Erschöpft? - Anna Katharina Schaffner - E-Book

Erschöpft? E-Book

Anna Katharina Schaffner

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  • Herausgeber: dtv
  • Kategorie: Ratgeber
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2024
Beschreibung

Das Energietief überwinden und neue Kraft gewinnen Wir leben in Zeiten der Erschöpfung - die Work-Life-Balance stimmt nicht mehr, die Weltlage drückt aufs Gemüt. Und doch ist dieser Zustand der Kraftlosigkeit ein zeitloses Phänomen. Anna K. Schaffner führt in kurzen Kapiteln durch die Epochen und zu vielfältigen Heilmitteln und Therapien. Dabei verbindet sie neurowissenschaftliche, psychologische und kulturwissenschaftliche Forschungsergebnisse über Stress und Burnout mit Einblicken in die Gedankenwelt ausgebrannter Mönche, matter Melancholiker und chronisch Müder. Erschöpfung hat immer innere und äußere Ursachen. Um sie zu überwinden, brauchen wir eine Melange aus altem und neuem Wissen, aus verschiedenen mentalen Strategien. Vor allem aber brauchen wir einen Perspektivwechsel.  

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Seitenzahl: 293

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Über das Buch

Wir leben in Zeiten der Erschöpfung – die Work-Life-Balance stimmt nicht mehr, die Weltlage drückt aufs Gemüt. Und doch ist dieser Zustand der Kraftlosigkeit ein zeitloses Phänomen. Anna K. Schaffner führt in inspirierenden Essays durch die Zeiten und zu vielfältigen Heilmitteln und Therapien. Dabei verbindet sie psychologische, philosophische, soziologische und kulturwissenschaftliche Forschungsergebnisse über Stress und Burnout mit Einblicken in die Gedankenwelt ausgebrannter Mönche, matter Melancholiker und chronisch müder Menschen. Erschöpfung hat immer innere und äußere Ursachen. Um sie zu überwinden, brauchen wir eine Melange aus altem und neuem Wissen, aus verschiedenen mentalen Strategien. Vor allem aber brauchen wir einen Perspektivwechsel.

Anna Katharina Schaffner

Erschöpft?

Belebende Perspektiven für müde Menschen

Aus dem Englischenvon Beate Schäfer

Einführung

Sind Sie oft müde und erschöpft, vielleicht sogar immer? Leben Sie, um zu arbeiten, statt umgekehrt? Sind To-do-Listen und Verpflichtungen zu einer Belastung geworden, die Sie zu erdrücken droht? Fühlen Sie sich gleichgültig und fehlt Ihnen die Motivation? Gut möglich, dass Sie außerdem oft Ihre eigenen Fähigkeiten und Leistungen in Zweifel ziehen – und dass die äußeren Stressfaktoren so durch innere Störgeräusche verstärkt werden.

Falls diese Schilderung auf Sie zutrifft, dann ist dieses Buch für Sie. Es beleuchtet die Ursachen unserer kollektiven Erschöpfung und vermittelt wirkungsvolle Gegenmaßnahmen. Dabei gehen altbewährte Einsichten mit neuen Erkenntnissen Hand in Hand. Die Lektüre will Sie inspirieren, neue Wege zu finden, wie Sie die Ermüdung hinter sich lassen und Ihre Lebensfreude und Vitalität zurückgewinnen können. Erschöpfung bedroht den Kern unseres Wesens: Wenn wir ständig das Gefühl haben, es mangele uns an Energie, Kraft und Zeit, schalten wir in einen zombieartigen Überlebensmodus. Unsere Wünsche und Gefühle werden uns fremd, und wir verlieren aus dem Blick, was uns wirklich wichtig ist und uns glücklich macht.

Das Wichtigste zuerst: Sie sind damit nicht allein. Im Gegenteil, die Schattenarmee der Überanstrengten ist riesig. Erschöpfung im Allgemeinen und Burnout im Speziellen gehören zu den vorherrschenden Epidemien unserer Zeit. Weil unser Leben und Denken tendenziell von unserer Berufsarbeit dominiert wird und sich für viele Menschen sowieso fast alles wie Arbeit anfühlt – auch unsere Beziehungen, unsere persönliche Entwicklung und unsere Sorge um den Zustand der Welt –, ist Burnout zu dem am intensivsten thematisierten Erschöpfungssyndrom der Gegenwart geworden. Wie eine aktuelle Studie der American Psychological Association feststellt, sind Burnout und Stress quer durch alle Berufsgruppen auf einem bisher unerreichten Höchststand, wobei die COVID-19-Pandemie für einen deutlichen Anstieg gesorgt hat.[1]

Auch ich selbst habe an einem anhaltenden Erschöpfungszustand gelitten. Mein Fühlen und Denken wurde zu Asche, mein Leben kam mir eintönig und flau vor, die Arbeit schien kein Ende zu nehmen. Auch wenn ich im Prinzip eine feste Stelle an einer englischen Universität hatte, schwebte ein halbes Jahrzehnt lang der Schatten einer möglichen Entlassung über mir. Während die Zahl unserer Studierenden Jahr um Jahr zurückging, wuchsen meine Ängste, und mein Stresslevel stieg. Ich verbrachte viel Zeit damit zu überlegen, welche Arbeit ich stattdessen tun könnte, doch zu dieser Frage fiel mir nicht viel ein. Zu allem Überfluss führte die in meinem Umfeld um sich greifende Furcht vor Stellenverlust zu einem toxischen Arbeitsklima – zusammen mit dem Gefühl von Ohnmacht und Sinnlosigkeit und der Angst vor Arbeitslosigkeit ein perfektes Rezept für einen Burnout. Diesen Zustand habe ich damals gründlich kennengelernt.

