Erwachen aus dem Albtraum - Monireh Baradaran - E-Book

Erwachen aus dem Albtraum E-Book

Monireh Baradaran

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Beschreibung

Neun Jahre lang war Monireh Baradaran in den berüchtigten Gefängnissen von Teheran inhaftiert. Ihr Bericht geht an die Grenze dessen, was Menschen ertragen können. Sie zeichnet genaue, einfühlsame Porträts von den Frauen, ihren Mitgefangenen, und geht dem Rätsel nach, wie Menschen sich verändern, Freunde zu Feinden, »Helden« zu »Verrätern« werden. Noch in den grausamsten Augenblicken der Haft bleibt die Schilderung präzise, voller menschlicher Neugier und Verständnis, rückhaltlos auch gegenüber den eigenen Zweifeln und Schwächen. Nach der Freilassung begann der schmerzhafte Prozess der Aufarbeitung dieser Erfahrungen. Vier Jahre dauerte es, bis das Unvorstellbare in Worte gefasst war.

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Seitenzahl: 494

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Über dieses Buch

Neun Jahre lang war Monireh Baradaran in den berüchtigten Gefängnissen von Teheran inhaftiert. Vier Jahre dauerte es, bis das Unvorstellbare in Worte gefasst war. Ihr Bericht geht an die Grenze dessen, was Menschen ertragen können: ein erschütterndes Zeitzeugnis über tiefste menschliche Gefühle und unmenschliche Grausamkeit.

Zur Webseite mit allen Informationen zu diesem Buch.

Monireh Baradaran (*1955) wuchs in Teheran innerhalb einer politisch engagierten Familie auf. Den Kampf gegen die Diktatur und für die Demokratie haben sie und ihre Angehörigen teuer bezahlt mit Gefängnisstrafen, Verschleppungen und Hinrichtungen. 1991 ging sie ins Exil nach Deutschland.

Zur Webseite von Monireh Baradaran.

Dieses Buch gibt es in folgenden Ausgaben: Taschenbuch, E-Book (EPUB) – Ihre Ausgabe, E-Book (Apple-Geräte), E-Book (Kindle)

Mehr Informationen, Pressestimmen und Dokumente finden Sie auch im Anhang.

Monireh Baradaran

Erwachen aus dem Albtraum

Autobiografischer Bericht

Herausgegeben und aus dem Persischen von Bahram Choubine und Judith West

E-Book-Ausgabe

Unionsverlag

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Impressum

Die Originalausgabe erschien unter dem Titel Haghighat-e Sadeh.

Originaltitel: Haghighat-e Sadeh

© by Monireh Baradaran 1998

© by Unionsverlag, Zürich 2022

Alle Rechte vorbehalten

Umschlaggestaltung: Martina Heuer

ISBN 978-3-293-30559-5

Diese E-Book-Ausgabe ist optimiert für EPUB-Lesegeräte

Produziert mit der Software transpect (le-tex, Leipzig)

Version vom 13.06.2022, 12:33h

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Inhaltsverzeichnis

Cover

Über dieses Buch

Titelseite

Impressum

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Inhaltsverzeichnis

ERWACHEN AUS DEM ALBTRAUM

VorwortDie VerhaftungDas Evin-GefängnisDas VerhörDer GemeinschaftstraktEin anderer Ort im Evin-GefängnisNorouz 1982Im GebetshausBesuch der AbgeordnetenDas Ghezelhessar-GefängnisIm StraftraktNorouz 1983»Unter der 8«Im ViehstallZurück ins Evin-GefängnisWieder in der GemeinschaftszellePicknick im Evin-GefängnisVerschnaufpauseVersteinerte GestaltenDie Verschnaufpause ist zu EndeDas Gohardasht-GefängnisEinzelzelleEin Baum im HofIn der allgemeinen AbteilungIn Erinnerung an ParvinNorouz 1988Schwarzer Sommer 1988Die lautlosen SchreieIsolationshaftNorouz 1989Khomeinis TodGemeinschaftszelleDie UN-MenschenrechtskommissionLetztes Norouzfest in GefangenschaftEin zerstörtes NestNachwort

Mehr über dieses Buch

Über Monireh Baradaran

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Vorwort

September 1988. Der Krieg zwischen Iran und Irak ist zu Ende, und in Teheran findet gerade die erste internationale Messe statt. Das Messegelände befindet sich nicht weit vom Evin-Gefängnis entfernt. Durch die dicken Eisenstäbe unseres Zellenfensters blicken wir auf den Himmel, in dem bunte Ballons mit Fahnen und Werbezeichen von multinationalen Firmen schweben. Abends hören wir das Lachen und die Rufe der Kinder, die im nahe gelegenen Vergnügungspark spielen. Dort draußen pulsiert das Leben, aber hier drinnen wirft der Tod seine langen Schatten auf uns. Die Mauer trennt Leben und Tod. Die Werbeballons beflügeln meine Fantasie. Ich wünschte, ich könnte mit einem dieser farbenfrohen Ballons davonfliegen und unsere Erlebnisse hinausschreien.

Eine Ewigkeit und viele ausgelöschte Leben später, als ich nicht mehr hinter der dicken Mauer saß, machte ich mit einer Freundin am späten Nachmittag eines Frühlingstages einen Spaziergang durch die überfüllten Straßen Teherans. Der stickige Teheraner Smog konnte das Frühlingsgefühl nicht ganz überlagern.

»Du musst festhalten, was du im Gefängnis erlebt hast. Nichts darf verdrängt oder vergessen werden«, sagte sie. Sie ließ sich durch meine Ausreden nicht beeindrucken. »Im Gefängnis gerät alles durcheinander. Es gibt Schwäche, Zusammenbrüche, Verrat und Selbstverleugnung.«

»Auch das muss festgehalten werden. Erst im Angesicht der Wahrheit können Widerstand, Ausdauer und Liebe ihren Sinn wiederfinden, zur Solidarität aufblühen, fassbar und real werden.«

Ohne überzeugt zu sein, nickte ich, und wir drückten uns wortlos die Hände. Inzwischen war es dunkel geworden, die Stadt kam zur Ruhe. Wir trennten uns.

Selbstverständlich ist dies nicht die ganze Wahrheit. Ich kann nur niederschreiben, was ich gesehen und erlebt habe, und ich war nur eine von Tausenden.

Meine schmerzliche Erinnerung ist meine einzige Stütze. Ich besitze keine Notizen oder Tagebücher, und ich kann nur einen kleinen Ausschnitt der Wirklichkeit zeigen, die in den Gefängnissen der Islamischen Republik Iran herrscht.

Die Namen der überlebenden Gefangenen sind größtenteils zu ihrem Schutz geändert worden. Die Hingerichteten werden, soweit es die Sicherheit der Angehörigen nicht gefährdet, mit dem richtigen Namen genannt.

Die Verhaftung

Oktober 1981, kurz vor Mitternacht. Ich war gerade ins Bett gegangen, als es an der Tür klingelte. Durch die Sprechanlage drang eine fremde, männliche Stimme zu uns: »Ich bin ein Freund eures Bruders!« Meine Schwester antwortete: »Mein Bruder ist nicht da.« Daraufhin befahl der Fremde barsch: »Mach sofort die Tür auf!«

Wir hatten keinen Zweifel, das waren die Menschenjäger. In jener Zeit waren sie überall anzutreffen. Auf den Straßen hielten sie ahnungslose Passanten auf, durchsuchten sie und wühlten in all ihren Taschen nach verdächtigen Sachen. Beim geringsten Verdachtsmoment nahmen sie sie sofort fest und führten sie ab. Nachts stürmten sie Häuser und Wohnungen. Schüler, Studenten und gebildete Menschen bildeten ihre bevorzugte Beute.

Meine Schwester öffnete, und im Nu waren die Männer in unserer Wohnung. Sie waren alle bewaffnet. Auf die Frage meiner Schwester, wer sie seien und mit welchem Recht sie bei uns eindrangen, zeigte einer von ihnen einen Ausweis.

Ich war noch im Nachthemd, als ein Mann mit einem Funkgerät in der Hand die Tür meines Zimmers aufriss, mich mit meinem Namen ansprach und mir befahl: »Zieh dich an! Du bist verhaftet!«

»Warum?«, wollte ich wissen.

»Du wirst schon sehen«, antwortete der Bärtige. Er verließ mein Zimmer, und ich begann, mich anzukleiden. Unterdessen durchsuchten sie unsere gesamte Wohnung, konnten aber nichts finden. Sie nahmen einige Bücher aus dem Regal und forderten meine Schwester auf, ihnen Tragetaschen zu bringen. Um Fassung ringend, erwiderte sie scheinbar ruhig: »Sie benehmen sich, als seien Sie hier zu Hause. Nehmen Sie sich also, was Sie brauchen.« Einer fand einen Abfallbeutel und warf die beschlagnahmten Bücher hinein. Danach verlangten sie die Autoschlüssel, um auch den Wagen zu durchsuchen.

