Es fühlt sich endlich richtig an! - Helga Boschitz - E-Book

Es fühlt sich endlich richtig an! E-Book

Helga Boschitz

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Beschreibung

Wenn Frauen und Männer sich nach oft langjährigen heterosexuellen Beziehungen in einen Menschen des eigenen Geschlechts verlieben, gerät ihre Welt ins Wanken. Nach einer Zeit der Verdrängung oder von einem Tag auf den anderen wagen sie den Schritt in eine neue Form der Beziehung, eine unbekannte Szene, eine andere Lebensart. Helga Boschitz hat mit Frauen und Männern zwischen 38 und 86 über deren innere und äußere Konflikte und über das Glück der späten Selbstfindung gesprochen. Expartner, Kinder, Freunde und Kollegen berichten, wie sie mit der veränderten Realität umgehen, neue homosexuelle Partnerinnen und Partner beschreiben den behutsamen Einstieg in ein unbekanntes Umfeld. Die Gespräche machen Mut, den eigenen Weg zum "richtigen" Lebensgefühl zu suchen. Ergänzt um Erfahrungsberichte von Beratern und Therapeuten sowie Literaturhinweise und Adressen im Anhang, bietet dieses Buch Betroffenen Unterstützung und Orientierung beim späten Coming-out.

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Seitenzahl: 302

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Helga Boschitz

Es fühlt sich endlich richtig an!

Helga Boschitz

Es fühlt sichendlich richtig an!

Erfahrungen mit demspäten Coming-out

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über www.dnb.de abrufbar.

1., überarbeitete Auflage als E-Book, Dezember 2016entspricht der 1. Druckauflage vom September 2010© Christoph Links Verlag GmbHSchönhauser Allee 36, 10435 Berlin, Tel.: (030) 44 02 32-0www.christoph-links-verlag.de; [email protected]: KahaneDesign, Berlin, unter Verwendung eines Fotos von Fotolia / Ingeborg Gärtner-GreinLektorat: Claudia Jürgens, Berlin

eISBN 978-3-86284-372-5

Inhalt

Vorwort

Die lang verdrängte Wahrheit oder: »Ich hatte ja keine Ahnung, dass ich ›andersrum‹ bin!«

Das »Schwulen-Gen«?

Ein Kontinuum der sexuellen Neigungen

Igor, 63: »Er kam rein, schaute mich nur an … und ich war hypnotisiert wie der Frosch vor der Schlange!«

Friederike, 56: »Ich hatte immer das Gefühl, ich lebe ein Leben neben mir!«

Aufgewachsen in den 1950er und 1960er Jahren

Herbststürme oder: Lieber spät als nie!

Oberhalb der Altersgrenze?

Franz, 86: »Homosexuell? Das durfte ganz einfach nicht sein!«

Helene, 74: »Ich wollte auch endlich die Brüste einer Frau anfassen dürfen!«

Scham, Angst und Hemmschwellen

Sex im Alter

Anlaufstellen und Selbsthilfegruppen

Die richtige Entscheidung

Die Kosten der Offenheit oder: Konsequentes Coming-out oder konsequentes Doppelleben?

Den Preis zahlen

Bernd, 58: »Ich würde alles verlieren, was ich mir aufgebaut habe – und was bliebe dann noch von mir?«

Offenheit als Königsweg?

Doppelleben als Leidensquelle oder Abenteuer

Mit der eigenen Entscheidung leben können

Paul, 48: »Ich will ihnen das eigentlich nicht zumuten.«

Sündenfall und Selbsthass

Beratung für schwule und lesbische Christen

»Eigentlich habe ich es schon immer geahnt.« oder: Wie die bisherigen Partner mit dem Coming-out umgehen

Meister der Verdrängung?

Manfred, 51: »Ich habe vieles ganz einfach verdrängt.«

Reden und nicht aussitzen

Verantwortung übernehmen

Heide, 57, und Klaus, 64: »Wir verarbeiten gemeinsam die größte Krise unserer Beziehung.«

Die Energie in den eigenen Neuanfang stecken

Wie sag ich’s meinen Kindern? oder: Wenn Kinder das Coming-out peinlich finden – oder irgendwann ganz normal

Unterschiedliche Probleme in unterschiedlichen Altersstufen

Alexandra, 17, und Stefanie, 15: »Mama ist einfach peinlich!

Susanne, die Mutter, 48: »Vielleicht brauchen die beiden einfach noch Zeit?«

Die Angst, zum Außenseiter zu werden

Den Blickwinkel der Kinder akzeptieren

Das unkomplizierte Hineinwachsen

Timo, 19: »Ich hab’ eine super Familie mit drei Vätern und einer Mutter – oder auch drei ›Müttern‹ und einem Vater!«

Die Wahrheit zumuten

Tipps von Experten für betroffene Eltern

Von Loyalitätskonflikten, Unsicherheiten und Tuscheleien oder: Was sagen Freunde und Kollegen dazu?

Festgefügte Freundes- und Kollegenkreise

Hans, 47, Bernhard, 47, und Thomas, 44: »Durch Knut sehen wir einiges in einem neuen Licht.«

Freunde ziehen lassen

Die Ängste heterosexueller Männer und Frauen

Jana, 41: »Ich hatte das Gefühl, dass sie unsere gemeinsame Ebene verlassen hatte.«

Gründe für den Bruch einer Freundschaft

Frank, 45: »Es hat mich sehr berührt, dass er so viel Vertrauen und Mut bewies.«

Verschiedene Branchen – verschiedene Umgangsweisen mit homosexuellen Kollegen

Christa, 50: »Danach ging das große Tuscheln los.«

Das Arbeitsumfeld berücksichtigen

Netzwerke für ein verbessertes Arbeitsumfeld

Der Neue, die Neue oder: Vom Umgang mit einem »Frischling«

Die Vergangenheit im Gepäck

Ellen, 40, über Klara, 41: »Manchmal hat sie mich total genervt mit ihrem alten Hetero-Kram!«

Eine Schuldfrage?

