Ernest Shackleton - Ranulph Fiennes - E-Book

Ernest Shackleton E-Book

Ranulph Fiennes

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Beschreibung

Neugier und Organisationsfähigkeit, Leidensfähig und Leadership zeichnete einen der berühmtesten Entdecker des beginnenden 20. Jahrhunderts aus. Sir Ernest Henry Shackleton war ein britischer Polarforscher und eine der herausragenden Persönlichkeiten des sogenannten "Goldenen Zeitalters der Antarktisforschung". Er nahm an vier Antarktisexpeditionen teil, von denen er bei dreien als Expeditionsleiter tätig war. Vorliegendes Buch ist die einzige Gesamt-Biographie über Ernest Shackleton, verfasst von Ranulph Fiennes, selbst Forscher und Autor und erster Mensch, der sowohl den Nord- als auch den Südpol auf dem Landweg erreichte. Sein Statement ist nicht von der Hand zu weisen: "Um über die Hölle zu schreiben, ist es hilfreich, wenn man dort gewesen ist". "Was die Wissenschaft anbelangt, gebt mir Scott, für Schnelligkeit und Tüchtigkeit gebt mir Amundsen, aber wenn es zu einer Katastrophe kommt und die Lage hoffnungslos ist, dann fallt auf die Knie und fleht um Shackleton." (Mt. Everest-Erstbesteiger Sir Edmund Hillary über Sir Ernest Shackleton)

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Impressum

Originalausgabe

Copyright © Ranulph Fiennes, 2021

First published as Shackleton in 2021 by Michael Joseph, an imprint of Penguin Books.

Penguin Books is part of the Penguin Random House group of companies.

Deutsche Ausgabe

1. Auflage, 2024

© egoth Verlag GmbH

Alle Rechte vorbehalten. Wiedergabe, auch auszugsweise, nur mit ausdrücklicher Genehmigung des Verlags.

ISBN: 978-3-903376-55-7

eISBN: 978-3-903376-70-0

Übersetzung: Johanna Niem

Lektorat: Dr. Gudrun Stecher

Coverfoto: APA Picturedesk

Fotos: Wikimedia Commons (Eric Marshall, Tannatt David, E. Shackleton, F. Hurley, A. Hugh Fisher, Thomson), APA Picturedesk

Grafische Gestaltung: DI (FH) Ing. Clemens Toscani

Printed in the EU

Wir haben versucht, die Rechteinhaber der Fotos zu ermitteln. Falls wir jemanden übersehen haben sollten, bitten wir die Rechteinhaber sich beim Verlag zu melden um in zukünftige Auflagen angeführt zu werden.

Gesamtherstellung

egoth verlag GmbH

Untere Weißgerberstr. 63/12, 1030 Wien, Österreich

www.egoth.at

Ranulph Fiennes

ERNESTSHACKLETON

LEBEN UND LEADERSHIPEINES GROSSEN ENTDECKERS

Dieses Buch ist den Sponsoren und der Crewvon Ernest Shackletons Expeditionen gewidmet –und auch denen meiner eigenen.

Ranulph Fiennes

INHALT

TEIL 1

Und ich roch den Duft aus der Kombüse, hörte die Flüche der Seeleute

TEIL 2

Eine Seele, vom Fernweh getrieben

TEIL 3

Ein lebender Esel

TEIL 4

Stecke einen Fuß voller Mut in den Steigbügel der Geduld

TEIL 5

Oh, welches Geheimnis hütest du gen Süden, das unsere Vorstellungen übersteigt?

EINLEITUNG

Während des sengend heißen Sommers 1964 wurde ich nach London geschickt, um für den Royal Scot Grey’s Canoe Club Kanus zu kaufen. Die sogenannten Swinging Sixties waren in vollem Gange, und so musste man mich nicht zweimal bitten, meiner Kaserne zu entwischen und eine von Leben und Trubel erfüllte Stadt zu besuchen.

Am Bahnhof London Waterloo winkte ich eines der schwarzen Taxis herbei. Wir fuhren gerade auf Höhe der Themse, da bemerkte ich auf einem der Schiffe einen Tumult. Ich reckte meinen Hals, um einen besseren Blick darauf zu erhaschen. „Das sind alles Shackleton-Männer […] berühmte Entdecker und so!“, rief mir der Taxifahrer über die Schulter zu.

Shackleton … allein den Namen zu hören, löste eine gewisse Aufregung in mir aus. Ich kannte die Geschichten nur zu gut, hatten sie mich doch als Kind fasziniert. Nicht nur war Shackleton ein Entdecker und Erforscher unbekannter Gebiete, er war auch der Mann, der sich auf eine der dramatischsten Überlebens- und Rettungsmissionen aller Zeiten begeben hatte. Sein Name war gleichbedeutend mit der Antarktis und eng mit Tugenden wie Mut und Führungsstärke verflochten. Einst war er ein Normalsterblicher, aber jetzt war er eine Ikone. Seine Unternehmungen waren für immer in den Granit der britischen Geschichte gemeißelt.

Zweiundvierzig Jahre nach seinem Tod wurde nun sein Leben hier auf der Themse gefeiert, dem Ort, von dem aus er seine Expeditionen vor den Augen Tausender jubelnder Bewunderer und auch der Königsfamilie gestartet hatte. Die Zeit hatte den Namen Shackleton offensichtlich nicht verblassen lassen und er war noch immer präsent genug, dass auch mein Taxifahrer ihn gut kannte. Später erfuhr ich, dass sich in dieser Nacht auf dem Schiff andere Entdecker, Journalisten, Bewunderer und auch die beiden Ärzte Alexander Macklin und James McIlroy, die bei seinem Tod bei ihm gewesen waren, versammelt hatten. Es schien, als wären sie alle noch immer gefesselt von dieser Magie, die Shackleton trotz seiner vielen Fehler und Misserfolge zum schillerndsten aller berühmten viktorianischen Polarforscher gemacht hatte.

Sekunden später verlor ich die Szene aus den Augen und ich richtete meine Gedanken wieder auf den weniger aufregenden Job vor mir: Kanus kaufen. Dennoch hatte dieser scheinbar unwichtige Moment in spezieller Weise die Grundlagen gelegt, auf die ich in den folgenden Jahren aufbauen würde.

In den frühen 1970er-Jahren verließ ich das Militär. Ich brauchte einen Job, und so schloss ich mich einigen Expeditionen entlang verschiedener abgelegener Flüsse und Gletscher in Norwegen und Kanada an. So kam ich auf den Geschmack, meine Ambitionen und das Selbstvertrauen wuchsen, und schließlich setzte ich mir zum Ziel, einige der großen Herausforderungen der Polarwelt zu meistern, die Scott, Shackleton und sogar dem berühmten Norweger Roald Amundsen verwehrt geblieben waren.

Die erste dieser Herausforderungen war die Transglobe Expedition. Nach sieben Jahren der Vorbereitung brachen mein Team und ich im Jahr 1979 auf. Wir wollten die Ersten werden, die die gesamte Oberfläche der Welt via beide Pole überquerten, ohne auch nur einen Meter zu fliegen. Dies beinhaltete natürlich nicht nur, den Südpol überhaupt zu erreichen, sondern auch, die Antarktis zu durchqueren, wie es einst Shackletons Traum gewesen war. Indem ich dies tat, konnte ich in die Fußstapfen der viktorianischen Entdecker treten und Dinge und Orte sehen, die vor mir noch niemand erblickt, geschweige denn durchquert hatte. Wie Shackleton und seine Zeitgenossen befanden auch wir uns noch vor der Zeit polnah umlaufender Satelliten und hatten so weder GPS noch Navigationssysteme oder Satellitentelefone. So mussten wir uns mithilfe von Sextanten, Theodoliten und Handkompassen orientieren.

1993 ging ich noch einen Schritt weiter, und mein Expeditionsbegleiter Mike Stroud und ich wurden die Ersten, die die Antarktis ohne jegliche Hilfe durchquerten, ohne den Abwurf von Essen, ohne Transport und ohne jegliche maschinelle Unterstützung. 92 Tage lang schleppten wir jeder mehr als 220 Kilogramm Gepäck über Eis und Schnee, über tückische Eisspalten und Berge, während wir gleichzeitig mit elendem Hunger, Erschöpfung, Erfrierungen, Erblindung und der ständigen Gefahr kämpften, in eine der Eisspalten zu fallen. Im Jahr 1996 versuchte ich dann, nachdem die meisten meiner Ziele zur Antarktis erreicht waren, der erste Mensch zu werden, der die Antarktis alleine und ohne Hilfe durchquerte, wurde aber von einem Anfall von Nierensteinen gestoppt.

Diese Expeditionen eröffneten mir eine einzigartige Perspektive auf Shackleton und seine Abenteuer. In den vielen Jahren seit seinem Tod, in denen die Legenden rund um ihn immer weiter rankten, wurden unzählige Bücher und Filme über sein Leben veröffentlicht. Infolgedessen beeinflussten auch die Debatten über seine Vorbereitung der Reisen und seine Entscheidungen die öffentliche Wahrnehmung – nicht alle positiv. Einige der Bücher waren durchaus unterhaltsam und lehrreich, anderen aber musste ich vehement widersprechen. Sie präsentierten verschiedene persönliche Ansichten, erfanden neue Dinge dazu und erzählten viele Lügen.

