Erkläranlage - Karsten Lampe - E-Book

Erkläranlage E-Book

Karsten Lampe

4,3

Beschreibung

Klarheit und frisch filtrierter Humor. Als menschliche Erkläranlage sortiert der Kabarettist und Poetry-Slammer Karsten Lampe die Bröckchen des modernen Seins. Das Ergebnis ist nicht unbedingt die Wahrheit, aber es lässt sich angenehmer schlucken. Hochkomische Geschichten und Betrachtungen, scharfsinnig formuliert und bärbeißig vorgebracht. Nachrichtenmagazine versprechen gerne die ungefilterte Wahrheit. Karsten Lampe findet das ekelhaft! Als wäre es nicht so schon schlimm genug, Tag für Tag durch die blickdichten, brackwässrigen Moderlande des Alltags waten zu müssen. Wir brauchen Filter, fordert Karsten Lampe, und Eimer und Schäufelchen! Denn egal ob Politik oder Kennenlernspiele auf Hochzeiten, ob Werterelativismus oder Wasabi als Brotaufstrich das Thema sind - am Ende muss auch der klügste aller Schisse artgerecht beseitigt werden. Karsten Lampe wirft seine Gedankenkläranlage an und produziert frisch filtrierte Kurzprosa - sauber und erhellend.

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Seitenzahl: 134

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Treibgutstorys

ink. 7 Audiolinks

Karsten Lampe ist Poetry-Slammer, Lesebühnenautor, Sprecher und Kabarettist aus Berlin.

Seit 2007 steht der gebürtige Brandenburger auf der Bühne und ist in dieser Zeit u. a. bei »zdf.kultur« und der »Fritz Nacht der Talente« (rbb) aufgetreten. 2011 und 2012 war er Berlins Vizestadtmeister im Poetry Slam, was in etwa so ist, wie beinahe ein Kickerturnier gewonnen zu haben.

2013 erschien sein erstes Buch »WAZZEFAK – 29 Dinge, die ich nicht verstehe« (Lektora). Lampe betreibt den erfolgreichen »Über-Blog«, ist Mitglied und Mitbegründer der Lesebühne »Couchpoetos« sowie Sänger der Band »Diktatur der Herzen«. Im Herbst 2015 hatte sein erstes Soloprogramm »Erkläranlage« Premiere.

www.karstenlampe.de

E-Book-Ausgabe März 2016

© Satyr Verlag Volker Surmann, Berlin 2016 www.satyr-verlag.de

Cover: Karsten Lampe Autorenfoto: Petra LampeAudioaufnahmen: Vredeber Albrecht (www.audiofenster.de)

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet abrufbar über: http://dnb.d-nb.de

Die Marke »Satyr Verlag« ist eingetragen auf den Verlagsgründer Peter Maassen.

ISBN: 978-3-944035-70-3

INHALT

Über meine Heimat

Über Unterschenkel

Über Kennenlernspiele auf Hochzeiten

Über Geschenke

Über Relativität

Über die Hölle

Über Helden

Über die Krim

Über die Möglichkeiten der Hypnose

Über Wolfsburg

Über das Streiten im Internet

Über die Deutsche Einheit und das Oktoberfest: Day of the living drunk

Über Egomarketing

Über die Liebe in Zeiten der großen Koalition

Über den Tod und klassische Musik

Über das Glück

Über den Herbst

Über Schnupfen

Über McFit

Über Weihnachtsbeleuchtung

Über das Treiben

Über die AfD

Über Wahlplakate

Über das seltsame Paarungsverhalten geschlechtsreifer Introvertierter

Über das Gestern und die Sprache der Barden

Über Studenten [Untertitel: Aus euch mach ich Studentenfutter (Unteruntertitel: Ihr könnt mich mal BAföG-amtlich)]

Über die grauenhaften Risiken des bargeldlosen Bezahlens

Über Phrasendrescher im Lichte der aufgehenden Sonne

Über Romantik

Über Biesdorf

Über meinen 30. Geburtstag

Bonustrack

Danke

ÜBER MEINE HEIMAT

Hallo, ich bin Karsten, und ich bin Ossi. Da es eh zur Sprache kommen wird, sage ich es einfach gleich. Wir hatten ja nüscht. Wir hatten keine Jeans, keine Fertigsoße, keine Bananen und vor allem keine Ahnung. Wir hatten auch keine Autos, nur Origamifahrzeuge aus Faltpappe, die sich allein deshalb bewegten, weil es eh nur abwärts ging.

