenntnis gemacht werden. Wenn das gelänge, dann könnte die Politik sich daran ausrichten und voraussagen, welche politischen Handlungen wahrscheinlich erfolgreich sein werden und welche nicht. Diese früher weit verbreitete Vorstellung hat Popper gründliche widerlegt. (Karl R. Popper: „Auf der Suche nach einer besseren Welt“, 1987, Sammlung seiner Aufsätze)

Ich folge Karl Popper auch in seiner Erkenntnistheorie: „Der wissenschaftliche Fortschritt besteht nicht in der Anhäufung oder Erklärung von Tatsachen, sondern in kühnen, revolutionären Ideen, die dann scharf kritisiert und überprüft werden.“ (Quelle wie oben) Dieses Verständnis von Fortschritt auf die Geschichtswissenschaft angewendet heißt für mich: bei historischen Ereignissen darf es keine unumstößlichen Gewissheiten und „endgültigen“ Erklärungsmuster geben, sondern die zurzeit allgemein anerkannten Deutungen müssen es sich gefallen lassen, infrage gestellt zu werden. Die Qualität einer Debatte besteht nicht in der Vereinbarkeit mit vorherrschenden Meinungen, sondern in gut begründeten Argumenten.

Bei der Auseinandersetzung mit der deutschen Zeitgeschichte zwischen 1918 und 1945 wird in diesem Buch einem kultur- und mentalitätsgeschichtlicher Ansatz gefolgt, der in Deutschland noch relativ wenig gebräuchlich ist. Die jeweils herrschenden Verhältnisse bestimmen den gesellschaftlichen „Zeitgeist“, den es zu reflektieren gilt. Ohne die Berücksichtigung dieses Zeitgeistes, der auf den Einzelnen abfärbt, sind die Prozesse des historischen Geschehens nicht erklärbar. Daher stelle ich nicht nur die relevanten Fakten dar, sondern gehe auch auf die Gedanken und Gefühle der Menschen aus der Zeit vor und nach der Machtergreifung Hitlers ein. Diese Gedanken, Gefühle und die daraus erwachsenen Verhaltensweisen werden erklärt als Reaktion auf bestimmte damalige Ereignisse und verbreitete Sichtweisen, von denen die jeweiligen Zeitzeugen beeinflusst wurden – mehr oder weniger stark und auf die eine oder andere Weise.

Das denkende und handelnde Subjekt kann nur in seiner Prägung (nicht Determination) durch die ökonomischen, politischen und sozialen Einflüsse seiner Zeit begriffen werden. Die subjektive Befindlichkeit, die das politische Handeln bestimmt (zum Beispiel das Wahlverhalten in der Weimarer Republik), wird in diesem Buch daher zusammen mit den gesellschaftlichen Verhältnissen gedacht und dargestellt.

Manches Denken und Handeln, das im Deutschland der Weimarer Republik und der NS-Zeit bei sehr großen Teilen der Bevölkerung verbreitet war und nun mehr als siebzig Jahre zurückliegt, stößt heute auf breiteste moralische Empörung. Wie lässt sich diese Wandlung erklären? Welche kulturellen Einflüsse spielten dabei welche Rolle?

„Kultur“ ist alles, was Menschen mit Bedeutung belegen. Der bedeutende Ethnologe Clifford Geertz hat es so ausgedrückt: „Der Mensch ist ein Lebewesen, das in selbstgesponnenen Bedeutungsnetzen verstrickt ist“ („man is an animal suspended in webs of significance he himself has spun“). Wir können das Denken und Handeln historischer Akteure und Gruppen nur beurteilen, wenn wir ihre Wahrnehmungs- und Deutungsmuster von sich selbst und ihrer Umwelt zur Kenntnis nehmen. Die hochfliegenden Hoffnungen ebenso wie die Enttäuschungen, Ängste und Traumata der damals handelnden Personen müssen in die historische Forschung einbezogen werden, wenn diese uns ein zutreffendes Bild von der uns so fremd und entfernt erscheinenden Vergangenheit liefern soll.

Den Ausführungen in diesem Buch liegt die folgende Überlegung zugrunde: Die in früheren Zeiten lebenden Menschen sind als geschichtlich geprägte Wesen zu begreifen. Was sie dachten und taten, muss vor dem Hintergrund ihrer eigenen Gegenwart und Vergangenheit gedeutet werden. Es genügt nicht, die damals lebenden Personen einfach an heute geltenden moralischen Maßstäben zu messen – Maßstäbe, die sich gegenüber damals weiterentwickelt haben. Diese Weiterentwicklung ist zum Teil das Ergebnis der inzwischen erfolgten Auseinandersetzung mit den Verbrechen der NS-Diktatur.

Ein Beispiel ist die heute wesentlich höhere moralische Sensibilität im Hinblick auf die Diskriminierung von Minderheiten und speziell von Juden. Wir müssen die zeitliche Distanz beachten, bevor wir ein Urteil über Personen fällen, die in vergangener Zeit unter völlig anderen kulturellen Einflüssen lebten.

Wenn der Reformator Martin Luther im sechzehnten Jahrhundert in sehr grober Weise gegen Juden polemisierte – aus religiösen und nicht aus rassistischen Gründen – dann sind wir heute empört über eine solche Sichtweise. Aber es wäre falsch, Luther deshalb als unmoralische Person zu verurteilen. Er war ein Kind seiner Zeit.

Auch die Einstellung zum Rassismus hat sich im Laufe der Zeit grundlegend verändert. Nicht nur die Sklaverei und die Apartheid in Südafrika und den USA, auch der Kolonialismus der Europäer des neunzehnten Jahrhunderts sind in diesem Zusammenhang zu nennen. Der Kolonialismus war praktizierter Rassismus. Er basierte auf der Überzeugung der Europäer, den kolonisierten Völkern rassisch überlegen zu sein. Stephan Speicher schreibt unter dem Titel „Mit der Nilpferdpeitsche“: „Kolonialismus ist nicht möglich ohne ein Gefühl der elementaren, nämlich rassistischen Überlegenheit des Kolonialherren, ein Gefühl, dass sich mit Darwin oder doch seiner populären Auslegung noch einmal mit der Autorität der Wissenschaft gestärkt hatte.“ (Süddeutsche Zeitung 17.10.2016)

Auch der Sozialistenführer August Bebel, der in seinen humanen Vorstellungen meist seiner Zeit voraus war, hat Kolonien nicht für etwas durchweg Böses gehalten. Sein Überlegenheitsgefühl leitete er allerdings nicht aus rassistischen oder religiösen, sondern aus kulturellen Maßstäben ab. Er wird mit dem Satz zitiert: „ (…) kommen die Vertreter kultivierter und zivilisierter Völkerschaften zu fremden Völkern als Befreier“. (Quelle wie oben)

Das Bewusstsein von der gleichen Würde aller Menschen hat sich glücklicherweise inzwischen weitgehend durchgesetzt und prägt heute zumindest im westlichen Kulturkreis die Vorstellung davon, was moralisch verwerflich und was moralisch geboten ist. Zumindest auf dem Papier ist die Anerkennung der allgemeinen Menschenrechte inzwischen unumstritten – auch wenn ihre Prinzipien unterschiedlich ausgelegt und in der politischen Praxis oft missachtet werden.

Hitlers Schatten

Der britische Historiker Ian Kershaw formulierte in seinem Essay „Trauma der Deutschen“ über Hitler und die NS-Zeit vor mehr als fünfzehn Jahren Gedanken, die auch heute noch allgegenwärtig sind: „Er ließ ein Land zurück, das auf Dauer ein moralisches Schandmal trug, war es doch unter seiner Führerschaft zu einem Angriff auf die schieren Grundlagen von Menschlichkeit und Zivilisation gekommen. (…) Selbst so viele Jahre nach den Ereignissen ist es für viele nachgeborene Deutsche außerordentlich wichtig zu verstehen, wie Hitler möglich gewesen ist, warum ihm nicht Einhalt geboten worden war, wie der ‚Zivilisationsbruch’, den er ausgelöst hatte, stattfinden konnte, warum so viele Deutsche an Hitler geglaubt und seine Politik unterstützt hatten, die zur Katastrophe führte, wie schließlich ihre eigene Familie in solche Unmenschlichkeiten hineingezogen werden konnte. So verlängert sich Hitlers Schatten.“ Und Gerhard Spörl fragt in seinem Beitrag mit dem Titel „Die Kraft des Grauens“ im gleichen Zusammenhang: „Wieso tun sich die Deutschen so schwer mit der Normalität?“ (beide Zitate aus Der Spiegel 19/ 2001).

