Eroberer - Timothy Zahn - E-Book

Eroberer E-Book

Timothy Zahn

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Beschreibung

Die Invasion hat begonnen

Wir schreiben das 23. Jahrhundert. Eine lange Ära des Friedens in der Galaxis kommt abrupt zu einem Ende, als unbekannte Raumschiffe einen Geleitzug des Commonwealth – des Planetenbundes der Menschen und anderer humanoider Völker – attackieren. Offiziell gibt es keine Überlebenden, doch die Zhirrzh, die sich die „Eroberer“ nennen, haben einen Mann als Geisel genommen: Commander Pheylan Cavanagh, den Sohn eines hochrangigen Politikers. Sie wollen Informationen von ihm, denn das nächste Ziel der Eroberer ist die Erde. Es fällt einer kleinen Elitetruppe, den Copperheads, zu, Cavanagh zu befreien, und so die Heimat der Menschen von der unaufhaltsam vorrückenden feindlichen Flotte zu retten …

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Seitenzahl: 598

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Das Buch

Wir schreiben das 23. Jahrhundert. Eine lange Ära des Friedens in der Galaxis kommt abrupt zu einem Ende, als unbekannte Raumschiffe einen Geleitzug des Commonwealth – des Planetenbundes der Menschen und anderer humanoider Völker – attackieren. Offiziell gibt es keine Überlebenden, doch die Zhirrzh, die sich die »Eroberer« nennen, haben einen Mann als Geisel genommen: Commander Pheylan Cavanagh, den Sohn eines hochrangigen Politikers. Sie wollen Informationen von ihm, denn das nächste Ziel der Eroberer ist die Erde. Es fällt einer kleinen Elitetruppe, den Copperheads, zu Cavanagh zu befreien, und so die Heimat der Menschen von der unaufhaltsam vorrückenden feindlichen Flotte zu retten …

Der Autor

Timothy Zahn wurde 1951 in Chicago geboren, lebt in Oregon und ist heute einer der beliebtesten Science-Fiction-Autoren der USA. Sein bekanntestes Werk ist die Thrawn-Trilogie, die mehrere Jahre nach dem Ende von Die Rückkehr der Jedi-Ritter spielt und die Geschichte des Star-Wars™-Universums in eine neue Zeit vorantreibt (Expanded Universe). Diesen Büchern folgte eine Reihe weiterer Star-Wars™-Romane. Für seine Novelle Cascade Point wurde Zahn mit dem renommierten »Hugo Award« ausgezeichnet.

Eine Übersicht der im Heyne-Verlag lieferbaren Romane von Timothy Zahn finden Sie am Ende dieses E-Books.

Mehr über Timothy Zahn und seine Romane auf:

diezukunft.de

TIMOTHY ZAHN

EROBERER

Roman

WILHELM HEYNE VERLAGMÜNCHEN

Titel der amerikanischen Originalausgabe

CONQUERORS’ PRIDE

Deutsche Übersetzung von Martin Gilbert

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Der Verlag weist ausdrücklich darauf hin, dass im Text enthaltene externe Links vom Verlag nur bis zum Zeitpunkt der Buchveröffentlichung eingesehen werden konnten. Auf spätere Veränderungen hat der Verlag keinerlei Einfluss. Eine Haftung des Verlags ist daher ausgeschlossen.

Überarbeitete Neuausgabe 05/2017

Redaktion: Werner Bauer

Copyright © 1994 by Timothy Zahn

Copyright © 2017 dieser Ausgabeby Wilhelm Heyne Verlag, München,in der Verlagsgruppe Random House GmbH,Neumarkter Straße 28, 81673 München

Umschlaggestaltung: Nele Schütz Design, München

Satz: Schaber Datentechnik, Austria

ISBN: 978-3-641-21247-6V001

www.diezukunft.de

1

Sie waren tatsächlich dort – genau an der Stelle, wo die auf Dorcas registrierte Tachyonen-Signatur sie geortet hatte: vier Schiffe, die schwach im Sternenlicht des tiefen Raums glitzerten und im Infrarot-Bereich aufloderten, während sie die Hitze abführten, die die Nullpunktenergie-Reibung auf ihrem Flug erzeugt hatte. Es waren kleine Schiffe, wohl nicht größer als die Procyon-Klasse: Sie hatten eine milchig-weiße Farbe und die Form dicker sechseckiger Platten unterschiedlicher Größe, die wie eine surreale Skulptur zusammengefügt worden waren.

Fremdartig wie die Hölle.

»Scan abgeschlossen, Commodore«, meldete der Mann an der Sensorstation der Jütland zackig. »Andere Schiffe wurden nicht geortet.«

»Verstanden«, sagte Commodore Trev Dyami. Er bog die Schultern unter der frisch gestärkten Uniform nach hinten und gestattete sich ein sparsames Lächeln, während er auf die Hauptanzeige schaute. Schiffe von Außerirdischen. Der erste Kontakt mit einer neuen raumfahrenden Rasse in einem Vierteljahrhundert.

Und dieses Verdienst gebührte ihm. Ihm allein. Trev Dyami und die Jütland waren die Namen, die in den Pressemeldungen des Commonwealth und schließlich in den Geschichtsbüchern verzeichnet wären.

Das Glück des Kriegers – ja, das war es.

Er wandte sich an die taktische Station – im völligen Bewusstsein dessen, dass alles, was er ab diesem Moment sagte, in dieses Kapitel in den Geschichtsbüchern einfließen würde. »Wie ist die Bedrohungsbewertung?«, fragte er.

»Ich schätze null Komma eins bis null Komma vier, Sir«, meldete der Taktik-Offizier. »Ich sehe keine Anzeichen von Jäger-Ausstoßrohren oder Raketenöffnungen.«

»Sie haben allerdings Laser, Commodore«, meldete der Zweite Taktik-Offizier sich. »Es befinden sich Gruppen von optischen Entladungslinsen an den Vorderkanten jedes Schiffs.«

»Groß genug, um als Waffen zu dienen?«, fragte der Erste Offizier neben Dyami.

»Schwer zu sagen, Sir«, sagte der andere. »Die Linsen sind zwar ziemlich klein, aber das will noch nichts heißen.«

»Was ist mit der Leistungsabgabe?«, fragte Dyami.

»Ich weiß nicht, Sir«, sagte der Sensoroffizier langsam. »Ich registriere keine Strahlung.«

»Überhaupt keine?«

»Zumindest keine, die ich auffangen könnte.«

Dyami wechselte einen flüchtigen Blick mit dem Ersten Offizier. »Supraleitende Kabel«, spekulierte der Erste Offizier. »Oder sie sind sehr gut abgeschirmt.«

»So oder so«, pflichtete Dyami ihm bei und schaute wieder auf die lautlosen Gebilde, die in der Mitte der Hauptanzeige drifteten. Nicht nur eine raumfahrende Rasse, sondern eine, die der Menschheit vielleicht sogar technologisch überlegen war! Das Kapitel im Geschichtsbuch wurde mit jeder Minute länger und eindrucksvoller.

Der Erste Offizier räusperte sich. »Sollen wir Kontakt mit ihnen aufnehmen, Sir?«, fragte er.

»Immer noch besser, als hier rumzusitzen und Däumchen zu drehen«, sagte Dyami trocken und warf einen kurzen Blick auf die taktische Anzeige. Der Rest der aus acht Schiffen bestehenden Einsatzgruppe der Jütland befand sich in der standardmäßigen Kampfformation, und die Mannschaften waren auf Gefechtsstation. Die zwei kleinen Aufklärungsschiffe waren ebenfalls in Position – sie hielten sich jedoch im Hintergrund, wo sie außer Gefahr wären, falls die bislang friedliche Begegnung gewaltsam eskalieren sollte. Die Dragonfly-Defensivjäger der Jütland steckten startbereit in den Abschussrohren und konnten jederzeit ins Gefecht katapultiert werden.

Es war ein Szenario wie aus der Zentralen Dienstvorschrift … und es wurde Zeit, Geschichte zu schreiben. »Lieutenant Adigun, fertig bei Erstkontakt-Kommunikationspaket«, befahl Dyami dem Nachrichtenoffizier. »Machen Sie es startklar. Und benachrichtigen Sie alle Schiffe, dass sie sich bereithalten sollen.«

»Signal von der Jütland, Captain«, meldete Ensign Hauver von der Funkstation auf der Brücke der Kinshasa. »Sie sind gerade dabei, das Erstkontakt-Paket an unsere geheimnisvollen Kameraden zu übermitteln.«

Commander Pheylan Cavanagh nickte, ohne den Verbund der Sechseck-Schiffe auf der Anzeige der Brücke aus den Augen zu lassen. »Wie lange wird es dauern?«

»Die erste Tranche können sie innerhalb von fünf bis zwanzig Minuten abschicken«, sagte Hauver. »Die Übertragung des gesamten Pakets kann aber bis zu einer Woche dauern. Allerdings ist da noch nicht die Zeit berücksichtigt, die die andere Seite vielleicht braucht, um herauszufinden, wovon wir überhaupt reden.«

Pheylan nickte. »Wollen wir hoffen, dass sie nicht zu fremdartig sind, um es zu verstehen.«

»Mathematik soll schließlich universal sein«, erläuterte Hauver ihm.

»Es ist das ›soll‹, an dem ich mich störe«, sagte Pheylan. »Meyers, haben Sie noch weitere Informationen zu den Schiffen selbst?«

»Nein, Sir.« Der Sensoroffizier schüttelte den Kopf. »Und ehrlich gesagt, Sir, das gefällt mir überhaupt nicht. Ich habe das Infrarotspektrum vom April auf sechs verschiedene Arten analysiert, und es will sich einfach nicht auflösen. Entweder bestehen diese Hüllen aus einem Material, von dem der Computer und ich noch nie etwas gehört haben, oder sie kaschieren die Emissionen irgendwie.«

»Vielleicht sind sie auch nur schüchtern«, sagte Rico. »Was ist mit diesen optischen Entladungslinsen?«

»Dazu bekomme ich auch keine Daten«, sagte Meyers. »Es könnte sich um Kommunikationslaser mit einem halben Kilowatt Leistung, eine Raketenabwehr mit einem halben Gigawatt oder irgendetwas dazwischen handeln. Ohne eine Messung des Leistungsflusses kann man das unmöglich sagen.«

»Das beunruhigt mich noch mehr als die Hülle«, meinte Rico zu Pheylan und schaute mit einem besorgten Ausdruck in seinem dunklen Gesicht auf die Anzeige. »Dass sie ihre Energieleitungen so stark abschirmen, sagt mir, dass sie etwas zu verbergen haben.«

»Vielleicht sind sie einfach sehr effizient«, spekulierte Meyers.