Genau genommen ist Burnout ein berufsbedingtes Problem – ein Erschöpfungszustand, der von chronischem Arbeitsstress verursacht wird. Auch wenn uns die Glücksindustrie etwas anderes weismachen will, zeigen Untersuchungen, dass solche Zustände in der Mehrheit der Fälle nicht an mangelhaften Bewältigungsstrategien der Betroffenen liegen. Die Wurzeln des Problems reichen tief in unsere Arbeitswelten.[2] Die fünf Hauptursachen für einen Burnout sind unfaire Behandlung am Arbeitsplatz, ein nicht zu bewältigendes Arbeitspensum, fehlende Rollenklarheit, Kommunikationsdefizite und unangemessener Zeitdruck.[3] Auch wenn Kontrolle und Handlungsmöglichkeiten fehlen oder unterschiedliche Werte aufeinanderprallen, kann das zu einem Burnout führen.[4] Im Hintergrund steht häufig, dass bei der Arbeit unsere Würde missachtet wird oder wir zu wenig Wertschätzung bekommen. Einen Burnout erleiden die meisten Menschen also nicht, weil sie nicht angemessen mit Stress umgehen können, sondern weil die Strukturen, in denen sie sich bewegen, sie krank machen.

Trotzdem sind unsere Arbeitsumstände selten der einzige Grund für unsere Erschöpfung. Die Ursprünge chronischer oder wiederkehrender Erschöpfung sind in der Regel komplexer, äußere und innere Faktoren können dabei eine Rolle spielen. Manchmal sind wir uns selbst schlechte Chefs und haben Haltungen verinnerlicht, die uns schaden. Die aktuelle Burnout-Kultur beruht auf alten, tiefsitzenden Überzeugungen zu Zeit und Produktivität, die uns auch dann beeinflussen, wenn wir nicht für jemand anderen arbeiten.

Nicht selten sind wir auch deshalb so ausgelaugt, weil wir unsere Energie in einem inneren psychologischen Krieg verschleißen, also in Auseinandersetzungen zwischen unterschiedlichen Persönlichkeitsanteilen mit konträren Zielen und Werten. Bei mir war das definitiv der Fall. In meinem Kopf gab es eine unfreundliche Stimme, die pausenlos infrage stellte, was ich erreichte, und meine Erfolge in den Dreck zog. Diese quälende innere Stimme ist weit verbreitet und unter den verschiedensten Namen bekannt: innerer Kritiker, grausames Über-Ich, innerer Dämon oder Saboteur, Richterinstanz oder negativer innerer Monolog. Ganz egal, welchen Namen wir dieser Instanz geben – das Gute ist, dass es Strategien gibt, ihre kraftraubende Wirkung zu reduzieren und unsere Energie stattdessen nach außen zu richten, um sie für die Menschen und Projekte einzusetzen, die uns am Herzen liegen. Letztlich geht es beim Überwinden von Erschöpfung um nichts anderes: Es gilt, wieder aufzutanken und unsere Energien freizusetzen, damit wir in der Folge bewusst entscheiden können, wofür wir unsere Kräfte verwenden wollen.

Ich habe mich schon immer für Psychologie interessiert, besonders für das, was im Schattenbereich unserer Psychen liegt – die kaum bewussten Anteile unserer Persönlichkeit, die individuellen und kollektiven blinden Flecken. Teils um meine eigene chronische Erschöpfung besser zu verstehen, teils im Rahmen meiner Arbeit als Kulturhistorikerin habe ich ein Buch über die weit zurückreichende Geschichte der Erschöpfung geschrieben.[5] Mein Anliegen war, unsere aktuellen Überzeugungen, was Energie, Zeit, Arbeit und Produktivität anbelangt, bis zu ihren Ursprüngen zurückzuverfolgen.[6] Schon lange haben mich die historischen Tiefen der Psychologie fasziniert, doch seit einer Weile interessiere ich mich auch mehr und mehr für die lebendige psychologische Praxis unserer Tage. Nach einem kurzen Flirt mit der Psychoanalyse habe ich schließlich eine Coachingausbildung gemacht, eine eigene Praxis eröffnet und mich darauf spezialisiert, erschöpfte Menschen zu unterstützen. Ganz in der Tradition der verwundeten Heilenden wollen wir oft anderen vermitteln, was wir für uns selbst lernen müssen. In diesem Buch teile ich die mir wichtigsten Gedanken zum Thema Erschöpfung mit Ihnen – das Spektrum reicht von alten Weisheiten, theologischen Abhandlungen und philosophischen wie literarischen Werken über Einsichten aus meiner Coachingpraxis bis hin zu neuesten wissenschaftlichen Erkenntnissen über Stress und Burnout.

Vielleicht ist es verzeihlich, dass wir unsere eigene Gegenwart als das Zeitalter der Erschöpfung par excellence wahrnehmen. Schließlich ist sie gekennzeichnet von einer alles durchdringenden kulturellen Überbewertung von Arbeit, vom enormen Suchtpotenzial unserer Informations- und Kommunikationstechnologien und dem nie nachlassenden psychosozialen Druck, den uns der neoliberale Kapitalismus aufbürdet.[7] In den letzten Jahren haben Depressionen, chronischer Stress und Burnout am Arbeitsplatz in bisher unbekanntem Umfang zugenommen. Homeoffice als Folge der Lockdowns war da für viele nicht hilfreich. Inzwischen scheinen oft sämtliche Aspekte unseres Lebens von unserer Berufsarbeit dominiert. Dazu kommt, dass wir auch andere Lebenszusammenhänge zunehmend unter der Perspektive des Arbeitens betrachten: Immer mehr von dem, was wir tun, erscheint uns anstrengend und mühevoll – darunter auch die Beziehungen zu unseren Partnerinnen und Partnern, Freunden und Kindern, die Sorge für unser körperliches Wohlbefinden, unsere Psyche und unsere spirituelle Entwicklung. Oft schleicht sich das Gefühl ein, wir müssten auch hier gute Leistungen erbringen und an unsarbeiten – eine bezeichnende Wortwahl. Der Psychoanalytiker Josh Cohen schreibt: »Arbeit, in der Doppelrolle von Erwerbsarbeit und allgemeinem Funktionieren, scheint das Gebot unserer Zeit.«[8] Cohen charakterisiert Burnout als »kleine Apokalypse der Seele« – ein inneres Inferno, das auch einen Moment der Rebellion gegen den Anspruch darstellen kann, immer und zu jeder Zeit arbeiten und funktionieren zu müssen.[9]

