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Der letzte lebende Druide – von keltischen Göttern gejagt Jetzt mit zwei Zusatzgeschichten: »Der Rathskeller-Clan« und »Der befreite Kaibab«. Atticus O'Sullivan führt ein scheinbar friedliches Dasein in Arizona. In seinem Laden bekommt man alles, was man eben so brauchen kann. Nachbarn und Kunden halten ihn für einen netten, tätowierten jungen Mann. Tatsächlich ist Atticus aber nicht 21, sondern über 2.100 Jahre alt: Er ist der letzte lebende Druide. Seine übermenschlichen Kräfte zieht er direkt aus der Erde und außerdem besitzt er ein unsagbar scharfes magisches Schwert namens Fragarach. Zu Atticus' Unglück aber ist eine überaus erzürnte keltische Gottheit hinter genau diesem Schwert her. Und sie hat es auf Atticus' Leben abgesehen …
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Seitenzahl: 534
Veröffentlichungsjahr: 2025
Kevin Hearne
Gehetzt
DIE CHRONIK DES EISERNEN DRUIDEN 1
Aus dem Amerikanischenvon Alexander Wagner
Klett-Cotta
Die für die Handlung wichtigsten keltischen Götternamen und mythischen Orte sind in VERSALIEN gesetzt.
Von der zwölften Auflage an enthält dieser Band die Zusatzgeschichten »Der Rathskeller-Clan« und »Der befreite Kaibab«.
Dieses E-Book basiert auf der aktuellen Auflage der Printausgabe zum Zeitpunkt des Erwerbs.
Hobbit Presse
www.hobbitpresse.de
J. G. Cotta’sche Buchhandlung Nachfolger GmbH
Rotebühlstraße 77, 70178 Stuttgart
Fragen zur Produktsicherheit: [email protected]
Die Originalausgabe erschien unter dem Titel »The Iron Druid Chronicles 1. Hounded« im Verlag Ballantine Books, New York
© 2011 by Kevin Hearne
Für die deutsche Ausgabe
© 2013 by J. G. Cotta’sche Buchhandlung Nachfolger GmbH, gegr. 1659, Stuttgart
Alle deutschsprachigen Rechte sowie die Nutzung des Werkes für Text und Data Mining i.S.v. § 44b UrhG vorbehalten
Umschlag: Birgit Gitschier, Augsburg; Photo-illustration von Gene Mollica
Gesetzt aus der DTL Albertina von Dörlemann Satz, Lemförde
Gedruckt und gebunden von GGP Media GmbH, Pößneck
ISBN 978-3-608-98914-4
E-Book ISBN 978-3-608-12556-6
Schau mal, Mami, was ich gemacht hab!
Können wir das am Kühlschrank aufhängen?
Die folgenden zwei Geschichten gehen dem Band Gehetzt voraus und wurden ursprünglich geschrieben, um Atticus und Oberon einzuführen. Der Rathskeller-Clan spielt etwa zehn Monate vor den Ereignissen des Romans und Der befreite Kaibab nur wenige Tage bevor die Feen Atticus in Arizona aufspüren. Ich hoffe, euch gefallen diese Einblicke in Atticus’ Leben aus der Zeit, bevor die Ereignisse lawinenartig über ihn hereinbrachen.
Die Dezembermonate in Arizona sind kühl, aber nicht wirklich kalt. Die Leute gehen in Einkaufszentren wie dem Tempe Marketplace mit nichts als einem leichten Pullover bekleidet shoppen, sie rutschen nicht auf Glatteis aus oder verlieren ihre Zehen durch Erfrierungen, weil es solche Gefahren in der Wüste nicht gibt. Aus ähnlichen Gründen werden sie auch nicht von gefräßigen Yetis verspeist oder von gierigen Kopffüßern verschlungen. Man sollte meinen, dass sie auch vor der Aufmerksamkeit soziopathischer Kobolde sicher wären, aber zu meinem Leidwesen musste ich an einem Montagabend feststellen, dass dem nicht so war.
Der Tempe Marketplace ist ein weitläufiges Einkaufszentrum mit einem großen Kino und einigen grell beleuchteten Supermärkten. In der Nähe des Kinos drängen sich kleinere Einzelhändler und eine Reihe von Restaurants wie Dickens’ Waisenkinder, die darauf hoffen, nach dem Kino noch ein Geschäft zu machen, um ihre hungrigen Kassen zu füllen. (»Bitte, Sir, geben Sie noch etwas mehr aus.«) In der gepflasterten Shoppingmeile mit teuren Terrassenmöbeln und Wasserspielen können die Kunden sich gleichzeitig lässig und exklusiv fühlen. Und das Beste: Hier dröhnt keine Konservenmusik aus Acht-Bit-Lautsprechern – in Amerika ein seltener und besonderer Segen. Von Donnerstag- bis Samstagabend gibt es Live-Musik, denn das Einkaufszentrum sponsert auf seiner Außenbühne kostenlose Konzerte, bei denen stets familienfreundliche Bands auftreten, die spielen, als hätten sie einen Vertrag, der sie zur Vermeidung von Moll-Akkorden verpflichtet. Den Rest der Woche wird die Bühne für andere Veranstaltungen genutzt, zum Beispiel für einen Auftritt des Weihnachtsmanns und seiner Elfen.
Während die Dads zu Hause geblieben waren, um Monday Night Football zu schauen, hatten die Mütter ihre Kinder mitgebracht, um den Weihnachtsmann zu erleben und nebenher vielleicht ein paar Einkäufe für die Familie zu erledigen. ASU-Studenten und junge Hipster drängten sich zur Happy Hour in San Felipe’s Cantina, aber auch ein paar ältere Singles in den Mittzwanzigern. Ich hatte einen guten Blick auf sie alle, denn das San Felipe’s hat so gut wie keine Außenwände, stattdessen gab es einen niedrigen Metallzaun, hinter dem die Gäste ein Bier trinken und die Show genießen konnten, sofern es eine gab, denn die Cantina lag direkt gegenüber der Bühne. Dort, zwischen der Bühne und dem San Felipe’s, bemerkte ich zum ersten Mal, dass etwas grundlegend faul war. Oberon, mein Hund, witterte etwas Nicht-Menschliches.
Oberon ist ein irischer Wolfshund, und obwohl seine eigentliche Stärke im Sehen liegt, ist seine Nase immer noch viel besser als meine menschliche. Und da ich mein Bewusstsein mit seinem verbunden habe, und er durch diese Verbindung nach und nach meine Sprache gelernt hat, muss er nicht nur bellen und mit dem Schwanz wedeln, wenn er mir etwas mitteilen will. Er sagt es in seinem Kopf, und ich höre es in meinem.
›Atticus, hier ist etwas, das nicht menschlich ist‹, sagt er.
Das könntest du sein, Oberon. Oder ich, wenn du meine Langlebigkeit als nicht menschlich bezeichnen willst.
›Nein, ich meine etwas, das ich noch nie gerochen habe. Aber es ist keine Pflanze und auch kein Tier, an das ich mich erinnern könnte. Irgendwie erdig.‹
Sofort begann ich mich umzuschauen. Zuerst musterte ich die Gäste in der Cantina an und scannte ihre Auren, um mich zu vergewissern, dass sie alle menschliche Gestalt hatten. Ich entdeckte Farben von Fröhlichkeit und Aufregung neben Angst und Einsamkeit, aber nichts Ungewöhnliches.
›Hey, weißt du was? Ich glaube, das kommt von dort drüben, vom Weihnachtsmann und den Elfen‹, sagte Oberon.
Ich drehte meinen Kopf zur Bühne, wo ein korpulenter Weihnachtsmann mit weißem Rauschebart versuchte, onkelhaft beruhigend zu wirken, während ein Elf ein schreiendes Kind auf seinen Schoß setzte. Die Aura des Weihnachtsmannes verriet: Er war genervt und wollte überall sein, nur nicht hier. Vielleicht schrie das Kind, weil es das spürte. Oder vielleicht auch, weil Kinder noch nicht durch Logik und Wissenschaft für die wahre Natur der Dinge blind gemacht sind. Möglicherweis erkannte etwas in dem Kleinen, dass der »Elf«, der es hochhievte, in Wirklichkeit einer anderen Spezies angehörte.
Das sind keine Elfen, sagte ich zu Oberon, obwohl sein Irrtum völlig nachvollziehbar war. Es waren sehr süße kleine Kerlchen, die gut in die festliche Atmosphäre passten. Aber ein Blick auf ihre Aura bestätigte, dass sie nicht von dieser Welt waren.
›Oh, ich weiß. Das sind Liliputaner, die sich als Elfen verkleidet haben.‹
Nein, das sind auch keine Liliputaner.
›Ach, stimmt, man sagt jetzt »Kleinwüchsige«, oder? Entschuldigung!‹
Oberon, das sind Zwerge. Die sind es, die du witterst. Es waren fünf von ihnen, nicht ganz anderthalb Meter groß auf ihren Plateauschuhen, aber nur einer schien sich für den Weihnachtsmann und die Schlange wartender Kinder zu interessieren. Die anderen ließen ihre Blicke über die vorbeieilenden Käufer schweifen. Ich beschloss, weiterzugehen, bevor sie bemerkten, dass ein junger Ire mit einem riesigen Hund sie anstarrte. Ich setzte meinen Weg entlang der langen Fassade des San Felipe’s fort.
›Zwerge?‹ fragte Oberon. ›Du meinst diese weißbärtigen Kerle, die sich die Leute in den Garten stellen, damit ich sie zerbeiße?‹
Nein, keine Gartenzwerge. Die gibt es erst seit dem Zweiten Weltkrieg. Das sind echte Zwerge aus der Alten Welt. Sie sind ziemlich selten. Wenn du versuchst, sie zu beißen, beißen sie zurück.