»Ja«, knurrte Rico. »Vielleicht.«

»Los geht’s«, sagte Hauver. »Die Jütland sendet das Pilot-Suchsignal. Sie haben eine Resonanz – schwach, aber sie ist vorhanden.« Er schaute angestrengt auf seine Konsole. »Und eine seltsame Frequenz. Sie müssen wirklich eine unheimliche Technik haben.«

»Wir werden eine Besichtigung ihrer Funkbude für Sie arrangieren, wenn das hier vorbei ist«, sagte Pheylan.

»Ich hoffe doch. In Ordnung, die erste Tranche des Pakets geht raus.«

»Das Führungs-Alien bewegt sich«, meldete Meyers. »Es giert ein paar Grad nach backbord …«

Ohne Vorwarnung schoss ein doppelter Lichtblitz aus dem außerirdischen Führungsschiff und schnitt in den Bug der Jütland. Dann loderte ein diffuseres sekundäres Licht auf, als das Metall der Hülle unter dem Beschuss verdampfte …

Und in der Kinshasa Gefechtsalarm ausgelöst wurde. »An alle Schiffe!«, ertönte Commodore Dyamis Stimme über den Zerhacker der Funkgeräte. »Wir sind unter Beschuss. Kinshasa, Badger, beziehen Sie Flankenposition. Alle anderen Schiffe bleiben auf ihrer Position. Feuermuster Gamma-Sechs.«

»Bestätigen Sie, Hauver«, befahl Pheylan und starrte ungläubig auf die Anzeige. Das Alien hatte das Feuer eröffnet. Ohne jeden Grund und ohne dass sie bedroht worden wären, hatten sie einfach das Feuer eröffnet. »Chen Ki, bringen Sie uns auf die Flankenposition. Steuerbord-Raketenrohre für den Abschuss fertig machen.«

»Wie sollen wir sie programmieren?«, fragte Rico, während seine Finger über die Tastatur des taktischen Rechners huschten. »Näherung oder Radar?«

»Hitzesucher«, erklärte Pheylan. Die Beschleunigung drückte ihn in den Sitz, als die Kinshasa ihre vorgeschriebene Flankenposition ansteuerte.

»Wir sind zu nah an den anderen Schiffen«, gab Rico zu bedenken. »Wir könnten eines von ihnen statt der Aliens treffen.«

»Keine Sorge, wir können weit genug rausziehen, um das zu vermeiden«, beschied Pheylan ihn und warf einen kurzen Blick auf die taktische Anzeige. »Zumindest wissen wir nun, dass die Aliens Wärmestrahler sind. Bei diesen seltsamen Hüllen würden die anderen Einstellungen wahrscheinlich auch gar nicht funktionieren.«

»Raketenfächer von der Jütland«, meldete Meyers mit einem Blick auf seine Anzeigen. »Sie haben eine Radarprogrammierung von …«

Und plötzlich eröffneten alle vier außerirdischen Schiffe in einem blendenden Kaleidoskop aus vielen Lasern das Feuer. »Alle Aliens feuern«, schrie Meyers, als das Trillern des Schadensalarms die Brücke erfüllte. »Wir erhalten Treffer – Schäden an der Hülle in allen Steuerbord-Abteilungen …«

»Was ist mit den Raketen der Jütland?«, rief Rico.

»Keine Wirkung«, rief Meyers zurück. Das Bild auf der Hauptanzeige flackerte, verlosch und erschien eine Sekunde später wieder, nachdem die Reservesensoren für die verdampfte Hauptgruppe eingesprungen waren. »Die Aliens müssen sie abgefangen haben.«

»Oder sie haben nur nicht gezündet«, sagte Pheylan und unterdrückte die Woge der aufsteigenden Panik in seiner Kehle. Die Kinshasa knisterte bereits wegen der Überbeanspruchung infolge der Hitze, als diese unmöglichen Laser systematisch Schichten vom Rumpf ablösten, der schon Blasen warf … und den kaum kontrollierten Stimmen nach zu urteilen, die aus dem Lautsprecher des Audio-Netzes drangen, schienen die restlichen Schiffe der Friedenstruppe in einem ebensolchen Schlamassel zu stecken. In einem Wimpernschlag war der Einsatzgruppe die Kontrolle der Situation total entglitten, und sie kämpfte nur noch ums Überleben. Und sie verlor diesen Kampf. »Programmieren Sie die Raketen auf Hitzesuche, Rico, und feuern Sie die verdammten Dinger ab.«

»Jawohl, Sir. Erste Salve draußen …«

Im nächsten Moment ertönte ein Geräusch wie ein gedämpfter Donnerschlag, und die Kinshasa schlingerte unter Pheylans Stuhl. »Frühdetonation!«, schrie Meyers; und sogar über dem Knacken überbeanspruchten Metalls vermochte Pheylan noch die Angst in seiner Stimme zu hören. »Die Integrität der Hülle ist verloren: Steuerbord vorn zwei, drei und vier und Steuerbord achtern zwei.«

»Die Risse dichten sich nicht ab«, rief Rico. »Zu heiß für die Dichtmasse. Steuerbord zwei und vier kapseln sich ab. Steuerbord drei … Abkapselung ist gescheitert.«

Pheylan biss die Zähne zusammen. Es gab zehn Stationen in dieser Abteilung. Zehn Menschen, die nun tot waren. »Chen Ki, setzen Sie uns in Bewegung – egal, in welche Richtung«, befahl er dem Steuermann. Wenn sie die ausgestoßenen Kapseln nicht aus der Schusslinie der außerirdischen Laser brachten, würden diese zehn Toten bald viel Gesellschaft bekommen. »Alle Steuerbord-Deckoffiziere sollen ihre Mannschaften in den Zentralbereich zurückziehen.«

»Jawohl, Sir.«

»Das Schiff kann nicht mehr viel wegstecken, Captain«, sagte Rico neben ihm grimmig.

Pheylan nickte stumm; sein Blick schweifte zwischen den taktischen Anzeigen und den Statusanzeigen des Schiffs hin und her. Wenn überhaupt, übertrieb Rico gewaltig. Da bereits die Hälfte der Systeme der Kinshasa ausgefallen oder verdampft waren und das Schiff nur noch von den inneren Kollisionsschotts zusammengehalten wurde, hatte es nur noch wenige Minuten zu leben. Aber bevor es starb, hätte es vielleicht noch genug Zeit, dem Feind, der es in Fetzen riss, einen letzten Schuss zu verpassen. »Rico, geben Sie mir eine zweite Raketensalve«, befahl er. »Feuern Sie in unseren Schatten und schicken Sie die Raketen über und unter ihnen hinweg mitten rein in die Alien-Formation. Keine Fusion – nur eine Detonation per Zeitzünder.«

»Ich will’s versuchen«, sagte Rico mit schweißglänzender Stirn und bearbeitete seinen Computer. »Bei dem Zustand, in dem das Schiff ist, kann ich aber für nichts garantieren.«

»Ich nehme das, was ich kriege«, sagte Pheylan. »Feuer, wenn Sie bereit sind.«

»Jawohl, Sir.« Rico beendete die Programmierung und drückte auf die Feuertasten. Und durch das Knacken und Rucken der waidwunden Kinshasa spürte Pheylan den Rückstoß beim Abschuss der Raketen. »Salve draußen«, sagte Rico. »Sir, ich empfehle, dass wir das Schiff aufgeben, solange die Kapseln noch funktionieren.«

Pheylan schaute wieder auf die Statusanzeige; der Magen verkrampfte sich beim Todeskampf seines Schiffs. Die Kinshasa war praktisch tot; und mit ihrer Zerstörung hatte er nur noch eine Pflicht zu erfüllen. »Einverstanden«, sagte er schwer. »Hauver, Signal an alle Besatzungsmitglieder: Wir steigen aus. Alle Abteilungen sollen sich einkapseln und ausstoßen, wenn sie bereit sind.«

Der Schadensalarm änderte Tonhöhe und Rhythmus und wurde zum Signal »Alle Mann von Bord«. In der Brücke flackerten die Lichter der Konsolen und verloschen, als die Brückenbesatzung hastig ihre Stationen vom Schiff abkoppelte und jeder Einzelne sein Lebenserhaltungssystem überprüfte.

Pheylan selbst hatte aber noch etwas zu erledigen: Er musste sicherstellen, dass diese außerirdischen Schlächter da draußen aus den Trümmern seines Schiffs keine Rückschlüsse auf das Commonwealth zogen. Er griff an die Unterseite seines Befehlsterminals, brach es auf und legte die Reihe von Schaltern um, die sich dort befanden. Navigationscomputer zerstören, Back-up-Navigationscomputer zerstören, Aufzeichnungscomputer zerstören, Archivcomputer zerstören …

»Die Brückenbesatzung meldet Bereitschaft, Captain«, sagte Rico mit einem Anflug von Dringlichkeit in der Stimme. »Sollen wir uns einkapseln?«

Pheylan betätigte den letzten Schalter. »Ja«, sagte er, zog die Hände in den Sitzlehnen zurück und bereitete sich mental auf den Ausstieg vor.

Und mit einem abrupten Wellenschlag, bei dem Pheylan in den Gurten nach vorn gerissen wurde, schnellten die Abteilungen aus Speichermetall aus dem Deck und der Decke, schlangen sich um seinen Sitz und verpackten ihn in einem luftdichten Kokon. Einen Herzschlag später wurde er in sein Sitzkissen gepresst, als die Brücke sich um ihn herum auflöste und jede einzelne Wabenkapsel von dem sterbenden Koloss fortgeschleudert wurde, der einmal die Kinshasa gewesen war.

»Auf Wiedersehen«, murmelte Pheylan den Überresten seines Schiffs zu und tastete nach der Bedienung für die Blende des Sichtfensters. Der emotionale Hammer würde ihn wohl erst später treffen, sagte er sich abwesend. Fürs Erste hatte das Überleben höchste Priorität. Sein eigenes Überleben und das seiner Mannschaft.