Der in den dreißiger Jahren des zwanzigsten Jahrhunderts in Deutschland verbreitete Nationalismus und Rassismus, der Führerkult, der Rausch der Massen, der Blut-Boden-Wahn und die Siegesgewissheit der Nationalsozialisten bis zum Kriegsende sind Gefühle, Denk- und Handlungsmuster, die für uns heutige Menschen kaum nachvollziehbar sind. Bestand die Bevölkerungsmehrheit damals aus weltfremden Wirrköpfen, aus ideologisch verbohrten Menschen, die sich der Realität verweigerten, aus Monstern ohne Moral und Anstand?

Bevor wir in Abscheu vor den NS-Taten erstarren und verharren, sollten wir fragen: Wie konnte es dazu kommen? Welche Verhältnisse herrschten damals, die ein aus heutiger Sicht so unverständliches Denken und Handeln hervorriefen? Ticken wir heutigen Menschen so völlig anders als die Menschen damals? Die Kenntnis welcher Ereignisse kann uns Heutigen helfen, die Hoffnungen und Ängste, die Zufriedenheit und Ansprechbarkeit der damaligen Bevölkerung gedanklich nachzuvollziehen? Vielleicht erscheinen uns dann manche damaligen Entscheidungen – etwa die Zustimmung zu Hitler – nicht als äußerste Taktlosigkeit und moralische Verirrung, sondern als Reaktionen auf Einflüsse, die bestimmte Verhaltensweisen nicht mehr als abwegig erscheinen lassen.

Erst wenn wir die Hintergründe begreifen, lässt sich erkennen, wie wir uns in der Gegenwart vor Abgründen schützen können, denen wir in der NS-Zeit begegnen, wie wir uns zum Beispiel schützen können vor politischer Naivität und Gleichgültigkeit, vor ideologischer Verblendung, vor einer skrupellosen Manipulation des moralischen Empfindens, vor nationalistischem und rassistischem Wahn. Welche Empfindungen haben das Bewusstsein großer Teile der deutschen Bevölkerung damals vernebelt und verdunkelt? Und welche Verhältnisse haben solche Empfindungen hervorgerufen?

Wer sich mit diesen Fragen auseinandersetzt, kommt vielleicht zu folgendem Ergebnis: Wenn wir aus heutiger Sicht zu geschichtlichen Ereignissen und ihren Akteuren Stellung beziehen, sollten wir dies nicht in einer Haltung der moralischen Überlegenheit gegenüber unseren Vorfahren tun. Wir sollten uns vielmehr als Menschen verstehen, die als Kinder der Gegenwart teilweise anders denken und fühlen als unsere Eltern und Großeltern, teilweise aber auch genau so.

Wir Deutsche – und nicht nur wir – sollten aus den Verbrechen der NS- Vergangenheit die richtigen Schlüsse ziehen. Das würde uns dabei helfen, in Gegenwart und Zukunft die gesellschaftlichen Verhältnisse so zu gestalten, dass sie nicht die Denk- und Verhaltensweisen begünstigen, die damals zur Befürwortung oder Duldung der NS-Diktatur beigetragen haben. Vielleicht könnten wir dann in Situationen, die uns vor ähnliche Entscheidungen stellen wie unsere Vorfahren, anders handeln als sie es damals getan haben.

1.2 ZU DEN MOTIVEN MEINES FORSCHENS

Das Erschrecken über den Holocaust — Die angeklagte Elterngeneration — Vergebliche Erklärungsversuche — Verstehen ohne vorschnelles Urteil — Begleitumstände der NS-Verbrechen — Der Vorwurf der Verharmlosung — Das Wissen damals und heute — Drei Zeitabschnitte

Was habe ich, der ich Anfang 1945 geboren wurde, mit den Verbrechen des nationalsozialistischen Deutschland zu tun? Bin ich mitschuldig an und mitverantwortlich für die NS-Vergangenheit, weil eine überschaubare Anzahl von Menschen, die meine Staatsangehörigkeit teilen, damals schwere Verbrechen begangen haben? Sind „wir Deutschen“ vielleicht ein Volk, das bestimmte gefährliche Charaktereigenschaften aufweist?

Das führt zu weiteren Fragen: Haben die Deutschen damals Verhaltensweisen an den Tag gelegt, zu denen sich kein anderes Volk hätte hinreißen lassen? Hat der Holocaust nur in Deutschland stattfinden können? Überspitzt gefragt: Sind diese Verbrechen typisch deutsch? Sind „wir Deutschen“ zu verbrecherischem Verhalten disponiert? Wenn das der Fall ist, wären wir Deutschen ein Volk, vor dem sich andere Völker in Gegenwart und Zukunft besonders in Acht nehmen müssen.

Beim Ausspruch „wir Deutsche“ drängt sich die Frage auf: Warum gibt es überhaupt dieses „Wir-Gefühl“ auf nationaler Ebene – die Identifikation mit dem eigenen Land? Ist Patriotismus eine Haltung, die ein Deutscher angesichts der NS-Vergangenheit einnehmen kann, oder tut sich hier ein unüberbrückbarer Widerspruch auf? Kann ein Deutscher heute ein Nationalgefühl haben, sich also mit seinem Land und seiner Bevölkerung positiv identifizieren, ohne Neonazi zu sein?

Diese Fragen bedrängen mich schon lange – und meine Suche nach Antworten lässt sich in diesem Debattenbuch nachvollziehen.

Ich fühle mich als ein typischer Vertreter der Nachkriegsgeneration, weil ich nicht nur am eigenen Leib den Bombenkrieg erfahren, sondern auch in beiden getrennten Teilen Deutschlands gelebt habe. Meinen Blick auf die jüngere deutsche Vergangenheit haben mich Erzählungen aus der eigenen Familie, mein Geschichtsunterricht, Berichte und Kommentare aus Büchern und anderen Medien und nicht zuletzt Diskussionen mit Freunden gelehrt.

Das Erschrecken über den Holocaust

Das Motiv meines Forschens hängt mit meinem Erschrecken über den Holocaust zusammen. Die Gräuel dieses Menschheitsverbrechens lassen mich besonders deshalb so erschauern, weil an ihnen erkennbar wird, zu welchen Ungeheuerlichkeiten Menschen in der Lage sind. Kann man verallgemeinernd sagen, es waren dazu Menschen in der Lage, oder muss man angesichts der historischen Fakten sagen: es waren nur Deutsche dazu in der Lage?

Den Blick auf Menschen in diesem Zusammenhang hat in einem Interview der israelische Schriftsteller David Grossmann ausgesprochen, der über seine Reaktion als Kind auf die Verbrechen an seinem Volk berichtete. Intuitiv habe er etwas von der „Natur des Menschen“ erfasst: von der Fähigkeit des Menschen zur Brutalität. Das habe ihm große Angst gemacht. Er sprach nicht von der „Natur des Deutschen“. An anderer Stelle hat er, der einen Sohn im Krieg verloren hat, geschrieben: „Als Schriftsteller muss man sich auch mit den Eigenschaften der Figuren identifizieren können, die man an ihnen hasst. Deswegen habe ich auch über Nazi-Kommandeure geschrieben. Bücher geben einem eine zweite Chance, unausstehlichen Charakteren näher zu kommen. Und plötzlich merken wir, dass wir selbst dieser Jemand sein könnten. Plötzlich verschwindet die Distanz zwischen Leser und Figur, und man merkt, dass man vielleicht kein besserer Mensch ist.“ (Süddeutsche Zeitung 27./ 28.2.2016)

Der britisch-jüdische Verleger und Humanist Victor Gollancz hat in seiner kurz vor Ende des Zweiten Weltkriegs erschienenen Schrift „What Buchenwald Really Means“ (1945) erklärt, der Holocaust sei eine „Sünde gegen die Menschheit – eine so große Sünde, dass man sich, wenn man nur darüber spricht, wenn man nur daran denkt, schämen muss, ein Mensch zu sein.“

Der Holocaust war in einem Land möglich, dessen Kultur von Reformation und Aufklärung geprägt war und noch ist, in einem Land des Johann Sebastian Bach, des Martin Luther und des Immanuel Kant, des Johann Wolfgang v. Goethe, Friedrich Schiller und zahlreicher anderer hervorragender Geistesgrößen und Künstler. Es war eine Gesellschaft mit breiter Mittelschicht und durchschnittlich relativ hohem Bildungsgrad. Da drängt sich die Frage auf: Sind die hohen moralischen Standards, wie sie in der Literatur und in öffentlichen Reden betont und in Kirchen gepredigt wurden und werden, ist unser Bewusstsein von humanistischen und christlichen Werten, auf das wir uns etwas einbilden, so wenig wirksam, wenn es wirklich darauf ankommt?