Im Unterschied dazu betrachtet die Journalistin Anne Helen Petersen Burnout nicht als eine vorübergehende Krise, sondern als Grundverfassung heutiger Millennials. In einem 2019 veröffentlichten und sich rasch viral verbreitenden BuzzFeed-Artikel beleuchtet sie die strukturellen ökonomischen Ursachen der aktuellen Burnout-Epidemie innerhalb ihrer Generation.[10] Laut Petersen kommt es zu einem Burnout, »wenn der Abstand zwischen dem idealen und dem aktuell machbaren Leben unerträglich groß wird«.[11] Der Sozialvertrag funktioniert heute nicht mehr: Bildung ist kein sicherer Zugangsweg zu sozialer Mobilität und einem stabilen Mittelklasse-Anstellungsverhältnis mehr. Die Millennials sind in der heutigen Zeit die erste Generation, der es finanziell schlechter geht als ihren Eltern. Alle Überzeugungen, mit denen sie aufgewachsen sind – dass sich harte Arbeit immer lohnt, dass in einem leistungsorientierten freien Markt die Besten auch am erfolgreichsten sind, dass alles gut wird, wenn sie nur einen Beruf finden, den sie wirklich lieben –, sind implodiert.

Es stimmt schon, wir leben in einer besonders düsteren und sich rasch wandelnden Zeit. Es gibt gleich mehrere ernste Krisen, die das uns vertraute Leben bedrohen – Klimawandel, Krieg, Pandemien, ökonomische Instabilität und wachsende politische Polarisierung, um nur die wichtigsten zu nennen. Trotzdem ist Erschöpfung letztlich ein allgegenwärtiges und zeitloses Phänomen. Es steht im Zentrum einer ganzen Palette von vergangenen und gegenwärtigen Müdigkeitssyndromen, zu denen neben Burnout auch Melancholie, Trägheit (Acedia), Neurasthenie und Depression zählen. Zu allen Zeiten haben Schreibende und Denkende ihre Erschöpfung beklagt und mit einer gewissen Wehmut auf vergangene Zeiten zurückgeblickt, die sie als weniger anstrengend empfanden. Reflexionen zur Begrenztheit unserer Kraft sowie über mögliche innere wie äußere Gründe für ihr Schwinden können bis ins alte China zurückverfolgt werden.

Der Kritiker Frank Kermode schreibt: »Unsere eigene Krise kommt uns herausragend vor, wir finden sie besorgniserregender und interessanter als andere Krisen. (…) Es ist allgemein üblich, die jeweilige historische Situation als besonders dramatisch und außergewöhnlich anzusehen, als einen Wendepunkt im Lauf der Zeiten. Aber kann das wirklich stimmen? Es ist zu bezweifeln, dass gerade unsere Krise (…) einen grundlegenden Unterschied zwischen uns und unseren Vorfahren darstellt. Viele von ihnen fühlten sich wie wir. Wenn wir heute den Eindruck haben, die Beweise für die Einzigartigkeit unserer Krise seien überzeugend, hatten sie diesen Eindruck auch.«[12]

Auch wenn unsere Vorgänger andere Bilder und Metaphern benutzt haben mögen, finde ich es enorm tröstlich zu wissen, dass wir nicht als Einzige mit Erschöpfungszuständen ringen. Quer durch die historischen Epochen und über alle Kulturen hinweg haben Menschen gegen ihre Erschöpfung angekämpft, über ihre Ursachen nachgedacht und Heilungsansätze und Therapieformen entwickelt, um wieder zu Kräften zu kommen. Das Gute daran ist: Wir können von den Menschen früherer Zeiten und anderer Kulturen immer noch viel lernen.

Nicht die Erfahrung selbst ändert sich im Lauf der Geschichte, sondern die Metaphern, die wir für unsere Erschöpfung finden, und die Geschichten, mit denen wir deren Ursachen zu fassen versuchen. Theorien über Erschöpfung sagen auch viel aus über die in der jeweiligen Epoche vorherrschenden Ängste und Sehnsüchte. Oft konzentrieren sie sich auf spezifische kulturelle Unzufriedenheiten. In unserer Zeit liegt der Fokus zum Beispiel auf dem Suchtpotenzial von Technik, den psychischen Kosten eines unerbittlichen Wachstumszwangs und einer zunehmend brüchigen Work-Life-Balance. In der Vergangenheit machte man sich dagegen Sorgen über die schädliche Wirkung geistiger Arbeit, über bösartige Tagesdämonen, Lauheit im Glauben, scharf gewürztes Essen, übermäßig aufregende Romane, reißerische Zeitungsartikel, Automobile, Frauenemanzipation und den heimtückischen Effekt des Planeten Saturn.

Nicht zuletzt geben verschiedene Theorien zur Erschöpfung auch Hinweise darauf, wie wir unsere Handlungskompetenz und unsere Willenskraft einschätzen. Machen wir in erster Linie innere oder äußere Faktoren für unsere Erschöpfung verantwortlich? Betrachten wir sie eher als etwas Körperliches, etwas Geistiges oder als komplexes kulturelles Phänomen? Gehen wir davon aus, dass wir beeinflussen können, was uns die Kraft raubt, oder sehen wir uns als Opfer vampirischer Mächte außerhalb unserer Kontrolle? Welche Geschichten wir über unsere Erschöpfung erzählen, ist bedeutsam, denn sie prägen, wie wir unseren Zustand erfahren und welche Gegenmaßnahmen wir ergreifen.

Dieses Buch versammelt deshalb nicht nur Einsichten aus aktuellen psychologischen und soziologischen Untersuchungen zu Stress und Burnout, sondern erzählt auch von der Gedankenwelt schlapper Mönche, ermatteter Melancholiker, Renaissance-Alchimisten und überstimulierter Neurasthenikerinnen. Auch Gestalten aus der Literatur kommen darin vor, etwa Bartleby, Dante oder Oblomow – sie alle können uns leiten und mit ihrem wertvollen Wissen bereichern. Ich bin fest davon überzeugt, dass wir unserer Erschöpfung nur mit so etwas wie »Mixed Mental Arts« beikommen können – wir brauchen alte und neue Perspektiven aus unterschiedlichsten Bereichen: Wissenschaft, Literatur, Philosophie und Psychologie. Das Neue ist nicht immer besser. Oft liegt der Schlüssel zur Bewältigung der Herausforderungen unserer Tage in den zeitlos gültigen Konzepten der Vergangenheit. Schließlich hat die Menschheit seit jeher mit Erschöpfung zu kämpfen gehabt.