Die Sichtblenden wurden zurückgezogen, und er drückte die Nase gegen das Sichtfenster, das zur Kinshasa hinausging. Die anderen Rettungskapseln waren dunkle, flackernde Lichtflecken; sie entfernten sich vom zerfetzten und geschwärzten Rumpf, der noch immer von den Lasern der Außerirdischen malträtiert wurde. Er hatte keine Ahnung, wie viele der Wabenkapseln noch intakt waren – aber diejenigen, die noch funktionierten, müssten ihre Insassen am Leben erhalten, bis sie schließlich geborgen wurden. Er bewegte sich vorsichtig in der Enge der Kapsel und ging zum Sichtfenster, das zum Hauptgefechtsfeld hinausging, und schaute hinaus.

Der Kampf war zu Ende. Die Einsatzgruppe der Friedenstruppen hatte verloren.

Er trieb am Fenster. Sein Atem hauchte Dunstflecke auf die Scheibe. Er war wie betäubt und vermochte sich nicht zu bewegen. Die Piazzi loderte hell. Sauerstoff entwich aus einem Leck in den Tanks und nährte das Feuer sogar im Vakuum des Weltraums. Die Ghana und Leekpai waren geschwärzt und stumm, genauso wie die Bombay und Seagull. Und von der Badger sah er überhaupt keine Spur.

Und die Jütland – der mächtige Defensiv-Träger der Rigel-Klasse Jütland – drehte sich langsam im Raum. Tot.

Und die vier außerirdischen Sternenschiffe waren auch noch da. Sie schienen völlig unversehrt.

»Nein«, hörte Pheylan sich murmeln. Das war unmöglich. Völlig unmöglich. Dass eine Einsatzgruppe der Rigel-Klasse in sechs Minuten – sechs Minuten – vernichtet worden sein sollte, war unerhört.

Bei einem der Außerirdischen flackerte Laserfeuer auf, dann bei einem anderen und noch einem anderen. Pheylan runzelte die Stirn und fragte sich, worauf sie jetzt noch schossen. Vielleicht auf die Dragonfly-Jäger der Jütland, von denen noch ein paar herumflogen? Die Außerirdischen schossen wieder, und wieder …

Plötzlich überkam Pheylan die Erkenntnis, und Entsetzen packte ihn. Die Außerirdischen schossen auf die Wabenkapseln! Systematisch und gründlich vernichteten sie die Überlebenden des Kampfs!

Er stieß einen leisen unflätigen Fluch aus. Die Kapseln stellten doch keine Bedrohung für die Außerirdischen dar – sie waren nicht bewaffnet, gepanzert und nicht einmal mit Triebwerken ausgestattet. Sie einfach so zu zerstören, verwandelte einen militärischen Sieg in ein kaltblütiges Gemetzel.

Und es gab nichts, was er dagegen tun konnte, außer hier zu sitzen und zuzusehen, wie es geschah. Die Kapsel war im Grunde nur ein kleiner Kegel mit einer Stromversorgung, einem Kohlendioxid/Sauerstoff-Konverter, Sauerstoff-Reservetank, Notfunkfeuer, einem Kommunikationslaser für kurze Strecken, Rationen für zwei Wochen, einem Abfallentsorgungssystem …

Er hatte fast schon mit den Fingern die Zugangsklappe der Ausrüstung aufgehebelt, als der Gedanke sich in seinem Bewusstsein herauskristallisierte. Die Außerirdischen da draußen vernichteten jedes Wrackteil in ihrem Sichtfeld; sie machten gezielt Jagd auf die Kapseln und vernichteten sie. Und plötzlich fiel es ihm wie Schuppen von den Augen.

Das Notfunkfeuer war ein bewusst einfach konzipiertes Gerät, unverwüstlich und narrensicher wie kaum ein anderer Ausrüstungsgegenstand im Inventar der Friedenstruppen. Aber narrensicher bedeutete nicht unbedingt »sabotagesicher«. Er rammte die Klinge seines Multifunktionswerkzeugs in die interne Notstromversorgung, durchtrennte jeden Draht und Schaltkreis und hatte das Gerät nach einer Minute zum Schweigen gebracht.

Pheylan atmete tief durch und spürte kalten Schweiß auf der Stirn, als er sich wieder zum Sichtfenster umdrehte. Die Blitze des Laserfeuers zuckten noch immer durch das Trümmerfeld, während die Außerirdischen ihrer grausigen Verrichtung nachgingen. Eins der Schiffe bahnte sich einen Weg in seine Richtung, und er fragte sich angespannt, ob irgendjemand von seiner Mannschaft auch auf den Trichter gekommen war und sein Funkfeuer deaktiviert hatte.

Aber er hatte jetzt keine Zeit, daran zu denken. Das außerirdische Schiff kam fast direkt auf ihn zu, und wenn sie wirklich entschlossen waren, ganze Arbeit zu leisten, gab es noch andere Möglichkeiten außer der Funkboje, um ihn inmitten der Wrackteile zu identifizieren. Irgendwie musste er die Kapsel in Bewegung setzen. Vorzugsweise in Richtung der Aufklärungsschiffe, die noch irgendwo da draußen warten mussten.

Er beobachtete den zielstrebigen Anflug des Schiffs und führte in Gedanken eine Inventur der verfügbaren Ausrüstung durch. Aber es gab im Grunde nur eine Möglichkeit, und er wusste es. Er brauchte Antrieb; also musste er etwas über Bord werfen.

Er brauchte länger als gedacht, um zum Ablassventil des Sauerstofftanks auf der anderen Seite der schmalen Ausrüstungsbucht zu gelangen; und das außerirdische Schiff zeichnete sich bereits groß im Sichtfenster ab, als er endlich fertig war. Er kreuzte im Geiste die Finger und drehte das Ablassventil auf.

Es zischte laut im engen Raum der Kapsel – genauso laut, sagte er sich mit einem makabren Schauder, wie das Zischen von Gas in einer der Todeszellen, wegen derer das Commonwealth immer wieder massiven Protest bei den Bhurtisten-Regierungen einlegte. Und es war durchaus ein passender Vergleich: Wo die Sauerstoff-Reserve der Kapsel nun im Raum verpuffte, hing sein Leben allein von der zuverlässigen Funktion des Dioxid/Sauerstoff-Konverters ab. Falls er versagte – was er mit deprimierender Regelmäßigkeit tat –, hätte er nur den Luftvorrat in der Kapsel, um das Ding wieder zum Laufen zu bringen.

Bis jetzt funktionierte der Plan aber. Er driftete nun langsam, aber stetig durch die Wrackteile und bewegte sich annähernd quer zum Anflugvektor des außerirdischen Schiffs auf das Gebiet zu, wo die Aufklärungsschiffe stehen mussten. Falls sie nicht auch schon vernichtet worden waren. Wenn es ihm nur gelang, aus dem Kegel des Sensorstrahls zu entkommen, den die Außerirdischen einsetzten …

Er hatte sich so auf das erste Schiff konzentriert, dass er die Annäherung des zweiten Schiffs überhaupt nicht bemerkte. Erst als das blaue Licht plötzlich um ihn herum aufloderte.

»Keller? Sind Sie noch da?«

Lieutenant Dana Keller zwang sich, den Blick vom entfernten Flackern des Laserlichts abzuwenden und programmierte ihren Kommunikationslaser. »Ich bin hier, Beddini«, sagte sie. »Was meinen Sie? Haben wir genug gesehen?«

»Ich hatte schon vor fünf Minuten genug gesehen«, sagte Beddini bitter. »Diese lausigen, abgef…«

»Wir sollten uns lieber in Bewegung setzen«, fiel Keller ihm ins Wort. Die Beobachtung, dass Commodore Dyamis’ Einsatzgruppe durch den Wolf gedreht wurde, hatte ihr ebenfalls zugesetzt. Wenn Beddini nun aber mit seinem umfangreichen Repertoire von Flüchen loslegte, würde das auch nichts mehr ändern. »Es sei denn, Sie möchten abwarten, ob sie uns auch verfolgen wollen.«

Sie hörte das Zischen, als Beddini in sein Mikrofon ausatmete. »Eigentlich nicht.«

»Schön«, sagte sie und bearbeitete ihre Navigationskarte. Es war eher unwahrscheinlich, dass die Außerirdischen auch nur wussten, dass sie hier waren – Aufklärungsschiffe waren nach allen Regeln der Kunst vor Sensoren getarnt. Aber sie hätte dennoch keinen Tagessold darauf gewettet, ganz zu schweigen von ihrem Leben. »Das Buch sagt, dass wir uns aufteilen sollen. Ich nehme Dorcas; wollen Sie Massiv oder Kalevala?«

»Kalevala. Meine statische Bombe oder Ihre?«

»Wir nehmen meine«, sagte Keller und gab die Sequenz ein, mit der der tachyonische Hochintensitäts-Sprengsatz aktiviert und abgeschickt wurde. »Sie werden Ihre auf dem Weg nach Kalevala vielleicht noch brauchen. Starten Sie Ihre Triebwerke erst, wenn ich es Ihnen sage.«

»In Ordnung.«

Hinter sich spürte Keller einen Luftzug, als die Kopilotin von ihrem Abstecher zur Toilette zurückkehrte. »Alles klar bei Ihnen, Gorzynski?«, fragte sie die andere.

»Sicher«, sagte Gorzynski. Sie klang verlegen und ein wenig unpässlich. »Tut mir leid, Lieutenant.«

»Vergessen Sie es«, sagte Keller und sah den gequälten Gesichtsausdruck der jüngeren Frau, die in der Schwerelosigkeit vorsichtig zum Platz des Kopiloten manövrierte. Jüngere Frau – von wegen. Gorzynski war noch ein halbes Kind. Frisch von der Grundausbildung auf ihrem ersten richtigen Einsatz … und so hatte er geendet. »Wir kehren um. Geben Sie die Triebwerkssequenz für den Start ein.«

»In Ordnung.« Gorzynski machte sich unsicher an die Arbeit. »Habe ich etwas verpasst?«

»Nur eine Fortsetzung des Dramas«, meinte Keller. »Sie sind immer noch damit zugange, die Überlebenden kaltzumachen.«

Gorzynski stieß ein kehliges Geräusch aus. »Das verstehe ich nicht«, sagte sie. »Weshalb tun sie das?«

»Ich weiß auch nicht«, erwiderte Keller grimmig. »Aber wir werden es ihnen mit Zinsen zurückzahlen. Darauf können Sie wetten.«

Die Konsole piepte: Die statische Bombe war bereit. Keller berührte den Zünder und die Auslösetaste, und der dicke Zylinder löste sich mit einem leichten Ruck vom Aufklärungsschiff. »Beddini? Statische Bombe draußen. Neunzig Sekunden bis zur Detonation.«

»Verstanden«, sagte Beddini. »Wir verschwinden von hier. Viel Glück.«

»Ihnen auch«, sagte Keller und schaltete den Kommunikationslaser ab. »Hauen wir ab, Gorzynski.«

Sie hatten das Aufklärungsschiff gerade gewendet und nahmen Kurs auf den tiefen Raum, als die statische Bombe hinter ihnen explodierte. Sie sandte einen Breitband-Sättigungsimpuls von Tachyonen aus, der jeden Detektor blenden würde, den der Feind da draußen hatte. Jedenfalls in der Theorie. Wenn es nicht funktionierte, sollten die Friedenstruppen-Garnisonen auf Dorcas und Kalevala sich schon einmal auf Besuch einrichten. »Los geht’s«, sagte sie zu Gorzynski und drückte die Tasten.

