»es gibt im Moment keine besseren Künstler als uns in Deutschland« -  - E-Book

»es gibt im Moment keine besseren Künstler als uns in Deutschland« E-Book

0,0
21,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Stilbewusst und (selbst-) kritisch kommentiert Zimmer in seinem Tagebuch das gesellschaftliche Klima im Nachkriegsdeutschland. Die Debatten – über Malerei und künstlerische Freiheit sowie über die Revolution, Boxveranstaltungen, Krimiserien und den drohenden Atomkrieg – sind uns heute fremd und zugleich anrührend vertraut. HP ZIMMER (1936–1992) studierte Ende der 1950er-Jahre an der Kunsthochschule Hamburg und der Kunstakademie München. Die von ihm mitbegründete Gruppe SPUR war eine der ersten Nachkriegsavantgarden der Bundesrepublik. Seit 1982 war HP Zimmer Professor für Malerei an der Hochschule für Bildende Künste Braunschweig.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 265

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



HP Zimmer Tagebuch 1957–1965

»es gibt im Moment keine besseren Künstler als uns in Deutschland«

HP Zimmer

Tagebuch1957–1965

Impressum

Herausgegeben von

Barbara Hess, Matthias Mühling und Nina Zimmer

Redaktion

Barbara Hess

Bildredaktion

Ann-Kristin Hamm und Jens Ullrich

Eine Publikation des SPUR-Archiv Berlin

Forststraße 30

12163 Berlin

[email protected]

Wissenschaftlicher Beirat

Marcus Andrew Hurttig

Matthias Mühling

Nina Zimmer

Projektmanagement

Frauke Berchtig

Lektorat

Christian Vedani

Grafische Gestaltung

Neil Holt

Schrift

Arnhem

Verlagsherstellung

Kati Klaeske

Reproduktionen

Repromayer, Reutlingen

Druck

Graspo CZ, A.S.

Papier

Munken Print White 1.5, 90 g/m2

© 2023 Hatje Cantz, Berlin, und Autoren

© 2023 für die abgebildeten Werke von HP Zimmer: VG Bild-Kunst, Bonn 2023

Diese Publikation wurde substanziell gefördert durch:

Erschienen im

Hatje Cantz Verlag GmbH

Mommsenstraße 27

10629 Berlin

www.hatjecantz.de

Ein Unternehmen der Ganske Verlagsgruppe

ISBN 978-3-7757-5075-2 (Printausgabe)

ISBN 978-3-7757-5076-9 (EPUB)

ISBN 978-3-7757-5077-6 (ePDF)

Printed in the Czech Republic

Umschlagabbildung:

HP Zimmer vor seinem Gemälde

Porgy und Bess, Ausstellung im Kunstsalon Johansson in Halmstad, Schweden 1961

Foto: Jörgens, Halmstad / SPUR-Archiv Berlin

Inhalt

Vorwort

Matthias Mühling und Nina Zimmer

»Es geht auch anders, aber so geht es auch …« Editorische Anmerkung

Barbara Hess

Vorwort (1984)

HP Zimmer

Tagebuch 1957–1965

Anmerkungen

Personenverzeichnis

Bildnachweis

Vorwort

Matthias Mühling und Nina Zimmer

Das Tagebuch von HP Zimmer ist kein Tagebuch im eigentlichen Sinne. Zuallererst, da es von ihm immer schon als Text für die Öffentlichkeit angelegt war und, später mehrfach überarbeitet, auch mit Briefen und weiteren Dokumenten angereichert wurde (siehe Editorische Anmerkung, S. 10). Der heterogene Textkörper, der so entstand, sollte über die künstlerische Biografie von HP Zimmer im Speziellen, jedoch in den für diese Publikation ausgewählten Jahren 1957 bis 1965 auch über die Chronologie und Geschichte der Gruppe SPUR im Allgemeinen

Zeugnis ablegen. Insofern ist das so überlieferte Tagebuch eine bedeutende Quelle sowohl in Hinsicht auf die historischen Ereignisse als auch in Hinsicht auf die Selbstwahrnehmung des Autors, auf die Situation der bildenden Kunst in der Bundesrepublik und nicht zuletzt auf die spezifische politische Situation und den gesellschaftlichen Zustand dieser noch jungen westdeutschen Demokratie. Zudem handelt es sich um eine Quelle, deren Lektüre kurzweilig und erhellend ist, da die jeweils größeren Themen wie Ästhetik, Politik, Gesellschaft in anekdotischer Verdichtung erzählt werden.