Für den Autor Jonathan Malesic ist Burnout nicht so sehr ein individuelles Problem, sondern eher kulturell bedingt.[13] Meiner Überzeugung nach trifft beides zu. Die Wurzeln unserer Erschöpfung sind oft in tiefliegenden kulturellen Überzeugungen verankert, die ihrerseits unsere individuellen Verhaltensweisen prägen. Diese Sammlung von Essays ist durchaus ein Selbsthilfebuch – aber eben eines, das auch unsere gemeinsamen Grundüberzeugungen zu Arbeit, Erschöpfung und Produktivität in den Blick nehmen will. Die heilende Kraft philosophischer Reflexionen und historisch-soziologischer Einsichten ist viel zu lange unterschätzt worden. Beim Versuch, unsere allgegenwärtige Erschöpfung zu überwinden, sind Vorschläge aus diesen Bereichen unerlässlich, nicht zuletzt weil sie uns helfen, den Blick auf unsere Probleme zu verändern. Perspektivwechsel, egal ob klein oder groß, können uns aus unserer Lähmung befreien und uns ins Handeln bringen. Nicht alles ist unsere persönliche Verantwortung, und wir sind nicht allein mit den Zwickmühlen, in denen wir festzustecken glauben. Viele Ursachen unserer Erschöpfung sind struktureller und kultureller Natur. Dazu kommt, dass einige der Glaubenssätze, die uns krank machen, nicht nur das Produkt aktueller neoliberaler Effizienzsteigerungsprogramme sind. Sie sind oft älter, als wir denken, ihre Wurzeln reichen weit zurück in die Vergangenheit.

Die Essayistin, Lyrikerin und Aktivistin Audre Lorde schreibt: »Es gibt keinen Kampf um ein einziges Thema, weil wir kein Leben führen, das nur unter einem einzigen Thema steht.«[14] Diese Aussage trifft auch auf die Erschöpfung zu – ihre Ursachen sind vielfältig und komplex, sie hat innere wie äußere Gründe. Fälle von Erschöpfung, die sich auf eindeutig identifizierbare medizinische Ursachen zurückführen lassen, berücksichtige ich in meinen Ausführungen nicht. Jeder Erschöpfungszustand allerdings, der auf einem komplexeren Ursachengeflecht beruht, erfordert eine transdisziplinäre und systemische Herangehensweise, die sich nicht ausschließlich auf äußere oder innere Faktoren konzentriert, sondern in Erfahrung bringt, wie diese Faktoren zusammenwirken. Inzwischen untersucht eine rasch wachsende Zahl von Forschenden, wie sich soziale und kulturelle Gegebenheiten auf unser mentales Wohlbefinden auswirken.[15] Meiner Überzeugung nach sollte dies auch in viel stärkerem Maß als bisher in die Ratgeberliteratur einfließen.

Produktivität und Effizienz sind in unserer Gesellschaft zu einem Fetisch geworden, und zwar in einem solchen Ausmaß, dass diese Überbewertung dramatisch nach hinten losgeht – sie macht eine immer größere Zahl von Menschen krank. »Körperlich und psychisch sind wir von weit mehr überarbeitet als nur von der Arbeit selbst«, schreibt Josh Cohen. »Wir sind mit unserem ganzen Wesen einer Kultur unterworfen, die uns nahelegt, jeden einzelnen Moment als Gelegenheit zum Produzieren oder Konsumieren wahrzunehmen.«[16] Die meisten von uns sind vor allem deshalb so ausgebrannt, weil wir bezüglich Zeit, und wie wir sie nutzen sollten, in ein Netz ausgesprochen schädlicher Grundannahmen verstrickt sind. Diese Grundannahmen sind für uns derart normal, dass wir sie als naturgegeben betrachten – als etwas, das eben ist, wie es ist. Der amerikanische Schriftsteller David Foster Wallace hat ein wunderbares Bild für diese sich zur selbstverständlichen Ideologie verfestigten Annahmen gefunden: »Schwimmen zwei junge Fische des Weges und treffen zufällig einen älteren Fisch, der in die Gegenrichtung unterwegs ist. Er nickt ihnen zu und sagt: ›Morgen, Jungs. Wie ist das Wasser?‹ Die zwei jungen Fische schwimmen eine Weile weiter, und schließlich wirft der eine dem anderen einen Blick zu und fragt: ›Was zum Teufel ist Wasser?‹«[17]

Ich hoffe, dieses Buch wird Ihnen dabei helfen, das Wasser deutlicher wahrzunehmen, in dem wir alle schwimmen und das uns so furchtbar müde macht.

Dieses Buch beinhaltet kurze Essays rund um das Thema Erschöpfung, etwa zu Arbeit, Energie, Freude, Kapitalismus, Perfektionismus, Ruhe und Zeit. Es lädt dazu ein, nicht nur von aktuellen Forschungsergebnissen zu lernen, sondern auch aus der Geschichte und aus alten Weisheitslehren. Sie können beim Lesen nach Belieben zwischen den Kapiteln hin und her springen und zuerst in das Thema eintauchen, das Sie am meisten anspricht. In welcher Reihenfolge Sie die Beiträge lesen, spielt keine Rolle. Weil mir klar ist, dass Ihre Energie begrenzt sein wird, sind alle Artikel kurz. Mein Rat ist, pro Tag nur einen Text zu lesen. Auf diese Art können die Ideen und Gedanken, die Ihnen in dem jeweiligen Beitrag begegnen, besser ins Bewusstsein dringen und langsam neue Blickwinkel eröffnen. Im Verlauf von vier bis sechs Wochen wird sich die Wahrnehmung Ihres eigenen Erschöpfungszustands zu verändern beginnen. Noch wichtiger ist, dass sich auch Ihre Einstellung dazu verändern wird, denn echte Transformation gelingt nur durch einen Wechsel in der Struktur unserer Gefühle. Wissen, das nur im Kopf existiert, ist nutzlos. Oder wie Goethe es formulierte: »Es ist nicht genug, zu wissen, man muss auch anwenden. Es ist nicht genug, zu wollen, man muss auch tun.« Deshalb werden Sie auch praktische Ratschläge finden, die Sie dabei unterstützen, konkrete Schritte zur Wiederherstellung Ihrer Vitalität zu unternehmen.