Der Himmel schimmerte, die Sterne wirbelten und schufen kurz die Illusion eines Tunnels, als der Raum sich um sie krümmte. Und dann geriet die Krümmung zu einer Sphäre, die Sterne erloschen, und sie waren unterwegs.

Keller schaute zu Gorzynski hinüber. Das Mädchen machte noch immer einen kränklichen Eindruck, doch sie strahlte auch etwas anderes aus. Die Art ruhiger, finsterer Entschlossenheit, die Keller schon so oft bei hartgesottenen Kriegsveteranen gesehen hatte.

Sie schüttelte den Kopf. Dass das Mädchen unter solchen Umständen aufwachsen musste.

Die Tür glitt auf, und Lieutenant Colonel Castor Holloway stand auf der Schwelle des Sensorzentrums der Friedenstruppen-Garnison in der Kolonie Dorcas. Major Fujita Takara wartete direkt hinter der Tür; sein Gesicht wirkte düster im trüben roten Licht. »Was haben wir, Fuji?«, fragte Holloway.

»Riecht nach Ärger«, erwiderte Takara. »Crane hat gerade die Druckwelle einer statischen Bombe aufgefangen.«

Holloway schaute durch den Raum auf die Tachyonen-Detektoranzeige und den jungen Sergeanten, der steif davor saß. »Die Jütland-Einsatzgruppe?«

»Ich wüsste nicht, wer es sonst sein sollte«, sagte Takara. »Man kann eine statische Bombe eigentlich nur aus nächster Nähe lokalisieren, aber es ist auf jeden Fall die richtige Richtung.«

»Welche Sprengkraft?«

»Wenn es dieselbe Stelle ist, wo wir die Aliens lokalisiert haben, hatte sie in etwa die Größe einer Fänger-Bombe eines Aufklärungsschiffs.« Takaras Lippen zuckten. »Ich weiß nicht, ob Sie das auch schon wussten, Cass, aber es ist erst vierzig Minuten her, seit die Einsatzgruppe da draußen eingetroffen ist.«

Holloway bemerkte, dass es plötzlich sehr ruhig war im Raum. »Ich glaube, wir sollten lieber das Kommando der Friedenstruppen informieren«, sagte er. »Haben wir denn ein einsatzbereites Schnellboot?«

Takara legte die Stirn leicht in Falten, und Holloway vermochte fast seine Gedanken zu lesen. Es gab nur zwei stabile StarDrive-Geschwindigkeiten: drei Lichtjahre pro Stunde und noch einmal die doppelte Geschwindigkeit, wobei nur kleine Schiffe wie Raumjäger und -boote überhaupt die höhere Geschwindigkeit erreichten. Das Problem war jedoch, dass ein Flug mit der höheren Geschwindigkeit fast fünfmal so teuer pro Lichtjahr kam – was angesichts des Budgets der Garnison von Dorcas eine nicht unbeachtliche Überlegung war. »Nummer Zwei ist in einer halben Stunde bereit«, sagte der Major. »Ich hatte aber angenommen, dass wir warten würden, bis wir einen konkreteren Anlass für eine Meldung hätten.«

Holloway schüttelte den Kopf. »Ein weiteres Abwarten können wir uns nicht leisten. Was auch immer dort geschehen ist – der Umstand, dass ein Aufklärungsschiff seine statische Bombe abgeworfen hat, bedeutet, dass es ernste Probleme gegeben hat. Wir haben den Auftrag, jede Minute Reaktionszeit für das Commonwealth herauszuholen. Mit den Einzelheiten des Problems können wir uns auch später noch befassen.«

»Ich glaube auch«, sagte Takara schwer. »Ich werde der Besatzung des Raumboots mal Beine machen.«

Er ging, und die Tür glitt hinter ihm zu. Holloway betrat die Tachyonen-Station. »Können Sie irgendetwas in diesem ganzen Chaos erkennen?«, fragte er.

»Nein, Sir«, sagte der junge Mann. »Die statische Tachyonen-Bombe blendet im betreffenden Gebiet alles noch für mindestens eine Stunde aus. Vielleicht auch für zwei.«

Was bedeutete, dass sie bei Dorcas auf der Schwelle stehen würden, bevor irgendjemand wusste, wer von der Einsatzgruppe zurückkam. Oder, was vielleicht noch wichtiger war, ob ihnen irgendwelche ungebetenen Gäste folgten. »Behalten Sie das im Auge«, sagte er dem anderen. »Ich möchte informiert werden, sobald der Schleier der statischen Bombe sich lüftet.«

»Jawohl, Sir.« Crane zögerte. »Sir, was glauben Sie, was geschehen ist?«

Holloway zuckte die Achseln. »Wir werden es in ein paar Stunden wissen. Bis dahin schlage ich vor, dass Sie Ihre Fantasie zügeln, damit sie nicht noch mit Ihnen durchgeht.«

»Jawohl, Sir«, sagte Crane etwas zu hastig. »Ich meinte nur … in Ordnung …«

»Ich verstehe Sie durchaus«, versicherte ihm Holloway. »Es ist nicht sehr angenehm, blind dazusitzen und sich zu fragen, was wohl auf einen zukommen mag. Bedenken Sie aber, dass das Commonwealth eine lange Tradition hat, siegreich aus diesen kleinen Begegnungen hervorzugehen. Was auch immer da draußen ist, wir werden schon damit klarkommen.«

»Jawohl, Sir«, sagte Crane. »Und es gibt schließlich noch CIRCE.«

Holloway verzog das Gesicht. Ja, diese Option bestand natürlich. Die Option – und die unausgesprochene Drohung dahinter. Es gab viele Leute – und nicht alle waren nichtmenschlich –, die sich nur schwer damit abfinden konnten, unter dem Schatten von CIRCE und den Führern der Nördlichen Koordinaten-Union zu leben, die im alleinigen Besitz der Geheimnisse der Waffe waren. Viele Leute hatten den Eindruck, dass NorCoords Dominanz der Friedenstruppen und der politischen Struktur des gesamten Commonwealth auf CIRCE und nur auf CIRCE beruhte. Aber die simple Tatsache war nun einmal, dass in den siebenunddreißig Jahren seit dieser schrecklichen Demonstration vor Celadon das Militär von NorCoord die Waffe niemals wieder hatte abfeuern müssen. Sie hatte den Frieden bewahrt, ohne jemals eingesetzt werden zu müssen.

Er schaute auf die Tachyon-Anzeige und spürte einen Kloß im Hals. Vielleicht wäre es dieses Mal aber anders. »Ja«, pflichtete er ihm leise bei. »Es gibt immer noch CIRCE.«

2

Das Mittagessen war aufgetragen, die leeren Teller abgeräumt und der gefriergetrocknete Kaffee serviert worden; und erst dann stellte Nikolai Donezal schließlich die Frage, von der Lord Stewart Cavanagh gewusst hatte, dass er sie schließlich stellen würde. »Also«, sagte Donezal, nippte vorsichtig an der dampfenden Tasse und leckte sich einen Kaffeerand von der Oberlippe. »Wollen wir nun zur Sache kommen? Oder sollen wir weiterhin so tun, als ob Sie mir heute nur aus rein sentimentalen Gründen einen Besuch abgestattet hätten?«

Cavanagh lächelte. »Das ist etwas, das ich immer schon an Ihnen gemocht habe, Nikolai: Ihre einmalige Kombination aus Subtilität und Direktheit. Kein noch so dezenter Hinweis oder zarte Andeutung bei der Mahlzeit und jetzt ein Schuss mitten zwischen die Augen.«

»Das ist wohl dem Alter geschuldet«, sagte Donezal mit Bedauern. »Ich bin den ganzen Nachmittag nämlich zu nichts mehr zu gebrauchen, wenn ich mir beim Mittagessen den Bauch vollschlage.« Er schaute Cavanagh über den Rand seiner Tasse an. »Und beim Essen jemandem einen Gefallen abzuschlagen, schlägt mir zwangsläufig auf den Magen.«

»Gefallen?«, echote Cavanagh und schaute den anderen geradezu treudoof an. »Was veranlasst Sie denn zu der Annahme, dass ich hier sei, um Sie um irgendeinen Gefallen zu bitten?«

»Lange persönliche Erfahrung«, erwiderte Donezal trocken. »In Verbindung mit den Geschichten über Sie, die noch immer in parlamentarischen Hinterzimmern kursieren. Wenn auch nur die Hälfte von ihnen wahr ist, könnte man fast glauben, dass Ihr Weg mit Leichen gepflastert sei.«

»Haltlose Verleumdungen.« Cavanagh tat das Thema mit einer lässigen Handbewegung ab. »Mit einer Prise Neid.«

Donezal zog eine Augenbraue hoch. »Vielleicht mehr als nur eine Prise«, sagte er. »Aber Sie müssen sich doch nicht rechtfertigen. Ich weiß natürlich, dass man keine solche Erfolgsbilanz wie die Ihre vorweisen kann, ohne sich dabei ein paar Feinde gemacht zu haben.«

»Und hoffentlich auch ein paar Freunde«, sagte Cavanagh.