Sich nicht entschuldigen für seine Vergangenheit

Claus, 52, und Christopher, 56: »Wir müssten das doch eigentlich mit vereinten Kräften gebacken kriegen!«

Nachwort

Anhang

Anmerkungen

Literatur

Weiterführende Adressen, Informationen und Weblinks

Dank

Über die Autorin

Vorwort

»Alles fließt«, erkannte schon der altgriechische Philosoph Heraklit. »Das Leben ist ein langer ruhiger Fluss«, verhieß mehr als zwei Jahrtausende später ein französischer Filmtitel. Dass beides grundsätzlich richtig ist, das kann sicher jeder aus eigener Erfahrung bestätigen. Manchmal allerdings wird aus dem scheinbar so ruhigen Fluss ein reißender Strom: Etwa wenn ein spätes Coming-out mitten im wohlgeordneten Leben von Frauen und Männern alles scheinbar Feststehende mitzureißen droht. Nichts ist mehr, wie es vorher war, wenn ein Familienvater feststellt, dass er Männer liebt; wenn eine Frau nach jahrzehntelangen heterosexuellen Beziehungen erkennt: Nur mit einer Frau kann ich wirklich glücklich sein!

In diesem Buch erzählen Männer und Frauen im Alter zwischen 38 und 86 Jahren die vielleicht aufregendste Geschichte ihres Lebens. Sie berichten, wie ihnen – in unterschiedlichen Phasen ihres Lebens und vor ganz verschiedenen Hintergründen – klar wurde, dass eine andere Form von Partnerschaft und Sexualität als die, die sie bisher kannten, sie wirklich erfüllt. Viele haben ein Gefühl wie »zu Hause angekommen sein« beschrieben. Die Expartnerinnen und Expartner, Kinder, Freunde und KollegInnen schildern, wie sie den Prozess aus ihrer Sicht erlebt und zum Teil begleitet haben. Sie geben Einblick in ein oft überfordertes Umfeld, das nach wie vor unentspannt mit Schwulen und Lesben umgeht. Wir begegnen aber auch vorurteilsfreien Menschen, die das Coming-out eines nahestehenden Menschen als eigene Bereicherung erfahren. Auch die neuen homosexuellen Partnerinnen und Partner kommen zu Wort und berichten – teils mit viel Humor, teils grimmig –, wie sie ihren »Frischling« in die neue Welt begleiteten. Dazu liefern erfahrene Fachleute wie Therapeuten, Berater und Geistliche Erläuterungen und Tipps.

Was die Gefühle betrifft, die Betroffene durchleben und durchleiden, so unterscheidet sich der Prozess eines späten Coming-outs nicht von einem Coming-out im Teenageralter. Bei den allermeisten ist das Erschrecken zunächst groß, es folgen – je nach persönlicher Prägung und den individuellen Lebensumständen – Verdrängung, Verheimlichung, teils tiefe seelische Not, bis es endlich gelingt, die Realität anzunehmen und zu leben. Manch einer wagt es jahrelang nicht, mit der Wahrheit herauszurücken. »Kaum jemand lässt die Korken knallen, wenn er oder sie bemerkt, was los ist«, sagt lakonisch der Münchner Psychotherapeut Christoph Knoll – das gilt für Jugendliche genauso wie für Erwachsene. Wen wundert’s – schließlich leben wir in einer Gesellschaft, in der Heterosexualität die Norm, Schwul- und Lesbischsein die Ausnahme ist. »Alles dreht sich ja immer nur um die Liebe zwischen Mann und Frau, und da plötzlich zu merken, hier bin ich ein Außenseiter, das tut schon weh«, sagt der 86-jährige Franz*, der erst mit 80 zum ersten Mal eine Liebesbeziehung erlebte, die wirklich sein Herz berührte. In diesem Zusammenhang wird auch verständlich, dass die meisten der Befragten anonym bleiben wollten. Alle Namen, die im Buch mit einem Stern* versehen sind, wurden geändert.

Der große Unterschied zwischen dem späten und dem frühen Coming-out erschließt sich schnell: Die Lebensumstände sind vollkommen anders. Menschen jenseits der dreißig haben sich meist in einer heterosexuell geprägten Realität eingerichtet. Viele sind verheiratet, haben Kinder und ein gewachsenes soziales Umfeld. Ein Outing innerhalb dieser fest gemauerten Welt kommt einem Erdbeben gleich. Kein Stein bleibt mehr auf dem anderen, alles muss neu sortiert, mühsam neu aufgebaut werden. Nahestehende, geliebte Menschen fühlen sich verletzt und verlassen, Freunde sind verunsichert, ziehen sich oft ganz zurück. Die ersten Schritte in der neuen schwul-lesbischen Welt gehen viele stolpernd, und nicht alle dort warten mit offenen Armen auf die »Neuankömmlinge«. Das alles erfordert Mut und viel Kraft. Nicht selten ist ein Großteil dieser Energie bereits auf der Strecke geblieben, wenn ein Mann oder eine Frau die schwule oder lesbische Neigung in den vergangenen Jahren und Jahrzehnten verdrängt, verheimlicht, verleugnet hat.

