Erst grau dann weiß dann blau - Margriet de Moor - E-Book

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Margriet de Moor

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Beschreibung

Eines Tages ist Magda verschwunden, weggefahren, ohne eine Nachricht zu hinterlassen. Nach zwei Jahren steht sie plötzlich wieder in der Küche - als sei nichts gewesen. Robert, ihr Mann, bedrängt sie mit Fragen: Wo warst du, was hast du gemacht? Er bekommt nie eine Antwort, Magda entzieht sich ihm, sie verheimlicht ihr Leben, bis er es eines Tages nicht mehr aushält ... Ein Roman über die Unfähigkeit zur Freiheit, von der Liebe und von dem, was ein Leben ausmachen könnte.

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Über das Buch

Robert hat Magda auf einer Reise durch Kanada kennengelernt. Magda, die nach dem Krieg mit der Mutter nach Kanada ausgewandert ist, geht mit ihm zurück nach Europa, lebt mit ihm ein paar Jahre in den Cevennen und schließlich in Holland, lernt die neue Sprache, übersetzt, findet Freunde. Es geht ihr gut mit Robert, und dennoch spürt und weiß sie bald, »dass sich ganz in der Nähe des Lebens, in dem man zufällig gelandet ist, ein anderes befindet, das man seelenruhig genauso gut hätt führen können.« Aber ist diese Wahrheit zumutbar? Sich selbst und den anderen.

Eines Tages ist Magdas verschwunden, einfach nicht mehr das, ohne eine Nachricht zu hinterlassen weggefahren. Robert hält sich an den Alltagsritualen fest: Arbeit, die Hunde ausführen, den Garten.

Nach zwei Jahren ist sie plötzlich wieder da: Warum ist sie weggegangen, warum hat sie ihm das angetan, warum hat sie nie darüber gesprochen, sie entzieht sich, sie verheimlicht ihm ihr Leben.

Margriet de Moor

Erst grau dann weiß dann blau

Roman

Aus dem Niederländischen von Heike Baryga

Carl Hanser Verlag

Hanser-Ebook

Ich fühle Luft von anderem Planeten

Arnold Schönberg, Streichquartett in fis-moll op. 10 Sehr langsam

Erster Teil

1

Er steht jeden Tag um halb sieben auf. Einige Minuten vorher öffnet er ohne Zutun einer mechanischen Gewalt seine Augen und kommt zur Besinnung. Während er noch ruhig liegenbleibt, erkennt er den Geruch und die wohlige Wärme wieder, und vor allem kann er die Position des Bettes, in dem er liegt, den Fenstern, der Tür und den Wänden des Schlafzimmers zuordnen. Dann erinnert er sich an ein Detail, er erinnert sich an die zwei schönen erotischen Drucke von Irokeizu: links über ihm.

Wenn er wieder weiß, wo er sich befindet, überfällt ihn eine vertraute, unbestimmte Unruhe, die ihn dazu zwingt, seinen Verstand zu gebrauchen. Er verwirft den Gedanken, daß er sich vielleicht fragen könnte, was er mit seinem Leben eigentlich tut. Früher hatte ich dann meine Kinderträume. Ich möchte wissen, wo sie geblieben sind. Unsinn. Er war wirklich kein Träumer. Er war ein Knirps, der ausgezeichnet lernte und jeden Winter wegen einer starken Angina drei Wochen zu Hause bleiben mußte. Ihn bedrückt eine andere Frage.

Über den Gardinen hängt ein Lichtstreifen. Draußen ist es noch ruhig. Wie wird dieser Tag werden? Langsam dringt es zu ihm durch: nicht unangenehm, für heute früh stehen zwei Routineoperationen im Terminkalender, ich fange um acht Uhr an. Es sind unkomplizierte Fälle von Star bei Patienten über die Achtzig, kerngesunde Leute, die beschlossen haben, ihre Augen reparieren zu lassen. Wenn ich gleich den Operationssaal betrete, liegt einer von ihnen schon zugedeckt auf dem Tisch.

Während der Assistent die Infusionsnadel in den Arm schiebt, wird mir in den Kittel und in die Handschuhe geholfen. Dann setze ich mich ans Kopfende des Tisches, bohre zwei stabile Nadeln in das obere und untere Augenlid, befestigte daran eine Klammer, die das Auge weit öffnet, und ziehe einen Draht durch die Oberseite der Bindehaut, um das Auge, das mich mittlerweile anstarrt wie das eines großen toten Fisches, noch ein bißchen manipulieren zu können, indem ich den dünnen Draht sanft bewege. Ich ziehe das Gestell mit den beiden Mikroskopen — eins für mich, eins für die OP-Schwester zu meiner Rechten — über den Kopf des Patienten, mir wird eine kleine Schere gereicht, ich fange an. Durch die technische Apparatur bin ich von meinen Händen wie abgetrennt und beobachte meine Arbeit. Ich sehe zu, daß ich einen fehlerfreien Einschnitt mache. Die schwachen Blutungen, die auftreten, verschorfe ich sofort mit einem feinen Brenner …

Von klein auf hat er eine Abneigung gegen Blut. Am Karsamstagmorgen klemmt seine Mutter die größte und dickste Legehenne zwischen die Knie. Die Mutter ist entschlossen und schnell, das Messer hat sie zuvor auf dem backsteinernen Rand des Küchenfensters gewetzt. Eine seiner kleinen Schwestern hebt neugierig den Hühnerkopf vom Fliesenboden auf, und er, der mit stolzem Gesicht wegläuft, sieht auf krasseste Weise, wie der Blutstrahl, der den Eimer füllt, erst nachläßt, als der Tierkörper unvermittelt stillhält. »Möchtest du noch?« fragt sein Vater am nächsten Tag. Er nickt und taucht seine Knabenfinger in lauwarmes Wasser, auf dem kleine Blütenblätter schwimmen. So weit er zurückdenken kann, hat er Arzt werden wollen.

Die Nacht verblaßt. Neben ihm liegt Nellie, sie schläft und hat eine Faust an ihr Gesicht gepreßt. Nicht nur jetzt, in der Dämmerung des Sommermorgens, sondern auch im Stockdunkel des Dezembers weiß er, daß ein zufriedenes Lächeln um ihre Lippen spielt. Noch träumt sie tief. Sie behauptet, von nichts anderem zu träumen, als von den Geschäftigkeiten des vorigen Tages.

»Ich kniete im Geschäft auf dem Boden und packte eine Bestellung aus«, sagt sie.

»Vorsichtig wickelte ich das Seidenpapier auf und hielt einen kostbaren Teller aus farbigem Delfter Porzellan in den Händen. Er war gesprungen.«

Sie glaubt, eines der am wenigsten rätselhaften Wesen der Erde zu sein.