Der Leiter der Gedenkstätte Buchenwald, Volkhard Knigge, hat auf die Frage nach der Bedeutung des Konzentrationslagers für die Nachwelt geantwortet, man könne daraus lernen, „wie schnell kulturelle Selbstverständlichkeiten zusammenbrechen können, auf einmal weg sind.“ (zitiert von Franziska Augstein in der Süddeutschen Zeitung vom 18.4.2016)

Die Verbrechen der NS-Zeit werfen einen langen dunklen Schatten bis in unsere Gegenwart siebzig Jahre nach Ende des Zweiten Weltkriegs – und dieser Schatten wird uns auch in Zukunft begleiten. Wen betrifft diese Vergangenheit, die nicht vergehen will? Sind es nur wir Deutschen? Sind es nicht alle Völker der Erde? Und jedes Volk wird – da bin ich mir sicher – darüber hinaus auch in seiner eigenen Geschichte Ereignisse finden, die einen dunklen Schatten werfen, sofern die Bereitschaft besteht, sich dieser Ereignisse zu erinnern und sich mit ihnen kritisch auseinanderzusetzen.

Die angeklagte Elterngeneration

Als junger Erwachsener gehörte ich zu denen, die in den 1960er und 1970ger Jahren voller moralischer Entrüstung mit dem Finger auf die „schuldig gewordene Elterngeneration“ gezeigt haben. In der Zeit meines Studiums wurde die Elterngeneration unter Generalverdacht der Mitwisser- und Mittäterschaft gestellt. Es war damals in meinem Bekanntenkreis üblich, von der simplen Annahme auszugehen, unsere Väter und Mütter hätten aktiv oder passiv das verbrecherische NS-Regime unterstützt. Wir gingen davon aus, dass sie vom Holocaust wussten. Wir meinten, weil unsere Eltern diese Verbrechen geduldet und nichts dagegen unternommen haben, hätten sie die Verbrechen zu verantworten. Sie würden ihre Schuld verschweigen und verleugnen, wenn sie die Mittäterschaft abstreiten, die wir ihnen unterstellten. Daher seien sie als Zeitzeugen nicht glaubwürdig.

In dem Sammelband „Die zornigen alten Männer“ (1979) schreibt zum Beispiel in diesem Sinne der Schriftsteller Axel Eggebrecht, der die mangelnde Aufarbeitung der Nazivergangenheit beklagt: „Zehn Jahre später (nach der „Entnazifizierung“) hieß es in ähnlichen Fällen wesentlich bösartiger: ‚Die haben wohl gemeinsam eine Leiche im Keller!’ Diese Redensart wird noch heute angewendet; zeitweise war sie so gang und gäbe, als hätte jeder zweite Bundesbürger ein böses Geheimnis aus Hitler-Zeiten zu verbergen. Und ist es nicht, recht überlegt, tatsächlich so?“

Mit dieser suggestiven Frage „ist es nicht, recht überlegt, tatsächlich so?“ bekennt er sich zu dem damals üblichen Generalverdacht und Schuldvorwurf gegen all die, die sich mit den Machtverhältnissen des „Dritten Reiches“ arrangiert haben, sich ideologisch verführen ließen oder unkritisch einfach nur mitgemacht haben oder aus Angst still geblieben sind. Kann man dieses Verhalten als verbrecherisch bezeichnen? Ich meine, das kann man nicht. Allerdings kann man durchaus vielen damaligen Zeitgenossen den Vorwurf machen, zu unkritisch und leichtgläubig gewesen zu sein – so wie wir selbst es heute vielfach ebenso sind.

Wir Studenten betrachteten allein schon die Zustimmung zu Hitler vor und in den Zeiten der nationalsozialistischen Diktatur als ein Verbrechen – und versäumten zu fragen, welche Gründe es für diese in den 1930er Jahren sehr verbreitete Zustimmung gegeben hat. Wir lehnten es ab, nach der individuellen Täterschaft zu fragen und die Verstrickung des Einzelnen in das NS-Regime differenziert zu beurteilen.

Auch heute noch finden sich in den Medien immer wieder Äußerungen auf diesem flachen Reflexionsniveau. Alan Posener zum Beispiel kritisiert im Magazin Cicero (2/2010), dass Joseph Ratzinger als Papst Benedikt bei seinem Polenbesuch gesagt hat, er komme in dieses Land „vor allem als Katholik, nicht als Deutscher“. Dazu Posener: „Als könnten die Polen je vergessen, woher der ehemalige Hitlerjunge kam“. Posener unterstellt dem Papst, er wünsche sich, „diese als Kainsmahl empfundene Identität los zu werden, aufzugehen in ein größeres Kollektiv“. Das sei „etwas sehr Deutsches.“ Es ist Posener zwar bekannt, dass Ratzinger als Vierzehnjähriger wie alle Zöglinge des Traunsteiner Priesterseminars zwangsweise in die NS-Jungenorganisation aufgenommen wurde. Darauf kommt es in seinen Augen aber nicht an, sondern allein darauf, dass Ratzinger als Deutscher „das Kainsmahl“ trägt. In dieser Sichtweise ist es allein die Staatsbürgerschaft, die jeden Deutschen für alle Zeiten schuldig macht.

Vergebliche Erklärungsversuche

Zurück in die Zeit der „1968er-Studentenrevolte“. Die Vertreter der Elterngeneration, die den Krieg in den zerbombten Städten, als Soldaten an der Front und als Heimatvertriebene mit oft schweren Traumata überlebt hatten, fanden sich von den eigenen Kindern als Verbrecher, als Schuldige an Krieg und Holocaust an den Pranger gestellt. Meist fehlten den Eltern die Worte, um sich zu verteidigen. Und wenn sie es doch versuchten, dann wurde ihnen Verteidigung nicht zugestanden. Sie waren schließlich die Täter, nicht die Opfer. Und wenn sie über ihr Leiden im Krieg, beim Bombenterror und auf der Flucht sprachen, warf man ihnen vor, das Verhältnis von Täter und Opfer umkehren zu wollen. Sie hätten ihr Leid selbst verschuldet und daher kein Recht zu klagen, hieß es damals.

Manche Eltern versuchten mehr oder weniger unbeholfen, ihre damalige Situation zu erklären. Das aber wurde von ihren selbstgerechten Söhnen und Töchtern nicht angenommen. Wenn die Eltern behaupteten, vom Massenmord an den Juden nichts gewusst zu haben, dann klang das in den Ohren der jungen Generation wie ein Herausreden. Wer so redete, wolle nur sein Wissen um die Verbrechen leugnen, befand die akademische Jugend. Sie dünkte sich moralisch überlegen. Man fragte nicht mehr, ob und wie viel die deutsche Bevölkerung von dem Völkermord wusste, sondern nun wurde nur noch danach gefragt, wie die Deutschen mit ihrem angeblichen Wissen umgingen. Heute schäme ich mich dafür, dass ich damals auch in dieses Horn geblasen habe.

Sabine Boden, Autorin des Bestsellers „Nachkriegskinder“ (2011), berichtet über die Reaktionen von Kindern der NS-Generation. Sie schreibt, der zeitliche Abstand, neue historische Forschungsergebnisse und Selbsterkenntnis ermöglichten heute Einsichten, die von Schwarz-Weiß-Denken und Ideologie abgerückt sind. In diesem Sinne zitiert sie einen sechzigjährigen Gesprächspartner mit folgenden Worten: „Als wir jung waren, wollten wir Eindeutigkeit, wir wollten klare Ansagen: entweder – oder, richtig oder falsch. Mit der heutigen Lebenserfahrung wissen wir, dass sie nicht zu haben sind.“

Im Hinblick auf die psychischen Folgen der Schuldgefühle von Nachgeborenen stellt die Autorin fest: „Das Schweigen in ihren Familien über die unheilvolle Vergangenheit hatte viele Nachgeborenen in ihrer Jugend verwirrt, später vielleicht sogar krank gemacht.“ Ich habe inzwischen Verständnis dafür, dass die Eltern geschwiegen haben, wenn sie davon ausgehen mussten, dass ihr Verhalten vor und während der NS-Diktatur bei der nachgeborenen Generation auf völliges Unverständnis stoßen wird – bei einer Generation, die sich in ihrer selbstgerechten Haltung anmaßt, dieses Verhalten moralisch bewerten und pauschale Vorwürfe erheben zu können.

Das Zitat des Kulturwissenschaftlers Philipp Felsch bringt das Verhalten der „Theorieleser“ auf den Punkt: „Die 68er-Generation hat ihren Vätern das Wort entzogen“. Antje Vollmer hat es so formuliert: Es habe eine „Jagd unter dem Vorwand moralischer Ziele“ stattgefunden.