Während der ganzen Zeit beobachtete uns ein Jüngling, nicht älter als sechzehn, siebzehn Jahre, der eine geladene Pistole fest in der Hand hielt. Ein anderer posierte mit seiner Waffe wie im Western. Ein Mann nahm eine Kassette des populären kurdischen Sängers Showan in die Hand. Er las den Namen falsch und wollte wissen, was darauf war. Meine Schwester forderte ihn heraus: »Legen Sie die Kassette doch auf, dann wissen Sie es.« Aber er warf die Kassette und noch ein paar weitere zu den Büchern in den Beutel. Nach knapp einer Stunde waren sie fertig, und ich war ihre Gefangene.

Zum Abschied schloss ich meine Schwester tief in die Arme und flüsterte ihr zu, sie solle auf alles gefasst sein. Sie beschwor mich, auf jeden Fall und unter allen Umständen meine Würde zu wahren. Diesen Satz wiederholte ich in den folgenden Jahren immer wieder und schöpfte Kraft aus ihm. In der Gasse drehte ich mich um. Ob ich mein Heim, meine Schwester zum letzten Mal sah?

Ein kräftiger Mann mit Vollbart und einem finsteren Gesicht, offenbar der Anführer der Gruppe, öffnete die Autotür und herrschte mich an: »Kennst du die anderen da?« Ich schaute hinein und erstarrte vor Schreck: Mein Bruder, seine Frau Narges und einer unserer Verwandten saßen mit verbundenen Augen im Wagen. Ein Revolutionswächter saß ihnen gegenüber und hielt seine Waffe auf sie gerichtet, den Finger am Abzug. Was werden sie wohl mit ihm machen? Ich bangte um meinen Bruder. Die Stimme des Jägers ließ mich zusammenzucken: »Kennst du sie?«

»Werde ich gleich auf der Straße verhört?«, fragte ich zurück. Seine Faust sauste mit voller Kraft auf meinen Kopf herab. Ich war sicher, dass sie die Identität meiner Angehörigen kannten, deshalb fragte ich: »Warum soll ich denn meinen eigenen Bruder und seine Frau nicht kennen?« Dann schoben sie mich in den Wagen hinein. Die Straßen waren still und wie ausgestorben. Der Wagen raste davon. Was erwartete uns? Narges war gewiss voller Angst. Ich streckte meine vom Schleier bedeckte Hand aus und drückte ihre eisigen Finger. Durch die ineinandergelegten Hände empfanden wir die Bitterkeit der Situation stärker, beruhigten uns aber auch und gewannen ein wenig Mut.

Die Fahrt dauerte nicht sehr lange. Man legte uns Augenbinden an und holte uns aus dem Auto. Durch den unteren Rand der Augenbinde konnte ich die Umrisse eines alten Gebäudes erkennen. Später erfuhr ich, dass es das »Eshratabad-Komitee« war. In dem kurzen Augenblick, der uns blieb, flüsterte ich meinem Bruder zu, was mir wichtig war.

Narges und ich wurden von den anderen getrennt und durch einen alten Hof geführt. Vor einer Tür blieben wir stehen. Einer der Männer schellte. Eine Wärterin öffnete und nahm uns mit hinein. Wir wurden einer gründlichen Leibesvisitation unterzogen. Dann gaben sie uns einige alte, grobe Militärdecken und zeigten uns eine Ecke zum Schlafen. Wir nahmen die Augenbinden ab und sahen uns an. Narges’ Blick war voller Angst und unendlicher Trauer. »Gut, dass wir zusammen sind«, sagte sie, und ich nickte. Die Wärterin befahl uns, den Mund zu halten. Wir legten uns hin und sahen uns schweigend an. Ich konnte nicht klar denken. Diese Nacht war verhängnisvoll und so anders als alle Nächte meines bisherigen Lebens. Das war das Einzige, was ich dachte und fühlte.

Nach einiger Zeit fiel ich tatsächlich in einen tiefen Schlaf. Am nächsten Morgen weckte uns die Wärterin. Narges hatte überhaupt nicht geschlafen. Die Wärterin führte uns in ein Hinterzimmer, in dem bereits etwa fünfzehn Frauen saßen. Ihr Anblick ließ mich aufatmen. Der Raum war dunkel und feucht, die Wände mit Estrich gestrichen. Die Frauen saßen auf einer Art Zementbank, die mich an die öffentlichen Badehäuser meiner Kindheit erinnerte. Eine der Frauen ahnte meine Gedanken: »Es gibt nicht mehr genug Räume für alle Gefangenen. Deshalb benutzt man die Bäder als Unterkunft.«

Ich setzte mich zu ihnen. Die meisten waren noch sehr jung. Bald erfuhr ich, dass sie Schülerinnen waren. Drei von ihnen waren Gymnasiastinnen, die man bei der jährlichen Rückmeldung verhaftet hatte. Eine andere, die sechzehnjährige Akram, war während einer bewaffneten Auseinandersetzung zwischen den Volksmodjahedin und den Revolutionswächtern mit einem Molotowcocktail in der Hand gefasst worden und rechnete fest mit ihrer Hinrichtung. Sie hielt Strickzeug in der Hand und erklärte: »Das gehört einer Wärterin. Damit kann ich mir die Zeit vertreiben. Aber ich mache extra Fehler und stricke so unregelmäßig, wie es nur geht.« Die Strickerei war wirklich schlecht gearbeitet.

Eine Studentin erzählte, dass sie wegen einer Demonstration an der Universität festgenommen worden sei. »Aber die Uni ist doch seit eineinhalb Jahren geschlossen?«, fragte ich mit Erstaunen. »Ja«, sagte sie, »ich weiß. Wegen der damaligen Unruhen bin ich hier.«

Eine Frau mit auffällig gefärbten Haaren weckte meine Neugier. Akram deutete auf zwei Frauen und erklärte leise: »Diese beiden sind aufgeflogen, weil die Frau mit dem gefärbten Haar sie denunziert hat.« Alle drei saßen schweigend da. Auch später fiel mir auf, dass sie nicht gern redeten.

Von Akram erfuhr ich, dass der Aufenthalt in diesem Gefängnis nur vorübergehend sei. Nach ersten Verhören und der Zusammenstellung unserer Akten würden wir in das Evin-Gefängnis verlegt. Es kam äußerst selten vor, dass Gefangene von hier aus entlassen wurden.

Die Wärterin kam: »Ihr könnt euer Frühstück abholen.« Zwei Frauen standen auf und brachten das Frühstück für alle: Brot, Schafskäse und eine Kanne Tee. Eine der Frauen verteilte den Käse und gab jeder von uns ein Stück mit Brot. Eine andere goss den Tee in die Kunststoffbecher. Es waren nicht genug Becher für alle da, also benutzten wir sie nacheinander.

Danach durften wir in den Waschraum, der sich ziemlich weit entfernt befand. Wir mussten uns verschleiern und eine Augenbinde anlegen. Narges und zwei andere Frauen besaßen keinen Tschador. Dann mussten wir uns in einer Reihe hintereinander aufstellen. Jede hielt einen Zipfel vom Tschador oder Rock der vorderen Frau in der Hand, und so setzten wir uns in Bewegung.

Wir kamen an. Es gab einige Toiletten und eine lange Waschrinne mit mehreren Wasserhähnen, wie man sie aus Kasernen kennt. Auf dem Fußboden staute sich das nicht abgeflossene Wasser knöchelhoch. Ich raffte voller Ekel meinen Tschador hoch, damit er nicht in das dreckige Wasser fiel. Aber diejenigen, die schon länger festgehalten wurden, empfanden die dreimal pro Tag stattfindenden Toilettengänge als Ausflüge oder Spaziergänge, bei denen auch Informationen über die Verhöre ausgetauscht werden konnten.

Kaum waren wir wieder in unserem Raum angekommen, wurde ich zum Verhör aufgerufen. Mein ganzer Körper bebte. Ich wurde in eine Zelle im Raum mit dem Becken gebracht. Als Erstes wollten sie den Grund für meine Verhaftung in der Schah-Zeit wissen. Dann fragten sie mich über einen Verwandten aus, der durch den SAWAK, den berüchtigten Geheimdienst des Schah, ermordet worden war. »Der SAWAK hat ihn umgebracht«, sagte ich.

»Aber nein. Er hat sich selbst umgebracht«, provozierte mich der Verhörsleiter. Ich ließ mich nicht kleinkriegen: »Ein Selbstmord konnte nicht bewiesen werden, und wenn schon, er stand unter schwerer Folter.« Er bestand darauf, dass mein Verwandter Selbstmord begangen hatte. »Was soll das«, fragte ich entrüstet, »soll hier der SAWAK reingewaschen werden?« Er herrschte mich an: »Geh jetzt, ich hole dich später wieder.« Er streckte mir einen Kugelschreiber entgegen, den ich am anderen Ende festhalten sollte. So konnte er mich zurückbringen, ohne mich dabei berühren zu müssen.