Sie gaben auch den Ausschlag, dass ich mich entschloss, dieses Buch zu schreiben. Man musste mich nicht zweimal bitten, auf Shackletons Spuren zu reisen und stellvertretend für ihn noch einmal seine Abenteuer zu durchleben. Aber ich will sicher nicht einfach nur die alten Geschichten noch einmal erzählen. Mein Ziel ist es, meinen eigenen Blickwinkel – was er auch wert sein mag – einzubringen, um die Legenden zu erhellen und hoffentlich auch zu bereichern. Man kann schließlich besser über die Hölle schreiben, wenn man sie selbst erlebt hat. Keiner der früheren Shackleton-Biografen hat je einen schweren Schlitten durch die großen Spaltenfelder des Beardmore-Gletschers gezogen, Eisfelder erkundet, die noch kein Mensch zuvor gesehen hatte, und ist tausend Meilen auf schwer versehrten Füßen gelaufen, Hunderte Meilen entfernt von jeglicher Zivilisation.

Ich hoffe, Sie werden Shackletons noch immer fast unglaubliche Geschichte und seine großartigen Leistungen genießen, die auch jetzt noch, fast hundert Jahre nach seinem Tod und Begräbnis während seines letzten Abenteuers in der Antarktis, verblüffen und erstaunen.

TEIL 1

„Und ich roch den Duft aus der Kombüse, hörte die Flüche der Seeleute.“

Ernest Shackleton mit 11 Jahren

KAPITEL 1

Aus dem Kinderzimmer des jungen Ernest Shackleton drangen Kichern, Rufe und bewunderndes Nach-Luft-Schnappen. Die Shackleton-Schwestern – in Summe würden es einmal acht werden – waren um ihren Bruder versammelt und lauschten ihm gespannt. Wie so oft hielt er die Mädchen fest in seinem Bann. Der blonde Knabe stand aufrecht, sah seine Schwestern eine nach der anderen mit engelsgleichen Augen an und ließ seiner Fantasie freien Lauf. Erst Wochen zuvor, so erzählte er ihnen, sei er mit einem Freund in London gewesen und hätte dort einen Feuersturm miterlebt, der die gesamte Stadt zu verschlingen drohte. Gemeinsam war es ihnen irgendwie gelungen, die Stadt zu retten. Als Belohnung hatte man ihnen zu Ehren nahe der London Bridge ein Denkmal errichtet, the Monument to the Great Fire of London. Trotz der fantastischen Ausmaße der Geschichte glaubten die Shackleton-Schwestern ihrem Bruder jedes Wort. Er hatte so überzeugend und detailliert erzählt, dass die Mädchen ihm an den Lippen hingen. Wenn sie manchmal doch Zweifel hegten, konnte Shackleton diese mit überzeugenden Antworten schnell zerstreuen. Aber selbst wenn sie kein Wort geglaubt hätten, so war es doch äußerst unterhaltsam, und hatten enormen sie Spaß, in seine Welt einzutauchen.

Diese Erzählung vom Monument zeigt, dass Shackleton schon von Jugend an davon träumte, eine große Tat zu vollbringen und ein weithin gefeierter Held zu werden. Er würde den Rest seines Lebens alles daran setzen, genau dies zu erreichen.

Ebenso zeigt die Anekdote Shackletons Talent, eine Geschichte zu erzählen und die Menschen dazu zu bringen, ihr und ihm zu glauben. Diese Gabe erwies sich in späteren Jahren als unbezahlbar, denn sie ließ ihn das Vertrauen der Menschen gewinnen. So glaubten sie ihm, selbst wenn er scheinbar Unmögliches vorschlug, finanzierten seine Expeditionen, und er konnte dank seinem Erzähltalent sogar seinen Lebensunterhalt verdienen. Vorläufig waren es nur seine Schwestern, die seine Geschichten für wahr hielten und ihm gaben, was er brauchte, aber in Zukunft würde ihm dieses Talent die Welt zu Füßen legen.

Anders als in seinen hochfliegenden Träumen, war es in seinen jungen Jahren wohl nur die Familie, die große Hoffnungen in Ernest Shackleton setzte. Er war 1874 in Irland geboren worden, seine Mutter Henrietta erlag schnell dem Charme ihres stets lächelnden Sohnes und seinen funkelnden blauen Augen. Für seine Schwestern, die immer hinter ihm herliefen und offenbar jede seiner Bewegungen genau verfolgten, war er der uneingeschränkte Boss. Dies war ein Wesenszug, den er sein ganzes Leben lang beibehielt, wie sich seine Schwester Kathleen später erinnerte: „‚Kommt, all meine Frauen‘, rief er, wenn er nach einer Reise das Haus betrat. Er legte sich hin und verlangte: ‚Ihr müsst mich unterhalten. Zuleika, du darfst mir Luft zufächeln. Fatima, kitzle meine Zehen. Komm, meine Allerliebste, und kratze mir den Rücken.‘ Natürlich machte uns das großen Spaß.“

Trotz dieses Übermaßes an Liebe stand das Glück der Familie Shackleton auf wackeligen Beinen. Seit 1872 arbeitete der Vater, Henry Shackleton, als Farmer in Kilkea im Kreis Kildare, 30 Meilen außerhalb Dublins. Aber um 1880 begannen sich die wirtschaftlichen Gegebenheiten zu verändern. Wegen ihres Überflusses an Weizen aus ihren Prärien hatten die Amerikaner ein Netz aus neuen Straßen gebaut. Sie transportierten ihr Getreide nun zu den Häfen und exportierten es günstig. Als Folge dieses Preiswettkampfs entwickelte sich in Europa bald eine landwirtschaftliche Depression. So verkaufte Henry Shackleton 1880 rasch seine Farm und zog mit seiner Familie nach Dublin, wo er am Trinity College Medizin studierte. Sobald er 1884 sein Studium beendet hatte, übersiedelte die Familie nach Croydon im Süden Londons.

Ernest war jetzt zehn und daran gewöhnt, im Mittelpunkt zu stehen. Doch das änderte sich nun. In der örtlichen Grundschule wurde er wegen seiner irischen Wurzeln und des leichten Akzents verspottet. Schnell fand er sich in einer Außenseiterrolle. Mit dem Spitznamen „Mick“ versehen – einer abschätzigen Bezeichnung für Iren –, antwortete Shackleton diesem Spott meist mit den Fäusten. So erinnerte sich ein Klassenkamerad: „Wenn es eine Rauferei gab, war er gewöhnlich daran beteiligt.“

Obwohl Shackleton seinen irischen Akzent durch einen gepflegteren südenglischen Akzent ersetzte, blieb ihm der Spitzname „Mick“ für den Rest seines Lebens. Aber er arrangierte sich schnell damit, unterschrieb später sogar Briefe mit „Mickey“ und nahm so seinen Peinigern die Waffen aus der Hand. Shackletons Fähigkeit, sich durch die Schwierigkeiten des Lebens zu manövrieren, war eines seiner vielen Talente – das würde sich noch oft zeigen.

Mit dreizehn Jahren besuchte Ernest Shackleton das Dulwich College, nur einen kurzen Fußweg vom Wohnort der Familie entfernt. Wieder fand er zunächst keinen Anschluss. Er war bei jeder Rauferei dabei und erhielt so schnell den Spitznamen „The Fighting Shackleton“. Spiele, die in Teams gespielt wurden, mochte er nicht, auch der Sport war nicht seine Sache, und im Unterricht war er faul. Seine Zeugnisse trugen Vermerke wie „muss aufgeweckt werden“, „ist eher antriebslos“, „versinkt oft in Untätigkeit“ und „muss sich um mehr Exaktheit bemühen“. Das Einzige, was Shackleton wirklich interessierte, war Literatur. Zu Hause ermunterte der Vater die Kinder, Gedichte zu lesen. Shackleton wurde ein Verehrer Alfred Tennysons und konnte Zeile um Zeile von ihm zitieren. Er liebte es auch, Geschichten zu lesen, vor allem Erzählungen von Heldentaten, die in weit entfernten Gegenden des britischen Empires spielten. Besonders mochte er die Zeitschrift The Boy’s Own, die er jeden Samstag für 1,50 Pence kaufte, sowie Bücher von Rider Haggard und Jules Verne, ganz besonders die Abenteuer von Captain Nemo in 20.000 Meilen unter dem Meer.

Zusätzlich zu seiner Lektüre fiktionaler Heldenerzählungen, wurde Shackleton auch mit ganz realen Abenteuern konfrontiert. Am Ende des 19. Jahrhunderts war das britische Empire das größte Reich der Geschichte. Es bedeckte ein Fünftel der Landmassen der Erde, und jede vierte Person, insgesamt mehr als 400 Millionen Menschen, zählte als dessen Einwohner. Als Shackleton dreizehn war, sorgten die enthusiastischen Feiern von Queen Victorias Goldenem Thronjubiläum im Jahr 1887 in Großbritannien für einen Höhepunkt des Patriotismus und Stolzes auf das Empire. Und so entfachte jeder Entdecker, der den Gefahren trotzen und neue Gebiete für Königin und Vaterland erobern konnte, im ganzen Land Begeisterung.

Henry Morton Stanley, der sich mit der Erkundung von entlegenen und gefährlichen Regionen einen Namen gemacht hatte, war auf den Titelseiten der Zeitungen zu finden, ebenso der Indiana-Jones-gleiche Percy Fawcett, der seine Berühmtheit mit der Suche nach einer sagenumwobenen verlorenen Stadt tief im brasilianischen Dschungel erlangt hatte, wo er dann auch spurlos verschwand. Ausschlaggebend dafür, dass Entdecker die berühmtesten Helden ihrer Zeit werden konnten, war die Verabschiedung des Forster Education Act im Jahr 1870. Er machte die Schulbildung für alle Kinder zwischen fünf und dreizehn Jahren verpflichtend und ermöglichte es damit großen Teilen der Arbeiterschicht erstmals, lesen zu lernen. Mit mehr lesenden Menschen als je zuvor war auch die Begeisterung für Geschichten um die mutigen und waghalsigen Taten der Entdecker und Eroberer des Empires groß.