So wird der Konservatismus der Nachkriegsgesellschaft auch und gerade am Zustand der Kunstakademie in München ablesbar oder auch das Verhältnis der Geschlechter am Binnenverhältnis der Protagonisten und Protagonistinnen deutlich.

1958, dreizehn Jahre nach dem Ende der NS-Diktatur, gründete sich SPUR in München. Das politische und gesellschaftliche Klima war zu diesem Zeitpunkt in der Bundesrepublik Deutschland stark durch die Kontinuität zum Faschismus geprägt. So waren nicht nur die Funktionseliten vielfach sogenannte Mitläufer oder Täter, sondern weite Teile der Bevölkerung waren Teil des Systems gewesen, durch dieses ideologisch geprägt und, bewusst oder unbewusst, wenig distanziert. So wie Politiker, Richter, Verwaltungsbeamte oder Polizisten ihre Karriere in der nationalsozialistischen Diktatur erfolgreich in der Bundesrepublik Deutschland fortsetzen konnten, waren auch viele Museumsdirektoren, Kunstkritiker und Akademieprofessoren – zu jener Zeit so gut wie ausschließlich Männer – durch ihre Funktionen in der Nazidiktatur belastet. Damals wurde darüber geschwiegen und der als »Kalter Krieg« geführte Ost-West-Konflikt zementierte diese Kontinuitäten.

Offiziell zielten die kulturpolitischen Bestrebungen auf eine Rehabilitierung der verfolgten und diffamierten Avantgarden. Oft jedoch mit demselben Personal, welches die Verfolgung und Diffamierung organisiert und zu verantworten hatte.

SPUR forderte diese Gesellschaft heraus und wollte das Schweigen brechen: zuerst an der Kunstakademie in München, später im lokalen Umfeld von Institutionen und Galerien. Schnell jedoch gingen ihre Aktivitäten weit darüber hinaus. Die Legitimität ihrer ästhetischen Bemühungen konnte nur dann behauptet werden, wenn sie sich an die Gesellschaft als Ganzes und nicht nur deren systemischen Teilbereich »Kunst« richtete.

Drei Jahre nach der Gründung musste es daher zu juristischen Auseinandersetzungen kommen. 1961 wurden alle bisher erschienenen Ausgaben der Zeitschrift SPUR durch die Polizei beschlagnahmt. In erster Instanz verurteilte das Amtsgericht die Künstler zu fünf-monatigen Gefängnisstrafen. Die damals angewandte Auslegung der einschlägigen Paragrafen des Strafgesetzbuchs zur »Verbreitung unzüchtiger Schriften«, »Religionsbeschimpfung« und »Gotteslästerung« zeigte deutlich, dass die Justiz und die Öffentlichkeit keinesfalls mit der Rehabilitierung der Avantgarden und der Überwindung des Faschismus vorangekommen waren. Im Gegenteil: Die strukturelle Verfasstheit des politischen Systems, seiner Organe und seines Personals erlaubte weiterhin eine Kontrolle über die Art von künstlerischem Ausdruck, der in der Öffentlichkeit genehm war, und damit eine staatlich sanktionierte Deutungshoheit über die Kunst.

Die Mitglieder der SPUR waren darin keine naiven Opfer, sondern sie waren im Gegenteil reflektierte Aktivisten des zivilen Ungehorsams mit ästhetischen Mitteln. Der Prozess ist daher ein bemerkenswertes Ereignis, da er die junge Bundesrepublik zwang, sich mit dem Thema der Kunstfreiheit und im Größeren mit ihrer inneren systemischen Verfasstheit zu beschäftigen. Der Erfolg der Gruppe bestand sicherlich auch darin, dass SPUR eine humorvolle, aktivistische und lebensfrohe Form des Widerstandes gefunden hatte. Und erstmals gab es auch ein Bewusstsein für die eigenen Widersprüche. Ein Satz wie »die abstrakte Malerei ist ein hundertfach abgelutschter Kaugummi«, dieses berühmte Zitat aus dem »Manifest« von 1958, war doch zugleich auch Ausdruck dessen, was die beteiligten Künstler selbst betrieben. Diese adoleszente Sprache erzählt von jungen Männern, deren Selbstüberschätzung ihnen kaum bewusst war, die jedoch eine Notwendigkeit hatte, um den Generationenkonflikt, welcher ja eben auch einer der Ideologien und zweier politischer Systeme war, produktiv eskalieren zu lassen.