Zu Mittag gab es Reis mit Fleischsoße, ein typisches Essen für Trauertage. Man hatte es für alle auf ein Tablett gefüllt. Es gab weder Teller noch Besteck, also aßen wir es gemeinsam mit den Fingern vom Tablett. Als wir uns nach dem Essen auf dem Rückweg vom Waschraum befanden, erschien der Verhörsbeamte, riss mich aus der Gruppe heraus und brachte mich zum Verhör, wobei er mich fortwährend als Lügnerin titulierte. In der Zelle fragte er mich: »Dein letzter Abschluss?«

»Das Abitur«, antwortete ich. Dies sollte ich schriftlich festhalten und unterschreiben, was ich auch tat. Darauf schrie er mich an: »Du Lügnerin, hast du nicht an der Universität studiert?« Da wurde mir klar, dass die Universität Informationen weitergegeben hatte, also bejahte ich die Frage. »Und warum hast du dann gelogen?«, wollte er wissen. »Aus Angst«, entgegnete ich. Auch diese Aussage musste ich niederschreiben.

»Für diese erste Lüge bekommst du sechzig Stockhiebe auf die Handfläche«, bestimmte er eiskalt. Das ließ mich erzittern. Das Bild der Bestrafung mit dem Stock aus meiner Grundschulzeit stand vor mir. Ich musste die Hand ausstrecken. Der erste Hieb entfachte ein loderndes Feuer in meiner Hand. Beim zweiten zog ich unwillkürlich die Hand zurück …

Er rief eine Wärterin ins Zimmer, die meine Hand festhalten musste. Zehn Schläge, und dann sagte er: »Ich verzeihe dir. Die restlichen Schläge erlasse ich dir.« Das Ganze kam mir wie ein übler Scherz vor. Ich besah meine Hand, die angeschwollen und von den Blutergüssen tiefschwarz war. Er instruierte die Wärterin: »Bring sie in den Kerker. Sie muss die ganze Nacht stehen und kriegt nichts zu essen.«

Der Kerker war ein winziger, einen Quadratmeter großer, fensterloser Raum ohne Licht. Als sich die Tür hinter mir schloss, herrschte absolute Finsternis. Einige Stunden, die mir wie eine Ewigkeit vorkamen, blieb ich stehen. Zwischendurch kam immer mal wieder ein Wärter vorbei, um nach mir zu sehen. Ich fühlte mich elend und setzte mich einfach hin. Kurze Zeit später sah der Wärter mich auf dem Boden sitzen und befahl mir, sofort aufzustehen. Ich konnte nur noch hervorstoßen: »Mir ist schlecht, ich kann nicht mehr.« Daraufhin ließ er mich in Ruhe, brachte mir sogar eine Decke und fragte mich, ob ich etwas zum Essen haben wolle. Ich verneinte, zog die Knie an und schlief ein.

Am Nachmittag des nächsten Tages wurde ich erneut zum Verhör geholt. Der Untersuchungsbeamte veranstaltete ein Höllenspektakel, triumphierte mit »entdeckten Verstecken« und beschrieb lautstark und anschaulich, was mich alles erwartete. Es stellte sich heraus, dass bei einer erneuten Durchsuchung der Wohnung meines Bruders einige Schriften entdeckt worden waren. Er kramte ein Bild von mir hervor. »Kennst du diese Person? Das Bild habe ich in dem Versteck deines Bruder gefunden.« Das war natürlich erlogen. Es handelte sich um ein ganz normales Passbild, das er aus einem Fotoalbum herausgenommen hatte. Immer wieder drohte er mir: »Ich schicke euch dahin, wo man aus euch wieder Menschen macht.«

Nach diesem Verhör wurden Narges und ich mit einem Auto an einen nahe gelegenen Ort gefahren. Später erfuhr ich, dass es die frühere Eshratabad-Garnison war. Das Gebäude bestand aus einem langen Flur und etwa dreißig Zellen, die ziemlich geräumig waren. Später wurde das Gebäude ausgebaut und um ein Vielfaches vergrößert. Ich wurde in eine Einzelzelle gesperrt. Es war Spätnachmittag. Ich fing an, auf und ab zu gehen. Ringsum war alles still. Ich summte ganz leise für mich die Internationale. Alles blieb ruhig. Ich sang lauter. Ein Gedanke jagte den anderen. Ich wollte schlafen, spürte aber den unwiderstehlichen Drang, weiterzusingen, doch dann durchschüttelte ein Weinkrampf meinen ganzen Körper. Ich versuchte trotzdem, still eine Ballade für mich zu singen, die in mir die schönsten und zärtlichsten Erinnerungen meines Lebens erweckte:

Die Leidenschaft durchzieht mein Herz heut nacht

Die Begeisterung erfüllt meinen Verstand heut nacht

Heut nacht kuschle ich wieder hoch über den Wolken

Heut nacht kuschle ich wieder mit meinem Stern.

Erst jetzt, in dieser Zelle, begriff ich die ganze Härte des Schicksals. Ich weinte bitterlich, ohne eine Spur von Hoffnung oder Trost.

Abends, bei der Essensverteilung, sagte ich dem Wärter, dass ich mit einer Wärterin sprechen müsse. Er begriff sofort und brachte mir Watte.

Am dritten Tag wurde ich wieder zum Verhör gebracht. Entgegen meiner Erwartung war der Beamte dieses Mal höflich und formell. Er verteidigte die Islamische Republik und den Krieg gegen den Irak, gab mir aber Gelegenheit, meine Ansichten und meine Kritik vorzutragen. Doch zum Schluss drohte er, mich in das berüchtigte Evin-Gefängnis zu überweisen, wollte ich nicht endlich gestehen.

Am nächsten Morgen brachte man mich in eine andere Zelle, in der schon eine Frau saß. Wir freuten uns beide. Sie hatte etwas im Haus der Kriegsvertriebenen erledigen wollen, ohne zu wissen, dass sich die Volksmodjahedin darin verbarrikadiert hatten. Man hatte sie als Verdächtige festgenommen, und seitdem saß sie hier ein. Sie war religiös und las nach jeder Mahlzeit über eine Stunde lang im Koran. Beim Beten und Koranlesen verklärte sich ihr Gesicht, und sie vergaß alles um sich herum. Während sie inbrünstig betete, trieb ich Gymnastik.

Schon bald fühlten wir uns durch Vertrauen und eine innige Freundschaft verbunden. Dann erst erzählte sie mir ihre wahre Geschichte. In Wirklichkeit hieß sie Manije und hatte im Gefängnis eine falsche Identität angegeben. Sie gehörte den Volksmodjahedin an, die den Islamischen Sozialismus für den einzigen Weg der Befreiung halten. Sie war klug, flink und mutig und besuchte eigentlich eine obere Klasse des Gymnasiums. Ihre einzige Hoffnung bestand darin, das Vertrauen des Untersuchungsbeamten zu gewinnen.

Wir diskutierten heftig über die politische Situation. Voller Leidenschaft wartete sie auf den Tag, an dem die Islamische Republik untergehen würde. Sie war der Meinung, dass sich die Trauerveranstaltungen und Massenkundgebungen des herannahenden Trauermonats Moharram ausweiten könnten und sich dann zu einem landesweiten Aufstand gegen die jetzige Diktatur entwickeln würden. Im Moharram wird traditionell des Märtyrertodes des dritten Imam Hussain gedacht. Im Moharram 1978 hatten die Massenaufstände zum Sturz des Schah geführt. Sie meinte: »Das Volk wird das vergossene Blut seiner jungen Generation nicht hinnehmen.«

Diese Worte klangen zwar naiv, aber auch tröstend. Ich wünschte mit ganzer Kraft, dass sie recht behalten würde. Trotzdem hielt ich meine gegenteilige Überzeugung nicht zurück.

Sie erzählte, dass sie am Tag ihrer Verhaftung Augenzeugin eines Massakers war. Alle Anhänger ihrer Gruppe, die sich in dem Haus verschanzt hatten, waren dabei umgekommen. Diese Gruppierung ging davon aus, dass sich die Bevölkerung im Verlauf der bewaffneten Auseinandersetzungen ihnen anschließen würde. Deshalb hatten sie die ausdrückliche Anordnung, bis zum letzten Überlebenden weiterzumachen und auf gar keinen Fall den Rückzug anzutreten oder aufzugeben. Es war herzzerreißend und abgrundtief traurig, vom Verlauf dieses ungleichen Kampfes zu hören, in dem eine Partei ihre Mitglieder sinnlos opferte.

Tagsüber hörten wir von draußen Hämmern und Klopfen. Deshalb nahmen wir an, dass ein neues Gefängnisgebäude errichtet wurde. Dieser Gedanke war für mich ungeheuer schmerzhaft, offenbar gedachten die Machthaber sich dauerhaft einzurichten. Manije meinte lachend: »Warte nur, bald wird das Gefängnis seine Erbauer beherbergen!«

Eines Abends drangen vom Flur Foltergeräusche zu uns herüber. Wir konnten sie nicht einordnen, aber es war klar, dass das kein Verhör sein konnte, weil es ja im Flur stattfand. Vielleicht hatte die Gefangene irgendwie gegen die Bestimmungen verstoßen. Der Wärter schlug so brutal zu, dass er außer Atem kam und förmlich um Luft rang. Das jämmerliche Stöhnen der Gefolterten brachte jeden einzelnen Nerv meines Körpers zum Vibrieren, und das dumpfe Geräusch ihres Kopfes, der gegen die Wand schlug, ließ uns erzittern. Dann fiel ein Körper schwer zu Boden, und immer noch hagelten Faustschläge und Fußtritte auf ihn nieder. Über eine Viertelstunde mussten wir ohnmächtig zuhören. Dieser Zustand, aus nächster Nähe einen einseitigen, unmenschlichen Vernichtungskampf zu erleben, ohne zu Hilfe eilen oder auch nur protestieren zu können, zerriss mir den Verstand.