Als Shackleton von diesen gefeierten Entdeckern las, musste er erkannt haben, wie sehr sie sowohl von der britischen Öffentlichkeit als auch von der britischen Elite bewundert wurden. Für einen Burschen, der Schwierigkeiten hatte, sich in der Schule anzupassen, schien das die Antwort auf all seine Gebete zu sein.

An seinen Schwestern hatte er sein erzählerisches Talent ja schon erprobt. Nun begann er, seinen Klassenkameraden fantastische Geschichten zu erzählen – sowohl eigene als auch solche, die direkt von den Seiten der Boy’s Own stammten. Er war so gut darin, dass sich bald eine ganze Bande an Schülern zusammenfand, die breitwillig die Schule schwänzten, um mit Shackleton in den Wald zu gehen und dort weiter seinen Geschichten zu lauschen.

Als Shackleton seiner Bande einmal eine besonders aufregende Geschichte erzählte, die auf See spielte, war die Begeisterung so groß, dass die Burschen sofort nach London loszogen. Dort streiften sie die Docks auf und ab und hofften, einen Job als Schiffsjungen zu bekommen. Doch sie waren viel zu jung dafür und wurden wieder nach Hause geschickt. In Shackleton aber hatte dieser Ausflug zu den Docks etwas geweckt. Als er all die Schiffe sah, die zu exotischen Orten aufbrachen, dämmerte ihm, dass ein Leben auf See der Schlüssel für seine Träume von Abenteuern sein könnte. Denn was für die meisten seiner Freunde nur eine Träumerei war, meinte er ernst. Eine seiner Schwestern beschrieb das später folgendermaßen: „Er hatte keine besonderen Hobbys als Kind, aber alles, was mit dem Meer zu tun hatte, konnte seine Aufmerksamkeit fesseln.“

Auch ein anderes Ereignis zur selben Zeit mag ihn dazu veranlasst haben, seinen Horizont zu erweitern. Bald nachdem die Shackletons nach Croydon gezogen waren, wurde seine Mutter krank. Die nächsten vierzig Jahre verbrachte sie im Wesentlichen in ihrem Schlafzimmer. Seine geliebte Mutter unverschuldet so gefangen zu sehen, dürfte Shackleton zu der Erkenntnis gebracht haben, dass er keine Sekunde zu verlieren hatte, wenn er die Welt kennenlernen wollte. Er müsste so bald wie möglich losziehen, denn womöglich träfe ihn eines Tages das Schicksal seiner Mutter und die so aufregend und endlos scheinende Welt würde sich für immer auf die vier Wände seines Schlafzimmers beschränken.

Shackleton hatte zudem aus dem Beispiel seines Vaters gelernt, dass das Vernünftige zu tun, nicht immer ein glückliches Leben garantierte. Alles in allem war er zwar recht komfortabel aufgewachsen, aber Henry Shackleton musste während seiner Karriere als Farmer und Mediziner einige Male hart am Wind segeln. Warum also sollte Shackleton sich einem „vernünftigen“ Beruf unterordnen, wenn dies genauso ungewiss war wie ein aufregender?

Als sein Schulabschluss näher rückte, teilte Shackleton deshalb mit, dass er die Welt auf den Wellen des Ozeans entdecken möchte. Henry Shackleton hatte gehofft, Ernest würde in seine Fußstapfen treten und Arzt werden, doch er wusste auch, wie dickköpfig sein Sohn sein konnte. Widerwillig gab er nach, hatte jedoch einen listigen Plan erdacht. Er war überzeugt, dass Ernest nach seiner Rückkehr von der See bereitwillig zur Medizin wechseln würde, wenn die Zeit auf dem Meer nur unangenehm genug gewesen war. Deshalb suchte er nach der herausforderndsten Ausbildung, die die See zu bieten hatte. Henry Shackleton erinnerte sich, dass sein Cousin, Pfarrer GW Woosnam, der Vorsteher der Mersey Mission der Seeleute in Liverpool war. Ihn bat er, seine Kontakte im Hafen spielen zu lassen. So wurde für Ernest Shackleton eine Koje an Bord der Hoghton Tower gefunden, eines dreimastigen Segelfrachtschiffes. Auf dieser würde er mit einer denkbar derben und rauen Mannschaft einige äußerst tückische Meere besegeln – und all das für nur einen Shilling im Monat. „Keine Frage“, schrieb Shackleton später, „dass mein Vater dachte, er könnte mich von meiner Leidenschaft für die See heilen, indem er mich unter den primitivsten Umständen als ‚Boy‘ an Bord eines Segelschiffes gehen ließ.“ Doch es kümmerte ihn nicht. Endlich war er unterwegs und seine Abenteuer konnten beginnen.

Sofort veränderte sich Ernest Shackletons Arbeitshaltung in der Schule, vor allem in Mathematik, da dies die Basis für Navigation war. Sein Mathematiklehrer berichtete daraufhin Folgendes: „Er ist in jeder Weise zufriedenstellend. Sowohl in seiner Arbeit als auch in seinem Verhalten sind klare Besserungen zu erkennen.“ Aber dies überzeugte Shackleton nicht, seine Schullaufbahn fortzusetzen. Zum frühestmöglichen Zeitpunkt verließ er im April 1890 im Alter von sechzehn Jahren das College. Tage später machte er sich auf den Weg nach Liverpool und begann dort das Erste von vielen Abenteuern. Er war außer sich vor Begeisterung über die Aussicht auf Freiheit und Abenteuer. Dass diese Erfahrung ihn beinahe das Leben kosten würde, konnte er nicht wissen.

KAPITEL 2

Ernest Shackletons erste Tage auf See waren genauso trist und traumatisch, wie sein Vater geplant hatte. Früher hatte er die Boote auf der Themse bewundert und die Menschen darauf beneidet, die Realität sah nun aber ganz anders aus.

Mit 2.000 Tonnen Fracht an Bord brach die Hoghton Tower Richtung Kap Hoorn auf – eine 20.000 Meilen lange Reise, die mitten im Winter der südlichen Hemisphäre durch legendär raue und stürmische Gewässer führte. Diese Route war auch bei idealen Bedingungen der Inbegriff einer gefährlichen Reise und stellte selbst die besten Schiffe auf die Probe. Die Hoghton Tower hatte einst als „prächtiges Exemplar eisernen Schiffbaues“ gegolten und war mit sechzehn Erste-Klasse-Kabinen ausgestattet. Ihre glanzvollen Zeiten lagen jedoch in ferner Vergangenheit. Nun war die Zeit der Dampfschifffahrt angebrochen, und der Dreimaster war ein Relikt, das nur jene Aufträge bekam, die die Dampfschiffe absolut nicht wollten.

Bei heulendem Wind, tobender See, ungeheuerlichen Wellen und sogar Eisbergen mühte sich das alternde Schiff, sich über Wasser zu halten. Mehrere Crew-Mitglieder wurden verletzt, und am Kap Hoorn gingen zwei Rettungsboote verloren. Ernest Shackleton hatte seine Seefestigkeit verlassen. Er verbrachte den Großteil des Sturms mit dem Kopf über der Reling und übergab sich. Aber die Seekrankheit war seine geringste Sorge, seit sie am 30. April 1890 in See gestochen waren. Shackleton war unter mittelständischen Verhältnissen aufgewachsen und katholisch erzogen worden, und so waren die Verhältnisse an Bord schwierig für ihn. Es setzte ihm sehr zu, enge Quartiere mit der oft vulgären und betrunkenen Crew zu teilen. Seine Kameraden empfand er als „niedriger als Tiere“. Die Mannschaft war eine Mischung aus Vagabunden, Opportunisten und gealterten Seeleuten, und jeder hatte eine Geschichte parat, wie Shackleton später in einem Brief an einen Freund erzählte:

„Da ist ein Amerikaner, der aus seinem Land fliehen musste, weil er einen Farbigen getötet hatte; ein anderer, der Vorarbeiter in einem großen Holzbetrieb war … ein anderer hatte eine große Viehfarm … Neulich sah ich, wie ein Mann einem anderen ein Messer bis zum Griff in den Oberschenkel rammte.“ Für einen Burschen, der seine erste Reise ähnlich wie in der Zeitschrift Boy’s Own erwartet hatte, war so etwas ein Schock.

Zu diesem frühen Zeitpunkt muss Shackleton sich gefragt haben, ob das Leben auf See tatsächlich etwas für ihn sei. Vielleicht hatte sein Vater doch recht? In einem anderen Brief an einen alten Schulfreund gab er zu, dass es „ziemlich harte und auch dreckige Arbeit“ war und dass das Leben auf See kein Honiglecken sei. Das wurde noch schlimmer, als die Crew bemerkte, dass der „Junge“ ihr Verhalten missbilligte. Wie schon in der Schule wurde er verspottet und als Spinner bezeichnet. Manche Mitglieder der Crew hielten solch rituelles Verspotten für nötig, um den Grünschnabel abzuhärten, andere hatten einfach Spaß daran, ihren eigenen Frust an jemandem abzulassen, der so verletzlich war.

Da er kaum Gemeinsamkeiten mit der griesgrämigen Crew hatte, war Shackleton oft allein, vergrub sich in Büchern über Abenteuer, Entdeckungen und große Reiche, lernte all seine Lieblingsgedichte auswendig und beschäftigte sich mit der Bibel. „Ich habe in einem Jahr auf See mehr über Literatur gelernt als in sechs Jahren in der Schule“, erinnerte er sich später. Wenn ihn jemand suchte, war deshalb, so berichteten die Kameraden, die häufigste Antwort: „Der alte Shack ist mit seinen Büchern beschäftigt.“

Trotz seiner ruhigen und verschlossenen Natur war der junge Mann kein leichtes Opfer. Als ein Crew-Mitglied ihm ins Bein trat, fiel Shackleton aufs Deck und biss seinem Gegner tief ins Schienbein. Das brachte ihm den widerwilligen Respekt der Mannschaft ein. In Zukunft überlegte es sich jeder zweimal, bevor er sich mit diesem heißblütigen Burschen anlegte.