»Da bin ich mir sicher«, sagte Donezal. »Obwohl die anderen immer lauter krakeelen. Mit den Untergangspropheten müssen wir jedenfalls leben. Und Sie haben das Mittagessen arrangiert. Da kann ich mich wenigstens damit revanchieren, indem ich Ihnen zuhöre.«

»Danke«, sagte Cavanagh und zog sein Mikro-Notebook aus der Innentasche. Er öffnete es, rief die entsprechende Datei auf und schob das Gerät über den Tisch. »Mein Vorschlag ist wirklich ganz einfach. Ich würde gern einen Teil meines Elektronik-Betriebs von Centauri nach Massif auslagern.«

»Tatsächlich«, sagte Donezal, überflog die erste Seite und rief per Tastendruck die zweite auf. »Mit Standort in den Staaten Lorraine und Nivernais, wie ich sehe. Eine gute Wahl – der Verfall des Iridium-Preises hat diese zwei Gebiete nämlich besonders schwer getroffen. Eine Ansiedlung von Leichtindustrie käme da gerade recht.« Er schaute Cavanagh fragend an. »Also sagen Sie mir, welchen Gefallen ich Ihnen tun soll. Kostenloses Land oder nur eine ordentliche Steuersubvention?«

»Weder noch.« Cavanagh kreuzte in Gedanken die Finger. Donezal hatte einen guten Geschäftssinn und war im Grunde auch ein anständiger Mensch. Aber seine militärischen Aktivitäten auf der Bhurtisten-Heimatwelt Tal während des dortigen Polizeieinsatzes der Friedenstruppen hatte ein paar Narben hinterlassen, was Nichtmenschen betraf. »Ich bräuchte Ihre Hilfe, mir die Genehmigung von NorCoord zu verschaffen, zwei Satelliteneinrichtungen in den Enklaven Duulian und Avuirlian zu betreiben.«

Donezals Gesichtszüge verhärteten sich merklich. »Ich verstehe«, sagte er. »Dürfte ich fragen, was Sanduuli und Avuirli zu bieten haben, das unsere menschlichen Kolonisten nicht zu leisten vermögen?«

»Offen gesagt, ich weiß es nicht«, antwortete Cavanagh. »Das möchte ich gerade herausfinden.«

»Zum Beispiel, ob sie die Arbeit billiger erledigen können?«, wollte Donezal wissen.

Cavanagh schüttelte den Kopf. »Zum Beispiel, welche Ideen und Verbesserungsmöglichkeiten nichtmenschlicher Intelligenz und Methodologie uns als Vorbild dienen könnten«, stellte er richtig. »Die Satelliteneinrichtungen würden sich mit Forschung und Entwicklung befassen und nicht mit der Produktion.«

Donezal schaute wieder auf den Computer, und Cavanagh sah, dass er angestrengt versuchte, sein Urteil nicht von seinen Erinnerungen beeinflussen zu lassen. »Sie wissen aber schon, dass das Friedenstruppen-Kommando und der Handels-Ausschuss vor fünf Monaten die Bestimmungen für den Zugang von Nichtmenschen zu militärisch nutzbarer Technologie verschärft haben?«

»Ja, ich weiß«, sagte Cavanagh. »Aber die Arbeit, die wir tun würden, wäre definitiv nicht militärisch. Unsere Verträge mit den Friedenstruppen würden in den vorhandenen Hochsicherheits-Werken auf Avon und Centauri bleiben.«

Donezal rieb sich die Wange. »Ich weiß nicht, Stewart. Wissen Sie, ich persönlich habe nichts gegen die Sanduuli und die Avuirli. Und ich sähe es schon gern, wenn Sie ein Werk nach Massif auslagern würden. Aber der Handels-Ausschuss scheint die ganze Sache sehr ernst zu nehmen; und ehrlich gesagt glaube ich nicht, dass die Bezeichnung ›nicht militärisch‹ heutzutage noch für irgendeine elektronische Komponente gilt. Es gibt nämlich so viele Schnittstellen zwischen militärischer und ziviler Ausrüstung – insbesondere im Bereich der hochdichten und halbempfindungsfähigen Konstruktionen, in dem Sie tätig sind. Das meiste ist noch immer ausschließlich menschliches Eigentum, und viele von uns würden es auch gern dabei belassen. Andernfalls könnte es Probleme geben, wenn der nächste Flächenbrand ausbricht.«

»Vielleicht«, sagte Cavanagh. »Andererseits ist eine Wahrnehmung, dass das Commonwealth hartherzig und egoistisch ist, fast schon eine Garantie, dass diese Flächenbrände tatsächlich ausbrechen werden.«

Donezal verzog das Gesicht. »In diesem Fall werden die Friedenstruppen sicher bereit sein«, knurrte er und richtete die Aufmerksamkeit wieder auf die Datei. »Sie sollten mal sehen, welche Summen sie dem Finanzministerium in der letzten Zeit aus dem Kreuz geleiert haben. In Ordnung, ich möchte noch einmal einen Blick daraufwerfen.«

Cavanagh nippte am Kaffee und schaute sich im Speisesaal des Parlaments um. Dabei wurden alte Erinnerungen in ihm wach. Natürlich war er geschäftlich hierhergekommen, aber Donezals flapsiger Hinweis auf den sentimentalen Aspekt war auch nicht ganz von der Hand zu weisen. Cavanagh war von der Vorstellung, im Parlament der Nördlichen Koordinaten-Union zu dienen, wenig angetan, als der Gouverneur von Grampians on Avon ihm diesen Posten angeboten hatte – er hatte ihm die Stelle regelrecht aufdrängen müssen, denn es gab noch andere Personen in Grampians, die diesen Job unbedingt haben wollten. Aber der Gouverneur hatte nicht locker gelassen; und Cavanagh wäre nun der Erste, der zugeben würde, dass die sechs Jahre, die er im Parlament verbracht hatte, zu den interessantesten seines Lebens zählten. Die vorherigen zwanzig Jahre, die er damit zugebracht hatte, ein kleines Elektronik-Imperium aus dem Boden zu stampfen, hatten ihn allerdings nicht auf die Gepflogenheiten und Routine der Regierungsgeschäfte vorbereitet. Jeder hatte das natürlich gewusst, und er vermutete auch, dass in den Hinterzimmern etliche Wetten darauf abgeschlossen wurden, dass der neue Parlimin von Avon, Staat Grampian, kläglich scheitern würde.

Aber er hatte sie überrascht. Er hatte schnell gelernt, seine Arbeitsweise und Menschenführung an die fremde, neue Umgebung der Politik anzupassen und hatte dann unorthodoxe, aber starke Koalitionen mit den Personen geschmiedet, die in ungefähr einem Dutzend der drängendsten Probleme mit ihm einer Meinung waren. Keine der Koalitionen hatte sehr lange überdauert, aber meistens hatten sie lange genug gehalten, um die Ziele zu erreichen, die er für sie gesetzt hatte. Er war geschickt in der Kunst der politischen Druckausübung – ein Talent, mit dem er während dieser ersten Amtszeit und in den zwei weiteren, zu denen der Gouverneur ihn überredet hatte, eine gewisse traurige Berühmtheit erlangt hatte. Und wenn man Donezal glauben konnte, hatte etwas von dieser traurigen Berühmtheit noch in den Kammern des Parlaments überdauert.

Aus dem Augenwinkel nahm er eine Bewegung wahr: Ein augenscheinlich junger Parlimin gestikulierte heftig vor seinen Kollegen, die mit ihm am Tisch saßen. Es waren nur noch ein paar Parlimins im Amt, die schon während Cavanaghs Amtszeit hier gedient hatten. Der aktuelle Trend unter den nationalen und staatlichen Regierungen der NorCoord-Union ging nun dahin, führende Unternehmer und Industrielle ins Oberhaus zu entsenden, und Cavanagh entdeckte auch mehrere Männer und Frauen, mit denen er im Lauf der Jahre so manche Auseinandersetzung geführt hatte. Da waren Simons aus Großbritannien, Alexandra Karponov von Kryepost auf Nadežda, Klein von Neuebund auf Prospect …

Er war gerade mit Kleins Konterfei beschäftigt, als das Gesicht des anderen plötzlich erstarrte.

Cavanagh drehte sich zu Donezal um und sah den gleichen Ausdruck auf seinem Gesicht. »Notsignal?«

»Ja«, erwiderte Donezal, kramte in der Tasche und zog seinen schlanken WhispPager heraus. »Vollalarm im Parlament«, sagte er und überflog die Nachricht, die übers Display scrollte. »Irgendein Problem draußen bei …«

Er brach ab. »Ich muss gehen«, sagte er plötzlich, steckte den WhispPager wieder in die Tasche und wuchtete sich aus dem Stuhl.

»Was ist eigentlich los?«, fragte Cavanagh, stand selbst auch auf und machte eine schnelle Handbewegung. »Was gibt’s denn für ein Problem?«

»Es sind noch keine Einzelheiten bekannt«, antwortete Donezal und ging zur Tür. Die anderen Parlimins strebten auch zügig den Ausgängen zu, wie Cavanagh beiläufig feststellte. »Rufen Sie später in meinem Büro an. Oder noch besser, rufen Sie Ihren Parlimin an. Ich bin sicher, Jacy VanDiver würde sich freuen, von Ihnen zu hören.«

Cavanagh ging neben ihm her, und dann erschien auch noch die ruhige Gestalt seines Sicherheitschefs, Adam Quinn, an seiner Seite. »Probleme, Sir?«, fragte der andere leise.

»Ja«, erwiderte Cavanagh. »Kommen Sie, Nikolai, raus mit der Sprache. Ich werde mich bei Ihnen revanchieren.«

Donezal blieb stehen, warf einen finsteren Blick auf Cavanagh und einen etwas freundlicheren auf Quinn. »Ein Aufklärungsschiff trifft von Dorcas ein«, stieß er hervor. »Anscheinend hat es eine Einsatzgruppe der Friedenstruppen erwischt. Schlimm erwischt.«

Cavanagh starrte ihn an, und ein alter und nur zu vertrauter Druck legte sich auf seine Brust. »Welche Einsatzgruppe war es?«

»Ich weiß nicht«, sagte Donezal und schaute ihn mit gerunzelter Stirn an. »Spielt das denn eine Rolle?«

»Eine große«, murmelte Cavanagh. Die Kinshasa mit Pheylan an Bord war mit der Jütland im Gebiet von Dorcas stationiert. Wenn das die Truppe war, die es erwischt hatte … »Gehen wir zur Kammer«, sagte er zu Donezal und nahm seinen Arm. »Man sollte uns zumindest sagen können, wer daran beteiligt war.«

Donezal schüttelte den Griff ab. »Wir gehen nicht in die Kammer«, sagte er. »Ich gehe. Sie sind schließlich kein Parlimin mehr.«

»Sie könnten mich doch mitnehmen.«

»Nicht aus diesem Anlass«, sagte Donezal entschieden. »Es tut mir leid, Stewart, aber Sie werden warten müssen, bis auch der Rest des Commonwealth informiert wird.«

Er wandte sich ab und schloss sich dem allgemeinen Exodus der Leute an, die nun durch die Hauptausgänge des Speisesaals strömten.