Gähnend kehrt er zurück an die Oberfläche. Für heute nacht war es schön, du hast das Spiel zu Ende gespielt, der Traum ist vorbei, werd wieder zu dem, der du bist. Dieses Haus: sie hatten die verspielte kleine Villa damals ganz preiswert erstehen können, mit hochgeschlagenem Kragen stiefelten sie um das Gebäude herum, der Wind kam vom Meer, mit Besitzeraugen betrachteten sie die Schlafzimmerfenster, die versunken im graubraunen Reet des Dachstuhls lagen. Ein Haus, für die Familie, die man gründen wird. Alte Schränke. Ein Keller. Ein Herd, der fabelhaft zieht. Du wirst nicht einsam sein.

Jetzt, da ihr Sohn bald zwanzig wird, hat Nellie angefangen, außer Haus zu arbeiten. An vier Tagen in der Woche handelt sie mit Schmucksachen und Porzellan, und vor allem in der Sommersaison fließt das Geld von allein in ihre achtlosen Hände. Er kommt von seiner Sprechstunde zurück, fährt langsam den Duinweg hinunter. Die beleuchtete Auslage befindet sich unten am Hang, und genau in dem Moment, wo er an der Kreuzung anhalten muß, öffnet sie die Rückwand des Schaufensters. Sie sieht ihn nicht, natürlich nicht. Sie beugt sich vor und nimmt eine Kristallschale in ihre Hände.

»Macht es wirklich nicht zuviel Arbeit?« hat der Kunde gefragt.

»Nein, keineswegs.«

»Ist es tatsächlich das einzige Exemplar?«

»Ganz bestimmt. Die Firma liefert nur sehr sporadisch. Ich war überrascht, als ich die Schale in der letzten Sendung fand.«

Noch während sie spricht, kommt sie hinter dem Ladentisch hervor. Als sie die dunkelrote Schaufensterverkleidung öffnet, fällt Straßenlicht ins Geschäft. Sie beugt sich vor.

Im Schlaf rollt sie sich an seine Seite. Sie gibt putzige Schnarchgeräusche von sich und faltet ihren Arm um seine Schultern, er weiß, daß sie die Zeit trotz ihres Traumes nicht aus den Augen verliert, sie mag es sehr, daß er sich morgens aus ihren Armen lösen muß. Welche eingebaute Mechanik beherrscht mich? Vom ersten Augenblick an habe ich die Neigung verspürt, ihrem unermüdlichen Schritt zu folgen. Jetzt hat sie das Sagen, richtet das Haus ein, streicht die Wände und tapeziert selbst. »Was hältst du von Ferien an der Dordogne?« fragt sie bei Kerzenschein. Er drückt seine unrasierten Wangen an ihr Gesicht und beantwortet ihre Selbstsicherheit mit Bequemlichkeit. Seit Jahren schon haben sie sich aufeinander eingestellt. Die Größe seiner Socken kennt er nicht. Wenn er weggeht, gefällt es ihm offenbar, ihr, seiner ersten Liebe, ohne daß sie danach fragt, zu sagen, wann er wahrscheinlich wieder zu Hause ist.

Dieses Haus. Dieser Sohn. Seine Frau versucht schon seit zwanzig Jahren, auf dieser kargen Düne einen Garten anzulegen. Sie ebnet den Boden, bedeckt ihn mit dunklem Mist und gräbt mit verbissenem Gesicht Hecken und Rosen mit dichten Blüten in den Boden ein, aber nichts lebt hier länger als eine Saison. Wie kommt es eigentlich, daß gerade sie es ist, die ihn davon überzeugt, daß mit ihrem Sohn alles in Ordnung ist. Wenn du auf dieser vom Wind zerzausten Höhe Blumen sehen willst, Nellie, dann mußt du dich tief bücken, glaub mir, ich habe schon immer in diesem Dorf gewohnt; wenn deine Nase den Boden berührt, dann siehst du sie, die armseligen Sternchen der Feigwurz.

Halb sieben. Er muß sofort aufstehen.

2

Er duscht. Kocht Kaffee. Ein paar Butterbrote. Als er die Terrassentür öffnet, fallen Tropfen auf seine Hände, und er erinnert sich an das kurze, aber heftige Gewitter Ende der vergangenen Nacht. Diese Erlösung war dringend nötig. Das Dorf konnte die Hitze der letzten Wochen kaum noch ertragen. Er lehnt sich gegen die feuchte Mauer der Balustrade und überblickt einen Teil des Wohngebietes: die Kirche, das Gemeindehaus, die Hotels, den blauen Wegweiser Zum Strand. Alles hat sich verändert. Alles liegt kühl und neutral unter einem bedeckten Himmel da. Spielzeug von einem Kind, das endlich beruhigt schlafen gegangen ist. Obwohl er fröstelt, ist er bester Stimmung. Die Hitze ist verschwunden, zusammen mit etwas anderem, etwas außerordentlich Reizbarem, das jetzt, wo er darüber nachdenkt, schon viel länger als diesen Sommer im Dorf herumschlich.

Gestern war es am schlimmsten.

Nachdem er den ganzen Tag bei geschlossenen Türen und Fenstern zugebracht hatte, war Nellie in der Dämmerung hinausgegangen. Es war etwa halb zehn gewesen.

Erschrocken über ihr welkes, alt gewordenes Gesicht, hatte er die Zeitschrift, in der er las, aus den Fingern gleiten lassen.

Sie hatte ihn angesehen: »Gehen wir in Gottes Namen doch noch kurz raus, Erik.« Bereitwillig war er aufgestanden und gemeinsam mit ihr den Pfad zwischen der stacheligen Begrünung hinuntergelaufen. Oben an der Treppe, mit der sie ihre Düne begehbar gemacht hatten, drehte sie sich um und schaute zurück. Die Speicherfenster standen weit offen.

»Wir machen noch einen kleinen Spaziergang!« rief sie mütterlich.

Keine Reaktion. Er wußte, daß es Nellie darum auch nicht ging. Ihr Sohn gab selten eine Antwort. Sie wollte nur, daß sie beide kurz Notiz von seiner Anwesenheit nahmen, von dem Zuschauer, der in der Fensteröffnung stand, und vielleicht sogar von dem gelassenen jungen Mann, der das Teleobjektiv ausrichtete. Oder sonst: seinem aufleuchtenden weißen Hemd. Gabriel ist schwachsinnig. Er ist besessen von Mond und Sternen. Von seinen inneren Monologen haben andere nur vage Vorstellungen. Erik und Nellie haben sich an sein Gesicht gewöhnt, an die Augen, die wie Steine in seinen Kopf gedrückt sind. Morgen hast du Geburtstag. Du wirst schon achtzehn, neunzehn. Was soll ich kochen, sagt Nellie immer wieder zu ihm. Du siehst heute blaß aus. Wenn du die ganze Nacht aufgewesen bist, dann schlaf doch wenigstens bis mittags. Warum lachst du so? Sei nicht so albern, erzähl es mir. Wenn du so lachst, dann fange ich automatisch auch an.

