Erste Hilfe für die Seele - Angélique Mundt - E-Book

Erste Hilfe für die Seele E-Book

Angélique Mundt

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Beschreibung

Wer hilft, wenn das Leben plötzlich auseinanderbricht? Wenn man gerade den liebsten Menschen verloren hat? Oder bei einem Unfall Schreckliches mitansehen musste? Angélique Mundt ist Psychologin und arbeitet für das Kriseninterventionsteam Hamburg. Sie steht Menschen unmittelbar nach einer Katastrophe zur Seite, spendet Ruhe, Kraft und Orientierung. Sie leistet Erste Hilfe für die Seele. In diesem Buch erzählt sie von tragischen Unglücken und Schicksalsschlägen, von erschütternden Erfahrungen und Menschen, die größtes Leid erfahren haben. Und vor allem macht sie vor, wie Hilfe in den schlimmsten Momenten unseres Lebens möglich ist. Sie plädiert für ein aufmerksames und kraftvolles Leben. Sie zeigt, wie man sich Trauer und den eigenen Ängsten stellen und wie man schöne und besondere Momente intensiv erleben kann.

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Zum BuchWer hilft, wenn das Leben plötzlich auseinanderbricht? Wenn man gerade den liebsten Menschen verloren hat? Oder bei einem Unfall Schreckliches mitansehen musste? Angélique Mundt ist Psychologin und arbeitet für das Kriseninterventionsteam Hamburg. Sie steht Menschen unmittelbar nach einer Katastrophe zur Seite, spendet Ruhe, Kraft und Orientierung. Sie leistet Erste Hilfe für die Seele. In diesem Buch erzählt sie von tragischen Unglücken und Schicksalsschlägen, von erschütternden Erfahrungen und Menschen, die größtes Leid erfahren haben. Und vor allem macht sie vor, wie Hilfe in den schlimmsten Momenten unseres Lebens möglich ist. Sie plädiert für ein aufmerksames und kraftvolles Leben. Sie zeigt, wie man sich Trauer und den eigenen Ängsten stellen und wie man schöne und besondere Momente intensiv erleben kann.

Zur AutorinANGÉLIQUE MUNDT wurde 1966 in Hamburg geboren. Nach ihrem Studium der Psychologie arbeitete sie lange in der Psychiatrie, bevor sie sich 2005 als Psychotherapeutin mit einer eigenen Praxis selbstständig machte. Sie arbeitet ehrenamtlich im Kriseninterventionsteam des Deutschen Roten Kreuzes, das Menschen bei potentiell traumatisierenden Ereignissen Erste Hilfe für die Seele leistet. Sie ist Autorin von Kriminalromanen und lebt in Hamburg.

ANGÉLIQUE MUNDT BEI BTB Nacht ohne Angst. KriminalromanDenn es wird kein Morgen geben. Kriminalroman

ANGÉLIQUE MUNDT

ERSTE HILFE FÜR DIE SEELE

EINSATZ IM KRISENINTERVENTIONSTEAM

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Die in diesem Buch geschilderten Fälle entsprechen den Tatsachen, soweit sie der Autorin bekannt sind. Die genannten Personen, Orte, Umstände und Zeiten wurden anonymisiert.Die Sicht auf die Ereignisse spiegelt die Eindrücke der Autorin und erhebt keinen Anspruch auf objektive Wahrheit.
Copyright © 2016 by btb Verlag in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 MünchenUmschlaggestaltung: semper smile, MünchenUmschlagmotiv: © Karin Constanzo; Shutterstock/Flas100Satz: Uhl + Massopust GmbH, Aalenmr · Herstellung: scISBN 978-3-641-19593-9V002
www.btb-verlag.dewww.facebook.com/btbverlagBesuchen Sie auch unseren Literaturblog www.transatlantik.de

Dieses Buch ist den Betroffenen, Überlebenden, Augenzeugen und Angehörigen gewidmet, die Schreckliches erlebt und überlebt haben.

Die größten Ereignisse – das sind nicht unsere lautesten, sondern unsere stillsten Stunden.

Friedrich Nietzsche

INHALTSVERZEICHNIS

VORWORT

KAPITEL 1 Das Überbringen einer Todesnachricht

Wie erstarrt

Markus

Haltlos

Seemannsbraut

Exkurs: Todesnachrichten überbringen

KAPITEL 2 Abschiednehmen von den Toten

Septemberkälte

Bloß die Hüfte?

Die Angst fährt immer mit

Zu jung …

Exkurs: Abschiednehmen von den Verstorbenen

KAPITEL 3 Einsätze mit Kindern

Maries Mittagsschlaf

Dein Freund und Helfer

Lächelnde Tränen

Die zerrissene Familie

Exkurs: Kinder und der Tod

KAPITEL 4 Betreuung von Angehörigen nach Suizid

Ausgeschlossen

Wut

Die Hundeleine

Exkurs: Suizid – die individuelle Katastrophe

Wie haben mich die KIT-Erfahrungen verändert?

Anhang

Glossar

Mein Dank

VORWORT

Wenn ein schweres Unglück passiert ist, was geschieht dann mit den überlebenden Opfern? Wie kümmert man sich um Menschen, die Unvorstellbares erlebt haben?

Mein Name ist Dr. Angélique Mundt, ich bin Psychologin und Psychotherapeutin und habe meine Praxis in Hamburg. Ich arbeite ehrenamtlich im Kriseninterventionsteam des Deutschen Roten Kreuzes. Ich werde von der Polizei alarmiert, wenn sich tödliche Unfälle, Verbrechen oder andere Tragödien ereignet haben und wenn Augenzeugen oder Angehörige von Opfern Hilfe brauchen. Ich versuche, den Menschen in den schwärzesten Stunden ihres Lebens beizustehen. Ich leiste Erste Hilfe für die Seele, das ist die Aufgabe der Menschen, die für das KIT, das Kriseninterventionsteam, arbeiten.