Wir hatten kein ordentliches Fernsehen. Meine liebste Kindersendung war damals Mauer-Rangers, eine Serie über die heldenhaften Abenteuer dreier Wachsoldaten in Wernigerode, die Folge für Folge den real existierenden Sozialismus vor Republikflucht und der Realität beschützten.

Jede Episode funktionierte nach demselben Schema. Erst schlichen sich einige Imperialisten gebeugt, wie es ihrer niederen Moral entsprach, durch das hohe Gras heran, um die Rangers dann mit Rolling-Stones-Platten und Lügen zu bewerfen, während diese ihre Gegner mit dem Glanz ihrer frisch gewichsten Stiefel blendeten.

Das dauerte immer so 22 Minuten, bis es den Rangers langweilig wurde, sie die Macht des antiimperialistischen Schutzwalls beschworen und zu einem 70 Meter großen Honecker fusionierten. Das war es dann meist, denn was soll da noch kommen? War schließlich auch die Botschaft, die uns Kindern vermittelt werden sollte: Riesen-Honecker, dann Schluss. Nebenbei bemerkt glauben noch heute viele Menschen, dass es im Osten nur Schwarz-Weiß-Fernsehen gegeben hätte, doch das ist ein Missverständnis. Es verhält sich lediglich so, dass es für Städte wie Guben oder Schwarze Pumpe kaum einen Unterschied machte, ob man sie nun in Farbe oder Schwarz-Weiß betrachtete.

Ich bin Karsten, und ich bin Ossi. Aber ich bin nicht nur Ossi, ich bin Brandenburger, also so eine Art Blinder im Lande der Einäugigen. Brandenburger sein, das ist wie beim VfB Stuttgart auf der Ersatzbank zu sitzen. Das ist wie in dem Teil einer einsturzgefährdeten Ruine zu leben, der noch brennt. Als Brandenburger hast du nicht nur nüscht, sondern auch die Gewissheit, dass dich selbst die Sachsen für einen Banjo spielenden Hinterwäldler halten.

Wir hatten nüscht, wobei, eine Sache hatten wir doch: Sand. Leere Fläche, bedeckt mit Sand. Schon in der Hymne Brandenburgs heißt es: »Märkische Heide, märkischer Sand, sind des Märkers Freude, sind sein Heimatland«. Das Loblied meiner Heimat handelt von Dreck und niedrigem Gebüsch. Wir hätten ebenso gut »Katzeklo« von Helge Schneider singen können. Da wäre dann zumindest die Katze froh gewesen. Gottverdammter Sand.

Und noch eine Sache hat Brandenburg im Übermaß. Ruhe. Weil keiner mehr da wohnt, den man hören könnte. Die Jungen ziehen weg, und die Alten … Nun, sagen wir einfach, kompostieren ist eher was für die Nase als für die Ohren. Die durchschnittliche Entfernung zwischen zwei Brandenburgern beträgt zu jedem gegebenen Zeitpunkt 27 Kilometer. Überhaupt ist alles 27 Kilometer voneinander entfernt. Ein klassischer Brandenburger Scherz besteht darin, an eine beliebige Haustür zu klopfen und sich dann über die laute Musik zu beschweren. Anschließend muss man jemanden finden, der einen wieder nach Hause fährt, aber der Gesichtsausdruck ist es wert.

Und wir haben leere Kohlegruben. 27 Kilometer von meinem Dorf entfernt existiert ein stillgelegter Tagebau, eines der größten Löcher Europas, übertroffen nur von jenem Loch, in das die Braunkohlesubventionen der EU gekippt werden. An den Rändern stehen Aussichtsplattformen, von denen aus Väter an Wochenenden gemeinsam mit ihren Kindern in das kilometerbreite, gramgefurchte und matschebraune Nüscht starren.

»Sieh nur, Sohn oder Tochter ...«, sagen die Väter dann, von denen nicht erwartet wird, dass sie sich mit dem Geschlecht ihrer Kinder näher auseinandersetzen. »Sieh nur, Sohn oder Tochter, wir haben ja nüscht, aber es ist verdammt noch mal das größte Nüscht, das man sich vorstellen kann!«

»Stimmt, Vati. Und so viel geiler Sand!«, antworten die Kinder, woraufhin der Vater sie mit einer Spreewaldgurke belohnt, die er hochwirft, damit die Kleinen sie aus der Luft schnappen können.

Natürlich kam der Tag, an dem auch ich das Weite suchte. Ich zog für’s Studium nach Wiesbaden und staunte nicht schlecht, als es unter meinen Füßen nicht mehr länger knirschte. Nur zwei meiner Kommilitonen kamen ebenfalls aus dem Osten. Natürlich quartierte uns die Stadtverwaltung gemeinsam im Studentenwohnheim ein, wohl aus Angst, unsere perversen Praktiken könnten die unbescholtenen Hessen ossifizieren.