Sie sind die Treppen aus Fichtenstämmen hinuntergeschlendert. Erik weiß wirklich nicht mehr, wie es möglich sein konnte, daß sie plötzlich vor dem Haus von Robert Noort standen. Sie müssen wie benommen gewesen und den Astridboulevard hinuntergegangen sein, und dann den Duinweg hinauf und durch die Oude Zeestraat, jetzt erst wundert er sich darüber, daß sie den Strand gemieden haben: vielleicht wegen der Quallen, die dort schon seit Tagen ihren blauen und grünen Schleim in der Bullenhitze verdampfen lassen?

An der Hecke zögerte er und sah Nellie verzweifelt an; er hatte absolut keine Lust, den Freund, mit dem er zusammen aufgewachsen war, an diesem Abend zu besuchen. Seine Abneigung gegen Robert war nur vorübergehend, das vermutete er wenigstens, also, warum sollte er dann nachgeben? Robert war — seit einiger Zeit — ein Mann, der mit düsteren blauen Augen rauchend dasaß und schwieg. Erik kannte ihn seit Jahrzehnten. Er kannte seine Familie, den fabelhaften, mittlerweile verstorbenen Vater, die Mutter und die kleine bleiche Schwester, die petzte und vorgezogen wurde. Gemeinsam hatten sie vor Freude getanzt, als das Kind einmal den silbernen Zierfisch fallen ließ. Der Engel. Auf einmal war der Wohnzimmerboden übersät mit Hunderten von Schuppen. Sie funkelten in der Mittagssonne. Dafür würde sie endlich büßen!

Sie waren Klassenkameraden. Jedes Jahr gelang es Robert, die Schulbank direkt neben der Tür in Beschlag zu nehmen; der Junge, der seine Jacke nicht auszog, sondern nur aufknöpfte, war nach dem Klingeln stets als erster wieder auf dem Hof, breitbeinig stand er im Nieselregen, dem Wind, der Sonne und wartete auf ihn, Erik. Etwa 1952 wurde das Gesicht seines Freundes plötzlich schärfer, sie waren damals ungefähr sechzehn. Die Stirn- und Backenknochen traten hervor, die Augen versanken; er begann krankhaft Vincent van Gogh zu ähneln, und tatsächlich brach er Jahre später sein Jurastudium von einem auf den anderen Tag ab, um Künstler zu werden. Als Erik an einem Wochenende mit der Straßenbahn nach Hause fährt, sieht er in der Ferne einen Idioten, der gefrorene Tulpenfelder malt! Hut auf, eine riesige Jacke an, Möwen um den Kopf. Später, im Winter 64, sah er ihn — damals etwas unbegreiflich — mit einer Frau. Mit Magda. Ein Mädchen, das genausogut jede andere hätte sein können, hatte Robert dazu gebracht, sich stolz und allen Ernstes über die Liebe zu äußern. Es ist mir etwas Seltsames passiert. In diesem Jahr, in diesem Sommer grübelt er wie jeder andere im Dorf über ihr Verschwinden nach. Das Verschwinden und die dreiste Rückkehr Magdas beschäftigte hier alle sehr und hinter vorgehaltener Hand.

Gerade wollte er zu Nellie sagen: Sollen wir nicht umkehren?, als Magda mit ihrem Bouvier daherkam; das alte, schwarze Biest hechelte stockend. »Kommt etwas trinken«, sagte sie. »Das ist ein trostloser Abend. Die Hölle.«

Aber sie lachte leise, und als sie ihnen das Gartentor öffnete, fiel ihm auf, wie frisch und lebendig sie aussah. Als er hinter ihr herging, glaubte er, ihren Geruch wahrnehmen zu können. Er sah auf den vollen, leicht gebräunten Frauenrücken, der sich unter einem Muster gekreuzter Bänder bewegte.

Robert saß auf seinem gewohnten Platz. Das Haus hatte auf der Vorderseite eine schöne Terrasse — Steinplatten, Töpfe mit Rosen, Aussicht auf eine Weide mit Kühen —, aber er, Magda und die Hunde zogen den Platz neben der Küche vor. Als Erik ihn im Licht einer Neonröhre in einem schiefen Lehnstuhl sitzen sah, mager, verschwitzt, mit den beiden nach Luft schnappenden Kläffern von Magda zwischen den Füßen, war er erneut versucht, rechtsum kehrtzumachen.

Robert sah auf, begrüßte seine Freunde jedoch fast nicht. Als Magda mit einem Tablett mit Getränken und Flaschen herauskam, streckte er sofort einen Arm aus. Sie reichte ihm ein Glas Whisky mit Eis.

»Wie läuft’s mit der Fabrik?« fragte Erik nach einer Weile. Er wußte, daß er auch hätte fragen können: wie sieht es mit dem Absatz der Giebelvertäfelungen, der Aluminiumgerüste, der Gußformen aus. Robert ist Direktor einer Stahlfabrik. Oft genug hat er ohne Erfolg versucht, ihm seine Geschäfte zu erklären, seine Kämpfe mit dem Selbstkostenpreis, seine Auseinandersetzungen mit den Behörden, seine waghalsigen Experimente mit den Transporten, den sich ewig wiederholenden Kampf, der die Voraussetzung für den Reichtum ist.

Ein pflichtbewußtes Lächeln. Er schien nur zu antworten, weil Erik ihn weiterhin anschaute.

»Wir beginnen mit dem Bau eines neuen Walzwerkes. Wenn ich Glück habe, kann ich mir ein schönes Gemeindegrundstück unter den Nagel reißen.«

Seine Stimme klang gelangweilt. Mit den Augen eines schläfrigen Tieres starrte er ins Halbdunkel. Deprimiert schlug Erik nach den Mücken vor seinem Gesicht und verfiel ebenfalls in Schweigen. Undeutlich hörte er das Gespräch der beiden Frauen neben der Küchentür. Er versuchte sich vorzustellen, daß dieser nichtssagende Mensch neben ihm derjenige gewesen war, der, solange er sich erinnern konnte, immer etwas zu erzählen gehabt hatte, sei es über Gott, den Tod oder die Liebe.

Sie hatten bei den Franziskanerpatres in Leiden ihre Aufnahmeprüfung für die weiterführende Schule abgelegt und waren mit der Straßenbahn nach Hause gefahren. Als sie die Haltestelle erreichten, bremste die Bahn stark ab. Sie konnten mühelos in die Häuser und bis in die Hinterhöfe schauen, in denen die Wäsche hing. Robert hob den Kopf, schnupperte und sagte: »Feuergeruch.« Kurz darauf sahen sie die schwefelgelbe Rauchsäule. Die Luft wurde neblig. Die Bahn hielt zwischen zwei Häusern vor einem Innenhof.