Manchmal liest man in der Tageszeitung von dramatischen Ereignissen und nimmt nur am Rande zur Kenntnis, »dass zahlreiche Augenzeugen des Unglücks unter Schock standen und von Psychologen betreut werden mussten«. Oder bemerkt am Ende des Artikels die Zeilen: »Die Mordkommission ermittelt. Ein Kriseninterventionsteam kümmerte sich um die Betreuung von Mutter und Kind.« Vielleicht steht dort auch nur lapidar der Satz: »Um die Angehörigen des Opfers kümmerte sich das Kriseninterventionsteam.«

Aber was ist damit eigentlich gemeint? Welche Geschichten und Menschen stehen hinter diesen Zeilen?

Ich las das erste Mal bewusst vom Kriseninterventionsteam in einem Flugzeug, auf dem Weg von Hamburg nach Stuttgart. Ich blätterte in der Hamburger Morgenpost und stieß auf einen kleinen redaktionellen Hinweis, dass das Kriseninterventionsteam des Deutschen Roten Kreuzes einen neuen Ausbildungslehrgang startet und ehrenamtliche Mitarbeiter sucht.

Als Psychologin eigentlich bestens mit den Versorgungsstrukturen meiner Stadt vertraut hatte ich vom KIT noch nie gehört. Meine Neugier war geweckt, der Artikel herausgerissen, und am Abend befragte ich das Internet. Dort las ich, dass das Kriseninterventionsteam überlebende Opfer, Augenzeugen und Angehörige nach Ereignissen, die traumatische Folgen für die Psyche haben können, betreut. Ich wollte mehr erfahren.

Ich fand die Idee, einen Betroffenen dort zu behandeln, wo das Trauma seinen Anfang nimmt, sofort einleuchtend. Könnte man so vielleicht Folgeschäden verhindern? In meiner Psychotherapie-Praxis sehe ich die Menschen erst, wenn ein schlimmes und schockierendes Ereignis bereits Verwüstungen in deren Seele angerichtet hat. Wenn sich auch nur Bruchteile dieser Verwüstung durch vorherige Maßnahmen vermeiden ließen, dann interessierte mich das.

So weit mein Kopf.

Dann war da noch mein Bauch.

Ich gebe zu, ich hatte auch irgendwie Lust, mit der Polizei zusammenzuarbeiten und mal mit Blaulicht durch die Stadt gefahren zu werden – so stellte ich mir die KIT-Arbeit nämlich im ersten Moment vor. Das zuzugeben ist zwar nicht besonders rühmlich, aber jeder von uns trägt diese Sensationsneugier in sich. Denn diese gehört auch zu der Bereitschaft, sich mit neuen und komplexen Situationen auseinanderzusetzen, Erfahrungen zu sammeln und Verantwortung zu übernehmen.

Gleichzeitig haben wir die Tendenz, unüberschaubare und unvertraute Situationen zu meiden, da sie uns Angst machen. Sie sind nur spannend, wenn sie weit weg sind, nichts mit uns zu tun haben – wenn wir zum Beispiel zu Hause auf dem Sofa sitzen und die Katastrophe im Fernsehen sehen. Wenn wir leibhaftig dabei und nahe dran, ja, vielleicht sogar betroffen sind, sieht die Sache plötzlich ganz anders aus. Dann löst die Tragik des Lebens eine Lawine von Gefühlen in uns aus, von denen wir erst einmal völlig überfordert sein können.

Es geht um Gefühle in diesem Buch. Um das, was nach dem Moment der Zerstörung mit uns passiert. Es geht ums Überleben nach der Tragödie. Um Hoffnung. Nähe. Und um Menschlichkeit.

Ich hatte großen Respekt vor der Aufgabe für das KIT zu arbeiten. Könnte ich den betroffenen Menschen in diesen grauenhaften Situationen wirklich ein Trost sein? Würde ich die richtigen Worte finden? Gibt es die überhaupt? Was, wenn ich alles nur noch schlimmer machte?

Was ist denn überhaupt wichtig, wenn man einen der liebsten Menschen, die man hat, ganz plötzlich verloren hat? Was zählt denn wirklich im Leben? Was ist wesentlich für einen Menschen und warum?

Ich habe keine Antworten auf diese Fragen, die werde ich vermutlich niemals haben, aber ich finde mit jedem KIT-Einsatz ein wenig mehr über das Leben heraus.

Menschen überraschen mich immer wieder aufs Neue. Mit ungewöhnlichen Reaktionen. Mit Sätzen, die in der höchsten Verzweiflung gesprochen werden und doch so schön sind, dass sie noch lange in mir nachwirken.

Auf alle Menschen wartet gleicher Tod. Und keinen gibt es, der an diesem Tag schon weiß, ob er den nächsten noch erlebt.

Euripides

KAPITEL 1 Das Überbringen einer Todesnachricht

Der Tod ist ein Thema, dem wir uns nicht entziehen können. Leider sagt uns aber niemand, wie wir mit ihm umgehen sollen, wenn er tatsächlich Teil unseres Lebens wird. Wir haben keine Übung darin, die Liebsten, die wir haben, zu verlieren. Wir wissen nicht, wie es sich anfühlt, wenn ein Angehöriger plötzlich und unverhofft, vielleicht sogar durch Gewalt, stirbt. Wer überbringt uns diese Nachricht und wie? Wie reagieren wir darauf? Was fühlen wir? Und wer ist da, um uns zu helfen?

Meine Aufgabe ist es, Menschen in den ersten Stunden nach einem schrecklichen Ereignis beizustehen, auch und vor allem, nachdem sie jemanden verloren haben. Kann man in einer solchen Situation überhaupt etwas Tröstliches sagen oder tun? Ich möchte von meinen Einsätzen nach einer KIT-Alarmierung erzählen, von den Menschen, die von einem schweren Verlust betroffen sind, und vor allem darüber, dass es keine Norm für Gefühle in der individuellen Katastrophe gibt. Trauern folgt keinen allgemeingültigen Regeln, jeder Mensch trauert anders.