Oberon hielt inne und legte den Kopf schief. ›Du willst mir also sagen, dass das Zwerge sind, die vorgeben, Kleinwüchsige zu sein, die vorgeben, Elfen zu sein? Willst du mir jetzt auch noch erzählen, dass sie über sechs Ecken mit Bilbo Beutlin verwandt sind?‹
Ich forderte ihn mit einem leichten Klopfen auf die Schulter zum Weitergehen auf, denn ich hatte ihm keine Leine angelegt. Er trug nie eine, es sei denn, es war Vorschrift. Komm. Oberon folgte mir und wir bogen rechts neben dem San Felipe’s ein, bis wir gerade außer Sichtweite der Bühne waren. Dort näherte ich mich dem Zaun, der die Nüchternen von den Betrunkenen trennte, und versuchte, zwischen den wippenden Köpfen eine Lücke zu finden, durch die ich die Zwerge unbemerkt beobachten konnte. Oberon verhinderte diesen Plan.
»Heilige Scheiße!«, stieß ein Gast aus und stellte sein halbvolles Pintglas ab.
Sein Kumpel folgte seinem Blick und pflichtete ihm bei: »Verdammt!«
»Das ist ja ein richtig großer Hund«, konstatierte der Wahrnehmungsbegabteste der Gruppe.
Der erste Mann zog die Aufmerksamkeit eines weiteren Mannes am Nebentisch auf sich und zeigte mit der Hand. »Hey, schau dir den verdammt großen Hund an!«
»Heilige Scheiße!«
Ich seufzte. Immer dasselbe Spiel.
›Warum sagen die Leute das immer?‹, fragte Oberon, ließ die Ohren hängen, setzte sich und gab seinerseits einen tiefen Seufzer von sich.
Keine Ahnung. Früher konstatierten die Leute Offensichtliches mit einem ironischen oder Unterton oder als Untertreibung, aber in den letzten Jahrzehnten verkünden sie es im Brustton einer echten Erkenntnis, und das beunruhigt mich.
›Müssen wir hier bleiben und ihnen noch lange zuhören? Du weißt, dass ich normalerweise unter Leuten bin, aber selbst du musst zugeben, dass Betrunkene nach etwa drei Nanosekunden nerven.‹
Absolut, Kumpel. Bald werden sie drauf kommen, dass du nicht angeleint bist, und mir Fragen stellen. Ich will mir nur kurz die Zwerge ansehen.
Ich entdeckte eine Lücke zwischen einigen fröhlich plaudernden jungen Studentinnen und nahm einen der Zwerge so gut ich konnte unter die Lupe. Seine Aura verriet mir nichts außer seiner Spezies. Im Gegensatz zu menschlichen Auren, die Emotionen in einem vollen Spektrum ausstrahlen, sind die Auren der Zwerge von einem sanften, undurchdringlichen Braun, wie Vollmilchschokolade, abgesehen von einer weißen magischen Konturlinie. Doch allein seine Anwesenheit und die seiner Gefährten deuteten auf etwas Unheilvolles hin. Zwerge verachten Menschen und haben so wenig wie möglich mit uns zu tun. Dass sich fünf von ihnen in einer betriebsamen Menschenmenge aufhielten, war absolut beispiellos. Entweder waren sie über etwas sehr verärgert – vielleicht über eine Verletzung ihrer Ehre – oder sie waren wirklich verrückt. Sie machten sich nicht einmal die Mühe, ihre großen Nasen und magisch gepflegten Bärte zu verbergen; und die Einkäufer nahmen diese Merkmale ganz unbekümmert als prothetische Teile ihrer Kostüms.
Wenn sie auf einer Art Rachefeldzug waren, würde ich mich am besten raushalten. Wenn sie sich jedoch auf einer Himmelfahrtsmission befanden, geboren aus unsterblicher Langeweile oder etwas ähnlich Gefährlichem für die Menschen hier, wäre es meine Pflicht, das zu verhindern. Tempe hatte sich mehr als zehn Jahre lang als gutes Versteck für mich erwiesen, und ich wollte nicht, dass ein paar Zwerge das ruinierten, indem sie Krawall machten und Aufmerksamkeit erregten.
»Hey, Alter«, rief einer der Kneipenbesucher. »Ist das dein Hund?« Ich antwortete nicht, sondern hielt nur die Leine hoch. Leider wurde das als Einladung für weitere Kommentare verstanden. »Na, der ist aber echt verdammt groß«, sagte er.
Ich drehte mich nach der Stimme um. Sie gehörte zu einem Mechaniker, auf dessen blauem Hemd in roter Farbe der Name Jeff gestickt war. Aus der Hemdtasche ragten ein paar Stifte und ein Luftdruckmessgerät in einer Plastikschutzhülle.
»Hallo Jeff. Könnte ich mir einen deiner Stifte leihen?«, fragte ich ihn. Er blinzelte irritiert, woher ein Fremder seinen Namen kannte. Er hatte offenbar vergessen, dass er auf seinem Hemd stand. »Und vielleicht eine Serviette?«
»Was? Moment mal, Kumpel. Kennen wir uns?« Sein Gesichtsausdruck verriet Zweifel, wobei unklar blieb, wieso wir uns kennen müssten, bevor er mir einen Stift lieh. Seine Zechkumpane taten es ihm gleich und warfen mir finstere Blicke zu.
»Nein, aber ich beherrsche die elementaren Grundzüge von Lesen und Schreiben. Kann ich mir einen Stift leihen, bitte? Und eine Serviette. Du kriegst ihn auch gleich wieder zurück, versprochen.«
Jeff wirkte unwillig, aber da ich das Zauberwort gesagt hatte, wollte er vor seinen Freunden nicht als mieser Typ dastehen.
»Klar, Mann, was auch immer.« Er zog einen Stift aus der Tasche und reichte ihn mir über den niedrigen Zaun des San Felipe’s hinweg. Außerdem warf er mir eine Serviette zu.
»Danke«, sagte ich. Ich drückte die Serviette flach auf das geschwungene Geländer des Zauns und kritzelte eine kurze Nachricht in Althochdeutsch darauf. Ich tippte, dass es die Sprache war, die die Zwerge untereinander benutzten. Sie lautete: »Ich möchte mit dir sprechen. Folge dem Hund.« Die Serviette reichte ich Oberon zusammen mit ein paar Anweisungen. Bring das zu einem der Gnome und lege es vor ihn hin. Bell einmal, warte, bis er es gelesen hat, und bringe ihn dann hierher.
›Verstanden.‹ Ich hakte Oberons Leine aus, und er trottete los, eine Ecke der Serviette vorsichtig zwischen den Zähnen.
»Hey, wo will er hin?«, fragte Jeff.
»Hier ist dein Stift. Danke.« Ich lächelte ihm kurz zu. Er nahm den Stift und steckte ihn geistesabwesend wieder in seine Tasche.
»Weißt du, dass dein Hund gerade ohne Leine weggelaufen ist?«
In diesem Moment beschloss ich, dass ich mein Auto – falls ich jemals eines besitzen sollte – niemals zu Jeff in die Werkstatt bringen würde. Denn er würde mir wahrscheinlich nur erklären, dass es repariert werden muss oder dass der Himmel blau ist oder etwas ähnlich Offensichtliches. Aber ich ließ mir nichts von meinen Überlegungen anmerken und lächelte freundlich.
»Ach, der kommt schon wieder, keine Sorge. Wir spielen Apportieren.«
»Was apportiert er denn?«
»Einen von Santas Elfen.«
»In seiner Schnauze?« Jeffs Saufkumpane lachten. »Ist das legal?«
»Nein, keine Sorge.« Ich suchte nach einem modernen Ausdruck, um seine Besorgnis zu beschwichtigen. »Alles paletti«, erklärte ich und wandte mich ab, um ihm zu signalisieren, dass ich unser kurzes Gespräch (und unsere Bekanntschaft) für beendet hielt. Jeff war ebenfalls bereit, das Thema fallen zu lassen, aber er konnte nicht umhin, seine Stimme ein wenig zu senken und sich über mich auszulassen.
»Es gibt jede Menge Verrückte in dieser Stadt«, hörte ich ihn zischen. Er hatte ja keine Ahnung, wie sehr er damit untertrieb.
›Wir sind im Anmarsch‹, verkündete Oberon. Einen Augenblick später bog er schwanzwedelnd um die Ecke. Hinter ihm folgte ein finster dreinblickender Zwerg, angespannt und auf einen Hinterhalt gefasst. Sein Kostüm bestand aus einer dieser roten Sergeant-Pepper-Militärjacken über einem Leinenhemd mit hohem gestärkten Kragen. Die Jacke hatte weiße Paspeln auf der Brust und viel zu viele Messingknöpfe. Rote Kniebundhosen mit einem gelben Streifen an den Seiten, und dazu gelbe Strümpfe und überdimensionierte Plateauschuhen, die den Zwerg fast dreißig Zentimeter größer machten. Ohne diese Schuhe war er wohl etwas über einen Meter groß, schätzte ich. Nachdem er mich gründlich gemustert und die Tätowierungen auf meinem rechten Arm entdeckt hatte, entspannte er sich. Er sprach, wie ich vermutet hatte, Althochdeutsch, das ich seit Jahrhunderten nicht mehr benutzt hatte.
»Da bist du also«, sagte er. »Gut. Wir machten uns schon Sorgen. Ist alles in guter Bereitschaft?«
Ich war verblüfft. Er tat so, als würde er mich kennen, aber ich war mir sicher, dass wir uns noch nie begegnet waren, und absolut sicher, dass mein Name nicht auf meinem Hemd stand.