»Den Teufel werde ich«, murmelte Cavanagh und holte sein Telefon heraus. »Quinn, wohin ist Kolchin gegangen?«

»Ich bin hier, Sir«, sagte der junge Leibwächter und erschien wie von Zauberhand an Cavanaghs anderer Seite. »Was hat den Ameisenhaufen denn so in Aufruhr versetzt?«

»Eine Einsatzgruppe der Friedenstruppen ist vor Dorcas geschlagen worden«, berichtete Cavanagh ihm grimmig und gab eine Nummer ein. »Ich will mal sehen, ob ich uns noch ein paar Informationen beschaffen kann.«

Das FonDisplay leuchtete auf und zeigte eine junge Frau in der Uniform der Friedenstruppen. »Friedenstruppen-Kommando.«

»General Garcia Alvarez, bitte«, sagte Cavanagh. »Sagen Sie ihm, es ist Lord Stewart Cavanagh. Und sagen Sie ihm, es sei dringend.«

Die Kabel oben verlängerten sich und liefen auseinander. Dann lösten sie den sesselliftartigen Sitz aus dem Verkehrsfluss des oberen Gangs und setzten ihn auf dem Boden ab. Vor ihnen war der Bogengang zur Kommando-Abteilung der Friedenstruppen im NorCoord-Regierungskomplex. Gekrönt wurde der Eingang von einem großen Friedenstruppen-Emblem. Unter dem Bogen, flankiert von der Wache und einem Mann mit den Schulterstücken eines Majors, stand General Alvarez.

»Stewart.« Alvarez neigte leicht den Kopf zum Gruß, als Cavanagh und seine zwei Männer zu ihm traten. »Ich muss Ihnen wohl nicht erst erklären, dass dies ein ganz besonderes Vorkommnis ist«, sagte er.

»Nein«, sagte Cavanagh. »Und ich möchte Ihnen auch danken. Ich werde versuchen, mich möglichst im Hintergrund zu halten.«

Alvarez verzog das Gesicht und schaute auf den Offizier an seiner Seite. »Das sind meine Besucher, Major. Ich möchte, dass die Formalitäten erledigt werden.«

»Jawohl, Sir«, sagte der andere. »Hallo, Quinn. Lange nicht gesehen.«

»Hallo, Anders«, sagte Quinn ungerührt. »Schön, Sie zu sehen. Ich wusste gar nicht, dass Sie zum Kommando versetzt worden sind.«

»Das wundert mich nicht«, sagte Anders mit einem Anflug von Bitterkeit in der Stimme. »Sie sind nicht mehr ganz auf dem Laufenden. Und das ist er also, hä?«, setzte er nach und bedachte Cavanagh mit einem kalten Blick. »Der Kerl, dem Sie geholfen haben, die Einheit zu sabotieren?«

»Sir Cavanagh ist mein Arbeitgeber«, sagte Quinn. »Und wir haben die Copperheads nicht ›sabotiert‹. Wir haben vielmehr geholfen, sie noch stärker und besser zu machen.«

»Ja, nur dass das von innen ganz anders ausgesehen hat.« Anders schaute auf Kolchin, und für einen Moment schien sein Blick sich zu trüben. »Und Sie sind der ehemalige Friedenstruppen-Einsatzagent Mitri Kolchin«, sagte er. »Sie bestücken Ihre Lohnliste noch immer mit Friedenstruppen-Veteranen, Lord Cavanagh?«

Cavanagh, der neben Kolchin stand, spürte die Regung bei ihm und vermochte sich vorzustellen, welchen Ausdruck der junge Mann gerade im Gesicht haben musste. General Alvarez, der nur einen Meter von ihm entfernt war, musste sich aber nicht auf seine Fantasie verlassen. »Sie sind nicht hier, um Karriereoptionen zu erörtern, Major«, intervenierte der General. »Sie sollen eine temporäre Sicherheitsstufe für diese Männer autorisieren. Sind Sie dazu in der Lage oder nicht?«

Anders’ Lippe zuckte. »Es steht nichts in ihren Akten, was dagegen spräche, Sir«, sagte er. »Ich kann ihnen die Freigabe für den äußeren Besprechungsraum erteilen. Aber nicht weiter.«

»Das genügt auch«, grunzte Alvarez. »Danke. Kommen Sie, Stewart – die Aufzeichnungen des Aufklärungsschiffs müssten jeden Moment hier sein.«

»Man konnte sie nicht aus dem Orbit übertragen?«, fragte Cavanagh.

»Das wollten wir nicht«, sagte Alvarez. »Es gibt zu viele Kindsköpfe da draußen, die sich einen Spaß daraus machen, in die militärische Nachrichtenübertragung einzudringen und zu versuchen, die Zerhackung zu knacken. Und es hätte uns gerade noch gefehlt, dass das nach draußen dringt, bevor wir bereit sind.« Er lächelte Cavanagh gezwungen an. »Was auch ein Grund dafür ist, weshalb wir Sie überhaupt hier hereinlassen. So können wir Sie leichter im Auge behalten.«

»Verstehe«, sagte Cavanagh. Das hatte er sich schon gedacht. »Was wissen Sie bis jetzt?«

»Nur, dass vor etwa zwei Stunden ein Schnellboot von Dorcas eingetroffen ist und uns gemeldet hat, dass wahrscheinlich ein Aufklärungsschiff unterwegs ist«, sagte Alvarez. »Das allein war schon eine schlechte Nachricht.«

Cavanagh machte sich auf das Schlimmste gefasst. »Wissen Sie auch schon, welche Einsatzgruppe es war?«

Alvarez nickte bedächtig. »Es war die Jütland«, sagte er. »Und die Kinshasa war definitiv auch dort. Das ist der zweite Grund, weshalb Sie hier sind.«

»Ich weiß das zu schätzen«, sagte Cavanagh, und der Druck legte sich wieder auf seine Brust. »Was wissen Sie sonst noch?«

»Herzlich wenig«, räumte Alvarez ein. »Vor ungefähr fünfundzwanzig Stunden hatte der Tachyonen-Detektor auf Dorcas eine fremde Signatur entdeckt, die am äußeren Rand eines unbedeutenden Systems sechs Lichtjahre von Dorcas entfernt endete. Sie hatten natürlich keinen Ausgangspunkt zur Rückverfolgung, aber die Jütland und der Kommandant der örtlichen Garnison vermochten per Dreieckspeilung einen wahrscheinlichen Endpunkt zu ermitteln. Die Kampfgruppe flog dorthin, um die Lage zu peilen. Und vierzig Minuten nach dem Eintreffen zündeten sie eine statische Bombe. Dorcas fing die Druckwelle auf, interpretierte sie als eine schlechte Nachricht und schickte uns ein Schnellboot, um uns schon einmal vorzuwarnen. Ende der Mitteilung.«

»Vierzig Minuten klingt ziemlich kurz«, sagte Cavanagh.

Alvarez schnaubte. »Besorgniserregend kurz trifft es eher. Vor allem, wenn man bedenkt, dass Commodore Dyami nicht sofort Kontakt mit den Aliens aufgenommen hätte. Einen Teil der vierzig Minuten hätte man nämlich allein für den Transit im Echtraum veranschlagen müssen. Vielleicht sogar die meiste Zeit.«

Der Besprechungsraum war leer, als sie dort ankamen. Alvarez schaltete die Bildschirme für sie ein und verließ sie dann, um die Aufzeichnungen mit seinen Offiziers-Kameraden in der Haupt-Befehlszentrale zu betrachten. Fünf Minuten später begannen die Aufnahmen des Aufklärungsschiffs.

Cavanaghs Befürchtungen wurden noch übertroffen. Es war weitaus schlimmer, als er es sich überhaupt hätte vorstellen können. Der Anblick, wie die gesamte Einsatzgruppe in Fetzen geschossen wurde, war schon schlimm genug. Und der Anblick, wie die außerirdischen Schiffe kaltblütig und systematisch die Wabenkapseln zerstörten, war entsetzlich.

Und das Bewusstsein, dass er den Tod seines Sohns beobachtete, machte ihn körperlich krank. Er fühlte sich uralt.

Die Schlacht und ihr mörderisches Nachspiel schien kein Ende zu nehmen. Laut Chrono-Display dauerte die ganze Episode aber kaum vierzehneinhalb Minuten.

Die Aufzeichnung endete, die Anzeige erlosch, und für ein paar Minuten sagte keiner von ihnen ein Wort. Quinn brach zuerst das Schweigen. »Wir sind in Schwierigkeiten«, sagte er ruhig. »In großen Schwierigkeiten.«

Cavanagh atmete tief durch und blinzelte die plötzliche Feuchtigkeit aus den Augen. Wenigstens war es schnell vorbei gewesen. Zwar nur ein schwacher Trost, aber immerhin. Es war schnell vorbei gewesen. »Wäre es möglich, dass die Kampfgruppe überrascht wurde?«

»Nein«, sagte Quinn dezidiert. »Dyami wusste, dass er Gefechtsbereitschaft herstellen musste. Das ist die standardmäßige Vorgehensweise, wenn man mit einer neuen Rasse Kontakt aufnimmt. Außerdem hat die Kampfgruppe gekämpft – man hat gesehen, dass Raketen gestartet wurden. Sie sind nur nicht explodiert.«

»Wissen Sie denn, ob die JütlandCopperhead-Jäger an Bord hatte, Quinn?«, fragte Kolchin.