Als sich das Schiff Chile näherte, gewöhnte sich Shackleton langsam an sein neues Leben. Nach und nach kam er besser mit der Crew zurecht, so wie es auch in der Schule seine Zeit gedauert hatte. Er stellte fest, dass sein großes Wissen über Literatur, Poesie und Religion, insbesondere aber seine Talent im Geschichtenerzählen, auf See ein wertvolles Gut waren. Bald darauf bemerkte der Skipper, dass einige seiner hartgesottenen Männer sich um den Jungen sammelten. Shackleton erzählte eine Geschichte nach der anderen und immer wieder brachen sie in schallendes Gelächter aus. Noch überraschender war, dass einige von ihnen begannen, sich Verse aus der Bibel zu wünschen, und dass der scheinbar tugendhafte junge Mann plötzlich anfing, seine Geschichten mit einer Zigarette im Mundwinkel zu erzählen, ja, sogar hie und da etwas Unanständiges von sich gab. Er fühlte sich immer wohler, und auch sein Selbstvertrauen wuchs. So bewegte sich Shackleton bald problemlos zwischen den verschiedenen Klassen an Bord und erzählte seine Geschichten Kapitän und Mannschaft gleichermaßen. Er hätte das in der Absicht tun können, dadurch an Ansehen zu gewinnen, aber es war klar, dass er lediglich die Gesellschaft genoss, wer auch immer sie sein mochte.

So wurde Shackleton durch seine Erzählungen langsam beliebter bei der Mannschaft. Mindestens genauso schätzte man dort aber eine weitere seiner Eigenschaften: Shackleton übernahm bereitwillig alle harten Jobs. Die Aufgaben waren an sich nicht bemerkenswert, auffällig war, dass er sie stets eifrig erledigte, sei es nun, das Deck zu schrubben, Knoten zu binden, schwere Ladung in und aus dem Stauraum zu verfrachten oder sogar in einem Sturm auf den 45 Meter hohen Mast zu klettern. Nie gab es Kritik oder Beschwerden. Er wollte sich beweisen und erledigte den Job. Shackletons Fleiß machte so großen Eindruck, dass ihn Captain Partridge zum Lohn zum Abendessen mit dem örtlichen Konsul einlud, als das ramponierte Schiff nach fünfzehn Wochen auf See in Valparaiso ankam.

Als die Hoghton Tower fast ein Jahr nach ihrem Aufbruch wieder in Liverpool einlief, beurteilte Shackleton die Reise als „eine der härtesten Ausbildungen“, die man durchmachen konnte. Aber reichte das, um ihn von einer Karriere auf See abzubringen, wie es die Absicht seines Vater gewesen war?

Nach seiner Rückkehr nach Sydenham erfreute er seine Schwestern mit fantastischen Geschichten der Meere, genoss das Essen und sein bequemes Bett. Beiläufig fragte sein Vater nach seinen Zukunftsplänen. Ohne eine Sekunde zu zögern, antwortete Shackleton, dass sich an seinen Absichten nichts geändert hätte. Er wollte weiter zur See fahren und dort so schnell wie möglich die Ränge durchlaufen. Diesmal versuchte Henry Shackleton nicht, ihn davon abzubringen. In seinem Jahr fern der Heimat war sein Sohn ein Mann geworden. Wenn es sein Wunsch war, zur See zu fahren, dann akzeptierte er das. Inzwischen wusste Ernest, worauf er sich einließe.

Captain Partridge wollte ihn gerne zurückhaben. Er behauptete zwar, Shackleton sei „der dickköpfigste, eigensinnigste Junge, der mir je begegnet ist“, zu Pfarrer Woosnam sagte er aber auch, dass er „keine wirklichen Fehler“ hätte. Und so unterzeichnete Shackleton bald einen Vertrag für vier weitere Jahre auf See und war bereit, zur Hoghton Tower zurückzukehren, wenn auch nun mit Captain Robert Robinson am Steuer.

Diese Reise begann im Juni 1891 in Cardiff, und sie war noch härter als die erste. Erneut war das Wetter rund um Kap Hoorn furchterregend. Ein Mann ging verloren, als er über Bord gespült wurde, acht weitere wurden bei Unfällen schwer verletzt. Shackleton litt unter qualvollen Rückenschmerzen, die von einem Monat feuchter Kleidung stammten. Sie zwangen ihn, mehrere Tage in seiner feuchten Koje zu liegen. Dazu kam nach der Ankunft in Chile ein akuter Anfall von Ruhr, was die Reise noch unangenehmer machte. Shackletons größte Schwierigkeit aber war Captain Robinson, der viel strenger war als Captain Partridge.

Knapp ein Jahr später gestand Shackleton seiner Familie, dass er die Hoghton, den Kapitän und den Großteil der Mannschaft hasste. Um seine Aufstiegschancen zu wahren, sollte er aber besser noch eine dritte Reise vollenden. Wenigstens war das Ziel diesmal Indien und nicht Chile. Beinahe aber hätte ihn diese Tour das Leben gekostet.

Plötzlich starb ein Mitglied der Besatzung, und einige der erfahrenen Crewmitglieder hielten dies für ein böses Omen. Während sie sich damit abwechselten, die Ratten von der Leiche fernzuhalten, traf sie etwas südlich des Kaps der Guten Hoffnung ohne jegliche Warnung ein enormer Sturm. Er war so stark, dass keine Zeit blieb, die Segel einzuholen. Verzweifelt versuchte Shackleton am Steuerrad, das Schiff aufrecht und auf Kurs zu halten, da kam eine riesige Welle über die Reling und flutete das Deck. „Die Natur schien ihren Zorn über uns auszugießen“, so empfand Shackleton dieses Naturereignis. Er schnappte nach Luft, um nicht am Salzwasser zu ersticken, da hörte er ein Knacken von oben. Jäh stürzte der Mast herab, genau dorthin, wo Shackleton kurz zuvor noch gestanden hatte. „Es ist ein Wunder, dass ich nicht getötet wurde“, erinnerte er sich später dankbar.

Shackleton hatte noch so manch schweren Sturm zu überdauern, bis er seine Ausbildung schließlich im Juli 1894 abschloss – vier Jahre, nachdem er zu seiner ersten Reise aufgebrochen war. In dieser Zeit hätte er sich von einem ruhelosen, unerfahrenen Jüngling zu einem kräftigen Zwanzigjährigen entwickelt mit dem Selbstvertrauen eines Mannes, der alles überlebt hatte, was der Ozean ihm entgegengestellt hatte. Er war nun muskulös und zielstrebig. Die vielen Monate unter so unterschiedlichen Menschen hatten ihm zudem weiteren Stoff für Geschichten gebracht, die er ausschmückte und in einem richtigen Seemannston zu erzählen verstand.

Obwohl seine letzte Reise auf der Hoghton besonders hart gewesen war, zweifelte Shackleton nicht an der eingeschlagenen Laufbahn – vielleicht auch aus Mangel an Alternativen. Er legte bald darauf die Prüfung zum Zweiten Offizier ab und nahm eine Stelle als Dritter Offizier an Bord der Monmouthshire, eines Trampschiffes der Shire Line, an. Das war ein merklicher Aufstieg von der veralteten Hoghton Tower, insbesondere, weil er auf den regelmäßigen Reisen nach China und Japan den Luxus einer eigenen Kajüte hatte, wo er in Ruhe lesen konnte. 1896 bestand er die Prüfung zum Ersten Offizier, stieg neuerlich auf und arbeitete nun auf der noch komfortableren Flintshire.

Im Alter von dreiundzwanzig Jahren hatte Ernest Shackleton schon viel von der Welt gesehen und er hatte einen anständigen Beruf, wenn auch sein Vater nicht begeistert davon war. Alles deutete darauf hin, dass ihn ein Leben voller Abenteuer auf See erwartete. Doch nun wandte er sein Interesse einem etwas weniger stürmischen Abenteuer zu: dem der Liebe und Romantik.

KAPITEL 3

Im Juli 1897 traf Ernest Shackleton auf Heimaturlaub die Frau, die ihn zu seiner wahren Größe inspirieren würde. Sein Vater pflegte gerade die blühenden Rosen im Sonnenschein Sydenhams, Shackleton aber nahm kaum Notiz von ihnen. Seine Aufmerksamkeit galt zur Gänze einem Gast seiner Schwester. Die Frau war bemerkenswert attraktiv, daran gab es keinen Zweifel. Sie war schlank, brünett, hatte stechend blaue Augen, ein leichtes Lächeln, eine elegante Haltung und zog den jungen Iren völlig in ihren Bann. Als sie von seiner Schwester miteinander bekannt gemacht wurden, erfuhr er ihren Namen: Emily Dorman. Rasch stellte er fest, dass sie sogar noch mehr zu bieten hatte, als es auf den ersten Blick den Anschein hatte.

Emily Dorman war die Tochter eines reichen und erfolgreichen Anwalts, gebildet, intelligent, und sie konnte blitzschnell zwischen Flirt und lebhafter Diskussion wechseln. Sie hatte schon die Aufmerksamkeit vieler Männer gefesselt und insgesamt sechzehn Heiratsanträge abgelehnt. Zu dieser Zeit pflegte man jung zu heiraten. Es war deshalb sehr ungewöhnlich, dass Emily, obwohl schon Ende zwanzig, es vorzog, single zu bleiben. Ganz offenkundig würde sie niemanden akzeptieren, nur damit sie einen Partner hätte. Um sich mit solch einem Schicksal zufriedenzugeben, war sie intellektuell zu eigenständig und unkonventionell. Nur einen Mann, der ihr Herz im Sturm erobern konnte, würde sie in Betracht ziehen.