»Das will ich doch hoffen«, sagte ich. »Verrätst du mir noch einmal deinen Namen, mein Freund?«
Misstrauen verdüsterte die Miene des Zwergs. Seine dunklen Augen verengten sich und sein Schnurrbart zitterte. »Sag mir erst, wer du bist.«
»Du hast mich doch gerade erkannt.«
Er zuckte mit dem Kopf zu meiner Rechten und deutete mit der Nase. »Du hast die Tätowierungen der TUATHA DÉ DANANN, und ich sehe, dass das deine wahre Gestalt ist«, sagte er, »aber ich glaube nicht mehr, dass du der bist, auf den wir gewartet haben.«
Ich erblasste. Sie warteten auf einen der TUATHA DÉ DANANN, und das waren genau die irischen Götter, vor denen ich mich versteckte. Ursprünglich waren sie wie ich einfache Druiden und durch ihre Tätowierungen mit der Erde verbunden – genau wie ich. Auf den ersten Blick konnte man mich leicht mit einem von ihnen verwechseln. Aber welcher von ihnen würde kommen?
»Nein, der bin ich nicht«, gab ich zu, »ich bin nur auf der Durchreise und wundere mich, warum die Wesen der Erde unter den Menschen wandeln.«
»Hey, Alter, was ist das für eine Sprache?«, rief Jeff. »Russisch? Seid ihr Kommunisten oder was?« Seine Begleiter grölten und klopften ihm anerkennend auf die Schulter für seinen brillanten Witz.
Es war zwecklos, Jeff zu erklären, dass die Sowjetunion vor Jahrzehnten zusammengebrochen und der Kalte Krieg vorbei war, und dass Russland nicht mehr kommunistisch war, sondern eine autokratische Kleptokratie, die sich als föderale Demokratie tarnte. Es wäre auch sinnlos, ihn darauf hinzuweisen, dass sich slawische und germanische Sprachen grundlegend unterscheiden. Daher ignorierte ich ihn und gab dem Zwerg ein Zeichen, dass wir uns vom San Felipe’s entfernen sollten. Wenn Jeff uns weiter auf den Wecker gehen wollte, müsste er sein Bier stehen lassen, und ich hatte das intuitive Gefühl, dass er das niemals tun würde. Der Zwerg war nur allzu froh, etwas Abstand zwischen sich und die lärmenden Menschen zu bringen, und wir schlurften näher an die California Pizza Kitchen heran, die auf der anderen Straßenseite lag.
»Wir sind hier, um das Gestohlene zurückzuholen«, erklärte der Zwerg. »Der Dieb wird bald hier sein. GOIBHNIU wird uns helfen.«
Das Barometer, das den inneren Druck meiner Paranoia anzeigte, fiel schlagartig. GOIBHNIU war der irische Gott der Schmiedekunst und des Brauens, und er hatte sich bei unserer letzten Begegnung als anständiger Kerl erwiesen. Aber das war in einem anderen Land, vor tausend oder mehr Jahren gewesen. Ich hatte keine Ahnung, wie er inzwischen zu mir stand, aber dass er sich auf die Seite der Zwerge stellte, war ein gutes Zeichen.
»Was wurde gestohlen, wenn ich fragen darf?«
»Wahrheit gegen Wahrheit«, sagte der Zwerg. »Sag mir erst, wer du bist.«
Ich legte die Hände vor der Brust zusammen und verbeugte mich kurz. »Du sprichst mit dem letzten Druiden.«
Der Zwerg schnaubte ungläubig. »Die Druiden sind schon vor Jahrhunderten ausgestorben.«
»Aye, außer mir. Du weißt, dass ich die Wahrheit sage. Du erkennst meine Tätowierungen. Nur noch wenige beherrschen die alte Sprache.« Der Gnom blickte zu Oberon. »Und ja, ich spreche mit meinem Hund. Also sag mir, was gestohlen wurde.«
Er ließ die Schultern hängen und ein resignierter Seufzer blähte seinen Schnurrbart. »Wir fünf sind alles, was vom Rathskeller-Clan übrig geblieben ist«, erklärte er, »die besten Brauer unseres Volkes. Vielleicht ist dir aufgefallen, dass es keine Frauen unter uns gibt. Wir sind vom Aussterben bedroht und arbeiten seit fünfzig Jahren an einem königlichen Geschenk für den Anführer des Fruchtbar-Clans: dem Trank der unendlichen Kraft. Er sollte gegen fünf Bräute eingetauscht werden, aber er wurde gestohlen.«
»Von wem?«
»Von Kohleherz und irgendeinem Feenwesen.«
Ich hatte keine Ahnung, wer Kohleherz war. Aber die Tatsache, dass ein Feenwesen involviert war, missfiel mir gewaltig. Vielleicht könnte ich GOIBHNIU über den Weg trauen, aber niemals einem Feenwesen. Es würde mich ohne mit der Wimper zu zucken an meine Feinde unter den TUATHA DÉ DANANN verraten.
»Du sagst, die Diebe kommen hierher?«
»Jeden Augenblick.«
»Dann sollte ich meine Reise fortsetzen«, sagte ich. Ursprünglich war ich zum Marketplace gekommen, um den Irish Pub in der Nähe des Kinos auszuprobieren. Doch der Zwerg sollte den Eindruck gewinnen, dass ich nicht hier lebte, falls er anderen von unserer Begegnung erzählte. »Möge Harmonie dich und den ganzen Rathskeller-Clan finden. Da ich noch gefährdeter bin als ihr, wäre ich euch dankbar, wenn ihr meine Anwesenheit hier geheim haltet.«
Der Zwerg nickte und kehrte ohne ein weiteres Wort auf zur Bühne zurück. Kein Vorschlag seinerseits, dass wir uns auf Facebook befreunden sollten.
›Um was ging es bei der ganzen Sache?‹, fragte Oberon.
Wir müssen uns verstecken. Ich werde dich tarnen.
›Okay, aber verstecken vor was?‹
Vor einem Gott, einem Feenwesen und vor was auch immer Kohleherz ist.
›Warum verschwinden wir nicht einfach von hier?‹
Weil ich neugierig bin. Ich belegte Oberon mit einem Tarnzauber, und er verschmolz mit der Umgebung, als der Bann die Pigmente der Umgebung mit seinen eigenen verband. Es war keine perfekte Unsichtbarkeit, vor allem wenn er sich bewegte, aber es reichte fürs Erste. Dann belegte ich mich selbst mit dem Zauber und schaute mich um, ob es jemand bemerkt hatte. Ein paar Passanten schauten zweimal in meine Richtung, verloren aber schnell das Interesse, weil sie zu sehr mit Konsumieren beschäftigt waren. Nach dem ich mich überzeugt hatte, dass Oberon und ich unsichtbar waren, schlenderte ich langsam über die gepflasterte Kreuzung zu dem Gebäude schräg gegenüber des San Felipe’s. Ich fand eine ruhige Stelle, zog mich aus und bat Oberon, auf meine Kleider aufzupassen. Ich legte sie unter seine Vorderpfoten.
›Wohin gehst du?‹
Auf das Dach über dir. Wir werden eine Weile die Menge beobachten. Sag mir, wenn du etwas riechst, das nicht menschlich ist.
›Alles klar. Aber ich kriege langsam Hunger. Hoffentlich dauert es nicht mehr lange.‹
Versuch, es mit Geduld zu ertragen, Oberon. Ich kaufe dir anschließend ein Steak.
›Kein Scherz?‹
Kein Scherz. Du hast mich auf die Zwerge aufmerksam gemacht, also bekommst du ein Filet im Speckmantel, wenn du willst.
›Nur eins? Ich habe fünf Zwerge aufgespürt. Bedeutet das nicht, dass ich fünf Filets bekommen sollte?‹
Ich lächelte und verwandelte mich in einen Virginia-Uhu. Das war eine von vier Tiergestalten, die ich annehmen konnte, und ideal, um in einer Spätherbstnacht heimliche Machenschaften zu beobachten.
Ich glaube nicht, dass der Wechselkurs zwischen Gnom und Filet eins zu eins ist.
›Werde jetzt nicht geizig, Atticus‹, rief Oberon mir nach, als ich davonflog. Da ich immer noch getarnt war, war mein Flug fast ebenso unsichtbar wie lautlos. Ein paar Leute bemerkten flüchtige Wirbel in der Luft und drehten sich in meine Richtung, gaben aber auf, als ihre Augen nichts als das visuelle Drunter-und-Drüber des Einkaufszentrums erfassten. Von nun an musste ich mit meiner Magie sparsam sein, bis ich mich wieder mit der Erde verbinden konnte. Ich trug einen Talisman an meiner Halskette – einen von zehn –, der als magischer Speicher diente, und der war jetzt dank dieser Zauber halb leer. Die Halskette war ein schönes Stück Arbeit, das ich über viele Jahrhunderte angefertigt hatte und das je nach meiner Gestalt schrumpfen oder wachsen konnte. Der Gestaltwandel kostete eine Menge Energie, und die Aufrechterhaltung der Tarnung würde den verbliebenen Energievorrat geringfügig, aber kontinuierlich belasten. Diese komplett asphaltierte Umgebung war für mich sehr von Nachteil, und da ich keine Waffen zur Hand hatte, musste ich einen Kampf um jeden Preis vermeiden. Und das, obwohl ich mir ziemlich sicher war, dass ein solcher unmittelbar drohte.