Wir aber fanden das bescheuert. Wir sehnten uns nach kulturellem Austausch. Wozu in die Ferne ziehen, wenn man dort nur denselben Nasen wie daheim begegnet? Das ist ja, als mache man ein Erasmus-Semester und hängt dann nur mit anderen Erasmus-Studenten ab. Jedenfalls veranstalteten wir eine waschechte Ossi-Party und luden alle dazu ein. Denise und Jeanette schmissen sich in die alten FDJ-Blusen ihrer Mütter. Ich selbst trug einen schwarzen Jogginganzug, eine Skimaske sowie einen Hammer und eine Sichel in je einer meiner Hände. Als Denise mich fragte, was ich denn darstellen wollte, sagte ich nur: »Ich bin der Kommuninja!«

Unsere westdeutschen Freunde kamen allesamt als Rotkäppchen und brachten Sekt mit. Nur Andreas kam als Karton Spee.

Als ich ihm die Tür öffnete, lernte ich mehr über das Zusammenwachsen zweier Länder, als ich es auf hundert Einheitsfeiern je getan hatte. Und ich lernte viel über Heimat und darüber, dass man mehr als nur eine Heimat haben kann. Dass Heimat manchmal gar kein Ort ist und dass man sie mitnehmen oder sogar neu erschaffen kann, wenn man die alte mal verloren hat. Ich bilde mir gern ein, mein Bild von mir und anderen nicht von Himmelsrichtungen abhängig zu machen. Trotzdem trage ich immer einen kleinen Beutel Sand bei mir. Nur ganz wenig. Fast nüscht.

Audiolink:

http://satyr-verlag.de/audio/lampe1.mp3

ÜBER UNTERSCHENKEL

»Das Treiben und Treibenlassen meiner Mitmenschen hört nie auf, mich zu verblüffen«, lässt Heiko mich wissen. Was man halt so sagt, wenn Sommernächte einem die Denkprozesse schmelzen lassen. Es ist sehr spät oder aber sehr früh geworden, doch im Neonlicht des 24-Stunden-Supermarkts wirkt alles konserviert, wirkt alles zeitlos, alles geschmacklos.

»Ich meine«, führt er weiter aus und fummelt dabei umständlich eine Packung Pumpernickel aus dem Regal, »zum Beispiel Luftballons, jetzt nicht so Gebrüder-Montgolfier-mäßige Himmels-Oschis, sondern bunte Latexballons, beliebter Dekorationsartikel auf Hochzeiten und Kindergeburtstagen:

Ich meine, was soll das?

›Sven-Tyler, wenn du ins Wohnzimmer gehst, wirst du feststellen, dass wir den ganzen Raum mit grellen Plastikbeuteln voller mundwarmem Kohlenmonoxid dekoriert haben. Herzlichen Glückwunsch zu deinem achten Geburtstag!‹

Was ist denn ausgehauchter Atem ...«, fragt er und unterstreicht die Frage mit theatralischem Pusten: »Was ist denn ausgehauchter Atem schon anderes als Tod? Allein um seine Widernatürlichkeit zu erkennen, muss man ihn ja nur berühren.«

»Den Tod?«

»Den Ballon! Seine klebrige Glätte, sein chemischer Geruch, das leichte Knistern und Quietschen der Elektrostatik unter den Fingerkuppen, als würde man das Gesicht von Harald Glööckler liebkosen. Der ist auch so ein Ballon, hohl und aufgeblasen. Eine Nadel möcht ich nehmen, in ihn hineinstechen und hinterherwinken, wenn der Glööckler, angetrieben von seiner eigenen Heißluft, hilflos davonzischt.«

Ich packe den Rhabarberbrotaufstrich in unseren Einkaufskorb und lege Heiko die rechte Hand auf die Schulter. Ich blicke ihm so lange fest in die Augen, bis seine Lunge etwas weniger rasselnde Töne von sich gibt. Dann frage ich: »Heiko, was stört dich wirklich?«

Er macht einen kleinen Schritt auf mich zu, senkt den Blick und die Stimme: »Männer in kurzen Hosen.«

»Ja, das kann ich gut verstehen. Kaum dass der Mai geschlagen hat, sieht man überall nur noch knorpelige Knöchel und käsige Waden, die das Sonnenlicht bestenfalls aus der großväterlichen Erzählstunde kennen. Es gibt einen proportionalen Zusammenhang zwischen der Glaubwürdigkeit eines Mannes und der Länge seiner Hosenbeine. Männer in kurzen Hosen sehen immer ...«