Das Tagebuch von HP Zimmer dieser Jahre dokumentiert die zeitgeschichtlichen Dimensionen von SPUR. Und zugleich tritt bei der Lektüre die spezifische Geschichte der SPUR vor der deutschen Nachkriegsgeschichte in den Hintergrund. Viele Ideen der SPUR haben sich bewahrheitet: Auch wenn diese Ideen nicht mehr unmittelbar mit SPUR verbunden werden, sind sie heute als Samen in den Köpfen von jungen Kunststudierenden verankert.

Der bis heute wohl wichtigste Beitrag von SPUR zur Kunstgeschichte des 20. Jahrhunderts ist ihre Wirkmacht als erste Avantgardebewegung nach 1945 in Deutschland, die sich international vernetzen konnte und wollte. Vor dem Hintergrund einer intensiven Auseinandersetzung mit den europäischen Vorkriegsavantgarden hatte SPUR sich auf die zeitgenössischen Strategien der 1957 gegründeten Situationistischen Internationale eingelassen und wurde Teil dieses Netzwerks.

Das Tagebuch gibt Einblick in den Austausch und die Freundschaften der SPUR-Künstler mit Intellektuellen und Kunstschaffenden aus Italien, Frankreich, Belgien und den Niederlanden sowie Großbritannien, Dänemark und Schweden. Die Tatsache, dass sie gegen den Alltagsfaschismus und gegen die reale Kontinuität der Hitler-Diktatur aufbegehrten, zeigt, wie scharfsinnig sie das Kernproblem der jungen Demokratie identifiziert hatten. Die ästhetischen Mittel, welche sie zur Artikulation ihrer Anliegen entwickelten, beruhen auf gleichzeitiger Unangepasstheit und kunsthistorischer Anschlussfähigkeit. Dass uns die Anliegen von SPUR nach mehr als 60 Jahren so anschaulich und nachvollziehbar werden, ist den Tagebüchern von HP Zimmer zu verdanken.

Wir danken der Stiftung van de Loo, insbesondere ihrer Präsidentin Marie-José van de Loo, für die großzügige Unterstützung dieser Publikation.

»Es geht auch anders, aber so geht es auch …« Editorische Anmerkung zu HP Zimmers »Tagebuch«

Barbara Hess

In einem Tagebucheintrag vom 7. Mai 1959 überdenkt HP Zimmer seine Möglichkeiten in der Malerei und beschreibt dabei eine weitverbreitete Kontingenzerfahrung: »Ich frage mich oft, ob der Weg, den ich eingeschlagen habe, richtig ist. […] Der Satz aus der 3Groschenoper: Es geht auch anders, aber so geht es auch …«

Fünfundzwanzig Jahre später erstellte der Künstler eine maschinenschriftliche Fassung seiner handgeschriebenen Tagebuchseiten aus den Jahren 1957 bis 1965, also vom Anfang seines Studiums an der Kunstakademie München und der Formierung der Gruppe SPUR bis zur beginnenden Auflösung der Gruppe, die sich 1966 endgültig vollzog. Dass HP Zimmer der maschinenschriftlichen Fassung von 1984 ein hier abgedrucktes »Vorwort« voranstellte, um seine editorische Herangehensweise zu erläutern, legt die Vermutung nahe, dass er eine spätere Veröffentlichung nicht ausschloss. Tatsächlich publizierte er einige Tagebuchtexte bereits Mitte der 1980er-Jahre in Ausstellungskatalogen;1 zudem erschien 1984 sein anderer, mit zahlreichen Abbildungen illustrierter Rechenschaftsbericht unter dem Titel Selbstgespräch.2

HP Zimmer hat das Typoskript aus dem Jahr 1984 Anfang der 1990er-Jahre, kurz vor seinem Tod 1992, erneut durchgesehen. Seitdem existieren zahlreiche Einträge in mehreren, zumeist drei Fassungen: als Tagebucheintrag, als zeitnah verfasster Brief und in der Anfang der 1990er-Jahre revidierten Version. Durch die spätere Bearbeitung erklärt sich auch, warum einige Textstellen Informationen zu Ereignissen enthalten, die erst nach dem Datum des Eintrags stattgefunden haben. Das vorliegende Buch beruht auf dieser revidierten Fassung.