Zu den schwersten und leider auch häufigsten Einsätzen des KIT gehört es, dass die Polizei und ich, oder wir – meistens sind wir zu zweit –, einer ahnungslosen Familie mitteilen müssen, dass ein Angehöriger gestorben ist. Normalerweise werden wir gerufen, wenn die Katastrophe, der Unfall, die Tat, bereits passiert ist und wir den Betroffenen helfen sollen, die erste Zeit danach zu überstehen. Bei der Überbringung einer Todesnachricht ist das anders. Wir klingeln bei Menschen an der Tür, deren Leben eigentlich in Ordnung und unbeschwert, vielleicht sogar glücklich ist. Wenn sie uns die Tür öffnen, ist es damit vorbei, und ihr Leben wird von einer Sekunde auf die nächste für immer verändert.

Aber so schwer es auch sein mag, jemandem eine so furchtbare Nachricht mitzuteilen, wir kommen nicht umhin, den Tod beim Namen zu nennen, denn das ist bereits etwas, was wir tun können, um den Angehörigen zu helfen. Erst wenn wir die Nachricht vom Tod einer nahestehenden Person deutlich gehört und wahrgenommen haben, können wir reagieren, fühlen, handeln. Oft genug habe ich erlebt, wie Menschen sich unbewusst vor einer solchen Nachricht und ihrer Bedeutung schützen. Indem sie nicht aufnehmen wollen und können, was gesagt wird. Sie verharren einen letzten Moment, bevor die Erkenntnis des Unverständlichen einsetzt.

Die Nachricht vom plötzlichen und unerwarteten Tod einer Person an die Angehörigen zu überbringen ist eine schwere Aufgabe. Sie muss auch schwerfallen! Und obwohl ich in den vergangenen Jahren schon viele Todesnachrichten überbracht habe, fällt es mir mit der Zeit nicht leichter. Der Moment, in dem die Erkenntnis bei den Betroffenen ankommt, lässt mir immer noch den Atem stocken. Ich denke, es wird nie leicht werden eine Todesnachricht zu überbringen. Und wir brauchen darin auch keine professionelle Routine.

Wir sind Menschen.

Und das ist es, was wir in diesen schweren Situationen anbieten können: Menschlichkeit!

Wie erstarrt

Es war ein Wochenende im November vor ein paar Jahren. Eigentlich ein Wochenende ohne besondere Ereignisse – Hamburg versank im Nebel, und ich entfloh dem tristen Grau, indem ich es mir auf dem Sofa gemütlich machte.

Bis Sonntagabend.

Um sieben Uhr war ich mit einem Mann verabredet, dem ich zuvor erst einmal begegnet war, als ich einen Vortrag bei der Wasserschutzpolizei gehalten hatte. Er hatte mich unbedingt wiedersehen wollen, und seine Einladung hatte sehr charmant geklungen. Wir wollten uns auf ein Glas Wein in einem kleinen Bistro treffen. Ich hatte mich schon das ganze Wochenende darauf gefreut, hatte eine Marlene-Hose und meinen Lieblingspullover angezogen und wollte gerade losgehen, als mein Handy klingelte.

Ich wusste sofort, dass aus meiner Verabredung nichts werden würde. Es war der besondere Klingelton. Dieser Ton, den ich nur den Anrufen von zwei Institutionen zugeordnet habe: der Polizei und der Rettungsleitstelle des Deutschen Roten Kreuzes.

Mit dieser Melodie beginnen alle meine KIT-Einsätze.

Der Disponent der Leitstelle rattert wie Dieter Thomas Heck: »Guten Abend, Frau Mundt, hier ist die Leitstelle, ich habe einen Einsatz für Sie. Ein Tötungsdelikt. Fahren Sie unverzüglich zum Polizeikommissariat 16. Die Telefonnummer lautet …« Er holt nicht einmal Luft dabei.

Verdutzt antworte ich genauso schnell: »Verstanden. Ich bin unterwegs.« Dabei habe ich keinen Bereitschaftsdienst, doch das fällt mir erst ein paar Schrecksekunden später auf.

Ich überlege, was ich mit meiner Verabredung machen soll. Schnell im Restaurant vorbeifahren und Bescheid sagen? Keine Zeit. Umziehen muss ich mich auch noch. Mit der Hose kann ich keinen KIT-Einsatz fahren. Während meine Gedanken rasen und ich überlege, wen ich zuerst anrufen soll, schlüpfe ich in eine Jeans, ein weißes T-Shirt und die dunkelblaue Fleece-Jacke mit dem DRK-KIT-Logo. Dabei fällt mir ein, dass ich gar keine Handynummer meiner Verabredung habe. Mist.

Ich greife nach der Einsatzjacke und werfe einen Blick in den Spiegel. Stimmt, der Lippenstift muss runter.

Ich schnappe mir den KIT-Ausweis, Einsatzmappe, Handy und Autoschlüssel von der Kommode im Flur und überlege, in welcher der nahen Anwohnerstraßen ich mein Auto geparkt habe. Ich muss wenigstens in dem Restaurant anrufen. Was soll ich sagen? Dass da gleich ein netter Mann kommt und ich leider auf dem Weg zum Schauplatz eines Tötungsdelikts bin und dass es deshalb heute Abend nichts wird mit einem Glas Rotwein? Klingt nicht gerade vertrauenserweckend … Aber was kann ich dafür? Und tatsächlich, ich wähle, warte ungeduldig, und die Bedienung ist einigermaßen skeptisch, als ich ihr mein Problem in kurzen Sätzen zu erklären versuche, sie schreibt aber meine Handynummer auf. Ob sie ihm wirklich Bescheid geben wird?

Ich erinnere mich, dass mein Auto in der Nebenstraße schräg gegenüber steht, und mache mich auf den Weg. Das Polizeikommissariat 16 ist nicht weit von meinem Zuhause entfernt. Während ich ins Auto steige, überlege ich, welches Team der Mordkommission wohl Dienst hat. Im Laufe der Jahre habe ich einige Kriminalbeamte kennengelernt, und es ist immer gut, im Einsatz ein bekanntes Gesicht wiederzusehen. Auf den Straßen komme ich zügig voran, denn um diese abendliche Uhrzeit ist kaum Verkehr. Ich kann deshalb in Ruhe einen KIT-Kollegen anrufen, der sich ebenfalls sofort auf den Weg macht.