»... wie kleine Jungs aus!«, beenden wir den Satz gemeinsam. »Ja genau, wie Schulbuben um das Jahr 1900 herum. So mit Matrosenanzug, Kniestrümpfen und Kaisertreue.«

»Und da rede ich jetzt nicht von diesen antilopenhaft geschmeidigen 19-jährigen Abiturienten. Denn das sind noch keine Männer, und ihren Schenkeln mangelt es an Krämpfen und Narben!«, sagt Heiko. »Ich meine richtige Männer. Geschäftsmänner, stahlkochende, barttragende, gestandene Ehegatten und Familienväter und Lastkraftwagenfahrer mit vor lauter Erfahrung heiß glühenden Blicken. Kaum küsst ein einzelnes Photon ihre bleichen Gesichter, zack, reißen sie sich das Beinkleid vom Leibe, als gelte es, bei den Chippendales vorzutanzen. Man kann ja über unsere Politiker vieles sagen, aber Sigmar Gabriel habe ich noch nie in Bermudashorts gesehen, und das finde ich gut so!«

Es ist sehr spät oder aber sehr früh geworden. Doch egal zu welcher Tageszeit: Man sollte sich in Acht nehmen, wenn Heiko Sätze mit »Man kann ja über unsere Politiker vieles sagen, aber ...« beginnt. Ebenso sollte man sich ducken, wenn er Kommentare mit »... und das finde ich gut so!« enden lässt. Allerdings sollte man das bei den meisten Menschen tun. Ganz allgemein sollte man sich mehr ducken.

»Bist du nicht auch froh, so ein hervorragendes Stilgefühl zu besitzen?«, wechsle ich daher geschickt das Thema. Wir betrachten unsere Abbilder im spiegelnden Endstück des Wurstwarenkühlregals. Ich trage ein Clownskostüm, denn dessen ausgebeulte Hose ist das mit Abstand bequemste Kleidungsstück, das ich besitze. Natürlich könnte ich auch nur die Hose anziehen und die rosa Perücke nebst Weste mit gelben Tupfen zu Hause lassen, aber dann besäße ich eine nutzlose rosafarbene Perücke nebst sinnlos getupfter Weste, und an solcherlei Verschwendung wird die Welt dereinst zugrunde gehen!

Heiko trägt ein T-Shirt mit der Aufschrift »Wer zuletzt lacht, denkt zu langsam.«, sonst nichts. Seine Hoden schaukeln aufmüpfig im Luftzug der Klimaanlage. Ja, ein Rebell ist er und sein Verzicht auf Beinkleider eine Art umgekehrter Femen-Protest gegen kurze Hosen, eine absichtliche Bloßlegung dessen, was sich vorzustellen man sonst nur nach mehreren Kurzen wagt.

»Findest du uns sexistisch?«, frage ich nach einigen Sekunden.

»Nö, wieso?«

»Na, was wenn wir uns da zu sehr auf unsere Perspektive beschränken? Frauenwaden und alles, was um sie herum geschieht, beispielsweise, sind doch was Schönes. Jeden Sommer freue ich mich, einige von ihnen wiederzusehen. Sind wir nicht längst über die Zeiten hinweg, in denen für Frauen und Männer unterschiedliche Maßstäbe galten?«

»Finden wir es heraus«, sagt Heiko und stellt sein nacktes linkes Bein auf das Laufband von Kasse Zwei. Ursprünglich hatte er mit den Yoga-Stunden angefangen, um seiner Rastlosigkeit entgegenzuwirken und seine innere Mitte wiederzuentdecken. Doch vor allem entdeckte er die große Freude, mit seiner neu erworbenen Gelenkigkeit seine Füße überall dort unterzubringen, wo man sich sonst vor ihnen sicher wähnte. Die Kassiererin blickt auf, nachdem es ihr auch im zweiten Anlauf nicht gelungen ist, den Fuß einzuscannen. Sie erstarrt.