Keine fünf Minuten, nachdem ich mich auf dem Dach niedergelassen hatte, sah ich GOIBHNIU von Westen her auf den Platz schreiten. Sein Haar war nicht so rot wie meines, sondern eher von einem dunklen Kastanienbraun, und er trug es offen bis zu den Schultern mit einem Mittelscheitel. Er war in Jeans und einen irischen Pullover gekleidet, der die meisten seiner Tätowierungen verdeckte. Er blieb vor der Bühne stehen, lächelte ironisch und nickte den Zwergen zu, die sichtlich erleichtert über sein Erscheinen ebenfalls nickten. In der linken Hand hielt er eine Edelstahl-Thermoskanne, die rechte steckte in der Hosentasche, als er auf den Eingang des San Felipe’s zuging. Er verschwand für kurze Zeit, tauchte dann aber gegenüber der Bühne wieder auf, diesmal innerhalb des Zauns. Alle Tische in der vordersten Reihe waren besetzt, denn von dort aus konnte man am besten sehen und gesehen werden. GOIBHNIU ging selbstbewusst auf einen Vierertisch zu, zog etwas aus der Tasche und legte es auf den Tisch. Es waren vier Hunderter. Er bot jedem der Gäste einen an, die sogleich bereitwillig nach ihren Drinks griffen und sich entfernten.
Da er nun im Alleinbesitz eines erstklassigen Tisches war, setzte er sich auf einen hohen Hocker und stellte seine Thermoskanne gut sichtbar in die Mitte. Eine schlanke Kellnerin erschien, um ihn nach seinen Wünschen zu fragen, und er bestellte ein Getränk, das er wahrscheinlich nie anrühren würde.
Kurz darauf spürte ich, wie sich die Spannung in der Umgebung wie ein Subwoofer-Crescendo aufbaute, seismisch und unaufhaltsam. Ich gebe zu, dass mich das beunruhigte. Irgendjemand da unten hatte das verursacht, aber ich konnte nicht sagen, wer. Es war an der Zeit, die Dinge aus einer anderen Perspektive zu betrachten. Ich aktivierte den Anhänger an meiner Halskette, der meine Sicht mit dem magischen Spektrum verband. Ich versuche, ihn nicht zu oft zu benutzen, denn zu sehen, wie alle Dinge miteinander verbunden sind, führt zu einer absoluten Reizüberflutung der Sinne. Dennoch ist er von unschätzbarem Wert, um durch die Tarnungen der Feen zu sehen, und deshalb nenne ich den Zauber »Feenbrille«.
Die Quelle des magischen Mojo war tatsächlich ein Feenwesen, oder besser gesagt, etwas, das dieses Wesen auf dem Rücken trug. Das Feenwesen war als dunkelhaariger Emo-Junge getarnt, mit einer fransigen Frisur, die sein halbes Gesicht verdeckte, und es trug eine Art sehr unbequem wirkende hautenge Jeans. In Wirklichkeit war es allerdings blond, sportlich und etwas größer. Auf seinem Rücken hing ein Jutesack, etwa so groß wie die Müllsäcke, die man für den Rasenschnitt benutzt. Die Kordel verbarg den Inhalt vor meinen Augen, aber ich spürte, dass darin eine dunkle, brodelnde Magie auf ihren Ausbruch wartete – die Magie der tiefen Erde, die besser begraben geblieben wäre.
›Atticus, warum sträuben sich meine Nackenhaare?‹
Weil sich etwas Böses nähert.
›Es riecht nach Motoröl, vermischt mit Scheiße.‹
Das Feenwesen erblickte GOIBHNIU und begab sich zum Eingang des San Felipe’s, um sich zu ihm zu gesellen. Die Zwerge bemerkten das Feenwesen und setzten ihre Arbeit fort, allerdings waren sie jetzt alle stark abgelenkt.
Die Kellnerin kehrte zu GOIBHNIUS Tisch zurück und stellte ihm ein Pint Bier und zwei leere Schnapsgläser hin. Er bedankte sich und sie ging. Nun schlurfte das Feenwesen ins Blickfeld und nickte GOIBHNIU einmal zu, ohne Anstalten zu machen, sich hinzusetzen oder seine Last abzulegen. GOIBHNIU nickte würdevoll zurück. Ich fragte mich, ob er die stählerne Thermosflasche absichtlich mitgebracht hatte, um das Feenwesen zu ärgern.
Alle Feen – ich meine die echten irischen Feen, nicht die niedlichen geflügelten Wesen aus den Disney-Filmen – sind Nachfahren der TUATHA DÉ DANANN, geboren in Tir na nOg. Im Gegensatz zu ihren Erzeugern sind die Feen Wesen reiner Magie und können daher die Berührung mit Eisen nicht ertragen. Stahl ist übel. Schmiedeeisen ist noch schlimmer. Und kaltes Eisen – oder besser gesagt Eisen aus Meteoriten, die nicht mit der Magie der Welt verbunden sind – ist am schlimmsten. Deshalb trage ich in der Mitte meiner Halskette ein Amulett aus kaltem Eisen: Es ist ein Feenabwehrmittel erster Güte.
Wortlos griff GOIBHNIU nach der stählernen Thermosflasche und schraubte den Deckel ab. Er goss etwas von der bernsteinfarbenen Flüssigkeit in eines der Schnapsgläser, schraubte den Deckel wieder zu und stellte die Flasche auf den Tisch. In diesem Moment begann meine Sicht, mir zwei verschiedene Dinge zu zeigen.
Was das menschliche Auge sehen konnte, blieb dasselbe: Der dunkelhaarige Emo-Junge stand einfach da und schaute auf die Schnapsgläser und den Tisch, während der Sack bewegungslos über seinem Rücken hing. Aber im magischen Spektrum – die wie eine grüne Überlagerung in meinem Sichtfeld auftauchte – hob der blonde Feenmann das leere Schnapsglas hoch und hielt es neben seine rechte Schulter. Ein dünner schwarzer Arm, dessen Haut wie gemeißelte Kohle aussah, schlängelte sich aus dem Leinensack und griff mit einer dreifingrigen Hand nach dem Glas. Die Schnur lockerte sich, der Sack kräuselte sich, ein hässlicher schwarzer Kopf und Schultern erschienen, ein grausames Grinsen mit Zähnen wie erkaltete Lavasteine spaltete das Gesicht. Die Zwerge sahen es auch, ihre magische Sehkraft war so gut wie meine, und sie erstarrten. Das musste Kohleherz sein, die Quelle all des üblen Mojo, und obwohl ich noch nie einen seiner Art gesehen hatte, konnte er nur ein Kobold aus den dunkelsten Minen und unterirdischen Höhlen sein.
Kobolde sind für die Zwerge, was die Sith für die Jedi sind – oder was Yin für Yang ist. Beide sind kleine Zweibeiner, die die Magie der Erde nutzen und deren Gesichter nach einer Nasenkorrektur schreien, aber die Kobolde sind an die tieferen Kräfte der Gewalt und des Umbruchs in der Erde gebunden, während die Zwerge den Kräften des Wachstums und der Pflege dienen. Wenn die Legenden über sie wahr sind, dann haben Kobolde eine fantastische Widerstandskraft gegen Hitze und Druck. Zeige einem Kobold einen Lavasee und er wird darin waten, als wäre es ein Whirlpool, vielleicht wird er sogar einen Drink bestellen, mit einem Schirm und einem Stück Obst am Rand. Dann wird er in aller Ruhe und Gelassenheit irgendeinen wirklich üblen Scheiß aushecken, wie zum Beispiel eine Zugabe für Krakatau.
Die linke Hand der Kreatur zog einen goldenen Flachmann aus der Tasche – nicht nur vergoldet, sondern aus massivem Gold, außen mit Zwergen-Runen versehen und mit funkelnden Edelsteinen besetzt. Es goss eine kleine Menge einer silbernen Flüssigkeit, dick und zähflüssig, in das Schnapsglas und gab es dem Feenwesen zurück. Das Feenwesen stellte es auf den Tisch und nahm dann das Schnapsglas mit dem Gebräu von GOIBHNIU in die Hand. GOIBHNIU wiederum ergriff das Glas mit dem Elixier des Rathskeller-Clans. Es war wie bei einem Drogendeal, bei dem beide Seiten das Produkt probierten, bevor sie es austauschten.
Der Kobold stürzte den bernsteinfarbenen Schnaps hinunter, hustete und nickte anerkennend. GOIBHNIU genoss seinen kleinen Schluck des Zwergengetränks, zweifellos ein seltener Glücksmoment in seinem langen Leben. Schließlich nickte er und stellte das Glas ab. Ich konnte wegen des Lärms im Einkaufszentrum nicht viel hören, aber ich stellte mir vor, wie der Kobold vor Vergnügen zischte. Er beugte sich aus seinem Sack und hielt den Flachmann in der ausgestreckten Hand. GOIBHNIU nahm die stählerne Thermosflasche, da das Feenwesen diese nicht nehmen konnte, und erhob sich. Er nahm dem Kobold den Flachmann ab und gab ihm dafür die Thermosflasche, wobei er darauf achtete, das Feenwesen nicht damit zu berühren. Der Kobold grinste verschlagen und verschwand mit seiner Beute wieder in dem Rucksack.
Die Parteien schüttelten sich nicht die Hände und wünschten sich nichts Gutes. GOIBHNIU trat lässig auf den Zaun zu, streckte den Arm aus und ließ den goldenen Flachmann baumeln. Das schien ein Signal zu sein. Die Zwerge riefen »Rathskeller!« in einem ausgesprochen unelfenhaften Tonfall, gaben jede Vortäuschung auf, Gehilfen des Weihnachtsmanns zu sein, und sprinteten von der Bühne, sehr zur Verwirrung des Weihnachtsmanns und zum Trauma aller braven kleinen Jungen und Mädchen.
Wie süß! Er gibt den Zwergen den Trank zurück! Er hat den Kobold ganz schön verarscht!