»Das bezweifle ich«, sagte Quinn und schüttelte den Kopf. »Die meisten Copperhead-Einheiten sind heute auf den Trägern der Nova- und Supernova-Klasse stationiert, hauptsächlich im Yycroman-Raum. Zumindest dem Vernehmen nach. Wir könnten Anders auf dem Rückweg fragen.«

»Zumindest ist das etwas Neues, das wir beim nächsten Mal an ihnen ausprobieren können.« Kolchin hielt inne. »Und vielleicht wird NorCoord auch entscheiden, dass es an der Zeit sei, CIRCE wieder zu montieren.«

»Vielleicht«, sagte Cavanagh. »Quinn, wir müssen Aric und Melinda informieren.«

»Ich kann das erledigen, Sir«, sagte Quinn. »Was soll ich ihnen sagen?«

Cavanagh schüttelte den Kopf. »Das ist egal«, sagte er in einer Mischung aus Taubheit, Schmerz und anschwellender Wut, weil man ihm seinen Sohn so kaltblütig genommen hatte. »Sagen Sie ihnen nur, dass ihr Bruder tot ist.«

3

Der Meert war ein typischer Vertreter seiner Art: kurz und stämmig, mit kleinen grünlich-braunen, überlappenden Schuppen und einem Gesicht, das Menschen wegen seiner Form und Textur fast zwangsläufig mit einer geschälten Orange assoziierten. Er stand stocksteif auf der anderen Seite des Schreibtischs, seine blass-gelben Augen bohrten sich förmlich in Aric Cavanaghs Gesicht, und von den Zähnen tropfte Speichel.

Er war definitiv übellaunig.

»Ich will mit Cavanagh sprechen«, knurrte er. Sein Englisch war ein ziemliches Kauderwelsch, aber mehr oder weniger verständlich. »Mir wurde Cavanagh versprochen.«

»Ich bin Cavanagh«, beschied Aric ihn. »Aric Cavanagh, der erstgeborene Sohn von Lord Stewart Cavanagh. Ich bin außerdem der Geschäftsführer von CavTronics in diesem Raumsektor. Wie auch immer Ihre Beschwerde lautet, Sie können sie mir vortragen.«

Der Meert zischte leise. »Mensch«, knurrte er, wobei das Wort zu einem Fluch geriet. »Sie sorgen sich in erster Linie um sich selbst. Die Meert-ha sind für Sie doch nichts als Sklaven.«

»Ach«, sagte Aric und wölbte eine Augenbraue. »Sorgen die Meert-ha sich etwa mehr um die Menschen als um sich selbst?«

Die überlappenden Schuppen spreizten sich ein wenig und senkten sich wieder. »Sie beleidigen die Meert-ha?«

»Überhaupt nicht«, versicherte Aric ihn. »Ich will das nur einmal klarstellen. Sie werfen den Menschen vor, sie würden sich mehr um ihre eigene Art sorgen als um die Nichtmenschen. Ist das bei den Meert-ha vielleicht anders?«

Der Meert schwieg für einen Moment, und die Schuppen hoben und senkten sich rhythmisch. Aric blieb sitzen und widerstand dem Drang, seinen Stuhl etwas vom Schreibtisch zurückzuschieben. Für ein paar Herzschläge war er wieder ein Teenager und ging seiner liebsten Freizeitbeschäftigung nach – seinen jüngeren Bruder mit Worten verrückt zu machen –, als er sich plötzlich bewusst wurde, dass er nicht mehr dreißig Zentimeter größer und zwölf Kilo schwerer war als der Junge. Seit diesem Tag hatte das Spiel ihm keinen Spaß mehr gemacht … und der Meert, der vor dem Schreibtisch stand, erinnerte ihn irgendwie an seinen »kleinen« Bruder.

Er schüttelte die Erinnerungen ab. Er war schließlich keine fünfzehn mehr, da stand auch kein Pheylan vor ihm, um ihn anzupfeifen, und ein nichtmenschlicher Vorarbeiter in einem CavTronics-Elektronikwerk wäre sicher nicht so unbeherrscht, den Sohn des Eigentümers körperlich anzugreifen. Dennoch wünschte er sich, er hätte Hill nicht draußen beim Auto zurückgelassen. Normalerweise verspürte er kein Bedürfnis nach einem Kader der Sicherheitskräfte seines Vaters, wenn er eine Werksbesichtigung unternahm; doch wenn der Meert mit den Schuppen raschelte, bedeutete das, dass er viel Körperwärme abführte, und wenn der Meert überhitzte, bedeutete das wahrscheinlich, dass er zornig war. Aric hatte diese Bemerkung fallen lassen, um die Vorhaltungen des Meert wegen der Arten-Loyalität zu relativieren, auch hatte er gehofft, den sich anbahnenden Konflikt dadurch etwas zu entschärfen. Das alles wäre aber ziemlich kontraproduktiv, wenn der Meert ihm nun die Fresse polieren wollte.

Die Schuppen setzten sich wieder. »Aber es stimmt doch, dass Sie die Meert-ha als Sklaven betrachten«, sagte der Meert.

»Gar nicht«, sagte Aric und begann wieder zu atmen. »Wir haben unsere Meertene-Mitarbeiter immer mit Respekt und Würde behandelt.«

»Warum dann das?«, wollte der Meert wissen und wies mit zwei dicken Fingern aus dem Fenster. »Wieso schließen Sie diesen Arbeitsplatz?«

Aric seufzte. Ach du dickes Ei: die gleiche Auseinandersetzung, die er auf seiner Tour schon zweimal mit zwei anderen nichtmenschlichen Arten geführt hatte. Er fragte sich, ob die Commonwealth-Handelskammer irgendeine Vorstellung von den Problemen gehabt hatte, die sie der Wirtschaft bescherte, als sie vor fünf Monaten diese neuen Beschränkungen erlassen hatte. Oder ob es sie überhaupt kümmerte. »Zunächst einmal schließen wir das Werk nicht«, sagte er dem Meert. »Wir reduzieren nur einen Teil der betrieblichen Tätigkeit.«

»Meert-ha wird hier nicht mehr arbeiten.«

»Ja, einige Meert-ha werden ihre Jobs verlieren«, räumte Aric ein. »Und einige Mitarbeiter in der Enklave Djadaran.«

»Werden Menschen Jobs verlieren?«

»Ich weiß nicht«, sagte Aric. »Das muss noch entschieden werden.«

Die Schuppen zitterten. »Wann?«

»Wann wir es für richtig halten«, konterte Aric. »Oder wäre es Ihnen lieber, wenn wir diese Entscheidungen überstürzt treffen würden? Sie alle?«

Der Meert schüttelte den Kopf, und durch die Bewegung stoben Speicheltropfen nach beiden Seiten. In der Meertene-Kultur war Kopfschütteln oft ein Signal der Herausforderung; Aric konnte nur hoffen, dass der Meert in diesem Fall lediglich die menschliche Geste imitierte. »Ich spreche nur von Gerechtigkeit«, knurrte er.

»Gerechtigkeit ist auch mein Anliegen«, versicherte Aric ihm. »Und das Anliegen meines Vaters. Seien Sie versichert, dass wir beide alles Menschenmögliche tun werden, um sie zu erreichen.«

Der Meert warf den Kopf zurück. »Wir werden ja sehen«, sagte er und kreuzte die Finger – die Meertene-Geste des Abschieds. »Machen Sie langsam.«

Aric erwiderte die Geste. »Gehen Sie langsam.«

Der Meert drehte sich um und ging durch die Bürotür. »Gerechtigkeit«, murmelte Aric und zog schließlich die Grimasse, die er sich verkniffen hatte, seit der Meert hereingeplatzt war. Sein Vater hatte den Handels-Kommissar darauf hingewiesen – hatte ihn wiederholt darauf hingewiesen –, dass das sowohl eine schlechte Politik als auch ein schlechtes Geschäft war. Er hätte genauso gut mit einer Wand reden können.

Die Bürotür glitt wieder auf. Aric schaute auf und verspannte sich, bis er sah, dass es nur Hill war. »Wurde aber auch Zeit«, sagte er in gespielter Strenge zu dem Sicherheitsmitarbeiter. »Ich riskiere hier mein Leben mit einem zornigen Meert, und wo sind Sie?«

»Draußen«, entgegnete Hill ruhig. »Und habe die anderen acht zurückgehalten, die sich auch gern einmal mit Ihnen unterhalten hätten.«

»Wirklich.« Aric wölbte eine Augenbraue. »Sie haben gar nicht erwähnt, dass es eine ganze Delegation war.«

Hill zuckte die Achseln. »Ich wollte Sie nicht unnötig beunruhigen«, sagte er. »Zumal es eh nicht wichtig schien, weil ich sowieso nicht mehr als einen von ihnen eingelassen hätte. Und ich war der Ansicht, dass sogar Sie einen einzelnen Meert im Griff gehabt hätten.«

»Ich bedanke mich für das Vertrauen«, sagte Aric trocken. Zumindest erklärte das, weshalb sein Besucher relativ »pflegeleicht« gewesen war. Er hatte erwartet, Teil eines neunköpfigen Beschwerde-Komitees zu sein, und dass er dann allein gehen musste, hatte ihm wohl schon ein bisschen den Wind aus den Segeln genommen. »Sind alle wieder weg?«

Hill nickte. »Auch diese Gruppe, die sich wegen der Entlassungen aufregt?«

»Jedenfalls über die drohenden Entlassungen«, sagte Aric. Insgeheim hoffte er noch immer, die Paranoiker der Handelskammer davon überzeugen zu können, dass keine militärischen Geheimnisse der Friedenstruppen in Gefahr waren, wenn Nichtmenschen mit Computerkomponenten von CavTronics arbeiten durften. »Ist der Leiter der Spätschicht schon eingetroffen?«

»Nein, Sir«, sagte Hill, ging zum Schreibtisch und hielt ihm eine Karte hin. »Aber das ist gerade an Sie übermittelt worden. Mit dem Schnellboot von der Erde, glaube ich.«

»Muss von Paps sein«, sagte Aric, nahm die Karte und schob sie in sein Mikro-Notebook. Die beiden hatten insgeheim einen kleinen Plan ausgeheckt, um einen Präzedenzfall für diese neuen Beschränkungen zu schaffen. Das war vielleicht der Bescheid von Parlimin Donezal, ob er bereit war, das Spiel mitzumachen. Aric gab den Entschlüsselungsalgorithmus ein und sah, wie die Nachricht aufgerufen wurde.

Sie war sehr kurz.

Er las sie zweimal durch, und ein Gefühl der Unwirklichkeit ergriff von ihm Besitz. Nein. Das konnte nicht sein.