Hier wohnte Gerardus. Ein Gewirr von Verschlägen und Eingängen am Platz der Straßenbahnhaltestelle, die Hintertüren zur Gasse der Fischräucherei hinaus. Gerardus wohnte dort mit seinen beiden Töchtern, Paula und Agnes, Mädchen mit schwarzen Augen und Eichhörnchenhaar — sehr unnatürlich, sagten die Leute, das Haar und wie sie wohnen —, und einem Schäferhundmischling, der, wie man hörte, mißhandelt wurde. Gerardus war blind, selbst schuld, er trank Spiritus.

Es hatte sich eine beachtliche Menschenmenge gebildet. Viele schauten ruhig zu, andere rannten in den rauchenden Hauseingang hinein und wieder hinaus. Erstaunt sahen Robert und Erik, wie sie sich plagten und abmühten, um Tische und Stühle von jemandem zu retten, den sie sonst nur als Zigeuner, armen Schlucker oder Trottel beschimpften.

Dann entdeckten sie Gerardus und seine Töchter. Sie saßen etwas abseits auf Sesseln, aus denen die Federn hervorschauten, und starrten vor sich hin, als ob sie mit der ganzen Sache nichts zu tun hätten. Zu ihren Füßen lag der Hund und hatte alle viere von sich gestreckt. »Tot«, sagte Robert. Die Gruppe hatte etwas Erschreckendes an sich. Sie sah kühl und gleichgültig aus. Ein blinder König, zwei Prinzessinnen, ein toter Hund. Eines der Mädchen, die Jüngste, Agnes, wippte mit dem Fuß. Letzte Woche noch hatte Robert behauptet, er habe gesehen, wie sie ohne Badeanzug aus dem Meer gekommen sei. Erik hatte ihm nicht geglaubt, Robert immer mit seinen Geschichten!, aber jetzt spürte er, daß er es nicht erfunden hatte. Sie ist wie ein tropfender weißer Fisch aus dem Wasser aufgetaucht und dann schnurstracks mit schweren Schritten an ihm vorbei die Düne hinaufgelaufen. Unter ihrem Bauch hat sie einen großen kupferfarbenen Fleck. Die Straßenbahn setzte sich wieder in Bewegung.

An diesem Abend aß er bei Robert. Es gab Erdbeeren, ungarischen Fleischsalat und eine große Kanne kalten Kakao. »Ich esse keine Erdbeeren mehr«, sagte Robert zu seiner Mutter. Nach dem Essen hielt Erik ihm verärgert vor, daß er krank werde, wenn er nicht esse. In drei Tagen mußten sie gegen die Protestanten Fußball spielen. Robert sah ihn fest entschlossen an. »Ich spiele nicht mit.«

Und mit der gleichen Entschlossenheit verkündete er eine Woche später, daß er sich vom Glauben abgewandt habe. »Ich mach da nicht mehr mit.« Sie waren dabei, sich in der Sakristei umzuziehen. Es sollte eine Engelsmesse für die kleine Tochter des Friseurs gelesen werden, das Mädchen war nicht älter als vier Jahre geworden. Alles war weiß, die Gewänder, die Tücher, die Blumen. Der Kaplan schaute auf seine Uhr und gab ein Zeichen. Sie stellten sich auf. Robert läutete die Messeglocken und verschwand danach sofort.

»Welchen Sinn hat das Leben?« fragt er eines Abends.

Er ist absolut unausstehlich. Er sitzt in einer Ecke im halb abgedunkelten Zimmer, auf dem Tisch liegen Buchstaben in einem Kreis, das Kreuz muß mit den Fingerspitzen hochgehoben werden, er will nicht mitmachen. Er lacht Erik, Nellie und Magda aus. Um zu zeigen, daß er an solche Mätzchen nicht glaubt, stellt er eine alberne Frage, die auch noch unverschämt ist. Der Spuk gibt jedoch sofort Antwort. Bissig und genau abgepaßt, werden die Buchstaben einer nach dem anderen angetickt.

»Leere ist Fülle für den, der sie fühlt.«

Alle brechen in schallendes Gelächter aus.

Hitze, keine Spur von Abkühlung, er fragt sich, wo das Gewitter bleibt. Es ist gar nicht so schlecht, daß Robert keine Lust hat, sich zu unterhalten!

Mit seinem Glas in der Hand schaute er verstohlen nach Magda. Mattblondes Haar, das im künstlichen Licht fast grün aussieht, runde Fesseln und Handgelenke, noch vor kurzem hat er sie nicht weiter wahrgenommen. Jetzt interessiert ihn jede ihrer Bewegungen. Sie sitzt da und spricht mit Nellie und wippt dabei mit einem Bein. Sie trägt Jesuslatschen, die Zehennägel ihrer stabilen Füße sind sorgfältig rot lackiert. Magda ist die einzige Frau, mit der ich Nellie betrogen habe.

Es sind nur Augenblicke, in denen mir ihre Zärtlichkeit Abscheu einflößt, kaum wahrnehmbar glimmen sie für einen Moment auf. Was hat mich in Gottes Namen dazu gebracht, ihr dieses Alleinrecht einzuräumen? Ich bediene mich ihrer Liebe, sooft ich kann, und sie macht es mir mit ihrer großmütigen Art nicht gerade schwer. Aber wie kann ich mich vor ihrem Kimono am Haken im Badezimmer schützen! Vor dem Geruch von Sonnenblumen in unserem Schrank! Vor ihren Nylonstrümpfen, ihrem Pullover über der Stuhllehne, der Teetasse mit dem dunkelrosa Lippenabdruck, mitten auf dem Tisch, und dann mein kurzer wütender Gedanke: Sie ist nicht zu Hause! Warum kommt es ihr nie in den Sinn, meinen Terminkalender durchzublättern, meine Innentaschen zu durchsuchen? Nach einer Feier überredet sie mich, eine einsame Freundin mit dem Wagen nach Hause zu bringen. Wie kann ich ihr so etwas heimzahlen: während ich der Freundin die Tür aufhalte, sehe ich aus dem Augenwinkel, wie sie in gebückter Haltung den Kühlschrank einräumt, ihr knapper kurzer Rock rutscht schon fast wie erwartet hoch, sie weiß nur zu gut, daß ich bald wieder zurückkomme …

Weit entfernt schlug eine Kirchturmuhr. Dann war alles wieder so ruhig wie zuvor. Er sah zu Magda hinüber, die mit unschuldigem Gesicht auf die Baumkronen entlang der Oude Zeestraat schaute. Seit dem Tag, an dem sie die bleischwere Stummheit zwischen ihnen auf originelle Art aufgelöst hatte, lebte er mit einem anderen Bild von sich.

Sie bückte sich und nahm die Flasche aus dem Kühler zu ihren Füßen.

»Gestern haben wir die Sternwarte von Pittsburgh angeschrieben«, sagte sie zu Nellie.