›Dürfen Götter das?‹
Götter dürfen alles und jeden verarschen. Historische Belege finden sich zuhauf.
Dem Feenwesen fiel die Kinnlade herunter, als es die Zwerge auf sich zustürmen sah, mit roten Nasen und Schnurrbärten, die vor gerechter Wut bebten. Die dunkle Gestalt des Kobolds tauchte kurz aus dem Sack auf, um nach dem Rechten zu sehen, und sein lauter Schreckensschrei ließ den Platz erzittern. Offensichtlich waren er und das Feenwesen genauso überrascht wie ich, dass Zwerge sich unter die Menschen mischten. Die Leute blieben mit offenem Mund stehen, als die Elfen den Zaun des San Felipe’s stürmten. Der Kobold rief dem Feenwesen auf Althochdeutsch zu, es solle fliehen, ein krächzendes, klagendes Geräusch, das an den Nerven kratzte und alle aus ihrer fröhlichen Stimmung riss. Niemand entdeckte den Urheber dieses Geräuschs, und ich bin sicher, niemand hätte ihn gerne erblickt. Die Kinder begannen zu schreien, und erste Anzeichen von Panik befielen die Erwachsenen. Das Feenwesen rannte zum Ausgang, während GOIBHNIU dem Rathskeller-Clan zulächelte. Der Zwerg, der dem Weihnachtsmann geholfen hatte, nahm den Trank der unendlichen Kraft entgegen, und alle verneigten sich dankbar vor ihm.
GOIBHNIU sagte etwas zu ihnen – wahrscheinlich so etwas wie »gern geschehen« – und verabschiedete sich mit einer Handbewegung. Mühelos überwand er den Zaun und schritt davon in Richtung Westen, aus der er gekommen war. Sein Glas ließ er unberührt auf dem Tisch stehen. Die Zwerge bildeten einen Keil und begannen, entlang des Zauns des San Felipe’s zu traben, um den Feen und Kohleherz den Weg abzuschneiden. Ich räumte ihnen nur geringe Chancen ein; der Feenmann war schon fast am Ausgang, dann würde er nach Süden zum Parkplatz abbiegen. Es war unmöglich, dass die kurzen Zwergenbeine mit den Schritten eines langbeinigen Feenmannes mithalten konnten. Der Kobold würde entkommen, sofern ich nicht eingriff – und ich hatte gute Gründe, ihn gehen zu lassen. Zum einen ging mich die ganze Sache wirklich nichts an. Zum anderen lief es momentan ganz gut für mich: Ich hatte es geschafft, mehr als zehn Jahre an einem Ort zu bleiben, mein Geschäft florierte, und niemand ahnte, dass ich älter war als die drei großen Religionen und zweiundvierzig Sprachen sprach. Wenn ich meine Nase in die Angelegenheit steckte und entweder die Fee oder der Kobold entkam, würde es mich viel lästigen Aufwand kosten, wieder woanders unterzutauchen.
Andererseits würde ich mich schuldig fühlen, wenn ich den Kobold einfach so entkommen ließe. Nach allem, was ich gehört oder gelesen hatte, besaßen sie keine nützlichen Eigenschaften. In dieser Hinsicht waren sie wie Moskitos – Plagegeister, die ernsthaften Schaden anrichten konnten. Daher fühle ich mich im Interesses des Allgemeinwohls verpflichtet, sie unschädlich zu machen, wenn immer sie meinen Weg kreuzen. Pompeji war, wenn die Geschichten stimmten, kein natürlicher Ausbruch, sondern das Werk von drei Kobolden, die sich mit einem Hexenmeister in der Stadt angelegt hatten. Zu unserem großen Glück gerieten sie nur selten mit Menschen aneinander.
Bleib hier, sagte ich zu Oberon. Ich werde dafür sorgen, dass die Bösen nicht entkommen.
›Okay, aber wenn jemand einen Muffin fallen lässt und ich ihn vertilge, kannst du mir nicht die Schuld geben.‹
Okay, aber du darfst ihnen nicht dabei helfen, ihn fallen zu lassen. Ich breitete meine Flügel aus und segelte lautlos auf den Ausgang des San Felipe’s zu, gerade als der Feenmann und sein böser Freund hindurchstürmten. Sie stießen mit einer Mutter und ihren zwei Kindern zusammen, die auf dem Weg zur Bühne waren, rissen sie zu Boden und sorgten dafür, dass die armen Kinder den Weihnachtsmann für immer mit heftigen Stürzen in Verbindung bringen würden. Der Feenmann kam schnell wieder auf die Beine und galoppierte weiter, während um ihn das Gejammer und Gekreische begann. In dem Moment bog der Rathskeller-Clan um die Ecke und entdeckte ihn, aber ein kurzer Blick verriet mir, dass sie ihn ohne Hilfe niemals einholen würden.
Während der Feenmann nach Süden preschte und der Kobold mit seinen kohlschwarzen Augen aus seinem Sack hervorlugte und ihre Verfolger fixierte, fragte ich mich, wie wohl ihr Fluchtplan aussah. Warum hatten sie ausgerechnet Tempe für diesen bizarren Deal gewählt? Feen können nicht ohne Eichen, Eschen und Stechpalmen nach Tir na nOg reisen, und diese Bäume waren in der Gegend um Phoenix rar. Aber Kobolde – vor allem die schwarzen, lichtscheuen wie Kohleherz – kannten sich im Untergrund aus. Eine Besonderheit des Tempe Marketplace ist seine unmittelbare Nähe zu einem Kies- und Sandsteinbruch im Flussbett des Salt River. Ich kam zu dem Schluss, dass der Kobold sie auf diesem Weg hierher gebracht hatte und sie auch wieder hinausbringen würde.
Tatsächlich bewegten sie sich in diese Richtung, direkt nach Osten entlang der nördlichen Durchgangsstraße, und waren jetzt kurz vor dem Parkplatz. Wenn ich wartete, bis sie die nackte Erde des Steinbruchs erreichten, hätte ich Zugang zu all der Kraft, die ich brauchte – aber dann hätten sie als erdgebundene Magieanwender auch Zugang dazu. Und sobald der Kobold eine Stelle erreicht hätte, wo er sich eingraben könnte, wäre er nicht mehr aufzuhalten. Wenn meine Fähigkeit, Erde zu bewegen, mit der eines Kindes mit einer Plastikschaufel vergleichbar war, dann waren Zwerge und Kobolde wie Caterpillar-Hydraulikbagger. Auf Asphalt hätten wir alle nur begrenzte Kräfte – aber ich ganz besonders, denn die Rückverwandlung in einen Menschen würde mich noch mehr schwächen. Also müssten meine Verteidigungskräfte durchhalten, bis die Zwerge in ihren albernen Plateauschuhen aufholen könnten.
Auf dem Parkplatz war im Moment nicht viel los – ein kleiner Vorteil. Wenn ich die Sache durchziehen konnte, ohne jemandem den Montag zu verderben, wäre das ein Sieg. Ich segelte hinunter, direkt in den Weg des Feenmannes, und gab meine Tarnung auf. Das plötzliche Auftauchen einer Eule auf dem Parkplatz überraschte ihn und bremste ihn ein wenig, aber nicht ganz; er wich einfach nach links aus. Allerdings blieb er erschrocken stehen, als ich mich gleich darauf vor ihm in meine menschliche Gestalt verwandelte. Ich zeigte ihm absichtlich meine rechte Seite mit den druidischen Tätowierungen, die mich von der Ferse bis zum Handrücken bedeckten. Wenn er mich im magischen Spektrum betrachtete, würde er sie von hinten beleuchtet sehen, durch die Energie der Verwandlung, die h zwischen den Knoten floss und erneuerte. Er würde auch noch etwas anderes sehen. Und darauf hatte ich gesetzt.
Er fluchte überrascht, und der Kobold auf seinem Rücken tat es ihm gleich. Ein verärgertes Bellen auf Althochdeutsch verlangte zu wissen, warum er stehen geblieben war.
Die Augen des Feenwesens weiteten sich, als ihm klar wurde, dass ich nicht zu den TUATHA DÉ DANANN gehörte. Für ihn war ich eine gruselige Legende, die er nur von Geschichten am Lagerfeuer kannte, und die nun zum Leben erwacht war.
»Er ist aus Eisen!«, schrie er.
Ich lächelte über seinen Irrtum – obwohl er aus seiner Sicht vielleicht Recht hatte. Ich hatte mein Amulett aus kaltem Eisen an meine Aura gebunden, so dass ich für ihn wie der nackte Tod wirken musste. Ich benutzte einen Teil meiner schwindenden Energie, um meine Reflexe zu beschleunigen und das Feenwesen noch mehr zu erschrecken; er würde den weißen Blitz des Energieflusses durch mich im magischen Spektrum sehen und sich fragen, was ich gerade getan hatte.
»Los weiter! Wir müssen zum Steinbruch«, rief der Kobold.
Das Feenwesen gehorchte und täuschte an, versuchte mich erst links, dann rechts zu umgehen, aber ich passte mich seinen Bewegungen an und er wusste, dass er nicht an mir vorbeikam, ohne mich zu berühren. Wir spielten »Hasch mich, ich bin der Tod«, denn meine Aura würde seine Substanz sofort auflösen. Ich machte mit ausgestreckter Hand einen Schritt auf ihn zu, und er trat hektisch einen Schritt zurück. Er drehte sich sogar um und rannte blindlings davon, zurück in Richtung der Zwerge.