Irgendwann stiegen in mir Zweifel auf. Verhinderte diese Haltung nicht eine kritische Reflexion der Zeitumstände, in denen die nationalsozialistischen Verbrechen möglich wurden und geschehen sind? Waren nicht die gängigen moralischen Urteile und Empörungen allzu billig? Denn sie unterstellten, dass die damals Handelnden über ähnliche Kenntnisse verfügten wie wir Heutigen.

Verstehen ohne vorschnelles Urteil

Diese Zweifel brachten mich dazu, dass ich den Zeitzeugen ohne Vorverurteilung zugehört habe. Ich konnte mir meine Eltern, Großeltern und andere mir nahe stehende Menschen dieser Generationen nicht als gewissenlose Opportunisten oder gar als Mittäter vorstellen. Dafür kannte ich sie zu gut. Ich war neugierig. Bevor ich mir ein Urteil erlaubte, wollte ich erst mehr wissen. Seiher bemühe ich mich um eine differenzierende Sicht auf die deutsche Geschichte der NS-Zeit – eine Sicht, die ich in der Schule, in den Leitmedien und bei öffentlichen Reden vermisst habe und immer noch weitgehend vermisse.

Ich wollte wissen: Wie fing alles an? Wie konnte es zu der großen Zustimmung zu Hitler kommen? Wie unterschied sich diese Zustimmung vor und nach Hitlers Machtergreifung? Warum gab es so wenig Widerstand? Stimmt es, dass es den damals lebenden Deutschen an Moral und Menschlichkeit fehlte? Das wollte und will ich verstehen, indem ich – möglichst gut informiert – gedanklich in das vergangene Geschehen eindringe.

Mein Gedankenfluss stockt beim Wort „verstehen“. Die deutsche Sprache ist hier unklar. Wenn jemand sagt, er bemühe sich, das Geschehene zu verstehen, dann kann ihm allzu leicht Verständnis für das unterstellt werden, was er sich zu erklären versucht. „Jede Erklärung trägt den Keim der Rechtfertigung in sich“, schreibt Hannah Arendt am 3.5.1947 an Karl Jaspers.

Wer nach Gründen sucht, warum es zu einem Verbrechen gekommen ist, der gerät in den Verdacht, dieses Verbrechen verharmlosen und den Verbrecher entschuldigen zu wollen. Dieses Missverständnis ist naheliegend, aber es bleibt ein Missverständnis. Nehmen wir zum Vergleich die Situation, wenn vor Gericht ein Mord verhandelt wird: wenn etwa der Verteidiger eines Mörders diesen als Opfer der Verhältnisse darstellt, indem er dem Richter vor Augen führt, wie sein Mandant als Kind gedemütigt und misshandelt wurde. Der Anwalt will damit erreichen, dass der Richter ein milderes Urteil fällt. Die Vorgeschichte der bösen Tat soll dazu dienen, Verständnis nicht für die Tat, sondern für den Täter zu wecken.

Es geht vor Gericht also nicht um einen Versuch, das böse Tun zu verharmlosen, sondern sich gedanklich in die Situation des Täters hineinzuversetzen. Verteidiger und Richter wollen die Motive kennen, die den Mörder zur Tat getrieben haben, bevor ein Urteil gefällt wird. Wenn erkennbar ist, dass seine Motive und seine Tat aus bestimmten belastenden Einflüssen heraus erklärbar sind, entlastet das den Täter, weil dessen freier Wille zum Zeitpunkt der Tat deutlich eingeschränkt war. Das heißt aber nicht, dass Richter und Verteidiger Verständnis für diese Motive aufbringen. Sie verabscheuen weiterhin die Tat und die Motive, die zu dieser Tat führten. Der geschehene Mord, dessen Hintergründe verstanden worden sind, verletzt gesetzliche und moralische Maßstäbe und wird durch die Ergebnisse der Nachforschungen weder gerechtfertigt noch als harmlos betrachtet.

Allerdings hinkt dieser Gerichts-Vergleich. Denn es geht mir in diesem Buch nicht um die kriminellen Täter zum Beispiel in Gestalt von grausamen KZ-Aufsehern oder von Planern des Holocaust, sondern um Menschen, die in die Vorgeschichte des Holocaust verstrickt waren – in welcher Weise auch immer: zum Beispiel

als Wähler, die Hitler ihre Stimme gaben, weil sie von der Demokratie enttäuscht waren und sich nach einer starken Hand sehnten,

als unpolitische Bürger, die sich allein um die Bewältigung ihres Privatlebens kümmerten, froh über ihren wieder gewonnenen Arbeitsplatz waren und vom NS-Terror kaum etwas mitbekamen,

als ordnungsliebende Bürger, die dankbar registrierten, dass nach dem Chaos der Weimarer Republik nun Ruhe und Ordnung eingekehrt war,

als idealistische Jugendliche, die sich von der Pfadfinderidylle und den verlogenen Vaterlandsparolen blenden ließen,

als Fußgänger in einer Straße, durch die Gefangene getrieben wurden, von denen man nicht wusste, ob sie politische Gefangene waren oder Kriminelle,

als Nachbarn jüdischer Familien, die aus ihrer Wohnung geholt und angeblich in ein Arbeitslager deportiert wurden,

als Künstler oder Spitzensportler, die nicht ins Exil gegangen sind und damit den NS-Staat stärkten,

als Soldaten, die nicht desertierten, sondern ihr Leben für die NS-Diktatur aufs Spiel gesetzt haben,

als Lehrer oder Eltern, die Kinder im Geiste der nationalsozialistischen Weltanschauung erzogen haben,

als politisch interessierte Bürger, die die von den gelenkten Medien verbreiten Desinformationen glaubten und die Vorurteile und Feindbilder gegen Juden und andere Minderheiten unkritisch aufnahmen und weiter verbreiteten.

Festzuhalten ist: Ein illegales oder illegitimes Verhalten wird nicht dadurch gerechtfertigt, dass Gründe für dieses Verhalten gefunden werden. Ein objektiv falsches (eine gültige Norm verletzendes) Handeln wird nicht akzeptabel, wenn es erklärt werden kann, indem die wirtschaftlichen und kulturellen Einflüsse dargestellt werden, die die subjektive Logik des zu verurteilenden Handelns nachvollziehbar macht.

Mein Verständnis von „Verstehen“ orientiert sich an Hannah Arendt: „(…) Verstehen heißt vielmehr, die Last, die unser Jahrhundert uns auferlegt hat, untersuchen und bewusst ertragen – und zwar in einer Weise, die weder deren Existenz leugnet noch sich unter deren Gewicht duckt. Kurz gesagt: Verstehen heißt, unvoreingenommen und aufmerksam der Wirklichkeit, wie immer sie ausschauen mag, ins Gesicht zu sehen und ihr zu widerstehen.“ (aus „Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft“, zitiert in: „Hannah Arendt: Ich will verstehen“, herausgegeben von Ursula Ludz 1996)

Der Soziologe Heinz Bude hat in seinem Buch „Gefühl der Welt“ (2016) auf den großen Einfluss der in einem bestimmten Zeitraum herrschenden Stimmung hingewiesen. Entscheidend sei „die Betroffenheit durch die sozialräumlich, zeithistorisch und lebensgeschichtlich definierte Situation, die mich dazu auffordert, mich einzubringen und meine Rolle zu spielen. In der Stimmung der Situation erfährt sich das sich selbst hervorbringende Ich als ein immer schon von den Zumutungen, Suggestionen und Synthesen der anderen hervorgebrachtes Ich.“ Diese von Bude treffend skizzierte Abhängigkeit des Einzelnen von den Zeitumständen, in der er lebt und in deren „Stimmung“ er eingebunden ist, muss berücksichtigt werden, wenn wir uns mit der Schuld und Verstrickung der Menschen in der NS-Zeit beschäftigen.

Begleitumstände der NS-Verbrechen

Bei allen Verstehensversuchen ist mir völlig klar: alle Erklärungen sind zu klein für das monströse Verbrechen des Holocaust, das im Namen Deutschlands begangen wurde. Das gilt natürlich auch für Verbrechen ähnlicher Art und Größenordnung, die im Namen anderer Staaten verübt worden sind. Weil jeder Versuch, solche Verbrechen an der Menschheit in geeignete Worte zu fassen, von vornherein zum Scheitern verurteilt ist, kann es in diesem Buch nur darum gehen, Einflüsse und Begleitumstände zu identifizieren, die dazu geführt haben, dass es zum Holocaust kommen konnte. Nur so lässt sich eine Antwort darauf finden, warum die große Mehrheit der deutschen Bevölkerung so und nicht anders auf Hitler reagiert hat und auf welche Weise die deutsche Bevölkerung in das verbrecherische Geschehen verstrickt war.