»Oh. Er wird noch viel zu tun bekommen. Gestern ist schon wieder ein dicker Brief gekommen, ich glaube, aus Texas.«

Er wußte, daß die beiden Frauen von Gabriel sprachen. Magda ist die Frau, die seinem Sohn die Welt und in gewisser Weise auch das Firmament zugänglich gemacht hat. Sie ist sprachbegabt und hat den Jungen auf die Idee gebracht, die großen Sternwarten anzuschreiben. Sie hilft ihm dabei. Regelmäßig treffen bei ihnen Büchersendungen, Broschüren und sogar Einladungen zu Kongressen ein. Gabriel sitzt am Tisch und öffnet mit ernstem Gesicht die Post, er betrachtet die Fotos und Tabellen — oft läßt er sich den Text, den Magda übersetzt, von ihr vorlesen — und geht danach in sein Zimmer, um die Informationen in einem schweren eisernen Schrank mit numerierten Schubladen zu archivieren. »Nebel aus Gas und Staub in Monoceros«, sagt er dann manchmal unvermittelt beim Essen. Oder: »Das 48-Inch-Spiegelteleskop auf dem Mount Palomar.« Er schlägt seine dunklen scheuen Augen auf und läßt sie kurz über das Gesicht seines Gegenübers gleiten, das Gesicht seiner Mutter.

Erik erschrak. Plötzlich sah er, daß Nellie aus ihrer zusammengekauerten Haltung heraus ihrer Freundin einen Blick voller Argwohn zuwarf. Nein, es war nicht der Blick einer Frau, die plötzlich unversehens die erotischen Kräfte einer Rivalin witterte. Er erkannte den Ausdruck in ihren Augen wieder. So hatten die Gesichter in der Schlange beim Postamt ausgesehen, als Magda mit ihren Hunden vorbeilief. Die Wartenden hatten sich — und auch ihn — vielsagend angesehen. Dort geht sie. Heftiges Geflüster. Zwei Jahre wie vom Erdboden verschwunden. Ohne auch nur ein Zeichen von sich zu geben. Und dann, bei der Rückkehr, es einfach dabei belassen und uns nicht die geringste Erklärung geben … Es regnet stark. Auf dem Bürgersteig bilden sich dunkle Pfützen. Kann ihr denn niemand schnell ein Bein stellen?

Der Abend war drückend. Nachdem die Sonne untergegangen war, schien die Luft aus Öl, aus Tran, aus ranzigem Salz zu sein und mit großer Gewalt dem Boden zu entsteigen. Neben ihm saß Robert, düster, abwesend, eine Zigarette zwischen den Fingern. Warum steht Nellie nicht auf? Ich bin ihren gesunden Menschenverstand gewohnt. Sie ist der Typ, der schon lange im voraus weiß, daß die Bar bald schließen, der Hausherr bald betrunken und der Wind am Ende des Tages diese Melange aus Feuchtigkeit, fahler Dämmerung und Verzweiflung ankündigen wird.

»Nellie, wir gehen.«

Erschöpft stand sie auf.

3

Das Straßenpflaster ist noch naß. Der Sand am Wegesrand ist etwas dunkler. Er genießt den grauen Morgen, der ihm das Gefühl gibt, daß es September ist und die Schulen wieder angefangen haben. Am ersten Tag guter Dinge sein. Die gebügelten Sachen und eine neue Ledertasche, die, wie er jetzt weiß, nach Formaldehyd riecht. Ohne Mühe erreicht er in zwanzig Minuten das Diakonissenhaus.

Als er in die Oude Zeestraat fährt, sieht er zu seiner Überraschung Magdas Hund am Gartenzaun stehen. Das Tier, das bei Einbruch der Nacht von seinem Frauchen auf eine Kindermatratze in der Küche gebettet wird — bei rauhem Wetter wird es mit der Pelzjacke zugedeckt, die sie sich nicht mehr zu tragen traut —, ist naß bis auf die Haut. Er reißt das Lenkrad herum und bremst.

Er müßte mich eigentlich wiedererkennen. Ich bin ein Freund des Hauses, der es verdient, schwanzwedelnd begrüßt zu werden. Komm, alter Junge, jetzt erzähl mal, was los ist. Warum bist du die ganze Nacht lang draußen gewesen? Warum ist das Feuer in deinen Augen erloschen? Aber das Tier reagiert erst, als er seinen Kopf nicht mehr streichelt und sich suchend umschaut. Dann stößt es einen ganz kurzen Jammerlaut aus, der sich fast wie der Schrei eines Kranken anhört. Das Blut gefriert ihm in den Adern. Gott bewahre mich. Er geht auf die Küchentür zu, die anscheinend nicht abgeschlossen ist.

Der Geruch von selbstgeernteten, getrockneten Pflaumen, von Torte, von gebügelter Wäsche, von herausgeputzten und shampoonierten Schoßhündchen. Magda ist Übersetzerin. Wenn sie das mit ihrer Arbeit verbundene Sitzen nicht mehr ertragen kann, springt sie plötzlich auf und bewegt in Windeseile ihre Muskeln. Er geht in den Flur. Als er durch die offene Wohnzimmertür schaut, sieht er im Vorbeigehen die Regale mit den Kunstbüchern, die schief und krumm eingestellt sind, manche liegen aufgeschlagen auf dem Boden, es wird intensiv mit ihnen gearbeitet. Robert ist Fabrikant. Er kennt die französische Malerei sehr genau, das heißt, bis Cézanne, nach Cézanne ist die Sache seiner Meinung nach schiefgegangen. Es hat Nächte gegeben, in denen Erik ihn aus Diskretion nicht ansah, wenn seine Stimme zu pathetisch wurde. Diese Treppe ist er noch nicht oft hinaufgegangen.

Die Schlafzimmertür steht offen. Er geht langsam auf sie zu, instinktiv läuft er auf Zehenspitzen. Allerdings weiß er schon lange, daß dieses Einschleichen unvermeidlich ist, ihm ohne seinen Willen auferlegt wurde. Er hört ein hechelndes Geräusch, das er kennt: auch die Pekinesen sind schon alt. Es ist seltsam, daß er, als er das Zimmer betritt, seine Augen auf die beiden Tiere gerichtet hält, sie liegen zitternd und hechelnd unter einem Stuhl, über den ein seidener Unterrock geworfen ist, ein dünnes Etwas mit gekreuzten Trägern. Er schaut so lange auf die Tiere, wie es nur irgend geht, sehr lange, ungewöhnlich lange, die Zeit zieht sich geduckt zurück. Schließlich muß er seine Augen doch bewegen.