Später war es wieder an der Zeit, zum Waschraum zu gehen. Sonst traten wir immer laut auf und riefen unsere Namen, damit die anderen und vielleicht sogar Bekannte aufmerksam wurden. An diesem Abend aber gingen wir gebeugt und leise.

Als wir in die Zelle zurückkamen, schlug Manije die Tür mit Wucht zu. Sofort kam ein erboster Wärter in unsere Zelle und schrie: »Warum knallt ihr die Tür?« Manije erklärte mit gebrochener Stimme: »Ich hatte die Hände voll und musste die Tür mit dem Fuß zustoßen.« Der Wärter schimpfte und verschwand. Das war der einzige Protest, der uns noch blieb. Es verschaffte uns Befriedigung, dass der Wärter das auch verstanden hatte.

Hier muss ich der Gerechtigkeit halber von einem anderen Wärter erzählen. Er wurde Hassan Agha genannt. Allmorgendlich kam er, eine Karre vor sich herschiebend, durch den Flur. Auf seiner Karre transportierte er einen riesigen, scheppernden Teekessel, der eine angenehme Geräuschkulisse bildete und den wohltuenden Duft des Tees verbreitete. Er achtete auf die dringlichsten Bedürfnisse der Gefangenen, gab ihnen mehr Zucker, brachte heimlich Zigaretten mit, die allerdings nur während seiner Schicht geraucht werden konnten, weil Rauchen strikt untersagt war. Einmal baten wir ihn um eine Nagelschere und einen Kamm. Am nächsten Tag brachte er uns die Sachen von zu Hause mit. Er hatte Interesse daran, dass unsere Zellen sauber waren, und besorgte uns deshalb Besen und Schrubber. Wir wetteiferten darin, ihn morgens zu begrüßen. Er trug keine Uniform. Offenbar war er kein richtiger Wärter, sondern ein Arbeiter, der im Gefängnis eingesetzt war.

Durch eine Ritze in der Tür konnten wir auf den Flur blicken. Wenn die Insassen der anderen Zellen zum Waschraum geführt wurden, pressten wir nacheinander das Gesicht gegen die Tür. Ich konnte meinen Bruder sehen und seine Stimme deutlich heraushören, wenn er sich laut und geräuschvoll wusch. Immer trug er ein Handtuch über der Schulter. Ich hätte zu gern gewusst, wie er zu diesem Luxus gekommen war. Da ich wusste, wo seine Zelle lag, lauerte ich auf eine Gelegenheit, um ihm eine Nachricht zukommen zu lassen.

Auf das Deckblatt einer Zigarettenschachtel, die ich unter den Decken in unserer Zelle gefunden hatte, kritzelte ich mit einer Haarnadel einige Wörter. Ich beschrieb eine bestimmte Stelle unter der Waschrinne zwischen der Wand und dem Abflussrohr, an der man Mitteilungen verstecken konnte. Diesen Fetzen Papier führte ich immer mit mir herum, bis sich schließlich eine günstige Gelegenheit ergab. Als wir einmal zum Waschraum gingen, war der Wärter kurz mit etwas beschäftigt und konnte uns nicht beobachten. Ich warf mein Papier in die Zelle meines Bruders. Beim nächsten Toilettengang fand ich dasselbe Stück Papier mit seiner Nachricht im vereinbarten Versteck. Im Telegrammstil teilte er mir mit, dass seine Situation klar sei, gegen mich und Narges liege aber nichts Konkretes vor. Wir sollten unsere Angelegenheit von seiner trennen, so kämen wir wahrscheinlich heraus. Für diesen Fall bat er mich, seinen testamentarischen Willen zu erfüllen.

Einige Tage hielt ich das winzige Stück Papier bei mir, und ich hätte es bestimmt für immer behalten, wäre es nicht so gefährlich gewesen. Meine Vernunft siegte schließlich. Auch Narges teilte ich die Stelle des Verstecks mit. Aber bevor die beiden sich Nachrichten zukommen lassen konnten, wurden wir verlegt.

Später erzählte mir Narges, dass der freundliche Wärter Hassan Agha eine Zusammenkunft der beiden organisiert hatte, nachdem sie ihm versprochen hatten, ihn nicht zu verraten. Narges hat es auch tatsächlich niemandem außer mir erzählt.

Zehn Tage nach dem Kontakt zu meinem Bruder wurde ich eines Morgens aus der Zelle geholt. Ich sollte verlegt werden. Manije und ich verabschiedeten uns herzlich voneinander und hofften inständig auf ein Wiedersehen.

Tatsächlich sah ich sie nach drei Jahren wieder. Ich wünschte aber, dass das nie geschehen wäre, so hätte ich meine schönen Erinnerungen an sie behalten können. Manije war ein anderer Mensch geworden. Ihre Befriedigung bestand jetzt darin, ihre Mitgefangenen, die früheren Leidensgenossinnen, zu peinigen und auszuspionieren. Sie hatte ihre politische Überzeugung gewechselt und Reue geschworen. Was hatte man ihr alles angetan, bevor sie sich so gewendet hatte?

Der Reueschwur war wie eine unheilbare Krankheit. Manche Gefangene wurden durch den psychischen Druck und die physischen Schmerzen derart entkräftet und willenlos, dass sie zerbrachen. Sie unterlagen entweder tatsächlich der Gehirnwäsche oder sahen darin die Rettung aus der Misere: Sie revidierten ihre Meinung, widerriefen die frühere Überzeugung und gelobten, dem Islam zu dienen. Diese Männer und Frauen bezeichnet man als Tawab. Da sie Gefangene waren, wurden sie zuerst Zellenvorsteher, avancierten in weiteren Schritten zu Wärtern und später zu Folterknechten, Peinigern und Untersuchungsgehilfen. Logischerweise unterlagen sie dem Zwang, sich immer aufs Neue zu bewähren, und deshalb verrichteten sie ihre Arbeit mit furchtbarer Härte und Brutalität.

Vor der Verlegung wurde ich fotografiert. Dann nahm man meine Fingerabdrücke ab, und ich musste in einen wartenden Kleinbus steigen, in dem schon einige Männer und zwei Frauen saßen, wie ich mit verbundenen Augen und gefesselten Händen. Durch eine kleine Spalte in der Augenbinde konnte ich Narges und meinen Bruder erkennen. Der Verwandte, den man zusammen mit uns festgenommen hatte, war nicht dabei. Es hieß, er sei freigelassen worden, und ich freute mich riesig darüber.

An den Längsseiten des Busses saßen Wärter, die ihre Maschinengewehre auf uns gerichtet hielten. Die Autotür stand noch offen, und ich konnte die Stimme von Hassan Agha vernehmen, der einige neugierige Soldaten vertreiben wollte: »Warum steht ihr hier und glotzt? Das sind Menschen wie ihr.«

Die Tür wurde geschlossen, und los ging’s. Nach einer ziemlich langen Strecke hielt der Wagen an, und wir stiegen aus. Wir mussten eine Reihe bilden und uns an dem jeweils vor uns Stehenden festhalten. Ich richtete es so ein, dass ich hinter meinem Bruder stand und mich an seinen grünen Pullover klammern konnte. Auf dem kurzen Weg vom Hof zum Gelände flüsterten wir einige abgerissene Sätze.

Er: »Sie bluffen viel, pass auf, und lass dich nicht austricksen.«

Ich: »Gut, das merke ich mir.«

Mich ließ das Gefühl nicht los, dass ich ihn zum letzten Mal sah und mit ihm sprach. Wie unter Zwang sagte ich ihm, was ich schon immer gefühlt, aber nie ausgesprochen hatte: »Du warst mein erster Lehrer und wirst für immer mein Lehrer sein.«

Das Evin-Gefängnis

Wir erreichten das Gelände, stiegen mehrere Stufen hinauf bis in die zweite Etage. Menschliche Schreie, das Geräusch der auf Fleisch niedersausenden Peitschen und das Stöhnen der Gequälten bildeten zusammen einen Horrortrip, ein Albtraumhaftes, grauenvolles Konzert, das die Gänge erfüllte. Wir mussten uns vor einem Untersuchungszimmer auf den nackten, kalten Boden setzen.

Ich hob den Kopf etwas an und sah in der Ecke schräg gegenüber einen Mann auf dem Boden liegen. Er war beängstigend weiß im Gesicht. Kopf und Beine waren verbunden. Durch den Verband war das Blut gesickert. Seine Fußgelenke waren schwarz von den Blutergüssen. Eine Infusionsnadel steckte in seinem Arm. Hin und wieder hob er vorsichtig den Kopf und stöhnte kraftlos. Er wirkte unruhig und ängstlich. Aus dem gegenüberliegenden Zimmer drang das schneidende Geheul der Peitsche heraus, begleitet von den Schmerzensschreien eines Mannes sowie dem Schluchzen eines anderen, der immer wieder wimmerte, es sei genug, er könne nicht mehr. Aus dem Raum seitlich hinter mir ertönte die Stimme einer Frau: »Bindet mir die Hände los, ich bin durstig.«

Im Flur herrschte ein emsiges Treiben. Männer, alle mit Sportschuhen an den Füßen, kamen und gingen eilig. Ihre Schritte waren kaum zu hören. Grundlos schlugen sie mir im Vorbeigehen mit der Faust oder einem spitzen Gegenstand, wahrscheinlich einem Kugelschreiber, auf den Kopf. Aus einem etwas weiter entfernten Raum kam ein Wärter und schrie: »Das ganze Gekritzel ist Quatsch. Was glaubst du, wo du bist?« Aus jedem Raum drangen Geräusche des Schreckens und der Schmerzen.