Dabei dürfen wir nicht vergessen, dass es „die deutsche Bevölkerung“ nur als abstrakte Größe gibt. Jeder weiß, dass sich damals wie heute die Bevölkerung aus sehr unterschiedlichen Individuen und Gruppen zusammensetzt, die sich in unterschiedlichen Situationen sehr unterschiedlich verhalten. Über sie lässt sich schwerlich ein pauschales Urteil fällen.

Trotzdem muss gefragt werden, welche Denk- und Verhaltensmuster damals mehr oder weniger verbreitet waren, um verstehen zu können, warum ein Mann wie Hitler so viele gläubige Anhänger finden konnte und bei normal intelligenten Menschen so wenig Abwehr und Widerstand hervorgerufen hat. Waren die moralischen Maßstäbe damals andere als heute? Oder waren die Maßstäbe die gleichen und es fehlte nur an Sensibilität und entsprechender Bereitschaft zum Protest, wenn sie verletzt wurden? Wie stark waren Sensibilität und Protestbereitschaft abhängig von den damals als wahr gehaltenen Informationen? Was glaubten die Menschen damals zu wissen? Welche Rolle spielte in der politischen Auseinandersetzung die Angst?

Was war damals die Normalität in Deutschland und in vergleichbaren Industrieländern? Wie tickten speziell die Deutschen – direkt nach dem ersten Weltkrieg, am Ende der Weimarer Republik und in der Zeit der NS-Diktatur? Was motivierte sie, was leitete ihr Denken und Verhalten? Was deutete in diesen Motiven, in diesem Denken und Verhalten auf den Holocaust hin? Auf jeden Fall ist zu unterscheiden zwischen dem Hang der Menschen zu Vorurteilen gegenüber bestimmten (politisch, religiös oder rassistisch abgegrenzten) Menschengruppen, wie er leider zu allen Zeiten und an allen Orten der Welt weit verbreitet ist, und einem Hass, der ein Ausmaß erreicht, der diesen Gruppen das Recht auf Leben abspricht.

Der Vorwurf der Verharmlosung

Einer Einladung der Evangelischen Akademie Tutzing im Dezember 2011 zu einer Tagung mit dem Thema „Wie nationalsozialistisch waren die Deutschen?“ ist das folgende Zitat entnommen: „Bis in die Gegenwart sind die Debatten über Motive und Ausmaß der (Mit-)Täterschaft von starken Emotionen und moralischen Verurteilungen geprägt. Das gilt selbst für die wissenschaftlichen Auseinandersetzungen. Dem massiven Vorwurf, die Verbrechensbeteiligung zu verharmlosen oder zu entschuldigen, steht der Vorwurf einer Preisgabe wissenschaftlicher Standards zugunsten des moralischen Rundumschlags gegenüber.“

Unter „Verbrechensbeteilung“ und „(Mit-)Täterschaft“ der deutschen Bevölkerung in der Zeit der Verfolgung und Vernichtung der europäischen Juden wird oft nicht nur das Handeln der KZ-Mörder und SS-Todesschwadronen verstanden, sondern allein schon die Zustimmung zu Hitler, das Schweigen und die Duldung angesichts der offenen Judendiskriminierung und das Mitwirken als Rädchen im NS-Apparat. Das damalige Verhalten „der Deutschen“ kann sehr unterschiedlich bewertet werden. Eine seriöse Bewertung kommt nicht ohne deutliche Differenzierung der Verhaltensweisen von Individuen und Gruppen aus – aber eine solche Differenzierung setzt das eher seltene Bemühen voraus, sich die damaligen Umstände sehr genau vor Augen zu führen, wie es in diesem Buch geschieht.

Der Vorwurf, die Verbrechensbeteiligung von großen Teilen der damals lebenden deutschen Bevölkerung verharmlosen oder entschuldigen zu wollen, wiegt jedenfalls sehr schwer. Wer diesem Vorwurf ausgesetzt ist, sieht sich sehr schnell als Rechtsextremist abgestempelt und aus der seriösen Debatte ausgeschlossen. Das kann heute sehr leicht geschehen, wo allein der Vergleich gegenwärtiger Vorkommnisse mit solchen aus der NS-Zeit von selbsternannten Vertretern einer „korrekten“ Erinnerungskultur als Indiz der Verharmlosung gedeutet wird. Je leichtfertiger und ungestrafter solche schwerwiegenden Vorwürfe erhoben werden können und je mehr Tabus aufgerichtet werden, desto geringer ist die Bereitschaft, sich mit der NS-Vergangenheit gründlich zu beschäftigen. Wer in ein Minenfeld von Worten und Gedanken gerät, die – falsch verstanden – gegen den Teilnehmer einer Debatte gewendet werden können, der wird lieber den Mund halten. Eine Kultur der Angst zerstört die freie Debattenkultur.

Es geht mir in diesem Buch nicht allein darum, wissenschaftliche Standards einzuhalten, sondern es geht mir auch darum, den damals lebenden Menschen gerecht zu werden und sie nicht vorschnell zu verurteilen. Wer darauf verzichtet, in der historischen Analyse differenzierend vorzugehen, nur um ein moralisch eindeutiges Urteil über eine bestimmte Bevölkerung fällen zu können, der muss sich fragen lassen, was er damit bezweckt. Wer sich über bewusste Verallgemeinerungen und Vereinfachungen sein Bild vom Verhalten der Menschen in der NS-Zeit konstruiert, der setzt sich dem Verdacht aus, dass er bestimmte geschichtspolitische Absichten verfolgt und weder an den Tatsachen noch an ihrer unvoreingenommenen Deutung wirklich interessiert ist.

Wer die Hintergründe verstehen will, die zu den Verbrechen der Nazizeit geführt haben, dem darf nicht vorgeworfen werden, die wirklichen Täter entschuldigen und deren Tun verharmlosen zu wollen. Ein solcher Vorwurf ist ein unzulässiges (wenn auch fast immer wirksames) Totschlagargument, das jedes kritische Nachdenken abblockt.

Zunächst muss geklärt werden, wer als „Täter“ bezeichnet werden kann. Wer hat in welcher Weise zum Holocaust beigetragen? Was ist gemeint, wenn von Verbrechen und Täterschaft, von Schuld und Verantwortung „der Deutschen“ die Rede ist?

Wer wissen will, wie es zu den im Namen Deutschlands verübten Verbrechen gekommen ist, darf sich nicht nur mit der NS-Zeit, sondern muss sich auch mit der Zeit vor der Machtergreifung der Nationalsozialisten auseinandersetzen – mit allem, was das Denken von Millionen Deutschen in eine Bahn des fanatischen Glaubens an einen Führer wie Hitler gelenkt hat. Womit kann diese Verblendung erklärt werden? Warum scheiterte die Weimarer Republik? Wie konnte Hitler die Gunst der Wähler gewinnen? Hätte die NSDAP auch ohne Hitler Erfolg gehabt? Die für das „Lernen aus der Geschichte“ entscheidende Frage lautet: Warum erkannten so viele Menschen in Deutschland und in anderen europäischen Ländern nicht rechtzeitig die Gefahren, die von Hitler ausgingen?

Das Wissen damals und heute

Bekanntlich haben nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten alle Deutschen die systematische Diskriminierung der Juden, anderer Minderheiten und der politischen Opposition in irgendeiner Weise erlebt. Sie haben beobachten können, wie diese Menschen aus rassistischen und politischen Gründen benachteiligt, gedemütigt und schließlich verfolgt und verschleppt wurden. Heute wäre es unvorstellbar, dass ein Nachbar am frühen Morgen aus dem Bett geholt und abtransportiert wird, ohne dass es zu einem Aufschrei der Empörung kommt. Aber damals? Was ging in denen vor, die das entweder befürworteten oder einfach hinnahmen?

Wir Heutigen haben einen völlig anderen Blick auf das damalige Geschehen als die Menschen, die in der Zeit der Weimarer Republik und in der NS-Zeit gelebt haben. Wir wissen sehr viel mehr als die damaligen Menschen über die Lügen, ideologischen Verblendungen und Verbrechen, die damals geschehen sind. Vor allem wissen wir heute von den Vernichtungslagern und von den Massenmorden der NS-Zeit. Der Schock, der durch die Kenntnis des Holocaust nach dem Zweiten Weltkrieg ausgelöst worden ist, hat denjenigen Deutschen meist die Augen geöffnet, die bis dahin noch an „den Führer“ und an seine guten Absichten geglaubt hatten.