Die Menschen, die sich in diesem Buch auf berührende Weise zeigen und ihre innersten Gefühle offenlegen, hatten den Mut und die Kraft, sich auf den Weg zu machen. Nicht alle sind bereits angekommen, manche stecken noch mittendrin in diesem komplizierten Prozess. Was sie antrieb, war das immer drängender werdende Gefühl, einfach nicht länger verharren zu können in einem Leben »neben sich selbst«, wie es Friederike beschrieben hat. Auch wenn auf den folgenden Seiten von vielen Schwierigkeiten die Rede ist, so machen die Geschichten dennoch Mut, den ureigenen Weg zu gehen. Alle Mühe, alles Leid hat sich gelohnt, wenn ein Mensch nach langen Jahren im Zusammensein mit einem anderen Menschen das Gefühl erlebt: »Es fühlt sich endlich richtig an!«

Ich wünsche mir, dass dieses Buch dazu beiträgt, den Blick ein Stück weit zu öffnen für die vielen Facetten, die ein Menschenleben haben kann. Es soll eine Hilfe darstellen für diejenigen, die gerade vor der Frage »Rauskommen oder drinbleiben?« stehen und Angst haben, ihren Familien, Freunden und Arbeitskollegen reinen Wein einzuschenken. Es will Angehörige und nahestehende Menschen ermutigen, sich dem eigenen Schmerz zu stellen, aber auch bestehende Vorurteile abzulegen und echtes Verständnis für die Entscheidungen des anderen zu entwickeln. Und nicht zuletzt soll dieses Buch zeigen, dass es keine Patentrezepte und allgemeingültigen Vorgehensweisen gibt, sondern dass jeder immer auf einem ganz individuellen Weg unterwegs ist. Die vielen Gespräche mit den wunderbaren Männern und Frauen, die ich für dieses Buch geführt habe, haben mich wieder einmal von einer ganz schlichten Wahrheit überzeugt: Der inneren Stimme zu folgen, ist nie verkehrt.

Stuttgart, im März 2010Helga Boschitz

Die lang verdrängte Wahrheit oder: »Ich hatte ja keine Ahnung, dass ich ›andersrum‹ bin!«

Das »Schwulen-Gen«?

Gibt es das: Menschen jenseits der dreißig, die eines Tages vollkommen überrascht vor der Erkenntnis stehen: »Ich bin schwul« – »Ich bin lesbisch«? Die meisten Fachleute halten einen solchen ganz plötzlichen »Ausbruch« einer homosexuellen Neigung eher für die Ausnahme. »Bei sehr vielen späten Coming-outs würde ich sagen, dass es sich ganz einfach um ein besonders langes Coming-out handelt«, meint etwa Christoph Knoll, Therapeut aus München und Gründer einer therapeutischen Gruppe für Männer mit spätem Coming-out. »Viele stellen schon als Jugendliche schwule Neigungen bei sich fest, erschrecken furchtbar und verdrängen dann jahrelang – bis es einfach nicht mehr geht.« Die heterosexuellen Beziehungen, in die sich die Betroffenen oft stürzen, stellen nach Ansicht Knolls dann eher einen »therapeutischen Schutzschild« dar als eine 100-prozentig frei gewählte Lebensform.

Was die Entstehung von Homosexualität angeht, so kursieren nach wie vor unterschiedliche Theorien – bis hin zu abenteuerlichen Thesen, die besonders christlich geprägte Kreise gerne vertreten. Schon seit Ende des 19. Jahrhunderts streiten Wissenschaftler mit immer wieder neuen Argumenten und Forschungsergebnissen darüber, ob Schwul- und Lesbischsein nun angeboren oder eher »anerzogen« ist. Mal wird ein sogenanntes »Schwulen-Gen«, mal der Einfluss von Hormonen im Mutterleib für die spätere schwule oder lesbische Entwicklung verantwortlich gemacht. Inzwischen sind die meisten Wissenschaftler überzeugt davon, dass es nicht die eine Ursache gibt, sondern dass mehrere Faktoren im Zusammenspiel einen Menschen schwul oder lesbisch werden lassen.

Viele Experten neigen zu der Ansicht, dass ein Mensch, wenn er auf die Welt kommt, bisexuell angelegt ist und erst mit Abschluss der psychosexuellen Entwicklung – also mit etwa drei Jahren – einen hetero- oder homosexuellen Weg nimmt.

Und auch ohne wissenschaftliche Unterfütterung scheint die Idee, dass wir alle erst einmal »offen« für beide Richtungen sind, durchaus einleuchtend. »Ich meine, dass wir ganz einfach geboren sind mit der Möglichkeit und dem Wunsch, in Beziehung zu sein«, sagt etwa Yvonne Ford, die nach einem langen Hetero-Leben ihr Glück in einer lesbischen Beziehung gefunden hat und heute Frauen im späten Coming-out berät. Auch die Tatsache, dass es nicht wenige Menschen gibt, die in ihrem Leben mehrfach den Wechsel vom Hetero- ins Homofach vollziehen, scheint diese These zu unterstützen.

Ein Kontinuum der sexuellen Neigungen

Fragen wir uns doch lieber, ob es überhaupt noch sinnvoll ist, immer wieder die Frage nach dem Woher und Warum zu stellen. Ist es wirklich wichtig, zu wissen, warum ein Mensch eine bestimmte sexuelle Neigung verspürt? Und wenn das so wichtig ist, warum fragt dann so selten jemand danach, warum ein Mensch heterosexuell wird? Mal abgesehen von der Tatsache, dass auch diese Frage wohl kein Wissenschaftler wirklich zufriedenstellend beantworten könnte!

»Mir ist das ganz egal, woher es kommt«, sagt die Psychologin Pia Voss, selbst »spät berufene« Lesbe und Beraterin von Frauen mit spätem Coming-out, »das Einzige, was ich mit einem Ausrufezeichen vermerken würde, ist, dass es sicherlich nicht anerzogen ist. Aber diese Diskussion, ob es nun genetische Ursachen hat oder nicht – es ist doch rausgeworfenes Geld, in diese Richtung zu forschen. Warum jemand Rechts- oder Linkshänder wird, darüber ist auch mal geforscht worden, und es gab keine eindeutigen Ergebnisse. Und wen interessiert das heute noch?«

Peter Thomas, der als Coach ebenfalls Menschen beim Coming-out unterstützt, sagt: »Ich sehe das Ganze nicht als digitales Modell, hier schwul oder lesbisch, dort hetero. Für mich ist das ein Kontinuum. Ob es nun zum Coming-out kommt oder nicht, das hängt für mich davon ab, wie stark der schwule oder lesbische Anteil wahrgenommen wird. Wenn er so stark ist, dass die Welt es wissen soll, dann will er raus und gelebt werden. Unter anderen Umständen kann es auch ein kontinuierliches bisexuelles Leben geben.« Allerdings mit einer Einschränkung: »Ich denke, dass weit mehr Menschen sagen, dass sie bi seien, als es tatsächlich sind. Bi wird gern als Schutzbehauptung genommen, solange das eigene Coming-out noch nicht wirklich vollzogen ist«, glaubt Thomas.