Ich war wie erstarrt. Das Evin-Gefängnis war berüchtigt für seine Folter- und Terrormethoden. Aber diese Hölle sprengte jede Vorstellungskraft. Es war unfassbar. Der Ruf des Muezzins zum Gebet erinnerte daran, dass es Mittag war. Der Mann, der ausgepeitscht wurde, schrie: »Aufhören, ich sage es. Ich sage alles.« Die Peitsche schwieg. Die gebrochene Stimme des Mannes nannte eine Adresse. Erschüttert legte ich den Kopf auf die angezogenen Knie. Ich hörte nichts mehr, vor mir tauchte ein Haus auf, ich hörte eine Türklingel und erlebte den Zusammenbruch des Gewohnten, Normalen und Liebgewonnenen zum zweiten Mal. Wie lange dieser Zustand andauerte, weiß ich nicht. Ein leichter Tritt in meinen Rücken riss mich in die Wirklichkeit zurück. Ich hob den Kopf und erblickte die Räder einer Karre. Es roch nach Essen.

»Steh auf und komm mit«, sagte ein alter Mann und führte mich in ein nahe gelegenes Zimmer. Entlang des Flures saßen Gefangene mit verbundenen Augen, die ihren Teller in der Hand hielten. Im Zimmer angekommen, schob ich meine Augenbinde zur Seite. Dicht gedrängt saßen hier Frauen und aßen zu dritt oder zu viert aus einer Schüssel. Zwei junge Frauen boten mir an, mit ihnen zu essen, aber ich verspürte keinen Hunger, setzte mich in eine Ecke und sah zu. Neben der Tür hockte eine etwa dreißigjährige Frau, die merkwürdig blau im Gesicht war. Sie aß auch nichts, war in ständiger Unruhe, biss sich auf die Lippen, drückte die Hände gegeneinander, rief Gott leise um Hilfe und murmelte unverständliche Worte. Ihre Beine waren bis zu den Knien verbunden, sie hatte offensichtlich große Schmerzen. Später freundeten wir uns an. Sie hieß Sepide.

Nirgends in dem Raum konnte ich Narges entdecken. Viele sehr junge Mädchen waren hier, die eine gräulich-fahle Gesichtsfarbe hatten und mit ängstlichen verstörten Augen unruhig ins Leere blickten. Nach einigen Minuten sagte eine der beiden Frauen, die mir das Essen angeboten hatten, laut: »Die Essenszeit ist vorbei, sammelt die Schüsseln ein, und legt die Augenbinden wieder an.« Es wurde still. Mal hauchte jemand vorsichtige Worte, dann ertönte sofort der Schrei von einer der beiden Frauen: »Haltet den Mund!«

Ab und zu trat ein Untersuchungsbeamter ein und rief eine Frau bei ihrem Vornamen heraus. Die Aufgerufenen gingen zaudernd. Am Nachmittag wurden mehrere Personen ausgerufen, die in die reguläre Abteilung verlegt werden sollten. Sie sprangen freudig auf und verabschiedeten sich leise von den anderen. Eine von ihnen kam mir bekannt vor. Ich rief sie. Auch sie erkannte mich. Sie war vor acht Jahren meine Schulkameradin gewesen. Wir lächelten uns an. Ich wünschte, ich würde zu dieser Gruppe gehören, aber ich wusste, dass das unmöglich war, solange meine Verhöre nicht abgeschlossen waren. Die Verhöre. Sie beherrschten meine Gedanken.

Ich fragte ein junges Mädchen, das bei mir saß: »Werden hier alle gefoltert?« Wie ein Papagei plapperte sie sofort los: »Hier wird keiner gefoltert. Das Wort heißt Züchtigung. Gezüchtigt werden auch nicht alle. Nur die, die lügen.« Von Zeit zu Zeit ertönten die Befehle »Augenbinde anlegen!« oder »Ruhe!«.

Unser Zimmer lag neben den Verhörräumen. Unaufhörlich hörten wir Schreie und Peitschenhiebe. Etwas später rief eine der beiden Frauen, die Tawabs waren, dass wir in den Waschraum gehen sollten. Wir reihten uns auf und schritten los. Einige, darunter auch Sepide, konnten nicht auf ihren Füßen stehen und krochen über den Boden. Der Waschraum befand sich auf der anderen Seite des Flurs: mehrere Toiletten, drei Duschen und einige Wasserhähne. Die Duschen waren denjenigen vorbehalten, die angeblich die religiösen Waschungen vornehmen wollten.

Im Waschraum nahmen wir die Augenbinden ab. Als ich auf eine freie Toilette wartete, schaute ich unwillkürlich in einen Spiegel über der Waschrinne. Zum ersten Mal seit meiner Verhaftung sah ich mein Spiegelbild und erschrak heftig: Meine Augen saßen tief in den Höhlen, die Haare waren wirr und verfilzt, das Gesicht hager. Die Erscheinung jagte mir große Angst ein.

Dann wurde eine Toilette frei. Sepide, auf Händen und Knien auf dem Boden kauernd, sah mich flehend an. Sie benötigte Hilfe. Ich fasste sie unter den Armen und half ihr, als sie sich mühsam zur Toilette zog. Unter enormer Anstrengung gelang es ihr, sich auf den Toilettensitz zu stützen und ihren Körper hochzuziehen. Ich zog ihr die Hose herunter und ließ sie allein. Nachher rief sie mich wieder, und ich half ihr heraus. Sie bedankte sich und erzählte mir, dass sie schon seit zehn Tagen in diesem Zustand war. Sie fühlte sich durch und durch schmutzig, weil sie durch den ganzen Dreck am Boden kriechen musste und sich auch nicht richtig waschen konnte. Ich half ihr noch beim Händewaschen, dann verrichtete sie die rituelle Gebetswaschung und wimmerte verzweifelt: »O Gott, wie lange noch, wie lange noch?«

Auf dem Rückweg musterte ich die im Gang sitzenden Frauen und Männer auf der Suche nach Narges. Erfolglos. In der Nähe unserer Zelle erweckte die feste Stimme einer Frau meine Neugier und ließ mich den Kopf heben. Eine Frau, die einen gelben Parka und ein sandfarbenes Kopftuch trug, lehnte an der Wand, ihr gegenüber stand ein grimmiger, bärtiger Mann und fragte sie provozierend: »Du glaubst also nicht, dass Gott die Menschen erschaffen hat?« Sie zeigte ihm ihre Hände und argumentierte ruhig: »Diese Hände erschaffen den Menschen. Hände, die Werkzeuge schaffen.«

Wir mussten in unsere Zelle gehen, aber ich konnte die Stimme dieser Frau immer noch undeutlich hören. Durch das Gespräch bekam ich mit, dass es doch Leben und Wahrheit in dieser Hölle gab. Sie existierten durch Stärke und Widerstand.

Das Abendessen wurde um 18 Uhr verteilt. Als ich die Augenbinde abnahm, erkannte ich voller Freude und Aufregung, dass meine Schüsselgenossin die Frau mit dem gelben Parka war. Lächelnd begrüßten wir uns und stellten uns vor. Sie hieß Suzan Nikzad. Auch die junge Frau, die das Foltern als Züchtigung bezeichnet hatte, aß mit uns aus derselben Schüssel. Sie weinte und wollte ihren Namen nicht nennen. Suzan fragte mich: »Bist du heute festgenommen worden?«

»Nein«, sagte ich, »aber im Evin-Gefängnis bin ich seit heute.«

»Ah, deshalb bist du so blass«, stellte Suzan fest. »Warte ab, du wirst dich bald daran gewöhnen«, sagte sie lachend. Dann wandte sie sich der weinenden Frau zu: »Warum heulst du? Dachtest du etwa, du würdest freudig empfangen und mit Zuckerbrot bewirtet? Wer A sagt, muss auch B sagen!«

Suzan war einmal in ihre Wohnung gebracht worden, wo sie zusammen mit einigen Wärtern 24 Stunden warten musste. Man hoffte, dass einer ihrer Genossen anrufen oder auftauchen würde. Glücklicherweise ging die Rechnung nicht auf. Während der ganzen Zeit hatte sie heftig mit ihren Begleitern diskutiert.

Ihr Mut, ihre Offenherzigkeit und ihre geistige Kraft beeindruckten mich zutiefst. Wir wurden gute Freundinnen. Leider währte die Freundschaft nur kurz. Nein – nicht unsere Freundschaft. Ihr junges Leben währte nur kurz.