Magda liegt auf dem Boden. Ein rot durchtränktes Spitzenhemd, oder vielleicht ein Unterrock, hat sich in großen Falten um ihre Taille und Hüfte gewickelt. Während ihr die messerscharfen Wunden zugefügt wurden, muß sie vom Bett geglitten sein, das Bettuch deutet auf diese Bewegung hin. Er vermutet, daß sie noch versucht hat, sich auf den Bauch zu drehen. Dabei ist ihr Haar über das Gesicht geglitten. Als er neben ihr niederkniet, sieht er, daß sie noch im letzten Augenblick daran gedacht haben muß, die Augen zu schließen. Er ist Arzt. Trotz der Verwüstung ihrer Brust fühlt er den Puls. Der Körper ist bereits ausgekühlt.

Du bist auf dem Weg zur Arbeit. Du hast dir vorgestellt, mit einer Geschwindigkeit von hundertvierzig Kilometern in der Stunde durch die Felderlandschaft von Rijnsburg zu rasen, an der stillgelegten Straßenbahnlinie entlang, am ehemaligen Gasthaus vorbei, du bist es gewohnt, gegen halb acht in die Stadt zu fahren.

Eine junge Sekretärin reicht ihm die Liste. Operationszimmer acht. Dir imponieren der mollige Arm, die spitzen Finger, der Geruch, der zu erkennen gibt, daß man sich fein säuberlich geduscht und gewaschen hat. Die Wimpern werfen einen Schatten auf die sanftgetönten Wangen, neben dem Mund verläuft eine feine Linie, ein kaum wahrnehmbares Zeichen sehr tiefer und verworrener Emotionen. Du hast nicht den geringsten Grund, diese Frau zu begehren.

Es ist ein ziemlich einfaches Handwerk. Mit einer Reparatur, die man gegen angemessene Bezahlung ausführt, ist man meistens zufrieden. Ab und zu kommt auch mal ein Drama vor. An Silvester hat man immer Dienst. Ein siebzehnjähriger Rückfälliger wird hereingebracht, ihm fehlen bereits ein Auge und ein Teil seiner rechten Hand, aber im nächsten Jahr ist er wieder mit von der Partie. Die Nase und das Jochbein gehen dich nichts an, aber das andere Auge wird gerettet, fachkundig entfernst du die Splitter und Staubpartikel, desinfizierst den glasartigen Körper, die Fäden, die du vernähst, werden in drei Wochen zerfallen.

Aus dem momentanen Durcheinander heraus schaut er auf. Robert. Er hat die ganze Zeit über gewußt, daß Robert da ist, auf dem Boden sitzt, versteckt hinter der geöffneten Tür.

Robert hat nur eine Unterhose an; ein Bein hat er angezogen, ein Bein ausgestreckt, er sitzt gegen die Wand gelehnt. Erik hat den Eindruck, daß er verletzt ist. Er geht auf ihn zu, hockt sich vor ihn und untersucht den Arm. Die Haut am linken Puls zeigt ein paar Schnitte, die nicht tief sind, Robert hat Blut verloren, auch wenn es nicht viel ist, so reicht es doch aus, um den Mann vorerst vom Chaos des wahren Geschehens fernzuhalten.

Er schaut benebelt auf und nennt Erik bei seinem Namen.

»Erik.«

Neben seinem Fuß liegt ein schmales Messer. Erik sieht es sich näher an, andächtig, ohne zu begreifen.

»Was ist passiert?« fragt er dann.

Eine müde Geste.

»Nichts … Gar nichts.«

Es ist ein silberner Dolch. Ein unergründlicher Gegenstand, den Erik in diesem Haus vorher noch nie gesehen hat. Die Klinge ist verschmiert.

»Seltsam«, sagt Robert

»Was ist seltsam?«

»Der Brieföffner.«

»Was ist damit?«

Aber anstatt eine Antwort zu geben, grinst er nur verwundert, streckt sein anderes Bein auch noch aus und versinkt wieder in den Alkoven seiner geistigen Umnachtung. Erik kann ihn sehr gut verstehen. Er versucht Zeit zu gewinnen. Die Zeit totzuschlagen. Es gibt in der Tat keinen Grund zur Eile. Warum soll ich mich dem nicht anpassen? Unten auf der Straße hört er, wie ein Auto startet und brummend wegfährt. Nur mit der Ruhe. Sicher werde ich gleich die Anrufe erledigen. Hausarzt und Polizei. Es ist etwas Schreckliches passiert, kommen Sie sofort. Die Adresse, Oude Zeestraat, Oude Zeestraat, die Nummer habe ich vergessen, acht oder zehn, es steht ein vollkommen erstarrter Hund an der Hecke …

Das Zimmer ist kalt und hell. Ein Fenster ist offen. Dieses feuchte, kalte Wetter wird einige Tage hängenbleiben. Obwohl er schon vor längerer Zeit mit dem Rauchen aufgehört hat, greift er jetzt zu einer Zigarette, die ihm helfen soll, dem Freund aus Jugendtagen Gesellschaft zu leisten, dem mordlustigen Idioten auf dem Boden neben ihm. Gleich wird er zum Telefon gehen und Alarm schlagen. Damit wird Robert nichts zu tun haben. Robert wird mit Sicherheit vorhaben, in den nächsten Stunden auf seinem Standpunkt zu beharren, daß ihn der Tod von Magda Rezková, geboren am 20. November 1938 in der Nähe von Brünn, Tschechoslowakei, 1947 mit ihrer Mutter nach Quebec, Kanada, emigriert, dort im Dezember 1963 Heirat mit einem ernsthaften Holländer, der Landschaften malt, sibirisch kalt läßt.

Erik ist aufgestanden. Er lehnt seinen Kopf an die Wand.

4

Wenn er die Augen schließt, sieht er Magda hinter der verschneiten Gestalt ihres Mannes auftauchen. Am Abend des 22. Januar 1964 kam Robert vorbei, um sie Nellie und ihm vorzustellen, er kann sich noch so gut an das Datum erinnern, weil in derselben Nacht ihr Sohn Gabriel geboren wurde. Er steht in der Türöffnung. Es ist ein rauher Abend. Schneeschleier tanzen über die Düne. Die beiden sind über die Treppe heraufgekommen, Robert voran. Im Licht der Außenlampe ist sein Gesicht kreidebleich, aus seinem Mund kommt Atemdampf. Er stampft mit den Absätzen, sein Lachen klingt albern fröhlich. Dann macht er einen Schritt zur Seite und schiebt seine gesetzmäßige Ehefrau in den Flur.

Erik muß sofort an ein Dienstmädchen denken. Die Frau ist klein. Trägt eine grüne Wollmütze. Ihr Lächeln ist offen und nachgiebig. Mit einem Gefühl der Enttäuschung drückt er ihre Hand.

Er war Robert mittags zufällig im Dorf begegnet. Weil er ihn über ein Jahr nicht gesehen hatte, zögerte er. Soweit er wußte, war er mit Hilfe des väterlichen Erbes damit beschäftigt, in New York eine phänomenale Künstlerkarriere zu machen.

»Erik!«

Die Gestalt in der lila Jacke überquerte die Straße, lotste ihn in eine Kneipe und bestellte gebratenen Fisch und dazu Wein.