Aber er hatte vergessen, dass er sich auf dem Parkplatz eines der beliebtesten Einkaufszentren im Großraum Phoenix befand, und während der Kobold ihn verfluchte, rannte er direkt in einen dieser riesigen, maskulinen Trucks mit massivem Edelstahl-Kühlergrill und verchromter Stoßstange. Sowohl er als auch der Truck waren vielleicht mit fünf Meilen pro Stunde unterwegs, was normalerweise nicht lebensgefährlich ist, aber der ganze Stahl traf das Feenwesen mit voller Wucht, und es stürzte rückwärts auf seinen dunklen Huckpack-Passagier. Der Feenmann verlor das Bewusstsein, bevor er auf dem Boden aufschlug.
In diesem Moment beschloss Kohleherz, dass es mit Heimlichkeit und Täuschung nichts mehr zu gewinnen gab. Mit der übermenschlichen Kraft des Erdgeborenen stieß er das Feenwesen von sich und riss dann den Stoff des Sackes auf. Sofort packte er das Feenwesen mit beiden Händen und schleuderte es über die Motorhaube des Trucks, wo es mit einem schrecklichen Geräusch auf der Windschutzscheibe landete. Der Fahrer des Trucks, ohnehin schon traumatisiert von der Vorstellung, wie sehr seine Versicherungsprämie nach diesem Unfall steigen würde, war nun kurz vor einem Schlaganfall. Fluchend kam er aus dem Führerhaus und suchte nach jemandem, dem er die Schuld geben konnte. Er trug Jeans und ein T-Shirt mit abgerissenen Ärmeln; er war einer von denen, die glauben, dass ihre Arme eine echte »Waffe« sind. Er sah mich nackt dastehen, übersah aber den Kobold, der viel näher am Boden war und ohnehin eine Hautfarbe wie Asphalt hatte. Er kam sofort zu dem Schluss, dass der dünne Emo-Junge, der in seinen Truck gerannt war – und dann irgendwie vom Parkplatz wieder auf den Truck gesprungen war – versucht hatte, meinen unerwünschten sexuellen Annäherungsversuchen zu entkommen.
»Was soll das, du Perverser? Du hast den armen Jungen fast umgebracht! Man sollte dich einsperren und deine Eier mit Strom grillen!«
Ich antwortete nicht, denn wer nackt ist, gewinnt keinen Streit. Man wird angeschrien, verhaftet und mit Elektroschockern traktiert, aber niemand hört einem zu. Außerdem hatte ich Wichtigeres zu tun. Ich durfte Kohleherz nicht entkommen lassen. Er hatte sich die stählerne Thermosflasche geschnappt und sah sich nun nach dem Rathskeller-Clan um. Die Zwerge schnauften und keuchten heran, aber es war klar, dass sie lieber Cross-Trainer an den Füßen gehabt hätten als diese klobigen Elfen-Treter.
Der Feenmann war hinüber, sein Körper hatte dem doppelten Schock von Stahl und stumpfer Gewalt nicht standhalten können und zerfiel auf der Motorhaube des Trucks zu Staub, wobei der Fahrer »Was zum Teufel« und »Das gibt’s doch nicht« und andere Ohnmachtsäußerungen von sich gab.
Kohleherz wandte sich zum ersten Mal mir zu. »Aus dem Weg«, knurrte er, wartete aber nicht, bis ich seiner Aufforderung nachkam. Wahrscheinlich ging er davon aus, dass ich kein Althochdeutsch sprach. Die Worte waren im Grunde nur ein Fokus für den auf mich gerichteten Bann. Er hielt die Thermoskanne unter seinem linken Arm, während sein rechter Arm in einer dieser aggressiven Gesten, die Größenwahnsinnige bevorzugen, dramatisch nach oben schnellte, als wollte er die Welt an den metaphorischen Eiern packen. Ich bin mir ziemlich sicher, dass der Bann mich mit einem Ruck in die Luft schleudern sollte, um mich aus dem Weg zu schaffen, aber das tat er nicht. Auf mich gerichtete Bannsprüche müssen erst meine Aura durchdringen, und da diese mit kaltem Eisen verbunden ist, verpuffen sie bei meist wirkungslos und lassen mich unbeeindruckt. Mein Amulett zuckte an meinem Hals, aber sonst bewegte sich nichts.
Verwirrt beschloss der Kobold, es noch einmal zu versuchen. »Weg da!«, fauchte er und fuchtelte vor seiner Brust herum. Wieder zuckte mein Amulett, aber meine Füße blieben fest auf dem Boden und versperrten ihm den Fluchtweg. Der Rathskeller-Clan näherte sich schnell – oder zumindest so schnell, wie es ihre unförmigen Schuhe zuließen –, und das gefiel ihm gar nicht. Er zischte vor Wut und schenkte mir zum ersten Mal ernsthafte Aufmerksamkeit.
Ich grinste ihn spöttisch an und bediente mich seiner Sprache. »Ich bin wahrscheinlich älter als du, Kohleherz. Du kannst mich nicht so einfach beiseite schieben.«
Der Kobold erbleichte, ließ sich aber nicht, wie gehofft, auf ein Gespräch ein. Stattdessen schien ihn mein Spott an jemanden in der Nähe zu erinnern, den er leicht beiseiteschieben konnte – den fluchenden Trucker.
Kohleherz’ pechschwarze Finger richteten sich auf den Mann, und er wiederholte: »Weg da!«, aber diesmal war seine Geste sehr präzise, kein nachlässiges Wischen. Er hob den Arm über den Kopf, und der Unglückliche schoss in die Luft, ein unpassend hoher Schrei gurgelte aus ihm heraus, und dann zeigten die Finger des Kobolds direkt auf mich. Ich hätte ausweichen und den Mann kopfüber auf den Bürgersteig knallen lassen oder ihn auffangen können. Da ich nicht rechtzeitig eine Bindung herstellen konnte, um ihn auf magische Weise zu retten, und mein Energievorrat ohnehin gefährlich niedrig war, entschied ich mich, ihn aufzufangen.
Ich hoffte, er würde mir für die Rettung seines Lebens danken, aber so war er nicht gestrickt. Er hielt mich ohnehin schon für einen Perversen, und so war es für ihn wahrscheinlich die schrecklichste Wendung, die er sich vorstellen konnte, sich gewaltsam in meine Arme geworfen zu sehen und mit mir über den Parkplatz zu rollen. Seine Zähne waren braun verfärbt, sein Atem war übel und heisere, panische Laute drangen aus seiner Kehle, während er auf mich einschlug und mich ohrfeigte, um sich zu befreien. Das wurde mir schnell zu viel und ich schlug zurück, vielleicht härter als unbedingt nötig. Er sackte bewusstlos zusammen und ich sah mich hektisch nach Kohleherz um.
Er bewegte sich rückwärts auf den Steinbruch zu, war dabei jedoch in einen Kampf mit den Zwergen verwickelt, die endlich soweit herangekommen waren, dass sie ihre eigene Magie einsetzen konnten. Im sichtbaren Spektrum sah es so aus, als würden fünf von Santas Elfen schnell gehen und dabei etwas unkontrolliert mit den Armen gestikulieren. Aber im magischen Spektrum sah ich, dass sie versuchten, den Kobold zu fesseln, und dass er jeden Versuch abwehrte. Er griff nicht an – er hatte keine Zeit, eine Antwort auf den unerbittlichen Angriff der Zwerge zu finden – aber das war auch nicht nötig, solange er sich weiter auf den Steinbruch zu bewegte.
Ich selbst konnte nichts Magisches zum Kampf beitragen. Ich brauchte meine letzten Kraftreserven, um Oberon getarnt zu halten; ich durfte ihn nicht unbeaufsichtigt und ohne Leine in einem Einkaufszentrum lassen. Leider hatte ich nicht mehr genug Energie, um mich selbst zu tarnen, und das brauchte ich jetzt dringend, denn andere Kunden, angelockt durch den Lärm der Auseinandersetzungen, waren auf uns aufmerksam geworden – und sahen einen nackten Mann neben einem bekleideten liegen. Was vermutlich ihre Neugier weckte. Ich musste schleunigst verschwinden, mich wieder mit der Erde verbinden – und dann, so gut es ging, den Zwergen helfen.
Erschrockene Rufe und ein empörtes »Hey, was machst du da?« erreichten mich von verschiedenen Seiten des Parkplatzes, während ich den Truckfahrer umdrehte und nach etwas suchte, das mir im Kampf helfen könnte. Ich hoffte auf ein Taschenmesser, hatte aber kein Glück. Eine verdächtige Wölbung an der Gesäßtasche seiner Jeans deutete jedoch darauf hin, dass er seine braunen Zähne dem Kautabak verdankte. Ich fischte die runde Dose heraus, die sich angenehm schwer in meiner Hand anfühlte, während ich nackt nach Osten zum Steinbruch flitzte – im doppelten Sinne des Wortes.
Empörte Rufe verfolgten mich. Wahrscheinlich dachten sie, ich hätte die Brieftasche des Mannes gestohlen. Wenn sie mich ernsthaft verfolgen würden, riskierten sie, in den Kampf zwischen den Zwergen und dem Kobold hineingezogen zu werden. Je schneller das über die Bühne ging, desto sicherer war es für alle.
Ich huschte am nördlichen Rand des Parkplatzes entlang, so dass ich in einem Abstand von vielleicht zwei oder drei Metern an den Kämpfenden vorbeikam. Als ich auf gleicher Höhe mit den Zwergen war, schleuderte ich die Tabakdose direkt auf den Kobold. Er bemerkte mich und das Aufblitzen der Dose im Licht des Parkplatzes und versuchte verzweifelt, sie mit einem Ablenkungszauber zu treffen, vielleicht dachte er, es sei ein Wurfstern oder eine andere Waffe. Aber es war nichts weiter als ein Ablenkungsmanöver.