Als ich einen Parkplatz vor dem Polizeikommissariat suche, sind genau sechzehn Minuten seit dem Anruf aus der Leitstelle vergangen. Keine schlechte Zeit. Es sieht jedoch so aus, als bräuchte ich noch einmal so lange, um einen Parkplatz zu finden. Ich stelle mich ins Parkverbot. Zur Not darf ich das. Ich lege mein KIT-Schild gut sichtbar hinter die Windschutzscheibe.

Drinnen schlägt mir das typische Klima entgegen, das in allen Polizeiwachen herrscht: Überheizte Räume, Alkoholausdünstungen, Angstschweiß und während der kalten Jahreszeiten der Mief von regennassen Wollmänteln.

Am Tresen verhandelt der Wachhabende mit einem alten Mann, der schweren Seegang hat, ob er mit seinem Auto nun weiterfahren dürfe und warum der Autoschlüssel in der Hosentasche des Polizisten verschwunden sei.

Ich lächele dem Beamten aufmunternd zu, und er drückt mir kommentarlos die Tür zum Allerheiligsten auf: dem Wachraum, der Schaltzentrale jedes Polizeireviers. Meine gelbe Einsatzjacke ist jedem Polizisten bekannt und wirkt wie ein »Sesam öffne dich«. Sofort kommt mir der Dienstgruppenleiter der heutigen Nachtschicht entgegen. Gut erkennbar an seinen drei silbernen Sternen auf dem Schulterstück.

»Bei euch ist ja was los …«, duze ich ihn, wie alle Rettungskräfte im Einsatz.

Er winkt ab. Alltag. Nicht der Rede wert. Dann schaut er ernst. »Es gibt ein Tötungsdelikt«, sagt er. »Der Täter wird unten in der Zelle erkennungsdienstlich behandelt. Dich brauche ich für den mutmaßlichen Zeugen. Er sitzt im sicheren Raum.« Er wedelt mit den Papieren, die er in der Hand hält, und lässt mich einen Blick hineinwerfen. »Der Junge ist zwar erst Anfang zwanzig, aber kein unbeschriebenes Blatt. Drogenkonsum. Beschaffungskriminalität. Aber nichts gegen das, was er heute Nacht erlebt hat. Wir glauben, dass er mitansehen musste, wie sein Bruder den Vater getötet hat. Kannst du dich um ihn kümmern?«

»Natürlich«, murmele ich und starre wie gebannt auf die Monitore, über die die Bilder der Überwachungskameras aus den einzelnen Räumen des Kellers flimmern. Ein junger Mann in verwaschenem T-Shirt und Unterhose sitzt auf einer Pritsche in der Zelle und lässt die nackten Beine baumeln. Offenbar musste er der Polizei seine Kleidung für die Spurensicherung aushändigen.

Das muss also der Tatverdächtige sein.

Ruhig, nahezu apathisch hockt er da. Keine Regung in seinem Gesicht. Die Hände im Schoß gefaltet. Jetzt hält er auch die Beine still.

In den anderen Räumen, die von den Videokameras erfasst werden, huschen Beamte geschäftig hin und her. Ich erkenne den Mordbereitschaftsleiter und zeige mit dem Finger auf den Monitor. »Ich muss erst mit Peter sprechen, bevor ich zu dem Zeugen gehe, okay?« Peter und ich kennen uns von anderen Einsätzen.

»Na logisch. Bis später.«

Im Keller angekommen begrüßen Peter und ich uns herzlich. »Ich brauche dich zur Betreuung eines Zeugen. Ein junger Mann namens Marcel«, sagt er.

»Hab’ schon gehört. Was ist denn genau passiert?«

»Nach dem bisherigem Ermittlungsstand ist Alexander«, er nickt in Richtung des Fensters, durch das man in die Zelle sehen kann, »dringend tatverdächtig seinen Vater in dessen Wohnung erstochen zu haben. Sein Bruder Marcel kam nach eigenen Aussagen zufällig dazu. Der Vater verblutete, und Alexander stand mit dem Messer in der Hand im Flur. Er bat seinen Bruder die Polizei zu rufen, und das hat der auch getan. Beide warteten in der Wohnung auf uns. Die Festnahme verlief unproblematisch. Beide Brüder sind seltsam apathisch.«

»Vielleicht der Schock?«, sage ich, denn ich weiß, dass Menschen unter Extremstress sehr unterschiedlich reagieren. Mehr Stress, als bei einem Tötungsdelikt gegen den eigenen Vater anwesend zu sein, kann ich mir nicht vorstellen. Ein Schock dämpft den Schlag auf die Psyche ab, den manche Erlebnisse bedeuten können. »Er schützt sich«, flüstere ich zu mir selbst, um dann laut zu fragen: »Muss ich auf etwas Besonderes achten?« Da es sich um eine Mordermittlung handelt, möchte ich nichts falsch machen und vergewissere mich bei dem Einsatzleiter. Bei einem Tötungsdelikt sind die Anweisungen des Mordbereitschaftsleiters Gesetz.