Wo immer es hergekommen, warum es plötzlich da gewesen sein mag – Igor wüsste es nicht zu sagen, und er würde es auch nicht wissen wollen. Igor hat viele Jahre lang als erfolgreicher Opernsänger auf großen deutschen und internationalen Bühnen gestanden, war ständig unterwegs und hatte – wie in Künstlerkreisen üblich – viele Kontakte zu schwulen Männern. Doch schwule Gefühle hatte er nie – bis ihn eines Tages der Blitz aus heiterem Himmel traf.

Igor, 63: »Er kam rein, schaute mich nur an … und ich war hypnotisiert wie der Frosch vor der Schlange!«

Igor ist ein großgewachsener, kräftiger Mann mit der gut gestützten, sonoren Stimme des klassischen Sängers. Seine wirklich erfolgreichen Zeiten als gefragter Künstler hat er hinter sich. Er ist gesundheitlich angeschlagen, seine finanzielle Situation ist alles andere als rosig und von seinem Lebenspartner hat er sich nach über 20 gemeinsamen Jahren gerade getrennt. Dennoch strahlt der Slowene etwas ungeheuer Positives aus; er vermittelt eine heitere Gelassenheit und reißt mich immer wieder mit seinem schallenden Lachen mit. Sein schwules Coming-out liegt schon über 30 Jahre zurück. Gleichzeitig dauert Igors enge Verbindung zu seiner Ex-Ehefrau bis heute an. Eine ungewöhnliche Lebens- und Liebesgeschichte hat dieser Mann zu erzählen; eine Geschichte, die ganz unterschiedliche Reaktionen hervorruft: Verblüffung und Unglauben ebenso wie Rührung, Mitgefühl und Bewunderung.

Als ich mich das erste Mal in einen Mann verliebt habe, da war ich schon zehn Jahre verheiratet und mehr als 15 Jahre mit meiner Frau zusammen. Und ich war glücklich verheiratet und hatte nie den Wunsch gehabt, einen Mann zu lieben!

Auch wenn ich viel mit schwulen Männern zusammenkam, gab es bei mir bis dahin keinerlei schwule Erfahrung oder auch nur Neigungen. Auch nicht, als ich jung war. Klar, als Teenager, da vergleicht man sich mit anderen Jungen, schaut auf die Genitalien, aber da hat sich gar nichts geregt bei mir. Ich war ja auch schon mit 14 mit meiner späteren Frau zusammen und als 21-Jährige haben wir geheiratet.

Was ich öfter bemerkt hatte, war, dass schwule Männer mich gerne angeschaut haben, und einige haben auch Annäherungsversuche gemacht, wollten mich streicheln oder so etwas … Das habe ich immer klar abgelehnt. Ja, ich habe schöne Männer durchaus auch gerne gesehen, aber ohne Erregung oder näheres Interesse. Eigentlich war ich als »Frauenheld« bekannt (lacht) – das war zumindest mein Etikett!

Und dann also dieser Mann. Es war in Holland, Ende der 1970er, Anfang der 1980er Jahre, wir probierten »Così fan tutte«. Der Bariton war nicht da, also sprang ein Ersatz-Bariton ein, ein sehr guter Sänger, bei dem aber niemand von seinen künstlerischen Qualitäten sprach, sondern nur davon, dass er »stockschwul« war – was ja am Theater eine ganz normale Sache ist. Er kam zur Tür herein, ein ganz »normal« aussehender Mann, nichts Besonderes, und er schaute mich an. Wir machten uns bekannt, und nach der Probe gingen wir zusammen zum Abendessen. Ja, und nach diesem Abendessen landete ich mit ihm im Bett. Sex hatten wir nicht, aber wir berührten und streichelten uns. Das war meine erste schwule Erfahrung, mit 32, und ich war sehr erschrocken darüber. Was hat mich hingezogen zu diesem Mann? Ich habe eigentlich keine Ahnung – er hat mich angeschaut und ich war hypnotisiert, wie der Frosch vor der Schlange (lacht). Ich habe gar keinen eigenen Willen gehabt – so etwas hatte ich wirklich noch nie erlebt. Er war eine sehr starke Persönlichkeit, er war erfolgreich, ein toller Künstler. Er sagte: Komm mit mir, und ich kam mit.

Ich hatte Angst und war zugleich unglaublich neugierig. Angst hatte ich vor allem davor, was er wohl mit mir machen, vor dem, was da jetzt wohl kommen würde. Ich hatte schon gehört von dieser Sexualität, aber ich hatte das ja nie praktiziert, und ich hatte Angst vor Verletzungen.

Scham habe ich nicht gefühlt, nein. Für Scham war ich zu offen. Ich habe mich nie geschämt, bin zwar nicht mit einer Schautafel »Ich bin schwul« herumgelaufen, aber ich habe das auch nie verdeckt. Warum Scham? Ich habe keinerlei moralische Probleme mit dem Schwulsein. Wenn ich jemals deswegen Probleme hatte, dann war es wegen der Zweifel und Sorgen, dass ich meine Familie oder sonst jemanden verletzen könnte durch mein Handeln. Gay oder nicht gay, das war nie das Problem.