»Was ist das hier ein beknacktes Nest«, sagte er, weihte Erik ein und erzählte von der Frau, mit der er seit einem Monat verheiratet war.

Magda war damals nicht gestorben, obwohl es der kälteste Winter ihrer Jugend war. Sie mochte vielleicht eine ängstliche Vogelscheuche von sechs oder sieben Jahren gewesen und der Flugplatz, in dessen Nähe sie wohnte, halb zerbombt worden sein, aber sie blieb am Leben. Im August 1947 schifften sich ihre Mutter und sie auf dem schwedischen Schiff Goya ein und erreichten nach einer Reise von etwa drei Wochen über einen ruhigen, dunkelgrünen Ozean die östliche Mole des Hafens von Halifax und eine Gegend, die nach Meinung ihrer Mutter weit genug von Europa entfernt war. Sie wuchs in der kleinen französischsprachigen Stadt Gaspé auf. Ein Mädchen mit schmalen grünen Augen. Es gab von ihr und ihrer Mutter ein paar Fotos, nicht viele. Magda ließ sich in den Schulbänken und auf Schlittschuhen und mit einem Esel am Strand des Sankt-Lorenz-Golfs ablichten. Manchmal trägt sie Kniestrümpfe, manchmal Socken, und schließlich, es ist Sommer, ist sie eine Achtzehnjährige mit glänzenden Beinen und einer mattblonden Mähne.

Aber sie war zerstreut. Zweimal wurde sie in einen Verkehrsunfall verwickelt. Man hob sie von der Straße auf, und sie erwachte in einem Gitterbett. Einmal wachte sie nicht ganz auf. Sie starrte zur Wand, an der ein Poster mit einer Herde badender Elefanten befestigt war, und war tagelang drauf und dran, es bei diesem Starren zu belassen. Die Rüsseltiere mit ihren riesigen Zähnen, den kleinen Augen und dem freundlichen Lächeln vergegenwärtigten ihrer Meinung nach genug von der greifbaren Welt, und eines Abends sah es so aus, als ob der Sonnenaufgang sie nicht mehr antreffen würde.

Sie hatten immer noch ihre Jacken an und standen in der Ecke einer Bar. Erik wußte, daß er eigentlich nicht die Zeit hatte, sich andächtig die Lebensgeschichte einer Unbekannten anzuhören. Aber die angenehme Atmosphäre der Kneipe — der Rohrofen, der Zigarettenqualm, die Flaschen vor dem gelb beleuchteten Spiegel — hatte ihn sofort betäubt. Wer kirchlich erzogen ist, wird sich sein Leben lang vom Glanz des Heiligtums angezogen fühlen. Es sah übrigens so aus, als ob sowohl er als auch Robert ausgehungert waren, ausgetrocknet. Sie bestellten noch einmal. Nach ein paar Gläsern konnte Erik seinem Freund wieder unbeschwert in die Augen schauen, seine Grimassen amüsierten ihn noch genauso wie früher. Sein Gerede, seine vertraulichen Mitteilungen. Die Vergangenheit und der Typus der Frau sprachen ihn an.

»Es ist seltsam, was mir passiert ist«, sagte Robert. »Ich wollte nie heiraten, ich wollte nie eine Familie haben, und den Gedanken, meinen Orgasmus mit aller Gewalt immer mit ein und derselben Frau haben zu müssen, fand ich schon immer lächerlich. Fast alle meine Freundinnen waren dunkelhaarig; ein Zufall, ich suchte sie nicht danach aus. Ich liebte sie meistens wegen der Dinge, die sie nicht taten. Sie machten mir keine Vorwürfe wegen meines Kommens und Gehens, sie nahmen meine passionierten Lügen nicht ernst — das habe ich noch nie bei einer erlebt — nachts, nach einem Streit, rannten sie nicht barfuß und mit offenem Haar über die Straße; sie jammerten nicht während unserer Nummern und krallten sich auch nicht mit ihren Nägeln in meinem Rücken fest. Es gibt genügend Kerle, die sich danach eine Zigarette anzünden und zusehen, so schnell wie möglich abzuhauen. Das erweckt Haßgefühle. Ich blieb die Nacht da, hatte ihren Kopf auf meiner Schulter und ihr glühend warmes Bein über dem meinen, ich ertrug ihr Geschnarche, ihren Geschmack, die Ängste ihrer Alpträume. Nur zum Frühstück blieb ich nie. Sobald das Tageslicht hinter den Gardinen hervorschimmerte, mußte und wollte ich aufbrechen. Der verlockende Kaffeegeruch. konnte mich nicht mehr aufhalten. Wenn ich dann über die Straße ging und mir die aufgehende Sonne ins Gesicht schien, fühlte ich mich bei jedem Schritt leichter und besser. Die unumgängliche Schwerarbeit war geschafft, und da war ich wieder: allein. Warum Menschen die ständige Anwesenheit eines anderen brauchen, war mir immer ein Rätsel.«

Sein heiteres Gesicht verdüsterte sich etwas.

»Im Juni fuhr ich in den Norden. Ich wollte die Großen Seen sehen, die Appalachen, die Küste Kanadas. Wie läufst du deiner wahren Liebe über den Weg? Auf die banalste Art. Ein Glas Bier, das man auf einem Landesteg am Meer trinkt. Zum ersten Mal hatte ich eine Geliebte mit einer sonnengebleichten Haarpracht. Und zum ersten Mal war ich eifersüchtig. Ihre Schweigsamkeit machte mich verrückt. Ich schlief nicht mehr. Wie sollten wir unsere Leben aneinander binden können, wenn sie alles für sich behielt? Was bedeutet die Liebe eines Romeo Montague, eines Alexej Vronski ohne den Hintergrund ihrer Freundinnen? Ich ließ sie nicht in Ruhe. Mitten in der Nacht rief ich sie an und zwang sie, mir ihre geheimsten Gedanken zu erzählen. Eines Tages sagte sie: Ich wußte sofort, daß es für immer sein würde. Ihre Worte schockierten mich nicht einmal. Ich hatte schon bemerkt, daß ich es nur noch mit mir aushalten konnte, wenn sie da war.«

Nellie und er nehmen ihnen die Jacken ab und müssen kurz schlucken, als sie das französische Gelispel von Magda hören. Unter der grünen Mütze ist die flachsblonde Haarpracht zum Vorschein gekommen. Nellie macht eine Gebärde zum Wohnzimmer hin. Rund wie ein Koloß watschelt sie, in einem Kleid mit dunkelroten und gelben Streifen, hinter ihren Gästen her.