Dieses Buch wäre nicht möglich gewesen ohne meine wunderbaren Coachingklientinnen und -klienten – all die erschöpften Autoren, Wissenschaftlerinnen, Aktivistinnen, Maler, Ärztinnen, Gründer, Soldaten, Rechtsanwältinnen, Manager und CEOs, mit denen ich in den letzten Jahren arbeiten durfte. Ich habe unglaublich viel von euch allen gelernt. Theorie ist das eine, gelebte Erfahrung mit ihrem verrückten Durcheinander und ihrer immer wieder überraschend aufscheinenden Schönheit ist etwas ganz anderes. Ihr wisst, wer gemeint ist – danke, dass ihr euer Ringen, eure Lebensklugheit und eure Erkenntnisse mit mir geteilt habt.

Akzeptanz

Wenn wir vor lauter Erschöpfung immer langsamer und schwächer werden, ist der erste Schritt zu akzeptieren, dass es so nicht weitergeht. Erschöpfung ist ein Warnsignal, egal ob körperlich oder mental. Sie fordert uns auf, innezuhalten und Ruhe zu suchen. Wer vollkommen ausgebrannt ist, kann sich nicht mehr konzentrieren und fühlt sich außerstande, auch nur die einfachsten Arbeitsaufgaben zu erledigen. Der Körper sagt Nein und weigert sich zu funktionieren, solange die tieferliegenden Themen nicht angegangen werden. Durch den Zusammenbruch versucht er uns vor weiterem Schaden zu schützen und uns etwas mitzuteilen. Aber was genau will uns diese tiefgreifende Erschöpfung sagen?

Gut möglich, dass es unangenehme Wahrheiten sind. Wenn wir unser Bestes und noch mehr in die Arbeit gesteckt haben, auf die unsere ganze Ausbildung abgezielt hat und die das Zentrum unseres leidenschaftlichen Strebens war, kann die Vorstellung, in Zukunft etwas anderes tun zu müssen, äußerst bedrohlich wirken. Vielleicht fällt es uns auch schwer, überhaupt ein Bild davon zu entwickeln, wie wir anders als bisher leben und arbeiten könnten. Wir scheuen uns vor der mühseligen Aufgabe, uns stärker persönlich abzugrenzen, denn daraus könnten sich Konflikte ergeben, auf die wir weder Lust haben noch die Energie dafür. Vielleicht sind wir nicht einmal bereit zuzugeben, dass wir mit den vielen Anforderungen an unsere Zeit und Aufmerksamkeit einfach nicht mehr zurechtkommen, und mühen uns stattdessen ab, doch irgendwie weiterzumachen, egal um welchen Preis. Dann ist es unter Umständen nötig, unsere Bewältigungsstrategien nüchtern und ohne Scheu unter die Lupe zu nehmen, denn womöglich verschlimmern sie unsere Probleme noch. »Was, wenn die Art, wie wir auf eine Krise antworten, selbst Teil der Krise ist?«, fragt der Philosoph Bayo Akomolafe.[1] Um mit dem chronischen Stress in unserem Leben zurechtzukommen, verlassen sich manche zu sehr auf Alkohol, Arbeiten, Shoppen oder Frustessen. Andere neigen zum Prokrastinieren und Vermeiden oder werden bitter und feindselig.

Egal was uns unsere Erschöpfung mitzuteilen versucht, wir können unsere Vitalität nur wiederfinden, wenn wir zunächst einmal akzeptieren, dass es ein Problem gibt. Dann gilt es, genau hinzuschauen und zu klären, welche Bereiche in unserer Kontrolle liegen und welche nicht, damit wir unsere verbliebene Energie gezielt auf das richten können, was wir beeinflussen können. Der stoische Philosoph Epiktet fasst das bestens zusammen: »In unserer Gewalt sind: Meinung, Trieb, Begierde, Widerwille: kurz: Alles, was unser eigenes Werk ist. – Nicht in unserer Gewalt sind: Leib, Vermögen, Ansehen, Ämter, kurz: Alles, was nicht unser eigenes Werk ist.«[2] Anders ausgedrückt können wir unser Innenleben, unsere Urteile und Reaktionen und auch, wie wir andere behandeln, weitestgehend beeinflussen, während sich die meisten anderen Dinge unserer Kontrolle entziehen, darunter auch die Meinung anderer Leute über uns. Schon allein diese Einsicht ist eine bittere Pille, denn die meisten Menschen gehen davon aus, mehr Einfluss und Selbstwirksamkeit zu besitzen, als es wirklich der Fall ist.

Wenn die Ursachen für unsere Erschöpfung vor allem in uns selbst liegen, weil wir zum Beispiel einen übermächtigen inneren Kritiker haben oder zum Schwarzmalen neigen, hilft möglicherweise eine Therapie oder ein Coaching oder der Versuch, selbst an unserer Einstellung zu arbeiten. Für die buddhistische Psychologin Tara Brach besteht radikale Akzeptanz darin, die Wahrheit des gegenwärtigen Moments anzuerkennen und Achtsamkeit und Mitgefühl zu pflegen. Ziel ist, sich in jedem Augenblick voll und ganz bewusst zu sein, was in unserem Körper und Geist geschieht, und zwar ohne Wertung und ohne Kontrollversuche. Das bedeutet, Sorge und Schmerz anzunehmen, ohne sich zu widersetzen, und alles, was geschieht, mit offenem und liebevollem Herz zu betrachten. Brach schreibt: »Radikale Akzeptanz kehrt unsere Gewohnheit um, mit unvertrauten, erschreckenden oder intensiven Erfahrungen im Kriegszustand zu leben. Sie ist das Gegenteil zu all den Jahren der Selbstvernachlässigung, der Selbstverurteilung und des harten Umgangs mit sich selbst (…) Sie ist die Bereitschaft, sich selbst und das eigene Leben so wahrzunehmen und zu erfahren, wie es ist.«[3]

Falls unsere Erschöpfung aber äußere Ursachen hat, wird die Sache komplexer. Auch wenn bei den meisten Menschen äußere und innere Stressfaktoren zusammenwirken, hängt das, was uns belastet und uns die Kraft raubt, meist mit Arbeit zusammen: ein Pensum, das schlicht nicht zu bewältigen ist, unangemessene Deadlines, mangelnde Eigenverantwortung und Wertschätzung. Oft fügen uns Jobs, die wir aus finanziellen Gründen nicht aufgeben können, immer wieder moralische Verletzungen zu. Gut möglich, dass wir es satt haben, wenn uns Leute sagen, wir müssten nur an unserer Resilienz arbeiten, tief durchatmen, Arbeit und Privatleben entschiedener voneinander abgrenzen. Was sollen wir tun, wenn sich an den äußeren Gründen unserer Erschöpfung realistisch gesehen nichts ändern lässt?