Suzan war dreißig Jahre alt, Krankenpflegerin von Beruf und Mitglied der Volksfedayin (Minderheit), die sich in eine Mehrheit und eine Minderheit gespaltet hatte. Suzan lebte allein. Eine ihrer Verabredungen war verraten worden. Sie wusste genau, wer diese preisgegeben hatte, sagte aber voller Verständnis: »Sicherlich ist er so schwer gefoltert worden, dass er es nicht mehr aushielt.«

Nach dem Essen legten wir wieder die verhasste Augenbinde an. Als wir das nächste Mal auf dem Weg zum Waschraum waren, suchte ich wieder durch den schmalen Spalt in meiner Augenbinde den Flur ab, und dieses Mal wurde ich belohnt: Mein Bruder saß an eine Säule gelehnt am Boden. Ein bärtiger Mann mit einem Ordner in der Hand kam auf ihn zu, rief ihn mit seinem Namen und befahl ihm in formellem Ton, sich zu erheben. Neben diesem Mann, der wahrscheinlich ein Untersuchungsbeamter war, stand Assadallah Ladjevardi, der Gefängnisdirektor und Staatsanwalt der »Revolutionären Islamischen Gerichte«. Er war vor der Revolution Händler im Bazar von Teheran gewesen und als extremer religiöser Fanatiker und unerbittlicher Verfolger der Gegner der Islamischen Republik im ganzen Land bekannt. Bis 1984 war er mit allen Vollmachten ausgestattet und konnte willkürlich über Leben und Tod der Inhaftierten entscheiden, und bis heute ist er verantwortlich für alle Gefängnisse der Islamischen Republik.

»Kennen Sie Herrn Ladjevardi?«, fragte der Untersuchungsbeamte.

»Ja, oberflächlich«, antwortete mein Bruder. »Damals, in der Schah-Zeit, waren wir aber nicht im selben Gefängnis. Er saß in Maschad und ich in Schiras.«

Dann forderte der Beamte meinen Bruder auf, ihnen zu folgen.

Wo geht er hin? Fängt sein Verhör an? Was werden sie mit ihm machen? Auf diese mich zermarternden Fragen sollte ich nie eine Antwort bekommen. Die ganze Zeit über tat ich so, als ob ich die Schuhe der Zellengenossinnen vor der Tür ordnen würde. Nun waren sie wirklich in Reih und Glied aufgestellt, und ich hatte keinen Vorwand mehr, um mich im Flur aufzuhalten. So ging ich in die Zelle, setzte mich in eine Ecke, stützte den Kopf auf die Knie und dachte über die Ereignisse des Tages nach. Als ich so in tiefe Gedanken und Verwirrung versunken dasaß, merkte ich auf einmal, dass es vollkommen dunkel geworden war. Ich schob die Augenbinde hoch. Tatsächlich, es herrschte totale Finsternis.

Plötzlich ertönten Stimmen im Chor, wie ein Urschrei, und verbreiteten Angst und Schrecken: »Gott ist groß. Khomeini ist der Führer!« Eine große Anzahl von Revolutionswächtern stürmte über den Flur, stampfte mit den Füßen auf den Boden und schrie unentwegt Parolen: »Tod den Kommunisten!« (gemeint waren alle Linken) oder: »Eine einzige Partei, die Hisbollah, ein einziger Führer, Ruhollah!« oder: »Hängt die bewaffneten Heuchler! Tod den Heuchlern!« Heuchler – das waren die, die unter dem Mantel der Religion Gott und den Islam verleugneten. Sie erkannten sie nicht als echte Moslems an, weil sie einen Islamischen Sozialismus als Programm hatten.

Das ganze Gebäude erbebte von diesem Getrampel und Geschrei. Da fiel mir ein, dass an diesem Tag der Monat Moharram anfing. Jedes Jahr führten die Schiiten auf den Straßen und Dächern dieses Theater auf, aber hier im Gefängnis war man ihnen schutzlos ausgeliefert. Ich rechnete jeden Moment damit, dass sie in die Zellen stürzten und die Gefangenen massakrierten. Voller Angst dachte ich an die Menschen, die draußen im Flur saßen. Wurden sie in der Dunkelheit zertrampelt? Wo waren Narges und mein Bruder? Woher kam die riesige Horde von Fanatikern? Gehörten etwa so viele Revolutionswächter und Wärter zum Evin-Gefängnis? Erst nach ungefähr dreißig Minuten zogen sie trampelnd und brüllend ab. Vom Hof her drang ihr Getöse immer noch zu uns, es wurde aber leiser, je weiter sie sich von uns entfernten. Den Schrecken sollten die Gefangenen in den anderen Gebäuden wohl auch noch erleben.

Am nächsten Morgen entdeckte ich Narges in einer Ecke der Zelle. Ich hustete, sie bemerkte mich, und wir lächelten beide vor Freude über unser Wiedersehen. Dann setzten wir uns ganz eng zueinander. Narges hatte man nachts zu uns gebracht.

Ein Tag nach dem anderen verging. Ich wartete auf mein Verhör. In dieser Zeit aß ich kaum etwas, weil ich gehört hatte, dass eine schwache körperliche Konstitution eine schnelle Bewusstlosigkeit bei der Folter herbeiführen würde. Schlafen konnte ich ohnehin kaum. Die Nächte hindurch wurden die Peitschen nicht aus der Hand gegeben. Eine ganze Nacht lang gellten ununterbrochen die Schreie einer Frau durch die Zellen. Am Morgen darauf brachte man sie zu uns. Ihre Füße und Beine waren bis auf die Knochen zerfetzt.

Damals gab es nur einen Arzt im Gefängnis, Dr. Shaykhul-Islam, bekannt als Dr. Shaykh. In der Schah-Zeit war er Gesundheitsminister gewesen. Er musste nun unzählige Gefolterte und Angeschossene ganz alleine behandeln, durfte keine eigenen Entscheidungen treffen und nur diejenigen operieren, die nicht zum Tode verurteilt waren. Bei den Hinrichtungskandidaten musste er sich mit einem einfachen Verband begnügen. Oft erlagen die Verurteilten noch vor der Erschießung ihren vereiterten Wunden und schweren, qualvollen Infektionen. Gerade in diesen Tagen wurden wir Zeuginnen eines solchen Falles: Ein junger Mann namens Massud war wegen Beziehungen zur Gruppe Paykar, einer marxistisch-leninistischen Abspaltung der Volksmodjahedin, festgenommen worden. Wir wussten nicht, seit wann er unter Folter stand. Täglich wurde er auf der Pritsche ausgepeitscht und lag dann halb ohnmächtig an der Wand im Gang. Eines Tages fand man ihn tot im Flur.

In dieser Zeit verrichtete Hadj Agha, der Vater von Muhammad Katshoui, dem ehemaligen Leiter des Evin-Gefängnisses, verschiedene Dienstleistungen im Gefängnis; unter anderem begleitete er die Gefangenen innerhalb der Gefängnismauern. Muhammad Katshoui war im Juni 1981 während einer Schauhinrichtung von Gefangenen durch die Schüsse eines Revolutionswächters, der offenbar den Volksmodjahedin nahestand, getötet worden. Auch der kleine Sohn von Muhammad Katshoui, der damals ungefähr sechs oder sieben Jahre alt war, hielt sich im Gefängnis auf und führte manchmal leichte Aufgaben aus, zum Beispiel brachte er den Gefangenen Wasser. Ich konnte nicht verstehen, wie man zulassen konnte, dass so ein junges Kind Augenzeuge all dieser Brutalitäten wurde. Was fühlte dieses Kind dabei? Vielleicht dachten sie in ihrem krankhaften Fanatismus, dass diese Erfahrungen eine gute Erziehungsmethode wären.

Onkel Djalil war ein Wärter, der sich etwas freundlicher verhielt. Er gehörte zur Truppe der Bodyguards von Ladjevardi und kam später bei einem Attentat ums Leben. Bei Schmerzen versorgte er uns mit Tabletten, und manchmal teilte er uns auch aktuelle Nachrichten mit. Einmal sagte er spöttisch: »Eure geistige Führerin befindet sich in unserer Gewalt. Seht ihr, eure Mutter hat den Widerstand endlich aufgegeben.« Wir begriffen, dass Frau Massume Shadmani verhaftet worden war. Sie war bereits während des Schah-Regimes inhaftiert und schwer gefoltert worden. Daher galt sie als Symbolfigur des Widerstands. Ich wünschte mir sehr, sie zu sehen, aber niemand im Gefängnis hat sie zu Gesicht bekommen. Im Dezember jenes Jahres wurde sie hingerichtet. Mit ihr zusammen wurden Mehdi Bokharai und Mokaram Dust umgebracht. Wir hörten, dass sie zuvor unglaublicher Folter ausgesetzt waren. Frau Shadmani hatte einen Selbstmordversuch unternommen, war aber gerettet worden.

Das Verhör

Fünf lange Tage dauerte das Warten auf mein Verhör. An einem Sonntag wurde ich schließlich abgeholt. Einen Tag zuvor war Narges verhört und danach in eine allgemeine Abteilung verlegt worden.