Das Textkonvolut, das diesem Buch zugrunde liegt, ist nicht nur ein Tagebuch im engeren Sinne, sondern ein hybrides und vielstimmiges Konstrukt, das neben Texten auch Zeichnungen, Bildentwürfe, Diagramme und Postkarten und neben HP Zimmers eigenen Einträgen auch Briefe weiterer Personen enthält, mit denen er damals in engem Austausch stand, darunter die übrigen Mitglieder der Gruppe SPUR, seine Partnerin Vera Buttkus, seine Eltern und andere Familienmitglieder. Für den vorliegenden Band wurden ausschließlich Texte von HP Zimmer ausgewählt. Die Einträge sind bis auf wenige, gekennzeichnete Ausnahmen ungekürzt abgedruckt. Orthografie und Zeichensetzung wurden den neuen Regeln angepasst, Tippfehler stillschweigend korrigiert, unleserliche oder ergänzte Wörter und Auslassungen in eckige Klammern gesetzt.

Als versierter Autor spielt HP Zimmer mit Genres und Stilmitteln, so auch mit Fiktionalisierung. Wo Tagebucheinträge im Widerspruch zu historischen Fakten stehen, ist dies vermerkt – nicht aber, wenn es sich dabei um ironische Übertreibungen handelt. Ein Beispiel: Im Rückblick auf den Ausschluss der Gruppe SPUR aus der avantgardistischen Bewegung der Situationistischen Internationale schreibt HP Zimmer: »Während der großen Säuberungswelle im Februar 1962 (man denkt mit Schrecken daran) erwischte es die SPUR. Alle Mitglieder wurden erschossen! Durch Zufall kam ich mit dem Leben davon.«3

Vorwort

Tagebuch habe ich seit meiner Schulzeit geführt.

Als ich 1957 nach München kam und Heimrad Prem, Helmut Sturm und Lothar Fischer an der Kunstakademie traf, setzte ich die Eintragungen fort, allerdings in unregelmäßigen Abständen. In den ersten Jahren, als wir die Gruppe SPUR gründeten, vom dänischen Maler Asger Jorn ermuntert, vom italienischen Mäzen Paolo Marinotti gefördert und von Otto van de Loo kunsthändlerisch betreut, machte ich fast jeden Tag Notizen, besonders, als die SPUR Kontakt zur Bewegung der Internationalen Situationisten um Debord erhielt und anfing, über Deutschland hinaus ihr wildes Unwesen zu treiben.

Die Eintragungen wurden spärlicher und hörten schließlich ganz auf, als die Gruppe 1965 zerfiel.

1966 formierte sie sich noch einmal mit neuen Mitgliedern zur Gruppe GEFLECHT, um ein Jahr später in den Wirren der Studentenrevolte unterzugehen.

Von 1957–65 füllte ich etwa 40 Schulkladden im Format DIN A4 mit den Ereignissen des Tages, interessanten Begegnungen und Gesprächen, wobei ich auch Zeichnungen und spontan hingekritzelte Entwürfe für Bilder hinzufügte. Es drängte mich, inmitten der oft turbulenten Ereignisse und manchmal kontroversen Debatten meinen eigenen Standpunkt zu suchen, meinen Weg zu überdenken.

1984 tippte ich die mit der Hand geschriebenen Textseiten in die Maschine. Besonders ordnen brauchte ich das Material nicht, es lag ja in chronologischer Reihenfolge vor. Ich bemühte mich natürlich, die Originaldiktion beizubehalten. Nur Fehler verbesserte ich und direkte Irrtümer, wenn es auch nicht zu vermeiden war, einige Stellen, die allzu persönliche Spitzen enthielten, wegzulassen oder zu ändern.

HP Zimmer, Aschau im Chiemgau, August 1984

1957

München, 15.3.1957

Sehr unbequem fuhr ich die Nacht durch und ging in München gleich zur Akademie, ein alter, verfallener Palast, innen modern. Wenn ich eine Bescheinigung, aus der hervorgeht, dass ich in Hamburg die Probezeit bestanden habe, beibringe, brauche ich die Aufnahmeprüfung nicht zu machen. Ich schreibe heute noch deswegen.