Das Denken und Fühlen hat sich in den letzten siebzig Jahren in Deutschland in vielerlei Hinsicht tiefgreifend verändert. Nationalistische und rassistische Vorstellungen erzeugen bei fast allen Deutschen inzwischen heftigen Widerwillen – im Unterschied zur Zeit der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts in ganz Europa. Die „Normalitäten“ damals und heute haben sich stark verschoben. Wir müssen uns daher davor hüten, aus heutiger Sicht leichtfertig den moralischen Stab über die damals lebenden Menschen zu brechen.

Der frühere Münchner Oberbürgermeister, SPD-Vorsitzende und Justizminister a.D. Hans-Jochen Vogel hat 2013 bei einer Veranstaltung im Institut für Zeitgeschichte in München gemahnt, jeder Heutige möge sich bei der Beurteilung der Deutschen im Dritten Reich gewissenhaft fragen, wie er selbst unter den damaligen Umständen gehandelt hätte. Die „damaligen Umstände“ sind heute vielen Nachgeborenen nicht hinreichend bekannt. Und wenn über diese Zeit in der Schule informiert wurde, dann in einer Weise, die das Geschehen vom Ende her – im Wissen um den Holocaust – erklärten und darüber urteilten. Diese Vorgehensweise ist zwar naheliegend, jedoch vernachlässigt sie die Perspektive der damals lebenden Menschen, die „das Ende“ nicht kannten und sich auf die „damaligen Umstände“ so gut es ging einstellten.

Von welchen Ereignissen ist das damalige Weltbild großer Teile der Bevölkerung geprägt worden? Wenn es weniger um historische Fakten als solche, sondern um die in ihrem Zusammenhang stehenden Einstellungen, Denk- und Verhaltensmuster geht, sind die Aussagen von Zeitzeugen besonders aufschlussreich. Dazu zählen Erzählungen aus der eigenen Familie und Biografien von Autoren, die in Tagebüchern und anderen Aufzeichnungen über ihr Leben im „Dritten Reich“ berichten. Auch historisch-wissenschaftliche Analysen sowie journalistische Kommentare wurden ausgewertet.

Drei Zeitabschnitte

Um mir ein differenziertes Bild über die Einstellungen der damals lebenden Menschen zu machen und das Geschehen im Hinblick auf die Verstrickung der Bevölkerung in die NS-Verbrechen beurteilen zu können, habe ich in diesem Buch die Auseinandersetzung nach folgenden drei Zeitabschnitten geordnet, die sich in ihren das Denken und Verhalten prägenden Umständen deutlich unterscheiden:

die Zeit vor der Machtergreifung Hitlers,

die Zeit der NS-Diktatur bis zum Ausbruch des Zweiten Weltkrieges und

die Zeit während des Krieges.

Denn die öffentlich gezeigte Anteilnahme der Bevölkerung am Schicksal von Menschen, denen Demütigungen, Verschleppung und Ermordung drohten, hängen ganz entscheidend davon ab, welche Informationen damals über die Verbrechen in den Konzentrationslagern zugänglich waren und mit welchen Folgen die Personen zu rechnen hatten, die sich gegen die nationalsozialistische Herrschaft erheben oder den Opfern helfen wollten. Auch die Kritikfähigkeit beziehungsweise Offenheit von Menschen gegenüber ideologischer Indoktrination, die Bereitschaft zum Glauben an „den Führer“ und die Abneigung gegen ihn hängen sehr stark davon ab, was die Zeitgenossen wussten und mit welchen Ereignissen, Parolen, Zwängen und Ängsten sie in diesen drei Zeitabschnitten jeweils konfrontiert waren.

In den Kapiteln 2 und 3 stelle ich die zentralen geschichtlichen Ereignisse und ihren Einfluss auf das politische Denken und Handeln knapp dar und reflektiere sie in fiktiven „Gesprächsrunden“. In Kapitel 4 untersuche ich sodann die Frage nach Schuld und Verantwortung der deutschen Bevölkerung, beschäftige mich mit der Bedeutung von (Des)Information in der damaligen Zeit und reflektiere die Möglichkeit von Widerstand.

In Kapitel 5 beleuchte ich zentrale Aspekte des Umgangs mit der deutschen Geschichte. Dabei gehe ich der Frage nach, wie die nationalsozialistische Vergangenheit unsere heutigen politischen Debatten prägen und dabei unser Geschichtsbild und unser Selbstverständnis beeinflussen. Es werden auch Parallelen zwischen Vergangenheit und Gegenwart gezogen und es wird erörtert, was wir aus unserer Vergangenheit lernen können. Am Schluss diskutiere und beantworte ich die Frage, ob ein selbstkritischer Patriotismus mit der NS-Vergangenheit vereinbar ist.

2. Die Zeit der Weimarer Republik

2.1 SCHLECHTE STARTBEDINGUNGEN

Revolutionsversuche — Demokratischer Gründergeist — Skeptische bis ablehnende Haltung gegenüber der Demokratie — Demütigung durch die Siegermächte – Antisemitismus, gemäßigt oder radikal — Die NSDAP und ihr Programm — Ungebrochene Kaiserverehrung und Politikverachtung

Am Ende des Ersten Weltkrieges (1914-1918), der in Deutschland 3,5 Millionen Todesopfer und doppelt so viele Verwundete unter den Soldaten gekostet hat, kapitulierte das Militär des deutschen Kaiserreichs vor der erdrückenden Übermacht der alliierten Kriegsgegner. Am 24. Oktober 1918 hatte die Seekriegsleitung angesichts der ausweglosen Lage noch einen Angriff der deutschen Hochseeflotte auf die britische Royal Navy befohlen, um nicht kampflos – aus ihrer Sicht ehrlos – kapitulieren zu müssen.

Revolution statt konstitutioneller Monarchie

„Die gegen diesen Plan gerichtete Meuterei einiger Schiffs-besatzungen und der anschließende Kieler Matrosenaufstand entwickelten sich innerhalb weniger Tage zu einer Revolution, die das ganze Reich erfasste. Sie führte am 9. November 1918 zur Ausrufung der Republik und wenig später zur Abdankung Kaiser Wilhelms II. und aller anderen Bundesfürsten“. (Wikipedia, Stichwort Novemberrevolution, 4.10.2015).

Zum Hintergrund der Revolution am Anfang der Weimarer Republik findet sich in dem Buch „So kommt’s dazu“ (1948), das die amerikanische Nobelpreisträgerin Pearl S. Buck nach langen Gesprächen mit der aus Deutschland geflohenen Sozialistin Erna von Pustau (Jahrgang 1903) veröffentlicht hat, ein wichtiger Hinweis, der sich auf die Rolle des amerikanischen Präsidenten bezieht. Erna von Pustau zu Pearl S. Buck: „In Wilsons Botschaft vom 14. Oktober 1918 heißt es: ‚Es liegt in der Hand des deutschen Volkes, sie (die Regierungsgewalt) abzuändern. Dies bildet die Vorbedingung für einen Frieden, wenn der Friede durch Mitwirkung des deutschen Volkes selbst kommen soll.’ Diese Worte waren direkt an das deutsche Volk gerichtet. Dieser Aufruf spielte beim Sturz der Monarchie und dem Ende der Hohenzollerndynastie eine ungeheure Rolle. Bis dahin hatte der größte Teil der Opposition gegen den Kaiser nicht im Entferntesten an einen Umsturz gedacht. Ihr ganzes Programm waren Reformen, die auf eine Art konstitutionelle Monarchie hinausliefen, in der die Macht des Monarchen eingeschränkt und die des Parlaments vermehrt werden sollte; eine Staatsform, die ungefähr der englischen entsprach.

Die Botschaft brachte die ganze Angelegenheit ins Rollen. Die Volksmassen spürten einen neuen, frischen Wind über der Erde. Sie hatten gar nicht beabsichtigt, dem Beispiel der bolschewistischen Revolution in Russland zu folgen, aber auf Wilsons Worte erhoben sie sich; sie verließen die Fabriken und ihre Wohnungen; sie marschierten durch die Straßen und erzwangen die Errichtung der Deutschen Republik. Ja, Wilsons Name und seine Vierzehn Punkte wurden zu einem Symbol für Demokratie, für einen Frieden nach Recht und Billigkeit zwischen Siegern und Besiegten, zum Symbol für eine bessere Welt, in der keine Nation mehr gerüstet sein und ein Völkerbund, statt wie bisher die Gewalt, entscheiden sollte.

Sie wissen selbst, was aus Wilson und seinen Vierzehn Punkten wurde. Ich wollte Ihnen nur verständlich machen, wieso sich die deutschen Republikaner von ihm betrogen fühlen konnten. (…) Die Arbeitermassen und das Volk hatten, wie gesagt, die Dynastie gestürzt und die Ausrufung der Republik erzwungen. Aber die alten Machthaber, die alten Reaktionäre und die Militaristen blieben; sie wurden weder festgenommen, noch entfernt.“

Die Rolle der betrogenen Hoffnung auf die Worte desf US-Präsidenten bei der Ausrufung der Republik im November 1918 wird in unseren Geschichtsbüchern selten erwähnt.