»Wir behandeln Marcel erst mal als Zeugen und nicht als Mittäter. Ganz sicher sind wir aber noch nicht. Sobald die Kollegen vom Tatort zurückkommen, wird er vernommen. Bis dahin wäre es schön, wenn er nicht alleine ist.«

Gut. Ich werde also nicht mit Marcel über die Tat sprechen, um nicht in die Ermittlungen einzugreifen. Vermutlich will er das auch gar nicht. »Gibt es Verwandte, die benachrichtigt werden sollen?«, frage ich weiter. »Was ist mit der Ehefrau und Mutter?«

Peter schüttelt den Kopf. »An Krebs verstorben. Es gibt nur den Vater und die beiden Jungs.«

Ich bekomme ein mulmiges Gefühl. So allmählich wird mir die Dimension der Geschichte klar. Der Junge hat gerade seine ganze Familie verloren. »Okay, dann gehe ich zu Marcel …«

Ich laufe die Treppe hoch, nehme zwei Stufen auf einmal und sehe, wie mein KIT-Kollege gerade zur Tür hereinkommt. Ich gehe zu ihm und erzähle schnell, was ich bisher in Erfahrung gebracht habe. Er gibt dem Wachhabenden Bescheid, dass wir nun zu dem Zeugen in den sicheren Raum gehen und er doch bitte ein Auge auf uns haben solle. Die Tür des sicheren Raums kann nämlich nur von außen geöffnet werden. Der Raum ist absolut kahl und ohne jede Möglichkeit, sich oder andere zu verletzen. Damit ist der Ort zwar sicher, aber schafft eine scheußliche Atmosphäre für eine Betreuung. Hoffentlich kommen die Ermittler bald vom Tatort zurück, damit sie mit dem Jungen sprechen können und er dann nach Hause gehen kann.

Mich durchzuckt ein Gedanke: Zu Hause? Wo ist das jetzt für ihn? In die Wohnung, in der er mit seinem Vater lebt, kann er vorerst nicht zurück. Die Zimmer werden als Tatort versiegelt.

Wir treten in den Raum. »Hallo«, sage ich und schaue dem jungen Mann mit den kurzgeschorenen Haaren in die Augen. Sie sind braun. »Mein Name ist Angélique Mundt, und das ist mein Kollege Dietmar Marks. Wir sind vom Kriseninterventionsteam und haben Zeit für Sie.«

Ich sage bewusst nicht: »Guten Abend«, denn wenn ich komme, ist der Abend nicht mehr gut. Wenn ich komme, ist eine Katastrophe passiert, und die Menschen, die vor mir sitzen, sind davon betroffen. Gut gibt es für sie in diesem Moment nicht mehr.

Ganz am Anfang meiner Zeit im KIT habe ich einmal zu einem alten Mann »Guten Abend« gesagt, der gerade erfahren hatte, dass sein einziger Sohn auf offener Straße tot umgefallen war. Den verstörten und unverständigen Blick werde ich nie mehr vergessen. Das ist mir nicht wieder passiert.

Mit Marcel kommen wir nur schleppend ins Gespräch. Er wirkt innerlich ruhig, meidet Blickkontakt, spricht nicht viel. Er möchte wissen, wo sein Bruder ist und wie es ihm geht.

Sachlich stellt er seine Fragen. Kühl.

Ich berichte ihm, was ich gesehen habe. Dass ich nicht mit seinem Bruder gesprochen habe. Ob ihm das so reicht?

Er nickt. Dann schweigt er.

Hat er verstanden, dass sein Vater tot ist? Ist die Tatsache überhaupt schon in sein Bewusstsein gedrungen? Was fühlt er? Kann er überhaupt etwas fühlen, oder überlebt er gerade nur?

Wir schweigen mit ihm.

Es ist schwierig und anstrengend, mit einem Menschen in Kontakt zu kommen, der in diesem Moment keine Gefühle spürt und wie vereist ist. Aber das müssen wir aushalten.

Trotz seiner scheinbaren inneren Gelassenheit, rutscht er von Zeit zu Zeit nervös auf dem Stuhl hin und her. Er schwitzt stark und nestelt mit seinen Händen an seiner Jeans.

»Wie geht es Ihnen, ich meine körperlich? Brauchen Sie irgendetwas?«

»Eine Zigarette. Und meine Medikamente, bitte.«

Er ist ausgesprochen höflich.

Welche Medikamente? Ich frage nach, und er berichtet uns von seiner Heroinabhängigkeit und der Methadon-Substitution. Er braucht sein »Ersatz-Heroin«. Dringend.

»Um welche Uhrzeit nehmen Sie es normalerweise?«, frage ich, denn ich weiß, dass Methadon regelmäßig eingenommen werden muss, da es viel schneller abgebaut wird als Heroin und es ansonsten zu Entzugserscheinungen kommen kann.

»So gegen sechzehn Uhr«, antwortet er ungerührt.

Mist. Er ist schon einige Stunden drüber, daher kommt seine körperliche Unruhe. Er könnte in einen Entzug rutschen. Es scheint ihn nicht zu interessieren.

Mein Kollege nickt mir kurz zu. Wir haben die gleichen Gedanken. Einer bleibt bei ihm, der andere muss das Methadon besorgen.

»Wo sind Ihre Medikamente?«, frage ich.

»Im Kühlschrank. Zu Hause. Ich wollte sie holen … als … mein Bruder …« Er verstummt.

Am Tatort also. Ich stehe auf. »Ich sehe, was sich machen lässt. Fangen wir mit der Zigarette an.« Das würde hoffentlich die ersten Symptome etwas abmildern.

Ich klopfe gegen die Plexiglasscheibe und gebe dem Wachhabenden durch das Fenster des Raumes ein Zeichen. Er kommt und öffnet die Tür. »Darf Marcel mit meinem Kollegen draußen eine Zigarette rauchen?«

Der Polizist guckt den jungen Mann an und hat Erbarmen. »Ja, im Hof. Aber es kommt noch ein Kollege von uns mit.«

So gehen sie in den Hof, und ich suche Peter, den Mordbereitschaftsleiter, um ihn zu bitten, die Medikamente vom Tatort ins Polizeikommissariat bringen zu lassen.

Peter telefoniert mit seinen Kollegen vor Ort und will wissen, ob ich einen Arzt für den Jungen brauche. Ich finde, Marcel kennt sich am besten mit seinen Symptomen aus, und solange er keinen Arzt fordert, brauchen wir keinen.

Ich treffe ihn mit meinem Kollegen und drei rauchenden Polizisten im Hof. Die zweite, erklärt Marcel mit einem verunglückten Lächeln und hält die Zigarette hoch.

»Die Medikamente werden gleich gebracht.«

»Warum haben sie wieder gestritten? Jetzt habe ich beide verloren, oder?«, fragt er.