Shackleton war sechs Jahre jünger als sie und nahm diese Herausforderung gerne an. Er wirkte wahrhaftig verliebt in Emily, aber vielleicht spielte auch sein Abenteuersinn eine Rolle. Wie viele seiner zukünftigen Expeditionen, war ihm Emily eine unbesiegte, unerforschte Eroberung. Viele Männer hatten versucht, ihre Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen, und waren daran gescheitert. Sie würde sich sicher nicht mit Zweitklassigem zufriedengeben. Wenn er ihr Interesse wecken und vielleicht sogar ihre Hand gewinnen wollte, musste er also etwas schaffen, was vielen anderen nicht gelungen war.

Trotz seiner größten Bemühungen, sich von seiner charmantesten Seite zu zeigen, war deutlich, dass Emily nicht von Amors Pfeil getroffen worden war. Sie begrüßte ihn kühl und schenkte ihm gerade so viel Aufmerksamkeit, wie es die Höflichkeit verlangte. Und warum sollte sie auch? Shackleton war nicht nur um einiges jünger als sie, er war auch nur ein einfacher Schiffsoffizier. Zwar hatte er im zarten Alter von dreiundzwanzig Jahren gerade sein Kapitänspatent erhalten, was ihn theoretisch berechtigte, überall auf der Welt das Kommando über ein Handelsschiff zu führen, doch im Vergleich mit den konkurrierenden Verehrern aus der Oberschicht hatte dies nur wenig Gewicht.

Shackleton ließ sich von Emilys abweisendem Verhalten indes nicht abschrecken. Zwar wurde er in seinem Werben von Seereisen unterbrochen, er war aber stets überzeugt davon, dass sie die Frau war, die er heiraten wollte. Immer wenn er von einer seiner vielen Reisen heimkam, fuhr er damit fort, sie zu umwerben. Emily ging zunächst davon aus, dass sie nur der neueste Schwarm eines rastlosen Seemannes sei, musste sich aber bald eingestehen, dass den kräftigen jungen Mann eine faszinierende Aura von Gefahr und Abenteuer umgab.

Nach Monaten, in den Shackleton alles daran setzte, sie zu beeindrucken, willigte Emily schließlich ein, ihn ins British Museum zu begleiten. Zu ihrer Überraschung entdeckte sie unter all den Schmeicheleien einen feinfühligen jungen Mann, der die Kunst liebte, und ganz besonders die Poesie. Shackleton war dank seines Vaters und seiner Zeit auf See sehr versiert auf diesem Gebiet. Emily ihrerseits hatte an der Universität einen Kurs besucht und im Zuge dessen eine Arbeit über Robert Brownings Gedichte Paracelsus und The Ring and the Book geschrieben. Das Motiv des Paracelsus hätte freilich als Warnung vor den Schwierigkeiten in der zukünftigen Beziehung zwischen den beiden dienen können. Es erzählt die Geschichte eines Helden, der die Liebe um der Erkenntnis willen zurückstellt.

Die Liebe zur Poesie verband sie, und so gab Emily Shackleton eine Browning-Biografie als Lektüre auf See mit. Rasch wurde auch er ein begeisterter Verehrer Brownings und schrieb später: „Ich sage dir, in Browning erkenne ich einen beständigen, einen spontanen Optimismus. Kein Dichter ist den Rätseln des Universums je mit einer glänzenderen Antwort begegnet. Er weiß, was das Universum von den Menschen erwartet – Mut, Ausdauer, Vertrauen – Vertrauen in die Güte des Daseins.“ In einem Brief an Emily zitierte Shackleton eine Zeile aus Robert Brownings Gedicht The Statue and the Bust: „Ein Mann sollte bis aufs Äußerste nach dem rechten Preis seines Lebens streben.“ Dies ließ Emily nicht länger daran zweifeln, dass sie die Frau war, die der junge Seemann mehr als jede andere wollte.

Doch kaum hatte Emily sich ihm endlich angenähert, zog sie sich unerklärlicherweise wieder zurück und brachte Shackletons Gefühle völlig durcheinander. Verunsichert zweifelte er auf See in einem anderen Brief an sie an der Zukunft und sah diese „so ungewiss, dass ich es kaum wage, eine Hoffnung zu hegen“.

Als die Flintshire um Weihnachten 1898 zu einer weiteren langen Reise aufbrach, befand sich Shackleton in einem erbärmlichen Zustand. Er war sehr skeptisch, je Emilys Zuneigung gewinnen zu können, und zudem in Sorge wegen allfälliger Konkurrenz. Auf dem auslaufenden Schiff blickte er höchst unglücklich vielen weiteren Monaten ohne sie entgegen und fürchtete, seine Chance verpasst zu haben. Doch das Schicksal verschaffte ihm eine unerwartete Galgenfrist.

Am zweiten Weihnachtsfeiertag lief die Flintshire auf Grund und musste repariert werden. Shackleton verließ das Schiff und begab sich umgehend zum Haus der Dormans. Das war seine Chance, und so warf er alle Bedenken über Bord und gestand Emily in der Ungestörtheit des Billardzimmers seine Liebe. Zum ersten Mal konnte Emily erkennen, dass der junge Seefahrer tatsächlich meinte, was er sagte. Plötzlich schien eine gemeinsame Zukunft nicht mehr so abwegig.

Ein großes Hindernis galt es jedoch zu überwinden, bevor Shackleton und Emily heiraten konnten: ihren Vater. Es war keinesfalls so, dass Charles Dorman Shackleton nicht mochte. Im Gegenteil, er fand ihn eine höfliche und charmante Gesellschaft. Auch kam er, wie seine Tochter, aus einer mittelständischen Familie. Das Problem war seine Berufswahl. Ein Leben auf See hatte wenig mit dem eines Arztes oder Anwalts zu tun. Seeleute waren weniger angesehen, schlechter bezahlt und immer wieder monatelang fern von zu Hause. Shackleton war ihm zwar sympathisch, doch für seine Tochter wünschte er sich ein anderes Leben. Sie hatte in der Vergangenheit schon weitaus vorteilhaftere Verehrer abgelehnt.

Trotz dieser Vorbehalte blieb Shackleton in Kontakt mit der Familie. Wenn er nicht auf See war, verbrachte er weiterhin viele Wochenenden auf dem Hof der Dormans in East Sussex. Er wurde auch zu Dinnerpartys eingeladen. Stets bemühte er sich, bei seinem potenziellen Schwiegervater einen guten Eindruck zu hinterlassen. So erinnerte sich Emilys Nichte, dass „er so nett zu den Dienstmädchen war, wenn sie servierten, dass sie fast die Sachen fallen ließen, weil er sie so zum Lachen brachte“.

Eine Anekdote aber verdeutlicht Shackletons stete Sorge, dass er nicht entsprechen könnte. Während einer Zugfahrt zu den Dormans unterhielt er sich mit einem Antiquitätenhändler, der, wie er herausgefunden hatte, eine Auktion im Haus der Dormans besuchen wollte. Als dieser ihn fragte, was er von dem alten Mann zu bekommen hoffte, antwortete Shackleton: „Seine Tochter – hoffentlich.“

Ich kann Shackletons missliche Lage nur zu gut nachvollziehen. Auch ich hatte als junger Mann mein Auge auf meine spätere Frau Ginny geworfen, die ich kannte, seit wir beide Kinder waren. Auch ihr Vater wollte seine wunderschöne Tochter verständlicherweise beschützen, vor allem vor Menschen wie mir. Wie Shackleton schien ich wenig zu bieten. Ich hatte zwar Eton, eine der teuersten Privatschulen der Welt, besucht, aber ich war akademisch nicht sonderlich begabt und auf dem besten Weg zu einer Karriere im Militär. Ginny dagegen hatte ein Mädcheninternat besucht und hätte jeden Mann haben können, den sie wollte. Nach einer Reihe von Vergehen, die darin gipfelten, dass ich versucht hatte, das Filmset von Dr. Dolittle in die Luft zu jagen, verbot Ginnys Vater ihr, mich zu treffen. Meiner Mutter gegenüber bezeichnete er mich als verrückt und böse und dass es gefährlich sei, mich zu kennen. Doch das hielt mich nicht auf, denn ich wünschte mir nichts sehnlicher, als dass Ginny und ich zusammenkämen. Nachdem wir verheiratet waren, dauerte es viele Jahre, bis ihr Vater mich halbwegs akzeptierte. Doch auch er hatte eingesehen, dass ich, wie Shackleton, fest entschlossen war, meinen Weg zu gehen. Dass Ginny meine Liebe erwiderte, war natürlich eine große Hilfe.

Während ich mich also eher wie ein Elefant im Porzellanladen verhielt, zeigte Shackleton sich um einiges geschickter darin, seinen Schwiegervater zu beeindrucken. Ihm war klar, dass er mehr bieten musste als ein Leben auf See, wenn er Emily würdig werden und die Zustimmung ihres Vaters erlangen wollte. Bei einer Unterhaltung mit James Dunsmore, dem Ingenieur der Flintsmith, sagte Shackleton: „Schau, solange ich bei dieser Gesellschaft bleibe, werde ich nie etwas Besseres sein als Kapitän. Aber ich glaube, dass ich das Zeug zu mehr habe. Ich würde mir gerne einen Namen machen, für mich selbst – und auch für sie.“

In diesem Bewusstsein kündigte Shackleton, bald nachdem er Emily im dormanschen Billardzimmer seine Liebe gestanden hatte, seinen Vertrag mit der Shire Line und machte sich auf die Suche nach einem Job mit mehr Renommee. Er fand ihn bei der Union-Castle Line, einer angesehenen Transportgesellschaft, deren 5.000-Tonnen-Passagierschiff Tantallon Castle das Beste vom Besten war. Sie bot unüberbietbaren Luxus und beherbergte deshalb oft das Who’s Who der britischen Gesellschaft. Shackleton diente dort auf drei Reisen nach Südafrika als Vierter Offizier und bemerkte schnell, dass eine solche Umgebung viel passender für seine Pläne war. Zusätzlich zu der Bestätigung, dass er Emily vielleicht doch entsprechen könnte, öffnete ihm die neue Funktion viele Türen.