26.4.57 München

Ankunft in München um halb elf. Diesmal hatte ich Liegewagen. Warmer, sonniger Frühlingstag. Bei der Vermieterin Enttäuschung: Sie hatte die Bude, die ich vor 6 Wochen gemietet hatte, noch mal vermietet. Die Alte ist vielleicht geschäftstüchtig. Ein Kitschmaler mit einem blauen Auge wohnt da jetzt drin, sie gab mir aber was anderes. Spaziergang im Englischen Garten. Es dämmerte, der Bach rauschte, während am Himmel ein von der Abendsonne beschienenes Flugzeug kreiste. Am nächsten Tag in einigen Galerien, Riemenschneider, Manzù, Fuhr. Abends in den »Fahrraddieben«1, später durch Schwabing gebummelt.

30.4.57

Erster Tag der Aufnahmeprüfung. Aktzeichnen. Der Professor sah mir über die Schulter und sagte: Das ist zu barock.

Nachmittags Besuch bei Dr. Graßmann, dem Freund meiner Eltern, um meine Hemden abzuholen. Er spricht von der bayerischen Monarchie, erst durch die Heirat mit preußischen Prinzessinnen sei sie dekadent geworden. Später ging’s um Michelangelo. Ich sagte, ja, ja, aber der war auch mal Avantgardist, und wer die alte Kunst wirklich schätzt, versteht auch die neue, weil er darin vieles wiederentdeckt.

Sonnabend, 4.5.57

Prüfung bestanden.

HP Zimmer

Entkleidung Christi nach El Greco 1957

Öl auf Leinwand 50 × 33 cm

7.5.57

Zum ersten Mal in der Malklasse von Glette, einem noblen Mann mit grauen Schläfen. Sehr missgestimmt, als ich die zu malenden Töpfe, Krüge und Schüsseln mit Orangen sah. Die Schüler hatten die Orangen aufgegessen und nur die verschrumpelten Schalen übriggelassen.

Abends Klee gelesen, das Pädagogische Skizzenbuch.

Morgens mache ich mir in der Küche etwas Wasser heiß zum Rasieren und für den Kaffee. Mittags esse ich in der Mensa für 80 Pf. Meine Socken und Hemden wasche ich auch von Zeit zu Zeit, worüber sich die Wirtin totlachen will. Die paar Mini-Bilder, die ich aufgehängt habe, findet sie »pfundig«.

Ich bin bei Glette in einer typischen Malklasse gelandet. Die Staffeleien sind mit dicken Farbkrusten überzogen, der Fußboden ist bunt marmoriert und es stinkt nach Öl und Terpentin. Überall stehen Bierflaschen und vollgeschmierte Leinwände … Etwas beklommen angesichts meiner zukünftigen Wirkungsstätte … Klee, das merkte ich bald, hält man hier für zu intellektuell und das Wort »Kandinsky« spricht man besser nur hinter vorgehaltener Hand aus … Vom Professor ist wohl doch nicht allzu viel zu lernen. Es stellt sich raus, dass er so ’ne Art Spätimpressionist ist. Man malt aber so wie er, also impressionistisch, nur müssen die Farben verdreckt sein durch ständige Übermalungen und mit einem feinen Schlepper muss man zum Schluss dünne Linien drüber zeichnen. Glette plaudert gern über dies und das und versichert mir, meine Sachen seien ganz hübsch.

Das Wichtigste ist, dass ich lerne, mit Farbe umzugehen, kompositionell und formal. Es gibt in der Klasse auch einen Meisterschüler mit schwarzer Hornbrille und Vollbart. Der malt mit großer Wucht, dass die Staffelei fast umfällt. Wenn er fertig ist, kneift er die Augen zusammen und murmelt: »Scheiße!«

Kurzerhand stellt er das Bild auf den Kopf und malt was anderes drüber, bis er auch das wieder abkratzt. Er heißt Helmut Sturm. Er ist der Einzige, mit dem man sich unterhalten kann.