»Ja«, antworte ich, denn das ist die Wahrheit und die hat er verdient. Ich bin erleichtert, dass er die Tatsache, dass sein Vater tot ist, verstanden hat. Nur fühlen kann er sie wohl noch nicht. Er wirkt wie erstarrt.

»Alexander wird im Knast nicht klarkommen. Ich könnte das. Er nicht. Er ist viel zu sanft. Er ist … es wird ihn zerstören.«

Erstmals erkenne ich eine emotionale Regung in seinen Äußerungen. Angst spricht aus seinem Blick. Er macht sich Sorgen um seinen Bruder. Da ist keine Anklage und keine Wut zu hören. Nur Kummer um den Bruder. Und sein Vater? Ist der Schmerz wegen des Verlustes zu groß, um ihn auszudrücken? Sind seine Ruhe und Zurückgezogenheit seine Art sich zu schützen? Es kommt vor, dass der Stress der Hilflosigkeit in einer solchen Ausnahmesituation dazu führt, sich wie betäubt und empfindungslos zu fühlen. Man wirkt dann von außen wie erstarrt und scheinbar ohne Anteilnahme. Wie auch immer. Ich respektiere Marcels Gefühle in dieser Situation, denn es sind Reaktionen, die seinem Überleben dienen.

»Ich verstehe es nicht«, fährt er fort. »Ich bin derjenige von uns beiden, der die Kurve nicht gekriegt hat. Ich nehme Drogen. Er doch nicht. Er ist klug, ich bin der Versager.« Er seufzt. »Wo soll ich denn jetzt hin?«

»Haben Sie Verwandte, die wir benachrichtigen können?«, frage ich.

»Nein, ich … vielleicht kann ich bei meiner Freundin wohnen?«

»Wie heißt Ihre Freundin?«

»Jessika«, flüstert er.

»Weiß Jessika, was passiert ist?«

»Ja, ich durfte sie anrufen. Sie kommt her.«

Kurze Zeit später ist sie wirklich da. Zierlich, blond und sichtlich besorgt um ihren Freund. Während Marcel seine Aussage vor der Mordkommission macht, können mein Kollege und ich mit ihr überlegen, was während der nächsten Tage auf die beiden zukommt.

Marcel ist nicht mehr allein.

Noch in der Nacht telefoniere ich mit einer Kollegin von der Opferschutzorganisation Weißer Ring. Sie darf ich zu jeder Tages- und Nachtzeit anrufen.

»Ich kläre morgen, wann der Tatortreiniger in die Wohnung kann«, sagt sie. »Dann könnte Marcel zurück nach Hause. Wenn er will.«

Wir arbeiten schon seit Jahren zusammen, und es tut gut zu wissen, dass sie Marcel unterstützen wird.

Denn auch er ist ein Opfer dieser Tat.

Ein orientierungsloser junger Mann, der seine kleine Familie in dieser Nacht verloren hat. Ein Junge ohne Ausbildung, ohne Arbeit, ohne Geld und ohne Hoffnung auf eine bessere Zukunft.

Er braucht Unterstützung. Auch darin, die Bilder und Erlebnisse der Nacht zu verarbeiten, über die er noch nicht sprechen kann. Jemand, der ihm hilft, seine Gefühle auszudrücken. Nicht morgen, vielleicht nicht einmal in der nächsten Woche. Aber irgendwann braucht er psychologische Hilfe. Ich spreche mit Marcel über die Trauma-Ambulanz des Universitätskrankenhauses. Dort erhalten Menschen, die unter den seelischen Folgen eines traumatischen Ereignisses leiden, zeitnah Beratung, psychotherapeutische Gespräche, pharmakologische Behandlung oder weitere Vermittlung in ambulante, teil- oder vollstationäre Behandlung.

Er schreibt sich die Telefonnummer auf. Seine Handschrift ist groß und krakelig. Aber er schreibt selber und gewinnt damit für einen Moment etwas Selbstwirksamkeit. Ich achte stets darauf, dass die Betroffenen möglichst viele Alltagshandlungen selber ausführen, denn das erhöht ein wenig ihr Kontrollerleben in der dramatischen Situation, sie werden sicherer und fühlen sich stärker.

Ich beantworte seine wenigen Fragen: Was passiert als Nächstes? Wo wird sein Bruder hingebracht? Was ist mit der Wohnung? All das sind Fragen und Antworten, die ihm helfen, besser zu verstehen, was um ihn herum vorgeht.

Wir erstellen eine Liste mit Dingen, die er in den nächsten Tagen tun will. Dinge, die ihn ein bisschen handlungsfähiger machen, ihm helfen, Entscheidungen zu treffen. Er ist stolz auf seine Liste. Er will seinem Bruder helfen. Einen Anwalt besorgen. Er kann ihn nicht hassen für seine Tat, denn er liebt ihn.

Über seinen Vater spricht Marcel nicht.

In diesem Moment sind seine Vorsätze gut und hilfreich, denn sie zeigen ihm einen Weg. Einen Weg ins Weiterleben.

Marcel zeigt Mut. Er will nicht die einfache Flucht in die Drogen nehmen. Und er zeigt Hoffnung. Hoffnung auf ein Überleben in der Zerstörung.

Er spürt noch keine Trauer. Trauer um den Vater. Aber die Traurigkeit wird kommen. Wenn er stark genug ist, sie zuzulassen. Dann wird er nicht allein sein.

Meine Enttäuschung über die verpatzte Verabredung hielt nicht lange an. Ich entschuldigte mich wortreich per E-mail. Er antwortete zum Glück und erzählte, dass meine Handynummer, die er von der Bedienung des Restaurants bekommen hatte, einen Zahlendreher hatte. Kein Anschluss unter dieser Nummer. Er schrieb, es sei offenbar ein wenig schwierig mit mir. Er habe sich daher entschlossen, sich einfach jeden Abend in das Bistro zu setzen, bis ich käme!