Shackleton war mit einem natürlichen Selbstvertrauen ausgestattet. Inzwischen war ihm durchaus bewusst, dass er die seltene Gabe hatte, sich bei den Menschen beliebt zu machen. Das wollte er zu seinem Vorteil nutzen. Während er auf seinen früheren Reisen diese Fähigkeit eingesetzt hatte, um mit der Besatzung der Hoghton Tower zurechtzukommen, setzte er sich nun zum Ziel, in der High Society Fuß zu fassen.

Er perfektionierte seine chamäleonartige Fähigkeit, sein Wesen und seine Erzählungen der jeweiligen Zuhörerschaft anzupassen. Schnell konnte er zwischen dem schelmischen irischen „Mickey“, dem heißblütigen Seemann und dem Mittelklasse-Gentleman mit eindrucksvollem Weltwissen wechseln. Alle zog er in seinen Bann, die seinen Weg kreuzten. Mal zitierte er Gedichte, mal brachte er die derberen Geschichten aus dem Matrosenleben. Es war ihm ein Leichtes, sich auch in neuer Umgebung schnell wohlzufühlen. Sein durchdringender Blick und seine ansteckende Begeisterung machten Eindruck, und so berichtete einer der Kapitäne der Union-Castle Line über ihn:

Seine Augen waren hell und seine Blicke schnell […] Wenn ein Thema ihn interessierte, veränderte sich seine Stimme, sie wurde tiefer, nahm einen dynamischen Ton an, seine Augen leuchteten, und er zeigte diese entschlossene, selbstsichere, furchtlose und bestimmende Persönlichkeit, die ihn später zu einem Anführer machen würde, dem Männer gehorchten und ohne zu zögern folgten.

Wohlhabende Geschäftsmänner waren nicht immer leicht zu beeindrucken, aber Shackletons Wesen entwaffnete sie schnell. Er tat es mit einer solchen Leichtigkeit und Selbstverständlichkeit, dass niemand auch nur auf die Idee kam, es könnte etwas anderes dahinterstecken als reine Freundlichkeit. Aus welcher Gesellschaftsschicht Shackletons Gegenüber dabei kam, spielte üblicherweise keine Rolle. Seine Gegenwart war an den meisten Tischen der Tantallon Castle höchst willkommen. Dass er nur ein Besatzungsmitglied war, fiel dabei nicht ins Gewicht. Einer seiner Verehrer war der Stahlmagnat Gerald Lysaght. Er wurde später ein großer Unterstützer Shackletons.

Der Luxus und die illustre Gesellschaft blieben ihm aber nicht lange erhalten. Im Oktober 1899 brach ein Krieg zwischen den Briten und den Afrikaans sprechenden Siedlern in Südafrika aus. Shackleton wurde zum Dritten Offizier auf dem 3.500-Tonner Tintagel Castle befördert, die reichen Gäste aber wichen Tausenden Soldaten, die nach Südafrika transportiert werden sollten, um gegen die Guerillakämpfer der Buren vorzugehen. Unter jenen, die dem Aufruf zu dieser Mission gefolgt waren, befand sich auch Shackletons jüngerer Bruder Frank.

Am 14. Dezember 1899 brach die Tintagel Castle von Southampton aus in Richtung Kap auf. An Bord waren 1.200 Soldaten und die große Hoffnung auf ein rasches Ende des Krieges. Das Niveau der Passagiere mochte nun zwar sehr anders sein, aber das hielt Shackleton nicht davon ab, jeden, den er traf, zu bezaubern und zu unterhalten. Sein Talent im Geschichtenerzählen war immer gefragt, schon gar bei Tausenden rastlosen jungen Männern, die Kurzweil gut vertragen konnten. So organisierte Shackleton zusätzlich Sportaktivitäten und Konzerte. In seiner Freizeit las er wie immer eifrig. Das fiel auch einem Freund auf. Er berichtete, dass Shackletons Kajüte „ein Bücherregal hat, das auf einen belesenen Besitzer hinweist, denn ich habe dort Shakespeare, Longfellow, Darwin und Dickens gesehen“.

Der Krieg in Südafrika entwickelte sich jedoch nicht wie geplant. Bereits in den ersten Wochen des Konflikts wurden mehr als 3.000 britische Soldaten getötet, verwundet oder gefangen genommen. So musste die Tintagel Castle gemeinsam mit Shackleton schnell neuerlich zum Kap fahren, um weitere Soldaten für das Schlachtfeld zu liefern.

Shackleton gehörte immer zu jenen, die auch in dunklen Zeiten stets einen Schimmer Hoffnung sehen. In seinem ständigen Bestreben, sich einen guten Ruf zu verschaffen, um Emily und ihren Vater zu beeindrucken, kam ihm eine Idee. Gemeinsam mit dem Schiffsarzt William McLean und anderen Kameraden erstellte er ein Büchlein über ihre Reisen nach Südafrika. Es trug den Titel OHMS or How 1.200 Soldiers Went to Table Bay. Zweitausend Abonnenten erwarben begierig Kopien davon, die für zwei Shilling und sechs Pence verkauft wurden. Auch Auszüge aus Shackletons Lieblingsgedichten waren darin enthalten. Er war so stolz auf dieses Bändchen, dass er sogar ein speziell gebundenes Exemplar an Königin Victoria sandte. Seine größte Freude aber war es, Emily eine Ausgabe überreichen zu können. Sie trug folgende Widmung: „E an E Juli 1900 Die ersten Früchte.“

Trotz des Erfolgs des Buches und seiner ausgezeichneten Arbeit bei der Union-Castle Line, lässt diese Inschrift erkennen, dass Shackleton immer noch das Gefühl hatte, nicht gut genug für Emily zu sein. Zusätzlich fürchtete er die Konkurrenz anderer Bewerber während seiner langen Seereisen und litt sehr darunter:

Ich vermute, es ist die Art jedes Mannes, eine Frau ganz für sich allein zu wollen … Früher sagte ich: ‚Liebe mich nur ein bisschen, nur ein bisschen‘ und nun, wo ich älter werde, sage ich: ‚Liebe mich und nur mich allein.‘ […] Ich habe das Gefühl, dass unsere Geschichte aus all den Geschichten von Liebe und Kummer hervorsticht, denn es gab keine Hoffnung am Anfang und auch jetzt nicht.

Glücklicherweise bot sich bald eine Möglichkeit, dass Shackleton sich seinen Traum erfüllen und an einem wirklich eindrucksvollen Projekt teilnehmen konnte. Das würde Emily und ihrem Vater sicher imponieren. Allerdings bedeutete dies eine Reise auf die andere Seite der Welt, zu einem Ort, den noch kein Mensch je betreten hatte.

TEIL 2

„Eine Seele, vom Fernweh getrieben“

KAPITEL 4

Im Sommer 1900 stach Ernest Shackleton eine Anzeige ins Auge: Die Royal Geographical Society (RGS) finanzierte unter der Leitung von Robert Scott, Lieutenant der Royal Navy, eine Expedition in die Antarktis und benötigte dafür eine geeignete Besatzung. Shackleton war sofort interessiert. Er hatte zwar weder Erfahrung in der Wissenschaft noch in Entdeckungsreisen, aber das war genau die Art von Chance, auf die er sein Leben lang gewartet hatte.

Die Gelegenheit, einen Kontinent zu erforschen, von dem es kaum Karten gab, war wie eine Geschichte aus dem Boy’s Own und versprach außerdem Abenteuer, Ruhm und Reichtum. Da das britische Empire im Wettrennen mit Amerika und Deutschland nach Landgewinnen strebte, würde zudem wohl jeder, der einen so unerforschten Kontinent wie die Antarktis erobern und für Königin und Vaterland beanspruchen konnte, viele Jahre lang als Held gefeiert werden. Mehr noch als die tatsächliche Erkundung der Antarktis war dies Shackletons Hauptmotivation. Der Arzt der Expedition, Louis Bernacchi, erinnerte sich später, dass Shackleton „keinerlei Interesse an vorangegangenen Erkundungen der Antarktis zeigte“ und ausschließlich „auf Ruhm und Abenteuer bedacht“ war. Einer seiner ehemaligen Kameraden bei der Union-Castle Line konnte das bestätigen: „Was ihn anzog, war die Möglichkeit, der Monotonie und Routine zu entkommen – einer Existenz, die irgendwann seine Persönlichkeit ersticken würde. Er sah, wie langsam er durch die Ränge stieg, und wollte nicht seine besten Mannesjahre mit endlosem Warten verbringen.“ Shackletons erster Biograf, Hugh Robert Mill, fügte später hinzu, dass die Antarktis für ihn „nicht mehr als eine günstige Gelegenheit“ war.

Einer der Hauptbeweggründe war natürlich, dass Shackleton mit dieser Unternehmung die Gelegenheit bekommen würde, Emily endlich von sich zu überzeugen. Seine Tochter Cecily sagte später über diese Zeit, in der ihr Vater sich so sehr um Emily bemühte: „Er wollte ihr die Welt zu Füßen legen und sich als dieser sehr reizenden […] Frau würdig erweisen, die so glänzende blaue Augen und ein so wundervolles Lächeln hatte. […] Er wollte ihr etwas zu Füßen legen und sagen: ‚Hier, schau, du hast einen Mann geheiratet, der seinen eigenen Weg gewählt hat, und das sind die Früchte davon.‘“

Voll Enthusiasmus bewarb sich Shackleton im September 1900 offiziell für die Expedition. Vielleicht hätte er es sich anders überlegt, wenn er sich Zeit genommen hätte, sich mit dem Schicksal der vielen vorangegangenen Expeditionen ins Eis vertraut zu machen.