Demokratischer Gründergeist

Der österreichische Schriftsteller Stefan Zweig hat in seinen autobiographischem Werk „Die Welt von gestern – Erinnerungen eines Europäers“ (erschienen 1944) den Zauber des Gründergeistes später so beschrieben: „Die Hölle lag hinter uns, was konnte nach ihr uns noch erschrecken? Eine andere Welt war im Anbeginn. Und da wir jung waren, sagten wir uns: es wird die unsere sein, die Welt, die wir erträumt. Eine bessere, humanere Welt.“

Versöhnlich und zugleich visionär dichtet Kurt Tucholsky 1919: „(…) Und das sei alles vergeben, vergessen? Die Tritte nach unten? Der Diebstahl am Essen? Bei Gott! das sind keine alten Kamellen! Es wimmelt noch heute von solchen Gesellen! Eingedrillter Kadaverrespekt – wie tief der noch heute in den Köpfen steckt! Er riss uns in jenen Krieg hinein – Und das soll alles vergessen sein?

Nicht vergessen. Wir wollen das ändern. Ein freies Land unter freien Ländern sei Deutschland – mit freien Bewohnern drin, ohne den knechtischen Dienersinn. Wir wollen nicht Rache an Offizieren. Wir wollen den deutschen Sinn reformieren. Sei ein freier Deutscher – Bruder schlag ein! Und dann soll alles vergessen sein!“

Zunächst behielt in der deutschen Bevölkerung die demokratische Orientierung die Oberhand. Erna von Pustau beschreibt die republikanische Aufbruchsstimmung in ihrer Familie: „Mein Vater war damals ein ausgesprochener Revolutionär. Er war ein neuer Mensch. Wie ihn alles erregte! Den Kaiser, den er so tief gehasst hatte, gab es nicht mehr, die Republik war Wirklichkeit, für die sein Vater vergeblich gefochten hatte. Sein ganzes Wesen strahlte ein neues Selbstbewusstsein aus. Das ‚Zeitalter des einfachen Mannes’ hatte begonnen. Der einfache Mann war endlich frei. Vater ‚befreite’ sich auch selbst. Er gab seine Anstellung als Buchhalter auf und beschloss, ein freier Mann zu werden, ein freier und unabhängiger Geschäftsmann. Ja, es waren aufregende Tage! Vater kam nach Hause und erzählte uns von den Demonstrationen, vom Volk, das seine Freude über den Frieden und die neue Zeit auf den Straßen sang und Tafeln mit sich trug, auf denen in großen Buchstaben stand: ‚Nie wieder Krieg’. Und sie glaubten daran, sie glaubten wirklich daran, dass dies der letzte Krieg gewesen wäre. (…) Vater brachte viele Flugblätter nach Hause, die alle Gleichheit und Freiheit versprachen.“ Die Erzählerin erwähnt auch ihren Onkel Eberhard, einen kaisertreuer Offizier, der die Revolution ablehnt. Sie zitiert ihn mit den Worten: „Im Augenblick halte ich es für das Klügste, mit den Wölfen zu heulten.“ Er schloss sich den neuen Machthabern an, obwohl er sie im Stillen verabscheute.

Die Wahl zur Deutschen Nationalversammlung, die im Januar 1919 den „Rat der Volksbeauftragten“ durch eine demokratisch legitimierte Regierung ablöste, machte die SPD mit 37,9 % der Stimmen zur stärksten Kraft. Sie war auf die demokratischen Partner „Zentrumspartei“ (19,7 %) und „Deutsche Demokratische Partei“ (18,5 %) angewiesen, mit denen die „Weimarer Koalition“ gebildet wurde. Sie repräsentierte 76,1 % der Bevölkerung, die sich eindeutig zur parlamentarischen Demokratie bekannte. Die Wahlbeteiligung betrug 83,02 %.

Das für die Demokratie positive Wahlergebnis – man spricht auch von dem republikanisch-demokratischen Gründergeist 1918/19 – lässt sich wohl damit erklären, dass die Bevölkerungsmehrheit nach der bitteren Kriegszeit und dem Zusammenbruch des Kaiserreichs von der Monarchie „die Nase gestrichen voll“ hatte. Sie sehnte sich nach einem Neuanfang mit Demokratie, weil sie sich von dieser Staatsform Ruhe, Ordnung und Wohlstand versprach. Die kaisertreuen Kreise, die national bis nationalistisch gesonnen waren, befanden sich in dieser Zeit noch in der Defensive.

Dass die demokratisch gesinnte „Weimarer Koalition“ recht unterschiedliche politische Richtungen zusammenband, geht aus einem SPD-Plakat hervor, das im Wahlkampf 1920 eingesetzt wurde. Dort grenzt sich die SPD wie folgt von ihren Koalitionspartnern ab: die Christliche Volkspartei (Zentrum) wolle die Wiederherstellung der „Pfaffenherrschaft“, die Deutsche Demokratische Partei die „Geldsackherrschaft.“ Zu den beiden nationalkonservativen Parteien DNVP und DVP heißt es, sie strebten die Wiederherstellung der „Junkerherrschaft“ beziehungsweise der „Völker verhetzenden Machtpolitik“ an. Zusammenfassend urteilt die SPD: „Alle diese Parteien wollen die Wiederherstellung des alten reaktionären Systems, wollen Ausbeutung, Unterdrückung und Entrechtung des Volkes zu Gunsten kleiner bevorzugten Schichten.“ Die USPD wird auf dem Plakat als „gefügiges Werkzeug der berüchtigten Spartakusrotte“ bezeichnet. Diese Partei wolle „nicht Freiheit und Selbstbestimmungsrecht des ganzen Volkes“, sondern kämpfe für die „skrupellose Gewaltherrschaft terroristischer Minderheiten.“ Es folgt die Eigenbeschreibung: „Nur die Sozialdemokratische Partei Deutschlands (S.P.D.) will die Herrschaft des ganzen Volkes, das Recht aller geistig und körperlich Schaffenden verwirklichen.“

Skeptische bis ablehnende Haltung gegenüber der Demokratie

Große Teile der anfangs mehrheitlich auf die Demokratie hoffenden Bevölkerung distanzierten sich schon bald von dieser Staatsform, wie sich an den Wahlergebnissen ablesen lässt. Bei der Reichstagswahl im Juni 1920 büßte die Weimarer Koalition ihre Mehrheit ein. Die SPD verlor 16 % ihrer eineinhalb Jahre zuvor gewonnenen Stimmen, blieb aber stärkste Fraktion. Die Zentrumspartei verlor 6,1 % und die linksliberale DDP sogar 10,2 % ihrer Stimmen. Gewinner waren die Gegner der parlamentarischen Demokratie: die von der SPD abgespaltene USPD steigerte ihr Ergebnis von 7,3 % auf 17,6 %. Die KPD (Spartakusbund), die bei der ersten Wahl nicht teilgenommen hatte, erzielte das magere Ergebnis von 2,1 %. Gewinner waren insbesondere die nationalkonservativen Parteien Deutschnationale Volkspartei (DNVP) und Deutsche Volkspartei (DVP), die sich nach der Wiedereinführung der Monarchie sehnten. Sie erhöhten ihren Stimmenanteil um 4,8 % (Ergebnis: 15,1 %) beziehungsweise um 9,5 % (Ergebnis: 13,9 %).

Was war der Hintergrund dieser Abkehr von der Demokratie? Nach der Kapitulation hatte der Friedensvertrag von Versailles den Deutschen außerordentlich harte Bedingungen diktiert: erhebliche Gebietsabtretungen, Beschränkungen der Souveränität und hohe Reparationszahlungen. Es waren nicht nur diese harten Bedingungen, sondern vor allem deren Begründung, die in der Bevölkerung Empörung auslösten.