Ich habe dann sofort meiner Frau von dieser Liebschaft erzählt. Wir hatten immer ein sehr vertrauensvolles Verhältnis und führten auch eine recht offene Ehe. Eine Affäre durfte da schon mal sein, bei mir wie bei ihr, damit konnten wir umgehen. Sie blieb ziemlich gelassen und meinte, das sei doch ganz normal, dass so etwas mal passiert. Sie war überzeugt, dass ich nicht verliebt war, sie sah es als eine Episode – und noch viel später sagte sie immer wieder, besser ein anderer Mann als eine andere Frau (lacht)! So war ihre Einstellung – wissen Sie, bei uns war es vielleicht ein bisschen anders als bei anderen Paaren, wir waren in dieser Hinsicht auch wie sehr gute Freunde – und das sind wir noch bis heute.

Mit dem Holländer ging es dann noch länger weiter. Wir probierten zusammen, wir waren ein paar Mal zusammen essen und wir hatten Sex, was nicht so einfach war, ich war ja völlig unerfahren in diesen Dingen. Mit der Zeit habe ich mich total verliebt in diesen Mann. Da begann eine Art Dreiecksbeziehung: Ich habe ein Haus gemietet in Holland. Meine Frau hat meinen Liebhaber dann auch kennengelernt, und sie mochte ihn sehr gern. Sie lud ihn sogar ein, regelmäßig bei uns zu wohnen.

Das war irgendwie eine sehr merkwürdige Geschichte – ich war verliebt wie noch nie im Leben, und eigentlich weiß ich bis heute nicht, wie das alles kam. Dieser Mann, meine erste schwule Liebe, hat mich später total abgeschoben. Ich habe damals noch nicht gewusst, dass viele Schwule so ein »Affärenleben« führen, man hat eine Weile eine ganz heiße Geschichte, und dann, nach kurzer Zeit, ist plötzlich wieder Schluss.

»Und dann wollte ich die Sache klären.«

Danach war es, als sei mein Schwulsein wieder beendet, als sei das wirklich nur eine Episode gewesen. Ich habe keinen Mann mehr gesucht, habe die Ehe mit meiner Frau weitergeführt. Ein Jahr später ist meine Tochter geboren worden, und für unsere Familie fing eine glückliche Zeit an. Nun ja, ein bisschen verändert hatte sich unsere Beziehung schon. Es gab keinen Streit, aber ein gewisser … Schock war bei mir spürbar. Ich hatte mich ja sehr gut gefühlt in dieser Liebe mit dem Mann, aber dass ich so weggeworfen wurde wie der letzte Dreck von ihm, hat mich wirklich tief erschüttert.

Ich glaube, damals habe ich beschlossen: »Mit diesen Leuten will ich nichts mehr zu tun haben!« Manches in der schwulen Welt hatte mir auch überhaupt nicht gefallen: Diese Gay Bars zum Beispiel fand ich überhaupt nicht gut, das war nichts anderes als Schwanzsuche, daran hatte ich kein Interesse. Diese Seite des Gay-Lebens interessiert mich bis heute nicht.

Nach der Geburt unserer Tochter sind wir weitergezogen, es ging nach Ljubljana und nach Wien, und ich habe jahrelang keinen Mann mehr gehabt. Mit nur einer Ausnahme, eine ganz kurze Geschichte während eines Engagements in Venedig. Aber das spielte im Grunde gar keine Rolle. Doch dann, das war 1987, hatte ich eine Fernsehaufnahme von »Carmen« in Belgrad, und dort habe ich einen jungen Mann kennengelernt, einen Kostümbildner, bei dem es wieder funkte. Ich war 40, er 27. Eigentlich war ich nicht verliebt, ich habe nur den Wunsch gespürt, wieder so eine Affäre zu erleben, und diesmal ging das Ganze von mir aus.

Er allerdings war »richtig schwul«, also immer schon schwul gewesen. Wir haben uns kennengelernt, und während dieser Fernsehaufnahmen waren wir zusammen. Meiner Frau habe ich damals nichts davon gesagt – ich habe es nicht richtig ernst genommen, dachte, das sei etwas Vorübergehendes, so, wie es die Schwulen eben machen. Aber ich habe alle paar Monate in Belgrad gesungen, und da haben wir uns jedes Mal getroffen.

Damals habe ich angefangen, viel nachzudenken. Ich hatte ja inzwischen viel mehr Einblick in das Gay-Leben und habe oft gesehen, dass es viele Heimlichkeiten gab. Ich finde, das ist das Schlimmste: so ein verdecktes, »zweispaltiges« Leben! Und dann wollte ich die Sache klären. Ich habe meinen jungen Freund gefragt, ob er mit mir leben wolle, ganz offen, und er sagte Ja. Daraufhin sprach ich mit meiner Frau und sagte ihr, dass ich nicht zweigleisig leben und dass ich mich von ihr trennen wolle. Sie war einverstanden, aber sie wollte keine Scheidung, vor allem wegen des Kindes – unsere Tochter war inzwischen acht Jahre alt. Also haben wir uns »einfach so« getrennt und blieben erst einmal verheiratet. Sascha und ich waren von da an insgesamt über zwanzig Jahre lang ein Paar.

»So ganz ohne Konflikte ging es nicht ab.«

Das klingt vielleicht so, als wäre das mit meinem Coming-out völlig problemlos und glatt abgelaufen, dieser Sprung vom Hetero- zum Gay-Leben. Aber ganz ohne Konflikte ging es nicht ab. Als ich mich zum ersten Mal verliebte, habe ich schon eine innere Zerrissenheit gespürt. Aber der größte Konflikt ist entstanden, als ich vor der Entscheidung stand, offen schwul zu leben und mich von meiner Frau zu trennen. Ich wollte nie ein Doppelleben führen. Aber ich habe ja meine Frau weiterhin sehr gern gehabt, und sie wollte sich nie trennen. Immer wieder sagte sie: »Du kannst deinen Freund haben, mich stört das nicht, ich möchte, dass wir zusammenbleiben, wir brauchen auch keinen Sex zu haben, aber ich möchte mit dir leben.«