Audre Lorde schreibt: »Alles, was ich über mich selbst akzeptiere, kann nicht eingesetzt werden, um mich klein zu machen.« Radikale Akzeptanz gegenüber den Dingen, die wir nicht ändern können, ist alles andere als defätistisch. Es ist vielmehr eine kluge Entscheidung – sie ermöglicht uns nämlich, unsere Energie auf das zu richten, was wir beeinflussen können, statt sie sinnlos zu vergeuden, indem wir uns über etwas aufregen, das wir nicht ändern können. Es ist also schlicht eine Energiesparmaßnahme. Und weil unsere Kräfte ohnehin äußerst begrenzt sind, wenn wir müde und erschöpft sind, ist Energiesparen essenziell. Außerdem bringt uns Akzeptanz auch zu einer friedlicheren Haltung gegenüber uns selbst und unseren Lebensumständen.

Radikale Akzeptanz heißt, sowohl innere wie auch äußere Realitäten anzuerkennen. Beginnen wir mit Ersterem. Wenn wir uns selbst akzeptieren, nehmen wir das Gute und Schlechte in uns an, einschließlich unserer unerwünschten Züge und Angewohnheiten. Erst wenn wir uns auch zu den dunkleren Anteilen unserer Persönlichkeit bekennen, gelingt echte Veränderung. Der Psychologe Carl Rogers spricht hier von einem »merkwürdigen Paradoxon«, das er so zusammenfasst: »Wenn ich mich so, wie ich bin, akzeptiere, dann ändere ich mich.«[4] Einer der Begründer der kognitiven Verhaltenstherapie, Albert Ellis, war berühmt für seine kritische Haltung gegenüber dem Konzept des Selbstwerts. Seiner Ansicht nach setzt Selbstwert immer auf Leistung und äußere Anerkennung und ist daher eng mit der Vorstellung verbunden, dass der eigene Wert mit Erfolgen zu tun hat. Stattdessen fordert uns Ellis auf, bedingungslose Selbstakzeptanz zu üben – mit unseren Schwachstellen und allem. Sich selbst anzunehmen, bedeutet für Ellis, die eigene Persönlichkeit auf eine grundsätzliche und unerschütterliche Weise zu respektieren, egal ob wir Leistung bringen oder nicht, und auch unabhängig davon, ob Leute uns und unser Verhalten gut finden. Ellis zufolge bedeutet bedingungslose Selbstakzeptanz, »sich selbst, die anderen und die Welt auch dann zu mögen, wenn wir nicht bekommen, was wir wollen, und obwohl wir nicht bekommen, was wir wollen«.[5] Ellis will uns dazu bringen, uns selbst als »wertvolle und erfreuliche Menschen« anzusehen, ganz unabhängig von unseren Leistungen und unserer Produktivität und davon, ob andere uns anerkennen oder lieben.[6] Natürlich ist das leichter gesagt als getan. Sich selbst voll und ganz anzunehmen, ist am schwersten, wenn man ganz unten ist, nicht mehr die Leistung bringt wie früher und sich hilflos und am Ende fühlt. Damit sind diese Momente eine echte Bewährungsprobe.

Ein Mensch zu sein, Risiken einzugehen und dabei Federn zu lassen, bringt mit sich, dass wir Fehler machen und uns nicht immer gut fühlen. Wir erleiden Verletzungen und sind, auch wenn wir unser Bestes geben, nicht immer erfolgreich. Während wir unser Engagement in der Regel kontrollieren und steuern können, liegt das Ergebnis unserer Bemühungen außerhalb unserer Kontrolle. Es gibt draußen in der Welt viele Hindernisse, manche davon sind strukturell bedingt, dazu kommen miteinander konkurrierende Ziele und Wünsche. Wir können weder unsere Vergangenheit ändern noch unsere Zukunft voraussagen. Aber wenn wir das ständige Müsste, Sollte, Könnte sein lassen, gelingt es uns vielleicht, uns mehr und mehr auf eine »Es ist, wie es ist«-Mentalität einzulassen.

Allerdings ist es mitunter gar nicht so leicht einzuschätzen, was gut für uns ist und was schlecht, wie die folgende daoistische Parabel zeigt. Im Mittelpunkt dieser Geschichte steht ein Bauer, der geradezu der Inbegriff freundlicher Akzeptanz ist. Entscheidend ist, dass er beides, das vermeintlich Gute wie das auf den ersten Blick Schlechte, mit demselben Gleichmut annimmt und sich weigert, vorschnelle Urteile zu fällen. Mehr noch, er weigert sich, überhaupt Urteile zu fällen.

Vor langer Zeit gab es im alten China einen Bauern, der ein Pferd besaß. »Was für ein glücklicher Mensch du bist«, sagten seine Nachbarn zu ihm. »Du hast ein Pferd, das für dich den Karren ziehen kann.«

»Kann sein«, gab der Bauer zurück.

Eines Tages vergaß er, das Gatter zu schließen, und das Pferd lief weg. »Du Ärmster!«, riefen seine Nachbarn. »Was für eine schlimme Nachricht, was für ein Unglück.«

»Kann sein«, gab der Bauer zurück.

Ein paar Tage später kam das Pferd zurück und brachte sechs Wildpferde mit. »Wie wunderbar! Du bist ein echter Glückspilz«, erklärten ihm seine Nachbarn. »Jetzt bist du reich!«

»Kann sein«, sagte der Bauer.