Es diente dazu, einem Riss in der Verteidigungsmauer des Kobolds zu erzeugen, damit ein Bindungszauber der Zwerge hindurchdringen und ihn zu Boden werfen konnte. Die stählerne Thermosflasche fiel zu Boden, klapperte ein paar Mal laut, bevor sie wegrollte. Nun, da der Durchbruch geschafft war, häuften sich die magischen Angriffe. Kohleherz stieß ein schrilles, nervenzerfetzendes Kreischen aus, da sein Tod unmittelbar bevorstand und er nichts dagegen tun konnte. Ich rannte weiter nach Osten und überließ ihn den Zwergen, damit sie sich an dem Kobold schadlos halten konnten. Kohleherz’ Schreie verstummten mit einem schmatzenden Geräusch – und das ungute Gefühl der Anwesenheit des Bösen, das ich seit seiner Ankunft unterschwellig gespürt hatte, verschwand schlagartig.
Sirenen näherten sich, als meine Füße endlich den sandigen Boden des Steinbruchs berührten. Erleichterung durchströmte mich, als ich durch meine Tätowierungen Energie aufnahm, die meine Bärenamulett auflud und mir erlaubte, mich wieder zu tarnen. Nachdem ich meinen magischen Tank zur Gänze aufgefüllt hatte, schlenderte ich zurück, um mich zu vergewissern, dass Kohleherz wirklich tot war.
Das war er. Nichts war von ihm übrig außer einer öligen, schwarzen Pfütze, umstanden von einer Gruppe zufrieden grinsender Zwerge. Ich war sicher, sie würden meine Anwesenheit hier geheim halten, und der Feenmann würde nichts davon verraten, denn seine Asche war vom Wind verweht worden. GOIBHNIU war gekommen und gegangen, ohne mich je gesehen zu haben, und daher beschloss ich, dass ich unbeschadet noch eine Weile in Tempe bleiben könnte, so wie ich es mir gewünscht hatte. Die Rathskellers sammelten die stählerne Thermosflasche ein, und das war auch besser so, denn was immer GOIBHNIU gebraut hatte, war nicht für Menschen bestimmt.
Sie sahen mich vorbeigehen, denn meine Tarnung bot ihrem magischen Blick kein Hindernis, und sie verbeugten sich kurz. Ich nickte zurück, zum Zeichen, dass ich ihnen einen Gefallen getan hatte, und sie sich eines Tages, wenn sich die Gelegenheit bot, revanchieren könnten.
Der Typ mit dem Kautabak würde bald von einem Krankenwagen abgeholt werden, wie man den Sirenen und den Menschen, die sich mit ihren Handys um ihn versammelt hatten, schließen konnte. Also kehrte ich dorthin zurück, wo ich meinen Hund gelassen hatte, und zog mich an, um wieder frei und ungetarnt in der Öffentlichkeit herumlaufen zu können.
›Wird aber auch Zeit‹, bemerkte Oberon bei meiner Rückkehr. ›Ich sterbe nämlich bald den Hungertod.‹
Hungertod? Das ist ein ziemlich gewichtiges Wort für einen Hund.
›Ich habe es mir für eine besondere Gelegenheit aufgehoben, und die ist jetzt gekommen. Wir haben den einfachen Hunger hinter uns gelassen und sind bei den hochtrabenden Synonymen angelangt. Niemand hat in deiner Abwesenheit einen Muffin, ein Sandwich oder sonst etwas fallen lassen.‹
Das ist tragisch.
›Allerding! Hey, Atticus, sagst du dem Weihnachtsmann, dass ich mir Würstchen zur Wintersonnenwende wünsche?‹
Der Weihnachtsmann bringt Geschenke zu Weihnachten, Oberon, nicht zu den Festen der Druiden.
›Na ja, nur für den Fall …‹
Okay, nur für den Fall. Ich bin mir sicher, dass du auf seiner Liste der sehr braven Hunde stehst.
Wäre ich zum vorgesehenen Zeitpunkt gestorben, hätte ich den ganzen Spaß verpasst. Ich hätte nie mit einem iPad, iPhone oder einem anderen iDingsbums herumgespielt, und der ganze elektronische Kram wie E-Mails und eHarmony wäre für mich so unvorstellbar gewesen wie heute ein dauerhafter Frieden im Nahen Osten. Mir wären unbeschreibliche Meisterwerke wie Chaucers »Canterbury Tales«, Beethovens »Ode an die Freude« und »Monty Python und der Heilige Gral« entgangen. Und Toilettenpapier! Ich sage euch, die Leute reden immer davon, was für eine großartige Idee die Elektrizität war, aber ich stelle das Toilettenpapier direkt neben die Erfindung des Rades und sage, dass das die besten Ideen sind, die jemals jemand hatte. Lacht ruhig darüber, aber versucht ihr mal, zwei Jahrtausende ohne Toilettenpapier zu leben, und dann reden wir weiter. Die Anfänge der modernen Zivilisation waren größtenteils kalt, elend und stinkend, und das Beste, was man darüber sagen kann, ist, dass sie der Vergangenheit angehören.
Nachdem ich mein erstes Jahrhundert hinter mir hatte, wurde mir schnell klar, dass es die kleinen Dinge sind, die ein so langes Leben lebenswert machen. Es sind die kleinen Dinge, die mich in der Gegenwart verankern und mir Freude bereiten, wie zum Beispiel die Jagd mit meinem Hund Oberon. Wir jagen auf eine Art und Weise, bei der es einem wirklich egal ist, ob man überhaupt die Beute erlegt, weil man eigentlich nur Zeit mit seinem Freund in der Natur verbringen möchte.
Wir fuhren zusammen in einem eigens gemieteten Geländewagen zum Kaibab Plateau, einem einzigartigen Ökosystem nördlich des Grand Canyon.
›Es ist gut, die Stadt zu verlassen, Atticus‹, sagte Oberon, und seine Worte drangen durch die von uns geteilte besondere Verbindung in mein Bewusstsein. Es ist nicht die Art Verbindung, die ich mit jedem beliebigen Wesen eingehen würde – zum einen ist es viel Arbeit, und nicht alle Wesen sind so klug wie Oberon oder überhaupt bereit, über etwas anderes als Essen und Sex zu reden. Aber von Zeit zu Zeit lohnt es sich, einen Gang zurückzuschalten und die Verknüpfungen wahrzunehmen, die alle Lebewesen mit der Erde haben. Beispielsweise die eines Pferdes oder eines Bären, und sie für eine Weile mit meinen eigenen zu vereinen und die Welt aus ihrer Perspektive zu erleben. Mit Oberon hatte ich die Verbindung sehr viel stärker gemacht, so dass er mit der Zeit meine Sprache beherrschte und ich mich nicht mehr nur in Bildern und Gefühlen mit ihm unterhalten musste. In diesem Augenblick streckte er den Kopf aus dem Fenster, und seine Zunge flatterte gegen seine Wange. ›Die Luft im Norden ist so viel sauberer.‹
Dem kann ich nur zustimmen, antwortete ich.
›Warum machen wir das nicht öfter?‹, fragte er.
Ich suchte nach einer einfachen Antwort, die ihn nicht beunruhigen würde. Die Wahrheit ist, dass ich bereits ein Auslaufmodel war, bevor Jesus auf die Erde kam, und ein irischer Gott, AENGHUS ÓG, wollte mich immer noch tot sehen, weil ich ihn vor zwei Jahrtausenden besiegt hatte. Er hat alle möglichen Feen auf der Erde nach mir suchen lassen, und ich darf mich nicht zu lange in Wäldern aufhalten, weil ich dort immer Spuren hinterlasse – vor allem unglaublich glückliche Bäume, denn ich bin der letzte Druide der Welt, und sie führen sich auf wie Joss Whedon-Fans, wenn ich auftauche. Deshalb halte ich mich in Städten verborgen. Die Feen kommen nicht gerne an Orte, wo es viel Eisen gibt, und Arizona ist besonders geeignet. Der Großraum Phoenix ist ein riesiges, weitläufiges Stadtgebiet, die Feen abstoßend finden. Natürlich können sie sich auch in einer Stadt frei bewegen, sie sind nur faul und Phoenix ist für sie nicht so leicht betreten oder verlassen. Um die Gefilde zu wechseln benötigen sie Eichen, Eschen und Stechpalmen, und es gibt nur wenige Orte im Staat, weit weg von der Stadt, wo diese dicht beieinander wachsen. Also hielt ich es in der Stadt für sicherer. Oberon jedoch wusste noch nichts von meinen alten Problemen, und ich hatte keinen Grund, ihn jetzt damit zu belasten. Stattdessen entschied ich mich für eine bequeme Ausrede.
Na ja, ich muss den Laden am Laufen halten. Es gibt Leute, die sich darauf verlassen, dass ich ihnen ihren Tee zubereite. Ich betreibe einen New-Age-Buchladen in Tempe, in der Nähe der Arizona State University. In einer Ecke des Ladens verkaufe ich Kräuter und braue selbst einige medizinische Tees, die meine Kunden sehr schätzen. Eine Gruppe von Stammkunden kommt jeden Tag, um einen Schluck Mobili-Tee zu trinken, eine Mischung, die ihre Arthritis lindert und ihnen das Gefühl gibt, elastisch und zehn Jahre jünger zu sein. Daran ist nichts Geheimnisvolles, und an den meisten meiner Tees ist auch nichts Magisches; ich habe nur einundzwanzig Jahre Erfahrung als Kräuterkundler, also weiß ich ein wenig Bescheid über die Wechselwirkungen von Arzneimitteln.
›Du hast mir einmal erzählt, dass die meisten deiner Tees nichts mit Magie zu tun haben‹, sagte Oberon. ›Dann könntest du sie im Voraus zubereiten und deine Angestellten sie verkaufen lassen, während wir irgendwo auf der Jagd sind.‹
Du bist ja ein ganz schlauer Hund.