Gleich nach Betreten des Verhörraumes wurde ich zu einem Tisch geschoben, und man nahm meine Personalien auf. Währenddessen bekam ich von einem Mann, der hinter mir stand, Schläge auf den Kopf und auf den Rücken. »Warum schlagen Sie mich, ich beantworte doch Ihre Fragen«, protestierte ich.

»Damit du nicht vergisst, wo du bist«, lautete die Antwort. Welch eine Antwort! Wie könnte ich je vergessen, was ich in den letzten Tagen gesehen und gehört hatte? Wie könnte ich je vergessen, in welcher Hölle ich mich befand?

Ich wurde mit dem Gesicht zur Wand auf einen Stuhl gefesselt und bekam ein Blatt Papier, auf dem oben die Worte standen: »Ihre Identität ist uns bekannt. Schildern Sie Ihre Aktivitäten ausführlich und lückenlos.« Ich begann zu schreiben, während ich zwischendurch mit dem Stock auf den Kopf und den Rücken geschlagen wurde.

Es waren noch andere Menschen im Raum, die verhört wurden. Einer von ihnen war ein sehr junger, total eingeschüchterter Schüler. Er heulte und berichtete über die Aktivitäten in seiner Schulzeit. Wiederholt versicherten sie ihm, dass ihm nichts geschehe, wenn er alles gestehen würde. Trotzdem wurde auch er zwischendurch mit Stockhieben in seiner Erzählung unterbrochen.

»Die Zeitung gehörte meinem Bruder«, gestand eine junge weibliche Stimme in einer anderen Ecke des Raumes. »Und wo ist er jetzt?«, fragte man sie herausfordernd. »Ich weiß es nicht, bestimmt nicht«, antwortete das Mädchen voller Angst. »In der Wohnung fanden wir unter anderem eine Flasche Wein«, stellte man sie jetzt zur Rede. »Wem gehört die denn?«

»Meinem Bruder«, antwortete sie müde.

Als ich mit dem Schreiben fertig war, legte ich den Kugelschreiber aus der Hand. Jemand nahm das Blatt vom Tisch. Nach einer kurzen Zeit, in der meine Angaben gelesen wurden, hagelten Stock- und Faustschläge auf mich nieder. Vor Schmerzen sprang ich unwillkürlich auf. Ich schrie und rief nach meiner Mutter. Erst nach einer Ewigkeit hörten die Schläge auf. Ich sollte draußen warten. Weil ich nicht mehr stehen konnte, setzte ich mich im Flur auf den Boden neben der Tür. Ich zwang mich, den Geräuschen und Worten aus dem Raum zuzuhören und sie zu verstehen, um mich so von den Schmerzen am Kopf und an den Schultern abzulenken.

»Bindet mich los!«, schrie eine Frau mit belegter Stimme. »Ihr wollt doch meinen Mann. Ich sage euch, wo er ist.« Ich konnte mir den begierigen Ausdruck auf den Gesichtern der Folterknechte vorstellen, als sie herablassend sagten: »Siehst du, jetzt hast du doch noch Vernunft angenommen.« Dann hörte ich ein Geräusch wie klirrendes Metall, wahrscheinlich banden sie ihr die Ketten los. »Ganz bestimmt kommt er, um unser Kind abzuholen«, sagte sie leise. »Ihr wart doch aktiv«, bemerkte der Untersuchungsbeamte, »was wolltet ihr denn mit einem Kind?«

»Ich wollte ja auch keins«, sagte die Frau, »aber er bestand darauf und überzeugte mich. Bringt mich zum Haus meines Bruders und wartet da auf ihn. Dort wird er bestimmt wegen des Kindes auftauchen.« Später erfuhr ich, dass die Revolutionswächter und die Frau, die zahlreiche Verletzungen, Wunden und Striemen an Händen und Beinen hatte, dort tagelang ergebnislos auf den Ehemann gewartet hatten.

Nach einer Stunde brachten sie mich wieder in das Zimmer, in dem sich jetzt keine anderen Gefangenen mehr befanden. Derselbe Stuhl. Ich sollte einen Arm nach hinten über die Schulter strecken, sodass die Hand zwischen den Schulterblättern lag. Mit dem anderen Arm musste ich von unten die auf dem Rücken liegende Hand fassen. Die Fingerspitzen der beiden Hände berührten sich leicht. Ich fühlte starke Schmerzen an den Armkugeln. Das reichte ihnen aber noch nicht; meine Hände sollten kreuzweise aufeinanderliegen. So weit konnte ich meine Arme nicht dehnen, also drückte sie der Folterknecht mit Gewalt gegeneinander und band meine Hände zusammen. Dann nahm er mir die Uhr ab. Ein wahnsinniger Schmerz durchzuckte meine Arme.

Diese Foltermethode, die Ghapan genannt wird, kannte ich schon vom Hörensagen. Bald erreichte der Schmerz die anderen Teile meines Körpers, und ich fühlte mich so, als ob alle meine Muskeln und Sehnen nacheinander zerrissen. Ich dachte, die Zeit sei stehen geblieben. Schweiß bedeckte allmählich meinen ganzen Körper. Hin und wieder schlug der Folterknecht leicht gegen meine Hand. Diese Schläge brachten meinen ganzen Körper zum Erzittern. Mein ganzes Nervensystem schien unter Ambossschläge geraten zu sein. Nach einiger Zeit hob er mich vom Stuhl und deutete auf einen anderen Stuhl, der mit der Lehne zur Wand stand. Ich saß also mit dem Gesicht zur Mitte des Raumes, konnte den Folterknecht nicht ausmachen, nahm aber an, dass er sich seitlich von mir befand und mich beobachtete. Mein ganzer Körper war ein einziger Schmerz. Ich konnte keinen Unterschied mehr im Schmerzpegel der einzelnen Glieder und Muskeln ausmachen. So zusammengebunden und angekettet saß ich stundenlang. Nur wir beide waren im Zimmer, manchmal kamen einzelne »Untersuchungsbeamte«, oder was sie auch waren, herein und gingen wieder. Mein Inneres brannte, ich war durstig und verlangte nach Wasser.

»Natürlich, zu Befehl. Gleich setze ich dir den Aftabe an den Mund.« Der Aftabe ist ein Wasserkrug, der zur Reinigung des Afters nach dem Stuhlgang benutzt wird. Die bloße Vorstellung erzeugte einen Ekel in mir. In diesem Moment trat jemand ein. Der Folterknecht begrüßte ihn mit demütiger Ehrerbietung. Er kam in meine unmittelbare Nähe. Durch die Augenbinde konnte ich erkennen, dass er die Kleidung eines Mullas trug. »Wer ist das?«, fragte er. »Das ist die, deren Bruder gestern Abend unser Gast war«, gab der Verhörer unterwürfig zur Antwort.

Es war klar. Mein Bruder war durch denselben Mann einen Tag zuvor gefoltert worden. Später erfuhr ich, dass er Hadi Ghafari heißt. »Sag, wo du die Waffen versteckt hast. Dann werden dir deine Hände losgemacht«, sagte der Mulla zu mir. »Sie kennen meine Akte wohl noch nicht. Was für Waffen denn?«, fragte ich sarkastisch lachend zurück. »Solange du nicht gestanden hast, wirst du in dieser Stellung bleiben müssen«, bestimmte er und verließ das Zimmer.

Kaum war er draußen, prasselten Peitschenhiebe auf meine Arme und Hände, während der Folterknecht aufgebracht rief: »Du Schlampe, du lachst in Anwesenheit des Hadji? Hast du denn überhaupt kein Schamgefühl?« Ich weiß nicht, wie lange wir so dasaßen. Ab und zu stellte er eine Frage. Einmal wollte er wissen, ob ich zum Interview bereit sei. Ich erwiderte: »Ich bin doch ein ganz kleiner Fisch.« Daraufhin zerrte er mich vom Stuhl und legte mich bäuchlings auf den Boden. Ein anderer, der hereingerufen wurde, setzte sich mit seinem ganzen Gewicht auf meine gefesselten Arme. Dieser Schmerz war so unvorstellbar, dass alles Vorherige verblasste. Ich bekam einen dreckigen, stinkenden Lappen in den Mund gesteckt, und dann prasselten Peitschenhiebe auf meine Beine nieder. Mein Körper bäumte sich bei jedem Schlag auf, und die Beine zuckten hoch. Aus meiner Kehle drangen die röchelnden Laute des gequälten, vom Lappen unterdrückten Schreis. Durch das gehetzte Atmen fiel der Stofffetzen aus dem Mund heraus, und meine Schreie schrillten durch die Luft. Jemand warf mir eine Decke über den Kopf. Der Mann, der auf meinen gefesselten Armen saß, hielt mir Nase und Mund zu. Ich fühlte explosionsartiges Auseinanderbersten der Lungen und des Herzens und geriet in Panik. Mir war, als würde ich ersticken. Unkontrolliert, in Todesängsten versuchte alles in mir, den Mund frei zu bekommen. Dann verlor ich das Bewusstsein.