Der südliche Polarkreis war erstmals im Jahr 1773 von Captain James Cook überquert worden. Den Kontinent selbst sah dieser jedoch nie. Sein Schiff, die Resolution, wurde von hunderten Meilen Packeis an der Weiterfahrt gehindert. Das Festland wurde erstmals im Jahr 1820 gesichtet, in den Jahren 1820 bis 1821 umrundete Fabian Gottlieb von Bellingshausen den Kontinent, doch erst in den 1840er-Jahren gelang es den Schiffen Erebus und Terror der Royal Navy, das Packeis zu durchbrechen und gründlicher zu erkunden. Diese Ehre kam James Clark Ross und Francis Crozier zu, die sowohl den magnetischen Südpol ungefähr definieren als auch erstmals geografische Merkmale kartografieren konnten, einschließlich Rossmeer, McMurdo-Sund und der Großen Eisbarriere, die heute als Ross-Schelfeis bekannt ist. Bald darauf stoppte eine desaströse Expedition der Royal Navy in den arktischen Norden für dreißig Jahre alle weiteren britischen Polarerforschungen.

Die Katastrophe ereignete sich während Sir John Franklins Expedition im Jahr 1845, die den letzten unbefahrenen Teil der Nordwestpassage in der kanadischen Arktis kartografieren wollte. Franklins Schiffe Erebus und Terror blieben beide im Eis stecken. Verzweifelt ausgesandte Rettungsmannschaften, die nach den vermissten 129 Männern suchten, blieben erfolglos. Alle waren gestorben. Als Folge der Katastrophe und auch der enormen Kosten der Rettungsmissionen, die sich auf mehr als 700.000 Pfund (heute 40 Millionen Pfund) beliefen, waren Entdeckungsreisen zum gefährlichsten Kontinent der Erde in den folgenden Jahren selten. Erst 1874 kehrte mit Sir John Murrays Challenger-Expedition ein britisches Schiff wieder in den Süden zurück und überquerte den südlichen Polarkreis. Dennoch blieben viele Fragen unbeantwortet: War der Kontinent eine riesige Landmasse, eine Kette von Inseln oder nur ein enormer Eisblock? Man wusste so wenig, dass es genauso gut der Mars hätte sein können – oder wie The Daily Express später kommentierte: „Seine Umgebung bleibt eine Art der Stille, des Nebels und vager Schrecken.“

Wegen des mangelnden Fortschritts bei der Beantwortung dieser Fragen wurde der Ozeanograf Sir John Murray zunehmend frustriert. Er hatte als Naturwissenschaftler auf der Challenger gedient. Da die Erinnerungen an das Desaster der Franklin-Expedition langsam verblassten, wandte er sich 1893 an die Royal Geographical Society und drängte darauf, die Erforschung der Antarktis wieder aufzunehmen. Unter den Zuhörern befand sich der äußerst interessierte, betagte Sir Clements Markham, der Präsident der RGS. Er war ein ehemaliges Mitglied der Royal Navy und im Jahr 1850 auf der Suche nach der Franklin-Expedition selbst in der Arktis gewesen. Inspiriert von Murrays Aufruf, wurde er ein glühender Verfechter der Idee, dass Großbritannien die wieder angestoßene Entdeckung der Antarktis anführen sollte.

Markham machte sich sofort daran, einen Plan für die sogenannte National Antarctic Expedition unter der Führung der Royal Navy zu erstellen. Als erster Schritt sollte sich ein Schiff einen Weg durch das Packeis bahnen und einen geeigneten Ankerplatz finden, an dem die Besatzung den Winter an Bord des Schiffes verbringen könnte. Im Sommer würde die Mannschaft der Royal Navy dann „den antarktischen Kontinent auf dem Landweg erkunden, um seine physischen Merkmale und, am wichtigsten, die Natur seines Gesteins zu untersuchen und Fossilien zu finden, die dabei helfen können, seine geologische Geschichte zu verstehen“. Vom Erreichen des Südpols war zu diesem Zeitpunkt nicht die Rede, aber es war Markhams größte Hoffnung, dass diesen Heiligen Gral ein Brite der Royal Navy beanspruchen würde.

Im Jahr 1895 wurde Markhams Vorhaben auf der Sechsten Internationalen Geografischen Konferenz in London bewilligt. Der Kongress bezeichnete es als das „größte Stück geografischer Entdeckung, das noch unternommen werden muss“. Seine Ergebnisse würden „fast jedem Zweig“ der Wissenschaften zugutekommen. Andere waren weniger enthusiastisch.

Als sich abzeichnete, dass für die Expedition mehr als 100.000 Pfund (heute 6 Millionen Pfund) aufgebracht werden müssten, hielt Markham es für klug, sowohl den Premierminister als auch die Admiralität als auch die Royal Society – die britische Akademie der Wissenschaften – zu involvieren. Manche hemmte immer noch die Erinnerung an das tragische Schicksal und die Kosten der Franklin-Expedition, andere beriefen sich auf die hohen Summen, die gerade für die Modernisierung der Navy-Flotte nötig waren, vor allem, weil die deutsche Flotte üppig wuchs und verbessert wurde. Daher sei kein Geld für solch eine verrückte Idee vorhanden.

Ein weiteres Hemmnis waren interne Machtkämpfe zwischen Politikern, der Navy, der RGS und der Royal Society, die alle unterschiedliche Vorstellungen von den spezifischen Zielen der Expedition hatten. Während die einen das Gewicht auf den Ruhm der Entdeckung und Beanspruchung unentdeckter Gebiete für Königin und Vaterland legen wollten, hielten die anderen eine wissenschaftliche Mission für weitaus wichtiger. Solche Unstimmigkeiten erschwerten es Markham noch zusätzlich, das benötigte Geld zu sammeln und mit dem Projekt voranzukommen. Die Zeit verstrich, und er musste den anderen Ländern und Entdeckern vorläufig tatenlos dabei zusehen, wie sie ihn und Großbritannien im Wettlauf um den Südpol hinter sich ließen.

Im Jänner 1895 behauptete der Norweger Carsten Borchgrevink, als erster Mensch den antarktischen Kontinent betreten zu haben. Drei Jahre später wurden die Teilnehmer einer belgischen Expedition unfreiwillig die Ersten, die den Winter auf dem Kontinent verbrachten. Ihr Ziel war es gewesen, den südlichen Polarkreis zu überqueren, doch ihr Schiff, die Belgica, wurde im Eis gefangen.

Ganz besonders hart traf es Markham, als eine rivalisierende britische Expedition 1898 in die Antarktis loszog. Die sogenannte Southern-Cross-Expedition wurde vom britischen Zeitschriftenverleger Sir George Newnes privat finanziert und war ein enormer Erfolg. Ihre Mitglieder waren die Ersten, die auf dem antarktischen Festland überwinterten, und die Ersten, die seit der bahnbrechenden Expedition von Sir James Clark Ross 1839 bis 1843 das Große Schelfeis untersuchten. Zudem bereiteten sie den Weg für die Nutzung von Hunden und Schlitten bei Reisen in der Antarktis. Vermutlich torpedierte dies Markhams Pläne für seine eigene Expedition. Sie lief inzwischen unter dem Namen Discovery.

Das Ende des Jahrhunderts näherte sich, und Markham hatte immer noch lediglich 14.000 Pfund gesammelt und keinerlei Aussichten auf weitere Spenden. Die Regierung und die Royal Society blieben desinteressiert, und es war auch kein privater Sponsor wie Newnes aufgetaucht. Gleichzeitig kündigte die deutsche Regierung die Finanzierung der Gauss-Expedition in die Antarktis an. Markham war knapp daran zu resignieren, da wurden seine Gebete doch noch erhört: Der reiche Fabrikbesitzer Llewellyn Longstaff spendete 25.000 Pfund (heute 1,5 Millionen Pfund) für das Projekt. Kurz darauf willigte der Prinz von Wales, der zukünftige König Edward VII., ein, die Schirmherrschaft über die Expedition zu übernehmen. Sein Sohn, der zukünftige George V., sollte Vize-Schirmherr werden. Ich weiß aus eigener Erfahrung sehr gut, wie wertvoll eine königliche Schirmherrschaft sein kann. 1972 versuchten meine Frau Ginny und ich, die wir nur sehr wenig Erfahrung mit Expeditionen hatten, Geld für unsere Transglobe Expedition zu sammeln. Wir benötigten etwa 30 Millionen Pfund, bestehend aus Spenden und Förderungen. Zu diesem Zeitpunkt besaßen wir 210 Pfund auf der Bank, einen gebrauchten Kleinbus und eine mit einer hohen Hypothek belastete Doppelhaushälfte in der Nähe der Hammersmith-Brücke. Unser einziges Einkommen waren meine unregelmäßigen Gehaltschecks als Reservesoldat der Armee. Unser Traum schien also bestenfalls unrealistisch. Dennoch schafften wir es zu unserer Überraschung – und der anderer –, eine große Summe Geld zu sammeln. Doch erst 1978, als Prinz Charles uns seine königliche Unterstützung zusicherte, nahmen uns die Menschen wirklich ernst. Auch ist es dem Prinzen zu verdanken, dass wir einen Vertrag mit Mobil Oil abschließen konnten, als wir ernsthafte Schwierigkeiten hatten, jemanden zu finden, der unseren Treibstoff in der Höhe von einer Million Pfund finanzieren würde. Prinz Charles wurde danach der Schirmherr vieler weiterer meiner Expeditionen, was mir viele Türen öffnete. Er war mir wirklich eine große Hilfe, ja, er gab mir sogar Ratschläge, wen ich für meine Mannschaft wählen sollte. Kurz und gut, auch Markham durfte nun erfahren, wie wertvoll das Wohlwollen des Königshauses sein kann. Denn sobald sein Projekt die Unterstützung des Kronprinzen hatte, konnte auch die Regierung ihm nicht länger Mittel verweigern. Sie bot Markham 45.000 Pfund an – unter der Bedingung, dass er den Rest aus privaten Quellen beziehen müsse.