Meine Frau ist eine starke Persönlichkeit, und dennoch war es nicht einfach für sie. Als besonders schwierig hat sie immer empfunden, dass Sascha mein früheres Leben nie akzeptiert hat. Sascha hätte immer gern gehabt, dass es außer ihm niemanden gäbe in meinem Leben. Ich habe ihm immer wieder gesagt: »Ich habe meine Vergangenheit, und die gehört zu mir.« Er konnte das nie verstehen, fragte immer wieder, wie ich diese »hysterischen Frauen« ertragen könne. Da habe ich gesagt: »Die sind viel weniger hysterisch als du!« (lacht)

Meine Frau hat, etwa zehn Jahre nach der Trennung von mir, einen Mann kennengelernt, einen Deutschen, der in Brasilien lebte, und weil sie heiraten wollten, haben wir uns dann scheiden lassen. Wirklich nur aus diesem Grund, ansonsten hätten wir uns nie scheiden lassen. Unser Verhältnis ist immer gut geblieben, wir haben eine sehr innige Verbindung. Meine Frau ist ein wenig esoterisch angehaucht, sie sagt immer, wir seien »karmisch« miteinander verbunden. Meine Tochter hat Sascha sehr gern, und meine Frau hat, auch wenn es manchmal zu Eifersüchteleien kam, doch nie wirkliche Probleme mit der Situation gehabt. Der Einzige, der richtig eifersüchtig ist, ist Sascha. Er hat meine zwei Frauen vielleicht eine Woche lang ertragen, dann musste er weg, andernfalls gab es Streit. Er ist eifersüchtig auf mein Vorleben, und er konnte nie verstehen, dass ich eine andere Einstellung habe zum Gay-Leben. Irgendwie ist bei mir immer eine innere Distanz geblieben dazu, ich sehe vieles kritisch und habe wenig Lust auf »typische« Gay-Veranstaltungen oder etwas in der Art.

Ich kenne viele Leute, die ein Doppelleben führen. Sie haben eine Familie und leben ihr Gay-Leben völlig versteckt. Sie haben alle große psychische Probleme damit, nicht nur die Männer, auch die Ehefrauen. Ich finde es ganz wichtig, offen zu sein. Meine Frau und ich haben uns immer alles erzählt. Da wurde nie etwas versteckt. Wenn sie eine Liebschaft hatte (das kam durchaus öfter vor), hat sie mich sogar oft um Rat gefragt.

Ich habe mich auch sexuell bald eindeutig entschieden. Damals, als ich meinen ersten Freund hatte, da habe ich noch bi gelebt, hatte noch Sex mit meiner Frau, wir haben ja auch noch unsere Tochter gezeugt. Nachdem ich Sascha kennengelernt hatte, war ich ein paar Monate auch noch mit meiner Frau zusammen. Aber das hörte dann auf, und seitdem gibt es überhaupt keine heterosexuellen Ansprüche und Wünsche mehr, das ist völlig vorbei.

Meine Familie in Slowenien hat mich immer so akzeptiert, wie ich bin. Sascha war stets willkommen, sie haben nie gefragt, was Sascha in meinem Leben macht, aber natürlich wissen alle Bescheid. Auch bei Saschas Familie in Serbien ist das so. Wir haben als Paar gelebt, das haben wir auch allen klargemacht, allerdings haben wir auch nie »Reklame« für unsere Art des Lebens gemacht. Ressentiments haben wir nicht gespürt. Als Schwuler habe ich mit niemandem ein Problem. Ich habe nie diesen Stempel aufgedrückt bekommen, ich habe mich immer respektiert gefühlt, als Person wie als Sänger. Auch wenn ich eine Wohnung angemietet habe, dann habe ich Sascha vorgestellt als meinen Partner, das war nie ein Problem.

Ich glaube, dass diejenigen Schwulen Probleme mit ihrer Umwelt haben, die innerlich nicht befreit sind. Ich kenne genügend solcher Fälle. Ich frage mich nie, was meine Umgebung über mich und das, was ich tue, denkt. Ich versuche, ein guter Mensch zu sein, aber ich denke nicht darüber nach, was »die anderen« richtig finden. Das war mir schon als Kind nicht wichtig, und das hat mir auch mein Vater vermittelt. Er hat mir immer ein slowenisches Sprichwort zitiert: »Hab Vertrauen in dich und in deinen Gaul!«

Bestimmt hat auch mein Alter das Ganze erleichtert. Ich war eben keine 13 mehr, als das mit den Männern bei mir losging. Sicher hat man als jüngerer Schwuler viel mehr Probleme mit seiner Umgebung. Da ist man noch unsicher und so abhängig davon, dass die anderen einen akzeptieren. Als »später Schwuler« kennt man sich besser, ist insgesamt selbstbewusster. Man macht sich dann mehr Gedanken um sich selbst und um ein konsequentes Leben. Wenn man erwachsen ist, muss man sich entscheiden.

»Sex mit einem Mann erlebe ich als Mann tiefer.«

Ob man in eine Frau verliebt ist oder in einen Mann, macht vom Gefühl her keinen Unterschied. Man spürt eben diese Liebesgefühle. Aber die sexuelle Richtung hat sich schon klar unterschieden. Als ich bi gelebt habe, waren meine sexuellen Fantasien gay, da war es klar, dass die Liebe zu Männern ganz wichtig war. Als ich aber dann ausschließlich gay gelebt habe, hatte ich nie heterosexuelle Fantasien.