Meinte er das ernst? Ich war gerührt. Mein Herz klopfte, und meine Neugier ließ mich direkt am nächsten Abend in das Restaurant gehen. Und tatsächlich. Er saß an der Bar.

Es wurde ein wundervoller Abend, dem noch viele Abende, Monate und Jahre folgten.

So dicht liegen Anfang und Ende manchmal zusammen.

Markus

Anders als bei dem jungen Zeugen Marcel überbringen wir die meisten Todesnachrichten in Familien, die bis zu dem Moment, wenn die Polizei und das KIT an die Tür klingeln, nicht die geringste Ahnung haben, dass gleich eine Katastrophe über sie hereinbrechen wird.

Diese Situationen fallen mir wirklich schwer.

Ich erinnere mich da zum Beispiel an die Familie von Markus. Markus war fünf Tage vorher einundzwanzig Jahre alt geworden.

Er hatte seine Ausbildung zum Zerspanungsmechaniker abgeschlossen, aber in diesem Beruf wollte er nicht länger arbeiten. Deshalb hatte er sich eine Auszeit genommen, solange bis er irgendwann wissen würde, was er wirklich machen wollte.

Nur sollte er das nicht mehr herausfinden können.

Montagmorgen, acht Uhr dreißig: Als Markus sich am Frühstückstisch im Haus seiner Eltern verabschiedete, hatte er noch dreizehn Minuten zu leben. Wahrscheinlich war alles wie immer: Die kleinen Geschwister beachteten ihn nicht, sie stritten sich gerade um die Corn Pops. Seine Mutter nahm ihn am Arm und drückte ihm noch einen Kuss auf die Wange. Möglicherweise machte er ein Gesicht, als wäre es ihm peinlich. Doch er wartete vielleicht einen Moment zu lange, bevor er sie wegschob.

Er wollte zu einem Freund nach Rahlstedt. An diesem strahlenden Sommertag nahm er für die vier Kilometer seine geliebte Honda.

Eine Weile fuhr er hinter dem Sattelschlepper her, bis der immer langsamer wurde, links blinkte und stehenblieb. Warum Markus in diesem Moment zum Überholen ansetzte, kann man im Nachhinein nicht verstehen. Seine Honda prallte auf die großen Vorderreifen der Zugmaschine, die gerade wieder anfuhr, um abzubiegen. Die Honda wurde herumgerissen. Markus flog über den Lenker und wurde auf den Asphalt geschleudert. Er schlidderte über die Straße. Immer weiter. Dabei verlor er seinen Helm. Dann traf sein Kopf die Bordsteinkante, und sein Körper kam zur Ruhe.

Es war genau acht Uhr und dreiundvierzig Minuten.

»Die Leitstelle. Wir haben einen Einsatz für Sie. Überbringung einer Todesnachricht nach Verkehrsunfall. Die Polizei am Unfallort bittet um Ihren Rückruf.«

Der Disponent gibt mir die Handynummer. Das ganze Gespräch dauert keine Minute und lässt nicht erahnen, welche Geschichte sich hinter diesen wenigen Worten verbirgt. Ich weiß nur, dass ich bald an einer Haustür klingeln werde, um irgendwo in Hamburg die heile Welt eines Menschen zu zerstören. Unwiderruflich. Ich hole tief Luft und tippe die Telefonnummer ein. Polizeimeister Lemke, der am Apparat ist, berichtet, dass es einen jungen Motorradfahrer getroffen hat. Ich soll mich beeilen. Die Familie wohnt nicht weit vom Unfallort entfernt, und er hat Angst, dass sie durch einen Zufall vom Tod des Jungen erfahren könnten.

Fünf Minuten später sitze ich im Auto auf dem Weg nach Rahlstedt.

Was wird mich jetzt erwarten, wer war Markus? Ein Jugendlicher? Oder ein junger Familienvater? Ich muss mich auf den Verkehr konzentrieren. Rote Ampeln verdammen mich zum Warten und zerren an meinen Nerven. Ich will so schnell wie möglich vor Ort sein – und gleichzeitig weit weg. Ich bin hin- und hergerissen zwischen dem Wunsch, mein Bestes für die Familie zu geben, meinen Job gut zu machen, und der Angst vor dem, was mich erwartet.

Von weitem sehe ich die flackernden blauen Lichter der Streifenwagen. Die Straße ist abgesperrt, der Verkehr wird umgeleitet. Während ich langsam an die Absperrung heranfahre, sehe ich zwei Sanitäter am Rettungswagen stehen. Sie rauchen eine Zigarette. Was sie gesehen haben, muss schlimm gewesen sein. Sehr schlimm. Rauchen im Einsatz ist verpönt. Die beiden tun es trotzdem.

Ich steige aus, und ein Polizist kommt auf mich zu. Polizeimeister Lemke. Er sieht nett aus. Was er zu erzählen hat, ist furchtbar. Er schildert mir den Unfallhergang, soweit er bis jetzt zu erkennen ist.

Der LKW-Fahrer und ein Zeuge, der helfen wollte, sind mit einem schweren Schock ins Krankenhaus gebracht worden. Ein weiterer Zeuge musste ebenfalls medizinisch versorgt werden. Niemand hatte mehr helfen können, sagt Lemke. Der Junge war sofort tot. Markus Neumann. Einundzwanzig Jahre alt. Er schluckt und sieht auf die Absperrung. Dahinter lungern die Pressevertreter und Gaffer. Sie starren auf die Fahrbahn. Auf die Plane, unter der der Umriss eines Körpers zu erahnen ist. Lemke will wissen, ob ich den Jungen sehen will.

Nein, will ich eigentlich nicht. Aber ich muss. Das bin ich den Eltern schuldig. Ich frage ihn, was mich erwartet. Er schaut zur Seite und versucht, es zu beschreiben. Also, das Gesicht. Das ja, das könne ich sehen. Nicht den Hinterkopf. Ich hebe die Plane vorsichtig an, der Polizeimeister hilft mir. Und blicke in das zarte Gesicht eines großen Kindes. Mit Sommersprossen. Seine Augen sind geschlossen, und er ist entsetzlich blass, als halte er einen tiefen Winterschlaf. Das viele Blut um seinen Kopf herum erzählt eine andere Geschichte. Ich blicke auf seinen Körper. Ein Bein, ein Fuß ohne Schuh. Das Bein steht wie an einem Scharnier rechtwinklig ab. Gebrochen. Das ließe sich richten. Der Rest nicht.