Es ist ein ruhiger Abend. Sie trinken und lauschen dem Wind nach. Erik spricht kaum Französisch und Nellie gar nicht. Aus Solidarität mit ihrer zukünftigen Freundin lächelt und schweigt sie. Häufig steht sie auch auf, um etwas aus der Küche zu holen. Robert legt ihnen seine Pläne dar. Er sagt: »Malen kann man eigentlich nur in Westeuropa.« Sie haben einen alten Bauernhof in den Cevennen gekauft. Dort gibt es einen Brunnen, einen Hang, an dem ein Gemüsegarten angelegt werden kann. Wenn es dunkel ist, fangen die Eulen über dem Tal an zu rufen.

»Ein wildes, stilles Gebiet«, sagt Robert. »Genau so, wie wir es gesucht haben.«

Erik nickt. Den ganzen Abend über wird er die bevorstehende Geburt vergessen. Erst als sie gegen zwölf wieder allein sind, zeigt Nellie ihm ihr verzogenes Gesicht. Ihr ist der kalte Schweiß ausgebrochen.

5

Als er die nötigen Telefonate erledigen geht, folgen ihm die Hündchen auf dem Fuß. Er sieht, daß sie sich trotz ihrer kurzen Beine geschickt die Treppe hinunterarbeiten, indem sie sich von einer auf die andere Treppenstufe fallen lassen. Was spricht dagegen, den Viechern zuerst ihr Frühstück zu geben, das sie erwarten?

Er durchsucht den Küchenschrank, findet die Dosen und öffnet eine. In dem Moment, in dem er den ekelerregenden Inhalt auf drei Näpfe verteilt, dringt ihm der Geruch eines Soldatencamps im Winter in die Nase und erinnert ihn mühelos an das Feldlazarett, das Wartehäuschen und den Exerzierplatz. Er war in der Sanitätskompanie ein ernsthafter, pflichtbewußter, verheirateter Unteroffizier, der seine Rekruten von Hämorrhoiden und Rotznasen erlöste. Zugleich hatten ihn sechs Wochen Grundausbildung gelehrt, an welcher Stelle das Bajonett in den Körper gestoßen werden muß, du benutzt deine ganze Muskelkraft, drehst die Waffe dabei ein paarmal um und brüllst aus voller Kraft.

Er ruft, er macht lockende Geräusche: der große Hund reagiert nicht, als er ihm Futter hinstellt. Das Tier bleibt genauso an der Hecke stehen, wie Erik es am frühen Morgen angetroffen hat. Vor einer Stunde? Vor fünf Minuten? Er ruft noch einmal. Der Name des Hundes will ihm nicht einfallen. Er weiß sehr gut, daß er die Anrufe nicht länger aufschieben kann.

»Wir kommen sofort!«

Die routinierte Stimme hat sich seine Geschichte angehört und ernst genommen. Anschließend werden ihm einige Fragen gestellt, auf die er in Roberts bequemem Lesestuhl Antwort gibt. Er nennt seinen Namen. Er nennt den Namen der Bewohner des Hauses, in dem er sich befindet. Zu seinen Füßen, auf dem weichen Fußboden, liegen aufgeschlagene Bücher mit Reproduktionen von Kunstwerken. Teiche mit Wasserlilien. Obstbäume. Taumelnde Sonnen über dem Meer.

Er schaut sich die Frau im Bad von Bonnard an.

»Die Adresse bitte!«

Sie liegt sittsam und flach im Wasser, die Fußgelenke überkreuz. Mit einer Hand bedeckt sie ihre Augen, durch die Wasserlinie wirkt die andere Hand gebrochen. Dieses weibliche Weichtier wird durch Licht und Farbe beschützt. Licht und Farbe, denkt er, das einzige, was das menschliche Auge aufnehmen kann, alles andere ist Einbildung. Der weiße Rand der Badewanne. Der Sonnenschein. Die blauen Fliesen. Abgestimmte Arbeit. Zeichen einer immer schwerer werdenden Vergangenheit.

»Ich frage Sie noch einmal: die Adresse!«

»Oude Zeestraat … Oude Zeestraat …«, murmelt er.

»Nummer?«

Es verstreicht ein Moment der Stille.

Er weiß nicht, was er schließlich antwortet, es ist auch nicht wichtig. Als die Verbindung unterbrochen wird, beugt er sich vor, schließt die Augen und preßt seine Faust gegen den Mund, um den Schrei zu ersticken, obwohl auch der die Vision nicht abstellen könnte, die wie ein Kanonenschuß durch sein Gehirn gejagt wird.

Die Morgenluft einatmen. Die Nachtluft einatmen. Ein Blinder erlebt die totale Wirklichkeit: das weiß er Dank seines Berufes. In. gewisser Hinsicht ist die dunkle Welt manchmal sogar reicher als die sichtbare. Träge und schleppend, aber frei von der Illusion eines Horizonts, steuert der Blinde durch einen unbegrenzten Raum. Die Baken — Form und Umfang — versteht er besser als der Sehende. Niemand ist in der Lage, eine Form zu sehen. Nur wer mit seinen Fingern die Rundungen und Hohlräume erkundet hat, kann diese später auch mit den Augen für Tatsachen halten. Die griechische Skulptur, sagte Robert, wurde erst dann plastisch, als sie mit den Händen und nicht mehr mit den Augen gemacht wurde. Die Hände der Blinden werden immer neugierig bleiben, sinnliche Hände eines Kindes.

Eines Tages schlug eine seiner Augenoperationen in die vollkommen falsche Richtung um.

Ich sehe ihn mit aufgesperrten Augen und Mund vor dem Waschbeckenspiegel stehen. Ich sehe die Gebärde, in der seine Abscheu erstarrt ist: die spitzen Finger, ausgestreckt, kaum gespreizt, an seinem Gesicht. Der Patient, Maurits, vierunddreißig Jahre, von klein auf blind. Ich sehe das Krankenzimmer um ihn herum — drei Patienten mit verbundenen Augen in den Betten, ein verlassenes Bett, ein Tisch mit leuchtend bunten Blumen — und erinnere mich an den Tumult, den ich eben auf meiner Runde durch die Abteilungen gehört habe. Ich erinnere mich, daß zwei Schwestern aus der Küche in Zimmer 407 gerannt sind. Die uniformierten Mädchen geben sich sonst nicht unbedingt große Mühe, die Patienten zu beruhigen. Sie stehen mitten im großen hellen Zimmer und lassen sich von ihm begaffen. Genau wie ich. Der Patient hat sich umgedreht und stiert unsere Gesichter an. Wir sind wie erstarrt.

Die Angst, unsere Gesichtszüge durch eine Bewegung noch abstoßender erscheinen zu lassen, lähmt uns. Er richtet seinen Blick wieder auf den Spiegel. Ich sehe, daß seine Augen das Zerrbild nicht annehmen können: er wirft einen Blick über die Schulter, um zu sehen, wer hinter ihm steht. Niemand. Dann streicht er mit seinen Fingern über seine Augen, über Mund und Nase. Als das Gejammer wieder anfängt, verstehe ich: »Löcher … gräßliche Löcher …!«