Wenn ich Sex mit Männern und Sex mit Frauen vergleiche … Mit Männern ist es irgendwie leichter, denn man kennt ja die Psyche und auch die Art der Erregung genau. Man weiß, was mit ihm gut geht und was nicht. Bei Frauen muss ein Mann sich immer bemühen, das Richtige zu finden. Nicht, dass es nicht schön wäre, aber … es ist einfach anders. Ich könnte auch gar nicht sagen, dass mir grundsätzlich der schwule Sex besser gefällt. Mit Männern kann ich aktiver sein, das finde ich gut. Mit einer Frau gibt es eine andere Zärtlichkeit – es gibt zwar wilde Frauen, wahre Amazonen, aber meistens ist es mit Frauen doch weicher, sanfter … Ich habe als dreijähriges Kind meine Mutter verloren, da habe ich wohl bei den Frauen eine gewisse Mütterlichkeit gesucht und gefunden. Männer sind grober, und sie wollen sich immer vor dem anderen beweisen. Frauen wollen diesen Konkurrenzkampf nicht, die Frau gibt sich hin, sie trägt dich und begleitet dich. Ein schwuler Mann ist immer noch ein Mann … Manchmal fehlt dieses sanfte Element dann schon.

Ich habe viel darüber nachgedacht, ob dieses Gay-Gefühl jetzt für mich das »richtige« Gefühl ist. Klar ist, dass es bei mir viel verändert hat. Sex mit einem Mann erlebe ich als Mann tiefer. Nachdem ich eine gewisse Zeit gay gelebt hatte, hat sich vieles bei mir sensibilisiert. Da passierte vieles ganz unbewusst. Meine Bühnendarstellung wurde besser und mein Erfolg ist sprunghaft angestiegen. Einigen Freunden ist das aufgefallen, Dirigenten, die mich kennen, und Kollegen, die zu mir kamen und sagten, wie anders – also: um wie viel besser – ich plötzlich singen würde.

Ich selbst hatte das gar nicht bemerkt, aber dann habe ich darauf geachtet, und ich habe plötzlich ganz neue Qualitäten entdeckt, bei mir und in den Stücken, die ich gesungen habe. Mein Ausdruck beim Singen, das Spiel auf der Bühne und die Musikalität – alles wurde irgendwie feiner, echter. Stücke, die ich früher schon gesungen hatte, sang ich plötzlich ganz anders. Ich denke, es hat etwas mit der Identität zu tun – man ist mehr bei sich, man wird authentischer.

Ich bin jetzt ein alter schwuler Mann und ich bin nicht mehr interessiert an einer tiefen homosexuellen Beziehung. Ich habe eine Frau und einen Mann gehabt als Partner, ich habe kürzere Affären gehabt, aber nie Liebschaften gesucht. Ich will auf Sex nicht verzichten; wenn ich Lust habe, etwas mit einem Mann zu haben, dann werde ich das machen. Aber keine Liebesbeziehung mehr. Das schützt mich natürlich auch vor Verletzungen. Es läuft oft so, dass man als alter Schwuler von jüngeren Männern ausgenutzt wird. Auch Sascha hat mich oft verletzt – das lasse ich jetzt nicht mehr zu.

»Wenn ich noch älter bin und schwächer, dann sagt er Tschüs!«

Der traurige Part in Igors so schillernder Geschichte: Aufgrund seiner Erfahrung muss er davon ausgehen, dass seine schwule Beziehung ihn nicht auch im Alter tragen wird. Igor ist an Diabetes erkrankt, von einer anderen komplizierten Krankheit erholt er sich gerade. Zudem ist seine finanzielle Situation angespannt: Er muss mit einer kleinen Rente auskommen, von den üppigen Gagen aus der sehr erfolgreichen Bühnenzeit ist so gut wie nichts geblieben. Igors Partner, ein ebenso exaltierter wie erfolgloser Künstler, hat sich rundheraus geweigert, dieses eingeschränkte Leben mit Igor zu teilen, ihn zu unterstützen oder gar zu pflegen, wenn das nötig werden sollte. Igor zog daraus die Konsequenzen und beendete die kräftezehrende Beziehung, die ihm nur noch wenig gab, aber reichlich Nerven von ihm forderte. Aus diesen Erfahrungen heraus glaubt Igor ganz generell, dass eine schwule Beziehung nicht passt in das ruhige, beschauliche Rentnerdasein, das er jetzt führen möchte.

Igor wird in Kürze nach Slowenien zurückkehren und dort wahrscheinlich das gemeinsame Leben mit seiner Exfrau wieder aufnehmen. Er spricht ohne Verbitterung vom Ende der Beziehung mit seinem Lebensgefährten. Vielleicht hat er wirklich seinen Frieden damit geschlossen, vielleicht aber verbietet es ihm auch seine Anständigkeit, ein böses Wort gegen seinen Ex-partner zu sagen. Auf Slowenien, das Land, in dem er bis heute eine bekannte Persönlichkeit ist, freut er sich: Seine Familie ist dort, das Klima angenehm, er wird, so hofft er, in seiner Heimat zur Ruhe kommen.

Es wird mir gut tun, nicht mehr jeden Tag von einer neuen Atombombe geweckt zu werden, so wie das mit Sascha immer war. Ich will aber nicht jammern. Es war eine schöne Zeit hier, ich freue mich, dass ich mir mit Sascha und mit Freunden etwas aufgebaut habe, so dass ich immer hierher kommen kann, wenn ich will. Ich habe nie im Leben die Brücken hinter mir abgebrochen, das mache ich auch jetzt nicht, es gibt keine verbrannte Erde.

Ich empfinde keine Reue, dass ich mich für mein Schwulsein entschieden habe. Vorher habe ich in meinem Hetero-Leben viel bekommen, und später war es genauso im Gay-Leben. Ich bereue nichts. Aber ich werde jetzt vor allem an mich denken. Und ich will auch Sascha nicht belasten mit meinen Problemen, er muss noch viel arbeiten und kämpfen. Aber natürlich bin ich auch enttäuscht. Gerade in der letzten Zeit, da ich krank bin, nicht singe und Probleme habe, läuft er mir immer weg. Er will, dass ich so weitermache wie früher und er sich weiterhin auf mich stützen kann.