Die Vorgeschichte und die fatale Bedeutung des Vertrags von Versailles im Hinblick auf die Zukunft der neu gegründeten Republik hat der Historiker Gerd Krumeich überzeugend skizziert. Anders als in früheren Kriegen sei die mehr als vier Jahre dauernde „quasi totale Mobilisierung der wichtigsten Länder Europas“ nur möglich gewesen durch eine extreme Feindpropaganda der beteiligten Staaten, obwohl es eigentlich kein Krieg der Weltanschauungen war (wie es der Zweite Weltkrieg werden sollte). „Alle Mächte warfen sich gegenseitig Verrat an den Prinzipien elementarer Menschlichkeit vor.“ Während für die Franzosen der Deutsche schlicht ein „Hunne“ war, der ihr Land verwüstete, waren die Deutschen der „Überzeugung, dass sie in Frankreich und anderswo einen echten Verteidigungskrieg geführt hatten, der nur den ‚Ring der Einkreisung’ durch feindliche, weil neidische Nachbarn brechen sollte. (…) Hierfür waren Ende 1918 nicht weniger als zwei Millionen Soldaten gefallen, und ca. 4,5 Millionen kehrten als Kriegsversehrte zurück. Diese ungeheure Opfer sollten nunmehr ganz umsonst und zudem noch die Konsequenz eines ‚Verbrechens’ der Deutschen gewesen sein?“ Quelle: Gerd Krumeich: „Im Angesicht des Grauens“ in der Süddeutschen Zeitung vom 27./ 28. Juni 2009.

Den Vorwurf des Verbrechens machte der französische Staatspräsident Poincaré am 18.1.1919 bei der Begrüßung der 21 Delegationen der Sieger-Nationen. Allein die Deutschen hätten Anteil an dem Verbrechen des Krieges. „(…) Die blutdurchtränkte Wahrheit ist bereits aus den kaiserlichen Archiven ans Licht gekommen. Der vorsätzliche Charakter des Anschlags ist schon jetzt erwiesen.“ Krumeich erläutert: „Mit blutbefleckten Verbrechern setzt man sich nicht an einen Tisch, weshalb die Deutschen von den Friedensverhandlungen ausgeschlossen blieben. (…) Was die Deutschen damals am meisten erzürnte, waren nicht die territorialen Einbußen. (…) Als unerfüllbar galt die Forderung, (…) dass Deutschland Reparationen zahlen sollte, weil es die Welt mit seiner ‚Aggression’ überzogen hatte.“ (Quelle wie oben)

Demütigung durch die Siegermächte

Diese ungerechte Anschuldigung verletzte das Nationalgefühl der Bevölkerungsmehrheit in Deutschland zutiefst. Auf einer Protestveranstaltung, zu der die Reichsregierung am 12. Mai die deutsche Nationalversammlung zusammengerufen hatte, sprach der Reichskanzler und Chef der Sozialdemokratie, Philipp Scheidemann, die berühmt gewordenen Worte, dass die Hand, die einen solchen Vertrag unterzeichne, verdorren müsse. Das habe die Alliierten jedoch nicht beeindruckt, schreibt Krumeich: „Der Vertrag basierte auf dem Vorwurf an Deutschland, einen verbrecherischen Krieg geplant und diesen wie Verbrecher geführt zu haben.“ Er zitiert den Ministerpräsidenten Georges Clemenceau, der bei der Übergabe der definitiven Friedensbedingungen am 16. Juni sagte: „Das Verhalten Deutschlands ist in der Geschichte der Menschheit fast beispiellos. Deutschland hat durch den Krieg seine Leidenschaft für die Tyrannei befriedigen wollen.“ Die Deutschen sollten also allein bezahlen – mit der Begründung, sie allein hätten ein Verbrechen an der Menschheit begangen. (Quelle: Gerd Krumeich siehe oben)

Dieses Vorgehen war neu. Seit dem Westfälischen Frieden von 1648 nach dem Ende des Dreißigjährigen Krieges hatte hinsichtlich des Umgangs der Kriegsgegner miteinander der Grundsatz gegolten: „Beiderseits sei immerwährendes Vergessen und Amnestie“. „Der Grundsatz war europäische Praxis bis zum Ende des Ersten Weltkriegs. Doch seither hat sich eine bemerkenswerte Wende vollzogen“. (Claus Kress in Süddeutschen Zeitung vom 27./28.2016)

Die von der SPD geführte Regierung Scheidemann trat zurück, weil sie nicht willens war, den „Schandfrieden“ zu unterzeichnen. Unter der Drohung, bereitstehende Truppen würden ansonsten einmarschieren, unterzeichnete wenige Stunden vor Ablauf des Ultimatums dann doch die Nachfolgeregierung (das ebenfalls von der SPD geführte Kabinett Bauer) den diktierten Vertrag. Am 26. März 1920 wurde diese Regierung infolge des Kapp-Putsches zum Rücktritt gezwungen. Sie wurde abgelöst vom SPD geführten Kabinett Hermann Müller.

In dem bereits erwähnten Buch „So kommt’s dazu“ (1948) sprechen Pearl S. Buck und ihr Gast Erna von Pustau miteinander über den Versailler Vertrag und die Rolle, die Wilson dabei gespielt hat. Die Deutschen hatten auf das Wort des amerikanischen Präsidenten Woodrow Wilsen vertraut, es müsse einen Frieden ohne Sieger geben. Erna von Pustau bemerkt zur damals verbreiteten und dann enttäuschten Hoffnung auf einen gerechten Friedensvertrag im Zusammenhang mit dem Völkerbund: „Wilson hatte sich bekanntlich unter dem Völkerbund einen Verband aller Nationen vorgestellt. Der Völkerbund aber, der entstand, schloss Deutschland unter dem Vorwand aus, das ganze deutsche Volk sei am Krieg schuld und trage die Verantwortung, nicht nur die frühere Regierung, die das deutsche Volk damals verworfen hatte.“ Die Vereinigten Staaten sind dem Völkerbund nicht beigetreten. Die Weimarer Republik wurde erst 1926 Mitglied. Hitler erklärte den Austritt des Deutschen Reiches im Oktober 1933.

Erna von Pusta berichtet, wie sie es als Sechzehnjährige gehasst hat, wenn sich ihr Vater angesichts des Versailler Vertrages über „alle die edlen Begriffe wie Gerechtigkeit, Gleichheit, Freiheit, Unabhängigkeit“ lustig machte. Aber die Friedensbedingungen schien ihm recht zu geben, sagt sie. „Im Sinne der Machtpolitik ließ sich der Friede von Versailles ja rechtfertigen; aber die unter uns, die eine neue und bessere Welt ersehnten, fanden keine Hilfe an ihm. Und wie ich schon sagte, wussten wir nichts von Wilsons Lage und nicht, wie allein er in seinem eigenen Land stand.“ Hier unterbricht Pearl S. Buck ihre Gesprächspartnerin: „Zur Verteidigung des amerikanischen Volkes (…) muss ich sagen, dass auch wir von der gleichen Machtpolitik wie das deutsche Volk betrogen wurden. Hätte unser Volk die Gedanken des deutschen Volkes gekannt, wie Sie sie jetzt beschrieben haben, es hätte ihnen zugestimmt. Aber wir erfuhren ja nur das, was eben Repräsentanten der Machtpolitik für uns auswählten. Völlig falsche Informationen, die der Wahrheit über das deutsche Volk gerade entgegengesetzt waren, führten uns in die irre. Uns wurde eingeredet, dass diese Friedensbedingungen notwendig seien. Und das amerikanische Volk war damals überzeugt, dass das ganze deutsche Volk aus Militaristen bestehe. (…) Gerechterweise muss man daher feststellen, dass es nicht nur ein Betrug am deutschen, sondern auch am amerikanischen Volk war, der schließlich zum zweiten Weltkrieg führte.“ Erna von Pustau fügt hinzu: „Übrigens kann ich sagen, dass uns nicht entging, was sich zwar nicht in Amerika, aber in England und Frankreich abspielte. Wir sahen, dass bei den uns benachbarten Alliierten in Westeuropa die Macht nicht in den Händen der Linken oder fortschrittlichen Kreise war, sondern in den Händen von Imperialisten wie Foch, Clémenceau, Lloyd-George und so weiter.“

Mein Kommentar zu diesem Zitat: In dem Gesprächsauszug wird „Machtpolitik“ (vertreten von sog. Realisten) einer „Politik für eine bessere Welt“ (vertreten von Idealisten) gegenübergestellt. Wilson konnte sich offensichtlich mit seinen an Idealen der Fairness orientierten Vorschlägen nicht durchsetzen. Im Gespräch ist von den Gedanken „des deutschen Volkes“ und „des amerikanischen Volkes“ die Rede, obwohl es in beiden Völkern und nicht nur bei ihren Repräsentanten sehr unterschiedliche „Gedanken“ gab: machtpolitische und idealistische. Sie lagen miteinander im Widerstreit. Idealistisch motivierte Ziele kamen in der von Vorurteilen beherrschten Situation nicht zum Zuge. Bemerkenswert an dem zitierten Gespräch ist auch der Hinweis auf die Abhängigkeit der Stimmung in einer Bevölkerung von der Informationspolitik der jeweiligen Regierungen.

Schon vor Ausbruch des Ersten Weltkrieges hatte sich überall in Europa nationalistisches Denken ausgebreitet.