In der folgenden Woche wollte der Sohn des Bauern eines der Wildpferde zureiten. Doch das Pferd trat aus und brach ihm ein Bein. »Oh nein!«, klagten die Nachbarn. »Schon wieder so ein Pech!«

»Kann sein«, sagte der Bauer.

Am Tag darauf kamen die kaiserlichen Soldaten ins Dorf und nahmen alle jungen Männer mit, damit sie Kriegsdienst für den Kaiser leisteten. Nur der Sohn des Bauern blieb zurück. »Was für ein Glück du hast!«, riefen die Nachbarn.

»Kann sein«, sagte der Bauer.[7]

Der Bauer fügt sich weise in alle Umstände, die das Schicksal für ihn bereithält, weder jubelt er über das, was passiert, noch stürzt es ihn in Verzweiflung. Er leistet dem, was ihm begegnet, keinen Widerstand, denn er weiß, dass er die äußeren Ereignisse nicht beeinflussen kann und sie sich immer wieder ändern werden. Mehr noch, es ist unmöglich zu wissen, welche Lebensereignisse sich letztlich als gut oder schlecht erweisen werden.

Anzunehmen, was ist, und uns von dem zu lösen, was unserer Ansicht nach sein sollte, ist eine wesentliche Säule des Daoismus. In seinem zentralen Text, dem Daodejing (4. Jahrhundert v. u. Z.), plädiert der Philosoph Laozi für eine Grundhaltung der wahrhaft radikalen Akzeptanz. Für den Daoismus steht die Vorstellung im Mittelpunkt, der natürlichen Ordnung der Dinge keinerlei Widerstand entgegenzusetzen. Es geht darum, sich zu fügen und dem Fluss der Dinge anzuvertrauen. Laozi wirbt auf ausgeklügelte Art dafür, unseren Willen den kosmischen Kräften zu unterwerfen, indem wir annehmen, was ist, und unser Anhaften an einen bestimmten Ausgang lockern. Er lädt uns ein, uns mit allem, was uns das Leben entgegenbringt, radikal zu versöhnen – nicht zuletzt deshalb, weil eben alles wandelbar ist.

Was wir in dem einen Moment als schlecht einschätzen, kann sich langfristig als gut für uns erweisen. Das trifft auch auf unsere Erschöpfung zu, denn sie zwingt uns, auf unseren Körper zu hören. Vielleicht bringt sie uns dazu, unser Leben zu ändern, vielleicht schützt sie uns vor zukünftigem Schaden, oder sie verschafft uns einfach eine Zeitspanne, in der wir uns ausruhen und nachdenken können.

Arbeit

Die Vorstellung, dass wir uns beim Arbeiten selbst verwirklichen, ist ein entschieden modernes Phänomen. Heute nimmt Arbeit sowohl in unserem persönlichen Leben wie auch in der kollektiven Vorstellung einen zentralen Platz ein. Wenn wir jemanden kennenlernen, ist eine der ersten Fragen meist: Was machst du? Was letztlich bedeutet: Wer bist du? Sowohl individuell wie auch als Gesellschaft investieren wir viel zu viel in die Arbeit. Sie ist längst nicht mehr nur Mittel zum Zweck, um unseren Lebensunterhalt zu bestreiten, und dient auch nicht mehr nur dazu, für sozialen Status zu sorgen. Vielmehr ist Arbeit aufs Engste mit anderen Kernbedürfnissen verflochten. Dazu gehören Sinn, Identität, Selbstverwirklichung und das Gefühl von Verbundenheit. Und genau in dieser engen Verflechtung liegt das Problem. Viele von uns erwarten von der Arbeit eine existenzielle Art von Bestätigung – sie soll unserem Leben Sinn verleihen und uns die Möglichkeit geben, unser wahres Potenzial zu entfalten, was immer das sein mag.

Doch während einerseits unsere Erwartungen an die Arbeit durch die Decke gehen, ist andererseits die Realität vieler Jobs ziemlich enttäuschend, manchmal sogar richtig schlimm. Die immer größer werdende Lücke zwischen Ideal und Wirklichkeit schafft einen inzwischen weit verbreiteten Leidensdruck. Wie Jonathan Malesic beobachtet, brennen wir oft schlicht deshalb aus, weil wir von der Arbeit zu viel erwarten. Arbeit ist heute in einem gefährlichen Ausmaß mit Bedeutungs- und Heilserwartungen überfrachtet.[1] Dadurch wird die Berufsarbeit für uns zu einer grausamen Herrin – wir erwarten nichts Geringeres als Erlösung von ihr, doch in den meisten Fällen lässt sie uns vor allem leiden. Der soziale Schmerz, den wir empfinden, wenn wir uns im Job isoliert oder schlecht behandelt fühlen, kann genauso heftig sein wie ein physischer Schmerz: Er aktiviert dieselben Regionen im Gehirn.[2] Wenn bei der Arbeit etwas schiefläuft, hat das Folgen auf psychologischer, sozialer und spiritueller Ebene. Anders ausgedrückt: Was bei der Arbeit passiert, kann sich massiv auf unsere gesamte Persönlichkeit auswirken.

Wann hat man uns die Vorstellung in die Köpfe geschleust, Arbeit, Selbstverwirklichung und Lebenssinn gingen Hand in Hand? Ist das bloß ein weiterer neoliberaler Schachzug, der darauf abzielt, unsere Produktivität und unser Engagement zu steigern? Eine brillante Strategie, um uns willfährig zu machen und alle revolutionären Energien im Keim zu ersticken, auf dass wir zu knallharten Impresarios unserer selbst werden? Oder spiegeln diese Erwartungen nur die Privilegien der gebildeten Mittelklasse wider und sind letztlich Ausdruck eines arroganten Anspruchsdenkens? Vielleicht fällt unser Bedürfnis nach einer erfüllenden Arbeit ja in die gleiche Kategorie wie die Einbildung, wir bräuchten unbedingt Avocado-Toasts, Poke Bowls und Yoga mit Ziegen.