Als ich wieder zu mir kam, war mein Körper frei. Die Decke war weg, und der Mann saß nicht mehr auf mir. Wie im Rausch hörte ich aus weiter Ferne eine Stimme: »Bedecke dich, du schamlose Schlampe! Hast du kein Gefühl für Anstand und Moral?« Ich wollte meine Hände bewegen, das konnte ich aber nicht, denn sie waren immer noch gefesselt. Der Folterknecht befreite meine Hände, die sofort wie zwei schwere Bleiklumpen auf den Boden fielen. Der erste kraftlose Versuch, sie zu bewegen, misslang vollkommen. Er schrie wieder: »Du sollst dich bedecken!«

Ich weiß nicht, wie oft ich es versucht habe, bis es mir endlich gelang, den Tschador über den Kopf zu ziehen und die verrutschte Augenbinde in Ordnung zu bringen. Danach wurde ich in den Flur gesetzt. Ich konnte nicht sitzen bleiben und fiel auf die Seite. Nach einigen Minuten kam der Folterknecht, und ich sah zum ersten Mal sein jugendliches Gesicht. Er konnte nicht älter als zwanzig Jahre sein.

»Steh auf und marschiere auf und ab!«, befahl er mir. »Ich kann nicht«, erwiderte ich, nachdem ich bemerkt hatte, dass ich keine Kontrolle über meine Glieder besaß. »Wenn du willst, dass deine Schwellungen abklingen, musst du tun, was ich sage«, erklärte er mir. Mit letzter Kraft erwiderte ich: »Ja, sicher, aber ich kann wirklich nicht. Morgen werde ich es bestimmt tun.«

Ich wurde in den Frauenraum geschickt. Beim Zelleneingang reichte er mir ein Glas Wasser und sagte: »Morgen werde ich dich wieder holen. Dann kannst du sagen, was du zu sagen hast.« Ich dachte, morgen ist morgen. Jetzt werde ich nicht ausgepeitscht, nur das zählt.

Im Zimmer schliefen alle, und es gab keinen freien Platz für mich. Onkel Djalil stand dort und sprach leise mit den beiden Tawabs. Eine von ihnen wollte einen Platz für mich frei machen, als ich erneut das Bewusstsein verlor. Ich kam erst wieder zu mir, als mich jemand kräftig schüttelte. »Hier kannst du nicht schlafen«, bestimmte die Tawab scharf und wies mir einen anderen Platz zu. Alle meine Glieder brannten und schmerzten. Das war so unerträglich, dass ich Onkel Djalil um eine Schmerztablette anflehte. Aus seiner Tasche kramte er eine Pille hervor. Ein einziger Wunsch erfüllte mich: nach Liebe und Fürsorge der Menschen, die mir nahestanden. Ein unendliches Gefühl von Trauer und Einsamkeit ergriff Besitz von mir, ich wurde fast ohnmächtig und schlief ein.

Am nächsten Morgen hörte ich meinen Namen und schreckte sofort aus dem Schlaf. Ein heftiges Beben erschütterte meinen Körper. Noch einmal von vorn? Ich gab keine Antwort.

»Warten Sie, ich schicke sie sofort zu Ihnen«, mischte sich die Tawab dienstfertig ein. »Nein, ich brauche sie nicht«, unterbrach sie der Untersuchungsbeamte. »Ich wollte ihr nur die Armbanduhr zurückgeben.«

Erleichtert atmete ich tief durch. Also jetzt nicht! Ich erinnerte mich, dass sie mir die Uhr abgenommen hatten, als meine Hände zusammengebunden wurden. Suzan hatte meinen Namen gehört und so erfahren, wo ich mich befand. Sie suchte mich mit verborgenen Augen, und als sie mich fand, lächelten wir uns tapfer an. Sie war besorgt: »Du hast doch nichts gesagt?«

»Was soll ich schon sagen? Ich habe nichts zu sagen«, erwiderte ich lachend. Sie betrachtete meine Beine. Es war ein wunderschöner Moment, für Sekunden vergaß ich alle Müdigkeit und Schmerzen. Ich spürte, dass etwas um meinen Hals lag, und tastete danach. Meine Finger befühlten etwas Hartflauschiges, wie alten Frottierstoff. Die grausige Erinnerung holte mich wieder ein. Es handelte sich um ein altes, dreckverkrustetes Handtuch. Ich hatte kein Handtuch zum Abtrocknen. Wenn ich es wasche, kann es mir sehr nützlich sein, dachte ich für mich.

Am Nachmittag wurden die Namen der Frauen vorgelesen, die in die allgemeine Abteilung verlegt werden sollten. Auch mein Name war darunter. Ich freute mich sehr, denn ich wusste, dass das Gefängnisleben dort vergleichsweise erträglich war. Mühsam stand ich auf. Meine Schuhe passten nicht, weil die Füße stark geschwollen waren, also nahm ich sie in die Hand.

Golnar sollte mit mir verlegt werden. Ihre Beine waren bandagiert. Seit einer Woche war sie im Gefängnis und fast ununterbrochen beim Verhör. Die ganze Woche hatte sie ihre Personalien nicht preisgegeben, damit ihr Mann genug Zeit hatte, um unterzutauchen. Als sie nach einer Woche ihre Adresse bekannt gab, war ihr Mann bereits verschwunden. Ich bewunderte ihre Stärke. Leise flüsternd nahm ich sie unter den Arm und half ihr.

Auf dem Hof war es herbstlich kühl. Die leichte Brise tat mir gut. Der Weg stieg leicht an und bereitete uns daher große Mühe. Dann erklommen wir einige Stufen und betraten ein Gebäude. Es roch nach Desinfektionsmittel und Alkohol. Offensichtlich befanden wir uns auf der Krankenstation des Gefängnisses.

Wir standen einer unglaublichen Szene von Härte und Hilflosigkeit gegenüber: Überall, auf dem Boden, den Pritschen, Betten und Tragen, lagen schwer gefolterte Gefangene mit Augenbinden, ihre Beine und oft auch die Arme in blutdurchtränkten Bandagen, einige hielten Infusionsflaschen in der Hand.

Golnar deutete auf einen liegenden Mann. Sein Gesicht war klar, und der Mund stand weit offen. Es war nicht erkennbar, ob er noch lebte oder ob er schon tot war. Ein gerade an uns vorbeigehender Wärter schlug Golnar hart auf den Kopf und sagte: »Gib keine Linie!« Linie geben bedeutet, zu politisch Gleichgesinnten im Gefängnis durch bestimmte Worte oder Signale Kontakt aufzunehmen. Freundschaft und gute Beziehungen unter Gefangenen wurden als Straftat angesehen.

Die Treppen bereiteten uns große Probleme. Golnar war noch schlimmer dran als ich, denn ihre beiden Beine waren schwer verletzt. Wir hielten uns am Treppengeländer und zogen uns mühsam hinauf. Die Vorfreude auf den Gemeinschaftstrakt trieb uns vorwärts. Wir passierten einige Durchgangszimmer und blieben schließlich vor einer verschlossenen Tür stehen.

Hadj Agha Katshoui klingelte, woraufhin eine Frau öffnete, ohne ihr Gesicht zu zeigen. Hadj Agha überreichte ihr einige Dokumente, und sie ließ uns hinein.

Der Gemeinschaftstrakt

Golnar und ich wurden in die erste Zelle eingewiesen. Aufgeregt und voller Erwartung betrat ich den Raum und blieb erschrocken stehen: Nach dem ersten Blick auf die Gesichter der Gefangenen glaubte ich, mich in einer Zelle mit nichtpolitischen Gefangenen zu befinden. Niedergeschlagen setzte ich mich in eine Ecke. Fast alle der Gefangenen waren ältere Frauen. Bald erfuhr ich auch, dass den meisten wirtschaftliche Straftaten zur Last gelegt wurden. Einige dagegen waren aus politischen Gründen verhaftet worden.

Eine Frau fiel mir sofort auf. Sie war etwa vierzig Jahre alt, hatte blond gefärbte, dauergewellte Haare, die am Ansatz dunkel nachwuchsen und bis zur Taille reichten. Sie sah Golnar und mich mit giftigen, feindseligen Blicken an, stand plötzlich auf, kam zu uns und fing an zu schimpfen. Sie redete wirres, zusammenhangloses Zeug, und es war nicht festzustellen, ob sie uns meinte oder jemand anders. Dennoch fühlten wir uns durch ihr Verhalten irritiert. Die anderen Frauen gaben uns durch Gestik und Mimik zu verstehen, dass sie nicht alle Sinne beisammenhabe. Dann drehte sich die arme Frau um, schaute das unvermeidliche Khomeini-Bild an der Wand an, hob den Zeigefinger und schimpfte weiter. Jetzt verstanden wir endlich, warum sie so aufgebracht war: Der Anblick unserer Beine hatte sie in Rage gebracht. Sie hatte nicht uns beschimpft, sondern die Verursacher unserer Leiden.

Ich bemerkte die offene Tür und erfuhr, dass wir die Zelle ungehindert verlassen konnten. Selig vor Freude humpelte ich auf den Flur, auf dem es vor Gefangenen nur so wimmelte. Die meisten waren noch sehr jung. Die wenigen älteren Frauen weckten meine Erinnerung an meine Mutter. Fast alle begrüßten mich freundlich lächelnd. Die Art, wie man hier miteinander umging, ließ mich darauf schließen, dass die meisten politische Gefangene waren. Ich atmete erleichtert auf.