›Verdammt richtig.‹
Aber im Moment habe ich nur einen Mitarbeiter. Er tut mir bereits einen großen Gefallen, indem er die zwei Tage arbeitet, an denen wir weg sind.
›Dann stell mehr Leute ein, Atticus! Alle wollen arbeiten, weil alle nette Hunde haben, für die sie Steaks kaufen sollen – es sei denn, sie sind Katzenliebhaber, dann müssen sie Katzenstreu kaufen. Hey, sind das Ponderosa-Kiefern da drüben?‹
Ja, genau.
Wir fuhren auf der I-17 durch den Munds Park Richtung Norden. Der Coconino National Park veränderte sein Gesicht, Eichen und Alligator-Wacholder wichen zurück, größere Bäume begannen sich durchzusetzen.
›Es sieht so aus, als würde es Spaß machen, durch sie hindurchzulaufen. Ich wette, hinter dem nächsten Hügel steht ein Reh.‹
Irische Wolfshunde wie Oberon wurden ursprünglich gezüchtet, um Wölfe und Hirsche zu jagen. Sie waren so gut darin, dass es beides in Irland ausgestorben war.
Ja, aber das ist alles Privatbesitz, sagte ich. Wir müssen warten, bis wir im Staatswald sind. Dort gibt es auch Ponderosas. Und ein paar Espen.
›Fahren wir ohne Pause?‹
Nein, wir halten in Flagstaff.
›Oh nein. Du fährst uns doch zu diesem vegetarischen Restaurant, oder?‹
Es ist ein Café. Und man kann nicht einfach alles, was kein Steakhaus ist, als vegetarisch bezeichnen.
›Doch, das kann ich. Wir sind in Amerika. Du hast gesagt, dass Amerikaner ihre eigenen Meinungen als Tatsachen darstellen und unbequeme Tatsachen als bloße Meinungen abtun.‹
Manchmal ist Oberon taub für das, was ich sage, und manchmal hört er mir ein bisschen zu gut zu.
Wir sind zwar in Amerika, aber du bist kein Amerikaner. Du bist der Spürhund des letzten Druiden der Welt. Daher lasse ich nicht zu, dass du mit schlampiger Logik davonkommst.
›Es ist nicht fair von dir, mich an einem höheren Standard zu messen als jeden anderen Menschen in diesem Land.‹
Doch, das ist es. Ich füttere dich mit Würstchen und Steak statt mit Trockenfutter, also habe ich auch Anspruch auf eine gehobene Konversation.
Wir stritten fröhlich über meine hohen Erwartungen, bis wir Flagstaff erreichten. Ich steuerte meinen Mietwagen direkt zur Beaver Street südlich der Bahngleise, wo sich Macy’s European Coffee House befindet. Es ist ein kleines Lokal, das seinen Kaffee selbst röstet und alle Backwaren selbst herstellt. Draußen stehen waldgrün gestrichene Picknicktische aus Metall und ein großer Strommast, an dem Konzertplakate und Flyer für Seminare mit asiatischen Gurus hängen. Am Mast oder an den Tischen sind meist freundliche Hunde angebunden, die von allen, die kommen und gehen, gestreichelt werden. Ich band Oberon an den Mast, um die Leute nicht zu beuruhigen, und bat ihn, so sanft wie möglich auszusehen. Das ist für ihn als großen Hund nicht einfach, aber mit wedelndem Schwanz und heraushängender Zunge klappt es meistens ganz gut.
›Beeil dich bitte‹, sagte er. ›Ich komme mir immer so blöd vor, wenn du nicht da bist. Die Leute machen komische Geräusche oder reden mit mir wie mit einem Vollidioten, und ich kann ihnen nicht zurufen, dass sie sich verpissen sollen.‹
Ich versprach, mich zu beeilen, und trat durch die Tür in den herrlichsten Duft: Arabica-Bohnen und frisch gebackenes Brot. Macy’s hat schon immer so gut gerochen.
Die Stammkundschaft des Macy’s ist politisch links orientiert und kleidet sich dementsprechend: Man trägt Baumwolle, Hanf und Wolle, Schiebermützen über dicken Dreadlocks und wilde Bärte. An den Wänden hängen gerahmte Aquarelle von Künstlern aus der Region, auf einer Tafel ist die Sandwichkarte gekritzelt. Die Kleiderordnung für die Mitarbeiter scheint zu lauten: Kommt nicht nackt, aber die Mitarbeiter scheinen auch ermutigt zu werden, ihren Bohemian Lifestyle mit vielen exotischen Gesichtspiercings zum Ausdruck zu bringen.
Macy’s ist einer meiner Lieblingsorte, um Leute zu studieren. Die Hälfte der Kunden sind selbstbewusste Mitglieder der Bildungselite der Northern Arizona University, ein großer Teil der übrigen Kundschaft versucht, irgendwie Eindruck zu schinden, und ab und zu schneit aus Versehen ein zufälliger Passant von der Straße herein. Für diese Leute ist es wirklich schockierend, einen Laden zu betreten, der so konzernunabhängig ist. Ihre Verwirrung ist offensichtlich – ebenso wie ihr wachsendes Entsetzen und Schuldgefühl, die einzigen Menschen dort zu sein, die synthetische Fasern tragen – und das bringt mich zum Schmunzeln.
Ich schaue gerne die Aura der Menschen an und sehe das Blau und Grün, das vor Gesundheit und Hoffnung auf mehr Gesundheit strahlt. Die Menschen dort sind miteinander verbunden, auch wenn sie es nicht wissen oder nicht spüren, aber es ist wahr: Bei Macy’s sticht das schmutzige Rostrot der Unzufriedenheit ebenso ungewöhnlich hervor wie das stumpfe Grau der Depression oder das wütende Rot von Gier und Materialismus.
Die junge Frau, die ganz vorne in der Schlange stand, als ich hereinkam, strahlte Angst und unerfülltes Anspruchsdenken aus. Eine schlanke Brünette mit Pferdeschwanz, die einen Trainingsanzug aus braunem Velours mit türkisfarbenem Besatz trug, der ihrer Figur schmeichelte. Ihre Aura brodelte in Rot- und Orangetönen und vermittelte den Wunsch nach einem großen Power-Trip. Vielleicht hatte sie einfach nur einen schlechten Tag, aber irgendwie verdarb sie mir meine Hippie-Stimmung, und ich konnte es kaum erwarten, dass sie ging, damit ich in der coolen Atmosphäre eines Raumes voller Nonkonformisten surfen konnte.
Als sie ihre Bestellung in Empfang nahm – drei Kaffee zum Mitnehmen – und an mir vorbei nach draußen ging, bemerkte ich ein verräterisches Schlängeln in ihren Haaren, und eine Art weißes Rauschen, das darauf hindeutete, dass diese Frau erfolgreich Magie praktizierte. Fast hätte ich einen auf Shaggy gemacht: Zoinks! Schnell weg, Scoob, das ist eine Hexe! Nach ihrer sonstigen Aura zu urteilen, hatte sie sich wohl kaum Glinda die Gute als Vorbild ausgesucht. Eher schon die drei Hexen aus Shakespeares Macbeth, und die drei Kaffees bekamen eine neue Bedeutung: Sie könnte die Magd in einem dieser Hexenzirkel sein, die aus Jungfrau, Mutter und weiser Alter bestehen.
Hexen und ich haben im Allgemeinen keinen besonders guten Draht. Druiden versuchen das Geflecht der Natur zu stärken, indem sie die Bindungen zwischen allen Lebewesen festigen und die Fäden an den Rändern, die ausfransen und sich auflösen, wieder zusammennähen. Hexen hingegen stechen oft Löcher in das Geflecht, um persönliche Macht zu erlangen, und paktieren mit dunklen, übernatürlichen Mächten, die nichts anderes wollen, als die Natur zu missbrauchen und zu zerstören.
Da ich der letzte echte Druide bin, kommen die Hexen heute mit viel mehr davon als früher, und ich gebe zu, dass ich dazu neige, sie alle bis zum Beweis ihrer Unschuld als verdammenswert zu betrachten, obwohl das natürlich nicht sehr fair von mir ist.
Diese Hexe konnte Auren nicht besonders gut lesen, wenn sie es überhaupt konnte, sonst hätte sie in irgendeiner Weise reagiert, als sie an mir vorbeikam. Auraleser schauen mich immer zweimal an, weil meine definitiv nicht zu dem Äußeren eines einundzwanzigjährigen rothaarigen Burschen passt.
Hey, Oberon, da kommt gleich eine junge Frau mit drei Kaffees raus, die ziemlich seltsam ist, sagte ich in Gedanken. Schau mal, was du an ihr riechen kannst.
›Darf ich an ihrem Hintern schnüffeln?‹
Auf keinen Fall. Das solltest du unbedingt unterlassen.
›Aber der Hintern verrät dir alles, was du über einen Menschen wissen musst. Das ist wie dieser Rosetta-Stein, von dem du mir erzählt hast. Oh, das muss sie sein.‹ Es folgte eine Pause, dann fuhr er fort: ›Ich konnte nicht viel wittern, weil ich angebunden bin und der Kaffeegeruch alles übertönt, aber sie riecht nach Weichspüler, Lavendelseife und einer Menge Sachen aus deinem Laden.‹
Wie bitte? Was für Zeug aus meinem Laden?
›Du weißt schon, das Pflanzenzeug.‹
Was für Pflanzen?
›Keine Ahnung, du hast mir ihre Namen nicht beigebracht. Ich bin hier nicht der Druide, ich bin nur der Hund des Druiden.‹