»Finden Sie das schön?«, fragt Heiko und streicht dazu mit beiden Händen lasziv an seinem Unterschenkel auf und ab. »Finden – Sie – das – schön?«

ÜBER KENNENLERNSPIELE AUF HOCHZEITEN

Der Mensch ist ein soziales Wesen, was aber nicht bedeutet, dass er sich freiwillig mit anderen Menschen umgibt, sondern nur, dass er ihre Gegenwart leichter erträgt, wenn diese ähnlich gestrickt sind wie er selbst. Wir sind Treibgut, Bojen auf fremder See und wissen nicht, was schlimmer ist: für immer allein zu sein oder nie mehr allein zu sein. Unbekannte Menschen machen uns Angst, nicht weil wir fürchten, sie könnten uns unverhofft an die Kehle springen, sondern weil sie uns in Relation setzen, unseren Anspruch darauf, recht zu haben, infrage stellen. Das klingt nun alles sehr unfestlich, und das wiederum klingt sehr wahr, denn wenn ich mir Festlichkeit vorzustellen versuche, denke ich an Kerzenlicht, an getragene Musik, an Buntglasfenster oder die Weite des Horizonts. Aber nie an Menschen. Menschen sind die Tante mit der christlich-konservativen Arbeitsmoral, der fidele Frührentner samt halbseidenem Hawaiihemd und halb so alter Gespielin. Menschen sind Homöopathen, Bauernfänger und Bauern, Kinder und Kindsköpfe und die ganze Zeit über unfassbar genervt.

Darum entscheidet sich das Brautpaar auf Hochzeiten immer frühzeitig für ein Kennenlernspiel, um mögliche Spannungen frühzeitig aus dem Weg zu räumen.

Es gibt die »Fotosafari«, das große »Wo komme ich her?«, das »Steckbrieflich gesucht« und den grundoptimistischen Versuch, Leute, die sich nicht kennen, vorsätzlich zusammen an einen Tisch zu setzen, was in etwa so ist, als würde man Jagdunfällen vorbeugen wollen, indem man sich eine große Zielscheibe auf den Rücken malt.

Das alles wusste ich, doch nichts davon hatte mich auf das vorbereiten können, was Heiko und mich auf der Hochzeit unseres alten Mitbewohners Holger erwartete. Holger hatte sich vor drei Jahren Hals über Kopf in eine Landschaftsgärtnerin aus Worpswede verliebt, seinen Leguan des Nächtens mitgenommen und uns auf der letzten Monatsmiete und dem nächsten Morgen sitzen lassen. Wir hatten erst überlegt, nicht zu kommen, wurden sehr wütend und dann sentimental, als wir die Büttenpapiereinladungen vor zwei Monaten in unseren Briefkästen fanden. Keine Wut ohne Schmerz und kein Schmerz ohne Enttäuschung und keine Enttäuschung ohne Verbundenheit und Freude darüber, dass der alte Schweinehund uns doch nicht vergessen hatte! Und so rückten wir unsere Krawatten zurecht und sattelten die Pferde gen Worpswede.

Wir hatten gerade das zweite Stück Torte vor uns platziert, als wir die Damen erblickten, die im Festsaal (sonst bekannt als Sporthalle der örtlichen Feuerwehr) mit kleinen Kistchen bedächtig von Tisch zu Tisch schritten und den dort Sitzenden etwas erklärten. Heiko deutete auf ihre Hände, und ich sah, dass die Gäste kleine Zettel, gelbe und grüne, aus den Kistchen wühlten, diese aufrollten und sich dann in ausgiebigem Stirnrunzeln ergingen.

»Oh, oh«, sagte Heiko.

»Schnell, unter den Tisch!«, sagte ich.

»Grün ist für die Herren, gelb für die Damen«, sagte die Frau mittleren Alters, die sich scheinbar aus dem Nichts heraus neben uns materialisiert hatte.

Mechanisch griff ich in den Kasten, den sie mir aufmunternd darbot und wagte dabei sogar ein Lächeln, das mir jedoch in die Breite entglitt. »Elch«, stellte ich fest, nachdem ich den kleinen Zettel entrollt hatte. »Hier steht ›Elch‹.«

»Schabrackentapir«, sagte Heiko.

»Selber!«, sagte ich.

»Das ist für das Kennenlernspiel«, sagte die Kistenfrau. »Wir haben jeweils einen gelben und einen grünen Zettel pro Tier. Einen für Männlein, einen für Weiblein. Wenn der DJ gleich den Ententanz auflegt, müsst ihr tanzen, wie das Tier, das ihr gezogen habt.«

»Warum?«, fragte ich.

»Na, um eure Partnerinnen zu finden. Wird bestimmt lustig«, sagte die Frau.

»Warum?«, fragte Heiko.

»Ach, keine Angst. Wenn alle mitmachen, ist es für den Einzelnen weniger peinlich«, sagte die Frau.

»Ich wette, das hat Hitler auch mal gesagt«, flüsterte Heiko in sein Sektglas.