Sascha hat Angst vor Krankheiten, und er hat mir ganz klar gesagt, dass er mich nie pflegen wird. Und daher denke ich, wenn ich jetzt mit ihm zusammenbleibe und später noch älter bin und schwächer, dann sagt er Tschüs, und dann wird es erst richtig schlimm. Natürlich ist das eine schmerzhafte Erfahrung, aber was hilft’s?

Meine Exfrau wiederum wird mich besser verstehen als jeder andere. Sie hat mein Leben als Begleiterin mitgelebt. Sie ist wieder Single, und sie wünscht sich auch, nicht alleine zu sein im Alter. Sie sagt, sie freut sich, in ihrem Alter einen Freund bei sich zu haben. Mit ihr kann ich vielleicht wieder das finden, was ich immer als das Beste empfunden habe am Hetero-Leben: die Geborgenheit. So ist mein Leben eben, vielleicht ungewöhnlich – ich bin jedenfalls zufrieden, wenn ich zurückschaue. Ich hatte immer ein schönes Leben.

Igor hatte sicherlich viel Glück: Er musste keine lange Leidenszeit erleben, bis er zu seinem homosexuellen Leben fand, und er kann heute mit sehr positiven Gefühlen auf seine Zeit als heterosexuell lebender Mann zurückblicken. Bei Friederike* sieht es ganz anders aus. Bis sie Mitte 40 war und entdeckte, dass sie nur mit Frauen glücklich werden könnte, quälte sie sich förmlich durch ihre heterosexuellen Beziehungen und wurde auch als Mutter eines Sohnes nicht glücklich.

Friederike, 56: »Ich hatte immer das Gefühl, ich lebe ein Leben neben mir!«

Ich treffe Friederike in einem Kölner Kaffeehaus. Sie ist eine gebildete, attraktive Frau, die sich offensichtlich gerne gut anzieht und sorgfältig zurechtmacht. Ihre Geschichte macht betroffen, denn sie erzählt von einer Frau, die sich jahrzehntelang »falsch« fühlte in einem vorherbestimmten Leben als Partnerin eines Mannes und Mutter. Eine alternative Lebensform, etwas, das »richtig« für sie sein könnte, stand ihr nicht zur Verfügung. Dass sie schon als Mädchen lesbische Neigungen spürte, wird Friederike erst im Nachhinein, nach ihrem Coming-out, wirklich bewusst.

Als Friederike entdeckt, dass sie lesbisch ist, ist sie Mitte 40, hat zwei unglückliche Ehen hinter sich und lebt mit ihrem damals 16-jährigen Sohn zusammen. Während unseres Gesprächs spüre ich, dass mit diesem Coming-out, das nun rund zehn Jahre zurückliegt, Friederikes Selbstfindung noch längst nicht abgeschlossen ist. Sie geht sehr behutsam mit sich um und achtet darauf, sich vor seelischen Erschütterungen zu schützen. Was nicht verwundert – so viele Jahre ihres Lebens hat sie sich selbst abgelehnt und das Gefühl des »Falschseins« sich selbst zugeschrieben. Nur zögerlich und langsam kommt Friederike zu der inneren Überzeugung: »Ich bin richtig, so, wie ich bin!«

Im letzten Jahr vor meinem Coming-out, vor elf, zwölf Jahren etwa, hatte ich beziehungstechnisch völlig den Boden unter den Füßen verloren. Ich wusste genau: Jetzt noch eine weitere Beziehung mit einem Mann? Nein, das geht einfach nicht mehr. Schon bei einem Treffen war ich damals völlig verschreckt und verkrampft, da hat nicht nur mein Kopf, sondern auch ganz klar mein Körper so radikal Nein gesagt, dass ich einfach nicht mehr dagegen angehen konnte.

Im Nachhinein sage ich, dass ich großes Glück gehabt habe, dass mir eine Frau über den Weg gelaufen ist, mit der es möglich war, eine andere Form von Beziehung auszuprobieren. Für mich haben sich da emotional ganz neue Welten aufgetan! Eine ungeheure Dimension der Gefühle. Das ist für mich auch der entscheidende Unterschied zwischen einer Hetero- und einer Lesbenbeziehung: dass einfach viel mehr Bereiche abgedeckt werden mit einer Frau. Das geht viel mehr in die Tiefe für mich. Allerdings würde ich das heute nicht mehr als ausschließlich positiv bezeichnen, denn diese tiefen Gefühle haben mich zum Teil auch gewaltig weggerissen. Ganz anders als vorher mit den Männern: Da hatte ich immer alles im Griff, weil ich mich emotional nie darauf eingelassen habe. Deshalb bin ich auch heute gar nicht mehr so erpicht darauf, eine Beziehung zu führen, weil es mich eben sehr mitnimmt und mich zum Teil auch wegbringt von mir selbst. Und ich habe ja mit mir selbst noch reichlich zu tun. Dennoch, nach dem ersten Mal mit einer Frau war mir sofort klar: Ja, DAS ist es.

Warum es so lange gedauert hat, bis ich gemerkt habe, was eigentlich richtig ist für mich? Ich denke, es lag an der Qualität des Leidens: Es hat seine Zeit gebraucht, bis der Leidensdruck wirklich so groß wurde, dass ich buchstäblich nicht mehr anders konnte. Ich habe ganz einfach zunehmend gelitten, in jeder Beziehung gelitten, in der Mutterschaft gelitten, und ich habe immer nur den Eindruck gehabt, ich bin verkehrt, ich lebe ein Leben neben mir mit allen Konsequenzen. Nach dem Ende meiner letzten Hetero-Beziehung war ich durchaus noch eine Zeit lang auf der Suche nach einem neuen Mann, aber ich merkte: Das geht nicht mehr.

Es ging mir also ohne Ende schlecht. Hätte ich jemals in einer wirklich glücklichen Hetero-Beziehung gelebt, wäre ich gar nicht an den Punkt gekommen. Dieses Leiden hat mich überhaupt erst an den Punkt gebracht.

»Ich habe es komplett weggedrängt.«