So näherte sich Markhams Traum mit großen Schritten der Verwirklichung. Jäh geriet die Umsetzung aber wieder ins Wanken, denn das Hauptziel der Expedition war nach wie vor ein Streitpunkt zwischen Markham und der Royal Society, und dieses Thema trat nun in den Vordergrund. Markham wollte den Fokus auf die geografische Erkundung legen, den unbekannten Kontinent erforschen und kartografieren. Die Royal Society hingegen bevorzugte ein überwiegend wissenschaftliches Vorgehen mit der Untersuchung von Gestein, Mineralien und anderen Dingen. Markham hatte diese Differenz bisher recht gut ausbalancieren können. Als es nun aber darum ging, wer die Expedition leiten sollte, prallten die verschiedenen Ansichten deutlich aufeinander.

Die Society bevorzugte Professor John Walter Gregory, einen bekannten Geologen und Entdecker. Markham dagegen schlug Robert Falcon Scott vor, einen 31-jährigen Leutnant eines Torpedobootes der Royal Navy. Der junge Mann war Markham das erste Mal während eines Rennens zwischen zwei Marineschiffen in der Karibik aufgefallen und hatte großen Eindruck auf ihn gemacht, wie er selbst berichtete: „Ich war beeindruckt von seiner Intelligenz, seinem Wissen und seinem Charme.“ Scott fehlte allerdings jegliche Erfahrung im Eis und er hatte auch noch nie eine Expedition angeführt. Dennoch war Markham fest entschlossen, ihn anzuheuern. Er stellte sich so lange quer und beharrte auf seinem Willen, bis die Society nachgab.

So wurde Lieutenant Scott als Leiter der Expedition eingesetzt und hatte nun die Aufgabe, eine Mannschaft zusammenzustellen. Shackleton hoffte, ein Teil davon zu werden, um Ruhm, Reichtum und Emilys Hand zu gewinnen. Doch als Scott seine Bewerbung erhielt, las er sie genau durch und warf sie in den Papierkorb – und mit ihr alle Hoffnungen und Träume des jungen Seemannes.

KAPITEL 5

Shackleton war am Boden zerstört, als er erfuhr, dass seine Bewerbung abgelehnt worden war. Er hatte gehofft, mit seiner Seeerfahrung problemlos einen Platz auf der Discovery zu bekommen. Aber die fehlende Expeditionserfahrung und der Umstand, dass er nicht der Royal Navy angehörte, waren offenkundig ein schwerwiegendes Manko. Diese Tür war also zugefallen. Wenn er seinen Traum verwirklichen wollte, musste er sich etwas Neues einfallen lassen. Obwohl – vielleicht gab es ja doch noch eine Chance für ihn! Als er nämlich erfuhr, dass Llewellyn Longstaff einen Großteil der Expedition finanziert hatte, erinnerte er sich an dessen Sohn Cedric. Ihn hatte er auf seinen Reisen nach Südafrika kennengelernt. Shackleton nutzte diese Verbindung, um einen Fuß in die Tür zu bekommen, und arrangierte ein Treffen mit Cedrics Vater in dessen Haus im Londoner Vorort Wimbledon.

Nun machten sich auch seine Erfahrungen im Umgang mit der gehobenen Gesellschaft bezahlt. In Llewelyn Longstaff fand er zudem glücklicherweise einen Gleichgesinnten, der die Aussicht auf Risiken und Abenteuer genauso zu lieben schien wie er. Shackleton zeigte sich von seiner charmantesten Seite und konnte den reichen Geschäftsmann so dazu bringen, ihn Markham persönlich zu empfehlen.

Markham hatte vor, die gesamte Besatzung der Discovery aus Männern der Royal Marine zusammenzustellen. Das würde ihm deren bewährte Disziplin garantieren. Aber er konnte Longstaffs Bitte nicht ablehnen, vor allem, da abzusehen war, dass die Expedition in Zukunft weiteres Geld benötigen würde. So fand sich Shackletons Bewerbung erneut auf Scotts Schreibtisch – und diesmal hatte er mehr Glück.

Da Scott mit den Vorbereitungen sehr beschäftigt war, bat er Albert Armitage, seinen 36-jährigen Stellvertreter, sich Shackletons Bewerbung anzusehen. Dieser war beeindruckt von Shackletons Erfahrungen, zusätzlich fiel ihm etwas auf, was Scott nicht beachtet hatte. Die Discovery, das Schiff der Expedition, war einer der letzten traditionellen Dreimaster, die in Großbritannien gebaut wurden. Aktuell kamen zunehmend modernere, mit Kohle angetriebene Dampfschiffe zum Einsatz. Shackleton aber war durch seine Zeit auf der Hoghton Tower einer von nur wenigen Bewerbern, der Erfahrungen mit einem solchen Schiff hatte.

Armitage wusste auch, dass eine derartige Expedition Teilnehmer mit besonderen Wesenszügen benötigte. Es gab keinen Platz für Unruhestifter und Leute, die sich vor der Arbeit drückten. Jeder musste sich anpassen und seinen Teil leisten. Deshalb erkundigte sich Armitage bei Shackletons Arbeitgeber, der Union-Castle Line, über ihn. Als er dort die Auskunft bekam, Shackleton sei ein „sehr guter Bursche“ und „klüger als der Durchschnittsoffizier“, war dies genau das richtige Argument, um Scott zu überzeugen, dass es vorteilhaft wäre, Shackleton in der Crew zu haben.

Bei seiner Rückkehr nach England auf der Carisbrooke Castle Anfang 1901 erfuhr Shackleton, dass Scott seine Bewerbung angenommen hatte. Er würde als Junior Officer für das Verwalten des Proviants und das Zusammenstellen der Schiffsbibliothek zuständig sein. Dafür erhielt er die bescheidene Summe von 250 Pfund pro Jahr (heute etwa 15.000 Pfund). Trotz der geringen Bezahlung war er begeistert, denn für ihn war ein solcher Job viel mehr wert als Geld. Zwar behauptete er Emily gegenüber, dass er dies alles nur für sie mache, aber sie war zu klug, um das zu glauben. „Er sagte immer wieder, er sei mit der Discovery mitgefahren, um für mich etwas Besonderes zu leisten!“, schrieb sie. „Es war nett von ihm, das zu sagen, aber er tat es nicht nur für mich – dahinter stand sein eigener Geist, eine vom Fernweh getriebene Seele.“

Kaum war Shackleton in Scotts Büro in London eingetroffen, bemühte er sich darum, bei jedem, der ihm über den Weg lief, einen guten Eindruck zu hinterlassen, gleichgültig ob dieser zur Royal Navy oder zur Handelsmarine gehörte oder einer der fünf Wissenschaftler war, die sich ebenfalls mit ihnen auf die Reise machen sollten. Dank seiner redseligen und geselligen Art saß er gleichermaßen mit den jungen Seeleuten bei Zigaretten, Bier und dreckigen Geschichten in der Kneipe, wie er sich unter die Wissenschaftler mischte und alles über sie und ihre Tätigkeit zu lernen versuchte. James Dell, ein junger Matrose auf der Discovery, beschrieb Shackleton als „sowohl Bug als auch Heck“, während der Steward Clarence Hare ihn als „sehr kontaktfreudig“ in Erinnerung hatte.

Shackletons Charme brachte der Expedition auch einiges Geld ein. So leitete er einmal eine Führung auf der Discovery, an der auch Elizabeth Dawson-Lambton, eine unverheiratete, reiche ältere Dame, teilnahm. Sie war so begeistert von Shackleton, dass sie 1.000 Pfund zur Expedition beisteuerte. Dieses Geld wurde sogleich in einen Wasserstoffballon investiert, etwas, wozu Sir Joseph Hooker, das letzte noch lebende Mitglied der Ross- und Crozier-Expedition, geraten hatte. Denn solch ein Ballon würde auch dann einen unvergleichlichen Blick auf die Küstenlinie des unerforschten Kontinents erlauben, wenn die Truppe nicht so weit reisen könnte, wie sie es gerne würde.

Aber nicht jeder erlag Shackletons Charme. Der Arzt Louis Bernacchi, der in der Antarktis zum Magnetismus forschen sollte, war diesbezüglich besonders harsch und hielt fest: „Seine Neigung zum Spott, dazu, seine Kumpanen zu necken, konnte peinlich und manchmal lästig sein.“ Wie schon auf der Hoghton Tower stimmten jedoch auch jene, die dem Charakter des immer heiteren und scherzenden Iren nichts abgewinnen konnten, darin überein, dass er hart arbeitete. Oft sah man ihn, wie er Kisten die Stiegen hinauf- oder hinunterschleppte, sie hoch stapelte, um Platz zu sparen, und sie wog, um sicherzustellen, dass sie nicht schwerer als 25 Kilogramm waren, damit man sie in der Antarktis problemlos wieder abladen konnte. Shackletons Enthusiasmus und Engagement waren ansteckend. Markham beschrieb ihn als ein „Wunder intelligenter Energie“, und sogar der kritische Bernacchi musste zugeben, dass er „voll von glänzenden neuen Ideen“ war. Scott, dem Shackleton mehr als jedem anderen imponieren wollte, war ebenfalls beeindruckt und lobte ihn dafür, immer „überschäumend von Enthusiasmus und guter Kameradschaft“ zu sein.