Schon rein quantitativ kann kein Zweifel daran bestehen, dass Arbeit wichtig ist. Im Durchschnitt verbringen wir etwa 85 000 Stunden oder 3500 Tage unseres Lebens mit Arbeit.[3] Selbst wenn wir physisch gar nicht bei der Arbeit sind, kann sie unsere Energie absorbieren und unsere Gedanken beherrschen. Dazu kommt, dass wir meist nur den Tausch von Zeit und Fertigkeiten gegen Geld als Arbeit verstehen, doch daneben gibt es ja auch noch viele andere, unentgeltliche Formen von Arbeit, wie Haushaltsdinge, Kinderbetreuung und Gefühlsarbeit.

Lange betrachtete man Arbeit als etwas rein Physisches. In der Antike und im Mittelalter war körperliche Arbeit in erster Linie Sache von Sklaven, Frauen, Kindern und Leibeigenen. Das Konzept geistiger Arbeit rückte erst im 12. Jahrhundert ins Bewusstsein, als sich Gelehrte über ihre geistige Erschöpfung zu äußern begannen. Mönche wie Evagrius Ponticus und Johannes Cassianus beschrieben, wie ermüdend das Dasein als Geistlicher sein kann. Heutzutage haben wir den Geltungsbereich des Begriffs noch mehr ausgeweitet. Alles ist Arbeit: Wir »arbeiten« an unseren Beziehungen, unserer Effektivität und unserer Gesundheit. Wir machen »Workouts«, um fitter zu werden. Persönliche Weiterentwicklung gilt uns als »innere Arbeit«, sogar Freud sprach von »Traumarbeit« und der Notwendigkeit des »Durcharbeitens«.

In alten Zeiten existierten zwei Auffassungen von Arbeit, die einander diametral entgegengesetzt sind.[4] Das eine Lager betrachtete Arbeit als Fluch Gottes – als eine Strafe für den Ungehorsam von Adam und Eva im Paradies über die ganze Menschheit verhängt. Aus dieser Perspektive ist Arbeit ein schweißtreibendes, schmerzvolles und oft undankbares Sich-Abrackern, um dem harten, mit Dornen und Disteln bewachsenen Boden die nötige Nahrung abzuringen. Arbeit gilt genauso als Strafe wie die Schmerzen der Geburt, der Tod und die Vergänglichkeit des Leibes, der zu Staub zerfällt. In der Genesis sagt Gott zu Adam:

»Weil du auf deine Frau gehört und von dem Baum gegessen hast, von dem zu essen ich dir verboten hatte: So ist verflucht der Ackerboden deinetwegen. (…) Im Schweiße deines Angesichts sollst du dein Brot essen, bis du zurückkehrst zum Ackerboden (…). Denn Staub bist du, zum Staub musst du zurück.»[5]

Gott bringt Arbeit in eine deutliche Verbindung mit anstrengender Mühsal, Erschöpfung und Leiden ohne Ende. Die dahinterliegende Annahme ist, dass wir Menschen von Natur aus träge sind und alle von einer Rückkehr in eine Spielart des Gartens Eden oder des Schlaraffenlands träumen, wo Milch und Honig fließen und Früchte, gebratene Tauben und Flaschen voller Wein in unserem Schoß landen, während wir entspannt im Schatten liegen. Dieser Tradition folgend sahen die Benediktiner und andere Mönchsorden Arbeit als einen Akt der Buße an, als Kasteiung von Leib und Seele und Gelegenheit zur Sühne. Bezeichnend in diesem Zusammenhang ist die Herkunft des französischen Verbs travailler: Es bedeutet arbeiten, sich abmühen und ist entstanden aus dem Wort trepalium – der lateinischen Bezeichnung für ein Folterinstrument.[6]

Die Verteidiger des Arbeitens betrachteten die Angelegenheit dagegen vollkommen anders. Sie wiesen darauf hin, dass auch Gott selbst bei der Erschaffung der Welt gearbeitet hatte. Keith Thomas zufolge wurde Arbeit in alten Zeiten auch betrachtet als »eine heilige Pflicht und Quelle aller menschlichen Annehmlichkeiten, als etwas, das Wohlstand schafft und Zivilisation ermöglicht. Sie war der einzige sichere Weg zu Glück, Gesundheit, Zufriedenheit und persönlicher Erfüllung. Sie strukturierte den Tag, bot Gelegenheiten für soziales Miteinander und Gefährtenschaft, förderte den Stolz auf die individuelle Kreativität und schuf ein Gefühl von persönlicher Identität.»[7]

In den Schriften von Theologen und Philosophen gibt es eine reiche Tradition, Arbeit in diesem Licht darzustellen – als charakterbildende moralische Pflicht, als Eckpfeiler der Zivilisation und Grundvoraussetzung allen Fortschritts. Faulheit, davon sind diese Denker überzeugt, ist der Feind der Seele. Arbeit wehrt Sünde und Laster ab, bewahrt uns vor Unheil und verhindert, dass wir in schädliche Seelenzustände abgleiten. Kurz gesagt ist sie eine körperliche, spirituelle und emotionale Notwendigkeit mit weitreichendem sozialem Nutzen. Hinzuzufügen ist auch, dass in unserer zunehmend atomisierten Gesellschaft der Arbeitsplatz häufig der Ort ist, an dem ein Großteil der sozialen Interaktion stattfindet – bei der Arbeit erfahren wir Gemeinschaft und Zugehörigkeitsgefühle, begegnen Klatsch und Intrigen und erleben, wie freundlich Menschen miteinander umgehen können und welche Dramen sich mitunter zwischen ihnen abspielen.

Die Konzentration und das Durchhaltevermögen, die beim Arbeiten erforderlich sind, werden von manchen auch als Gegenmittel gegen Trauer und Sorge betrachtet. Daneben verweisen sie auf die Selbstachtung, die durch gut geleistete Arbeit entstehen kann, und die Befriedigung, die wir nicht selten erfahren, nachdem wir uns physisch verausgabt haben. Nichts zu tun zu haben, ist sowohl bei alten wie auch modernen Denkern häufig mit Überdruss und Melancholie assoziiert, einem Leben ohne Sinn. Wie Keith Thomas betont, kann Arbeit auch eine willkommene Ablenkung sein, die das innere Grübeln in Schach hält.[8]