»Sir? Alles in Ordnung?«

Mit großer Willensanstrengung schaute Aric zu Hill auf. »Ist das Schiff schon zurück?«

»Ich glaube nicht, Sir«, sagte Hill und schaute ihn mit gerunzelter Stirn an. »Sie wollten doch erst morgen abreisen.«

Aric atmete tief durch und versuchte, die Benommenheit und Taubheit in Geist und Körper zu vertreiben. »Rufen Sie den Raumhafen an«, sagte er. »Buchen Sie für mich einen Platz auf einem Liner zur Erde. Sie können mit dem Schiff nach Avon zurückfliegen, wenn es hier eintrifft.«

»Jawohl, Sir«, sagte Hill und holte sein Telefon heraus. »Dürfte ich fragen, was los ist?«

Aric lehnte sich auf dem Stuhl zurück und schloss die Augen. »Es ist mein Bruder«, sagte er. »Er ist tot.«

»Dr. Cavanagh?«

Melinda Cavanagh schaute vom großen, hochauflösenden Bildschirm und dem letzten Durchlauf der bevorstehenden Operation auf. »Ja?«

»Dr. Billingsgate ist im Vorbereitungsraum«, sagte die Krankenschwester. »Raum drei.«

»Danke«, sagte Melinda und schüttelte den Kopf. Er hätte sie genauso gut anpiepen oder telefonisch erreichen können, doch stattdessen hatte er jemanden geschickt, um sie zu suchen. Sie hatte vorher noch nie mit Billingsgate gearbeitet, aber die chirurgische Gilde des Commonwealth war zwangsläufig eine kleine und verschworene Gemeinschaft, und sie hatte auch schon genug Geschichten gehört, um zu wissen, dass das typisch für den Mann war. Die Meinungen gingen auseinander, ob er nur arrogant war, mit seiner Zeit knauserte oder ob er den zwischenmenschlichen Kontakt dem unpersönlichen elektronischen Kontakt vorzog. »Sagen Sie ihm, ich bin in einer Minute dort.«

Sie beendete die Revision des Plans und zog ihre Karte aus dem Computer. Der Vorbereitungsraum drei befand sich nur ein Stück weit den Gang entlang, und als sie eintrat, sah sie Billingsgate über dem dortigen hochauflösenden Monitor brüten. »Ah – Cavanagh«, sagte er abwesend und winkte sie zu sich herüber. »Fertig zum Umziehen?«

»Fast«, sagte sie und setzte sich auf den Stuhl neben ihm. »Es gäbe da aber noch ein paar Details, die ich vorher gern mit Ihnen klären würde.«

Er schaute sie unter buschigen Augenbrauen und mit gerunzelter Stirn. »Ich dachte eigentlich, dass wir schon alles geklärt hätten«, sagte er, wobei sein Ton um eine halbe Oktave abfiel.

»Das dachte ich auch«, sagte sie, schob ihre Karte in seinen Computer und rief die markierten Abschnitte auf. »Nummer Eins: Ich glaube, dass wir die Markinin-Dosis in der dritten Phase reduzieren sollten. Wir wollen an dieser Stelle doch den Blutdruck senken. Weil der Shorozin-Tropf aber nur vier Zentimeter entfernt ist, glaube ich, dass wir eine Reduzierung der Dosierung um mindestens zehn Prozent in Betracht ziehen sollten.«

Die Augenbrauen wölbten sich noch etwas stärker. »Eine Verringerung um zehn Prozent ist aber ziemlich drastisch.«

»Nichtsdestoweniger aber notwendig«, sagte Melinda. »Nummer Zwei: In Phase Vier haben Sie zwei getrennte Neurobinder, die an allen vier Seiten angebracht werden. Dieser hier …« Sie deutete auf die Computergrafik. »… erscheint mir eine Idee zu nah an der Sehnervenkreuzung. Vor allem, wenn man Ihre revidierte Dosierung berücksichtigt.«

»Sie haben also eine Erscheinung, was?«, fragte Billingsgate, wobei seine Stimme das ganze Spektrum von »verärgert« bis »einschüchternd« durchlief. »Sagen Sie mir, Doktor, haben Sie diese Operation schon einmal selbst durchgeführt?«

»Sie wissen doch, dass das nicht der Fall ist«, sagte Melinda. »Aber ich habe schon bei fünf ähnlichen Operationen beraten.«

Billingsgate runzelte leicht die Brauen. »Doch sicherlich bei fünf verschiedenen Chirurgen?«

Melinda schaute ihm in die Augen. »Das ist unfair«, maulte sie. »Und Sie wissen es. Die zwei Operationen waren nicht identisch – keine zwei Operationen sind identisch. Der Versuch, mich zu übergehen und stur dem ersten Plan zu folgen, war total unverantwortlich. Und es hätte auch tödlich enden können.«

»Aller Wahrscheinlichkeit nach wäre es nicht tödlich geendet«, sagte Billingsgate.

»Hätten Sie denn gewollt, dass ich dieses Risiko eingehe?«, erwiderte Melinda.

Billingsgate presste die Lippen zusammen. »Sie hätten Mueller nicht öffentlich bloßstellen müssen.«

»Ich hatte versucht, unter vier Augen mit ihm zu sprechen. Aber er wollte nicht auf mich hören.«

Billingsgate widmete sich wieder seinem Computer, und für eine Minute war es still im Raum. »Dann glauben Sie also, dass wir das Markinin um zehn Prozent reduzieren sollten, oder?«, fragte er.

»Ja«, antwortete Melinda. »Die niedrigere Dosierung müsste absolut ausreichen. Gerade auch in Anbetracht des Grundstoffwechsels des Patienten.«

»Ich wollte gerade fragen, ob Sie das schon überprüft haben«, sagte Billingsgate. »In Ordnung; aber wenn der Blutdruck nicht anspricht, werden wir die Dosierung wieder erhöhen müssen. Einverstanden?«

»Einverstanden. Und was ist nun mit den Neurobindern?«

Es folgte ein kurzes gepflegtes Fachgespräch, und schließlich zeigte er sich als ein guter Verlierer. Wie die meisten Chirurgen, mit denen Melinda es bisher zu tun gehabt hatte, betrachtete auch Billingsgate sich als Eigentümer seines Operationskonzepts; allerdings war er so erfahren, dass er die Empfehlungen eines kompetenten Beraters nicht einfach ignorierte. Weil immer mehr Routineoperationen von halbempfindungsfähigen Computersystemen durchgeführt wurden, waren die einzigen Operationen, die noch nach menschlichen Chirurgen verlangten, gleichermaßen Kunst wie Wissenschaft. Zum Schreiben brauchte man Redakteure, zum Modellieren brauchte man Modellbauer, und in der Chirurgie brauchte man Konzeptberater. So lautete jedenfalls die Theorie.

»In Ordnung«, sagte Billingsgate schließlich. »Wir verringern das Markinin um zehn Prozent und verschieben den Neurobinder auf der Gamma-Seite um drei Millimeter nach rechts. Zufrieden?«

»Zufrieden.« Melinda klappte den Computer zu. »Ist sonst alles bereit?«

»So gut wie. Wir müssen nur noch …«

Er verstummte, als die Tür aufglitt und eine Krankenschwester eintrat. »Es tut mir leid, Dr. Cavanagh, aber das ist gerade für Sie gekommen«, sagte sie und reichte ihr eine Karte. »Es ist mit ›dringend‹ gekennzeichnet.«

»Danke«, sagte Melinda, nahm die Karte und holte ihr eigenes Lesegerät hervor.

»Machen Sie schnell«, sagte Billingsgate.

»Ja«, versprach Melinda und überflog mit gerunzelter Stirn die wirren Symbole. Sie hatte eigentlich vermutet, dass es sich um einen neuen Auftrag oder etwas anderes Offizielles handelte; aber das war einer der privaten Codes ihres Vaters. Sie entschlüsselte die Nachricht und sah, wie die Zeilen sich neu ordneten.

Und das Herz blieb ihr fast stehen. »Nein«, flüsterte sie.

Billingsgate drehte sich auf halbem Weg zur Tür um. »Was gibt’s denn?«

Wortlos drehte sie den Monitor zu ihm herum. Er bückte sich und las die Nachricht. »O mein Gott«, murmelte er. »Wer ist Pheylan?«

»Mein Bruder«, erwiderte Melinda. Ihre Stimme klang entfernt in ihren Ohren. Sie hätte vor drei Wochen die Möglichkeit gehabt, Pheylan zu sehen, als sie beide auf Nadežda gewesen waren. Aber sie war zu beschäftigt gewesen …

Billingsgate sagte etwas. »Verzeihung.« Sie zwang sich, ihre Konzentration auf ihn zu richten. »Was haben Sie gesagt?«

»Ich sagte, dass Sie nicht bleiben müssen«, wiederholte er. »Das Team schafft das auch ohne Sie. Fliegen Sie zum Raumhafen und verschwinden Sie von hier.«

Sie schaute wieder auf die Nachricht, und die Worte verschwammen vor ihren Augen. »Nein«, sagte sie und rieb sich die Augen. »Ich bin die Konzeptberaterin. Ich soll die Operation begleiten.«

»Das ist doch nur eine Empfehlung«, sagte Billingsgate. »Keine Verpflichtung.«

»Es ist meine Verpflichtung«, beharrte Melinda und stand auf. Ihr Verstand funktionierte wieder und sortierte die Möglichkeiten und Notwendigkeiten in den üblichen, präzisen chirurgischen Kategorien. »Geben Sie mir nur eine Minute, mich mit dem CavTronics-Werk in Kai Ho in Verbindung zu setzen. Ich komme dann sofort.«

»In Ordnung«, sagte Billingsgate. Er klang aber nicht sehr überzeugt. »Sind Sie sich auch sicher?«

»Ich bin mir sicher«, erwiderte sie. »Ich kann Pheylan nicht zurückbringen. Vielleicht kann ich aber verhindern, dass ein anderer stirbt.«

Erst als die Worte den Mund verlassen hatten, wurde sie sich bewusst, dass man sie durchaus als Geringschätzung von Billingsgates chirurgischen Fähigkeiten zu interpretieren vermochte. Aber der ältere Mann schien gar keine Notiz davon zu nehmen. »In Ordnung«, sagte er wieder. »Schwester, informieren Sie das Team, es soll sich umziehen. Wir werden anfangen, sobald Dr. Cavanagh bereit ist.«

4

Das blaue Licht flackerte durch die Sichtfenster der Rettungskapsel und riss Pheylan aus einem unruhigen Schlaf. Das Licht verblasste, loderte wieder auf, verblasste, loderte auf, verblasste …

»Na schön!«, schrie er und schlug gegen die Wand der Kapsel. »Jetzt reicht’s!«