Ich habe genug gesehen.

Sofern es möglich ist, schaue ich mir die Opfer nach einem Unfall an. Manchmal ist es sehr wichtig für die Eltern, zu wissen, wie ihr Kind ausgesehen hat. Wie es auf der Straße gelegen hat. Und ich möchte einschätzen können, ob eine Verabschiedung für die Angehörigen bedenkenlos möglich ist. Und ich finde, bei Markus ist das der Fall. Trotz der Verletzungen. Sollten es die Eltern wünschen. Ich werde im Institut für Rechtsmedizin darum bitten und sage es dem Polizeimeister Lemke. Er blickt zweifelnd zur Plane und nickt stumm.

»Am besten wir fahren sofort zu den Eltern. Meine Kollegin kommt mit«, sagt er leise.

Es ist Aufgabe der Polizei, die Todesnachricht so schnell wie möglich und der Familie persönlich zu überbringen. Das KIT begleitet sie, um den Angehörigen seelische Unterstützung anbieten zu können.

»Wer ist unter der Adresse gemeldet?«, frage ich.

Er blickt auf seinen Zettel. Warum schweigt er so lange?

»Die Mutter und zwei weitere Kinder. Zwillinge. Acht Jahre alt.«

Mein Gott, denke ich. So junge Geschwister.

Jetzt bin ich froh, dass wir im KIT die Einsätze in der Regel zu zweit fahren. Zum Glück wurde mit mir noch ein anderer Kollege alarmiert. Alleine schaffe ich das nicht. Die Kinder brauchen unter Umständen eine eigene Betreuung. Ich rufe ihn an, er ist bereits in der Nähe. Ich gebe ihm die Adresse der Familie. Wir wollen uns dort vor dem Haus treffen.

Ich fahre dem Polizeiwagen hinterher. Mein Bauch fühlt sich an, als wäre innen alles ein einziger Knoten. Ich gehe in Gedanken noch einmal durch, was man in der Wissenschaft darüber weiß, welche Vorstellungen Achtjährige vom Tod haben: Meist haben sie ein sachliches, fast nüchternes Interesse daran. Sie beginnen gerade erst zu verstehen, was Unendlichkeit bedeutet und dass der Tod unumkehrbar ist. Sie haben noch keine große Angst vor dem Sterben, da sie nur eine sehr vage Vorstellung der eigenen Endlichkeit haben. Sie gehen davon aus, dass nur alte Menschen sterben oder solche, die etwas »Böses« getan haben. Ihr Bruder ist nicht alt und hat auch nichts Böses gemacht. Wie sollen sie verstehen, dass er jetzt tot ist?

Als wir vor den Gelbklinkerbauten ankommen, wartet mein KIT-Kollege schon in seinem Auto. Er kommt auf uns zu, ich begrüße ihn mit einem Blick und einem kurzen Lächeln. Schnell berichten wir die Details. Wir können nicht so lange vor dem Haus rumstehen. Passanten könnten aufmerksam werden, die Familie zum falschen Zeitpunkt zufällig aus dem Fenster sehen und etwas ahnen. Das würde die Überbringung der Nachricht erschweren. Wir müssen aufpassen in solchen Situationen. Ich wende mich an Polizeimeister Lemke und sage ihm noch einmal, was er eigentlich schon weiß, dennoch hilft ein konkreter Auftrag in einer solchen Situation: »Wir müssen zuerst in die Wohnung. Erst dort sagst du, was passiert ist, nicht im Treppenhaus. Sag’ es klar und ohne Umschweife, das ist schwer, aber wichtig. Wir bleiben hinter euch. Dann sehen wir weiter…«

Lemke nickt. Es ist nicht das erste Mal, dass er so etwas erlebt. Er weiß, dass er bei den Angehörigen keine Hoffnung auf ein Missverständnis aufkommen lassen darf. Er und seine Kollegin stellen sich vor die Haustür und atmen tief durch, bevor sie die Klingel drücken. Mein Kollege und ich stehen dahinter.

Der Türsummer geht. Wir sind im Haus.

Erster Stock.

Die Tür von Familie Neumann ist geschlossen.

Lemke drückt die Klingel. Wir versuchen ruhig zu atmen.

Die Tür wird geöffnet. Von einem Kind. Das muss einer der Zwillinge sein. Bevor Lemke auch nur ein Wort sagen kann, knallt der Junge die Tür wieder zu.

Lemke dreht sich zu mir um. Sein Gesicht ist erstarrt. Noch bevor er seinen Finger erneut auf die Klingel gelegt hat, wird die Tür wieder geöffnet. Eine Frau sieht uns amüsiert an.

»So, so, die Polizei ist da. Ich habe euch gleich gesagt, ihr sollt nicht so um die Cornflakes streiten. Das habt ihr nun davon.« Sie sieht uns noch immer belustigt an.

»Frau Neumann. Dürfen wir reinkommen? Wir müssen …«

»Natürlich, kommen Sie …« Sie hält uns die Tür auf, geht vor uns in die Küche. Die Kinder sitzen am Frühstückstisch, Frau Neumann steht daneben.

Lemke räuspert sich. Seine Kollegin steht betreten neben ihm. Mein Kollege und ich bleiben im Hintergrund.

»Wir müssen Ihnen leider eine schlimme Nachricht überbringen. Vielleicht sollten die Kinder besser in ihr Zimmer gehen.«

Die Mutter schaut Lemke skeptisch an. Vielleicht ahnt sie etwas. Sie behält die Kinder bei sich, setzt sich neben sie. In ihrer Gegenwart wird doch sicher nichts Schlimmes passieren, oder?