Wir sprachen über Gotik. Er ergriff eine Terpentinflasche, schwang sie hin und her und sagte, die Gotiker sind abschtrackt [sic!], Klee dagegen ist absstrakd [sic!] und so intellektuell, dass einem die Haare zu Berge stehn … Bei den Gotikern kommt z. B. ein und dasselbe Rot mehrfach vor, im Mantel, im Dach, in der Landschaft usw. Die Eigengesetzlichkeit des Bildes … Man darf die Natur nicht vergewaltigen … Der Rhythmus, der Malprozess ist das Wichtigste!

Ich versuche, meiner überquellenden Fantasie mit schwarzen Liniengerüsten und grellen Farben zu Leibe zu rücken. Mir gehen Léger und seine Formen, seine lustige Geometrie im Kopf herum (im Haus der Kunst die große Ausstellung). Wie soll ich das mit Glettes Stillleben in Übereinstimmung bringen?

Man hat Formen, die man zusammensetzen kann, Bausteine, die zusammen ein Bild ergeben … Seit Cézanne haben sich die Formen verselbstständigt. Alle Formen, die es gibt, malen … Sich nicht einengen lassen, eine Art abstrakter Realismus.

Stimmung gleich null, nichts zustande gebracht. Sehe nur wie im Nebel Léger, Beckmann, Klee und andere Malgötter. Im Kopf. Was ich vor mir sehe, sind lediglich Töpfe und Krüge, Krüge und Töpfe. Dazwischen ist nichts. Ich glaube, ich höre doch auf und schreibe mich lieber für Geografie oder Archäologie ein.

16.6.57

Erst beim Zahnarzt, danach mit Dieter Rempt zum Schliersee. Wir badeten und wanderten im Wald und stritten uns über alles Mögliche. Nächster Tag: Ausstellung Schmidt-Rottluff. Ich zeigte Sturm meine Zeichnungen. Du willst genau dasselbe wie ich, Du bringst es nur nicht zamm [sic!], sagte er. Drei Stunden über Kubismus geredet. Was ist mit der Farbe?

1.7.57

Die Ausbildungsbeihilfe beträgt 50,– Mark. Ich lege sie gleich in Farben, Gründen und Pinseln an. Ich male sowohl vor der Natur als auch frei, um die Mittel in den Griff zu kriegen, aber nur kleine Formate, wegen der drangvollen Enge in der Malklasse. Zwischendurch diskutiere ich mit Sturm über Kunst, was bei Glette und den anderen Studenten übel vermerkt wird (Ihr redet zu viel und malt zu wenig).

HP Zimmer

Amrum 1956

4.7.57

Man kann ja vor der Natur abstrakt malen. Man behält den Ausschnitt bei und verändert die Details so, wie sie aus dem Pinsel kommen, ohne lange hinzusehen. Der Gegenstand ist nur der malerische Anlass, wichtig ist die Gesamtstruktur des Bildes.

Kleine Skizzen auf Hartfaser.

Bei glühender Hitze zur Alten Pinakothek. Danach Lenbachmuseum, Andacht beim heiligen Wassily.

HP Zimmer

Tagebuchzeichnung 1957

Faltblatt zur ersten gemeinsamen Ausstellung im Botanischen Garten, München 1957

13.7.57

Sauferei in Sturms Atelier. Ein Bildhauer namens Lothar Fischer kommt kurz vorbei und Sturm, Rembrandt2 und er beraten über eine Ausstellung junger Künstler, die am 16. Sept. im Alten Botanischen Garten eröffnet werden soll. Eventuell wollen sie mich dazu einladen, wenn ich Bilder habe, ich weiß aber noch nicht, ob ich mitmache. R. erzählt, dass Fischer sehr geschäftstüchtig ist. Eine Putzfrau von der Akademie hat ihm eine kleine Bronze abgekauft und zahlt monatliche Raten à DM 15,–.

Am nächsten Vormittag weiter über die Ausstellung diskutiert. Das geht so seit Tagen. Der Plan ist aufgetaucht, nicht nur einfach eine Ausstellung zu machen, sondern eine Gruppe zu gründen wie der Blaue Reiter oder die Brücke.

20.7.57

Im Akademiegarten. Mit Sturm und Rembrandt (er hat sehr originelle Ansichten) stundenlang über den Raum diskutiert. Das Programm für die blödsinnige Gruppe soll aufgesetzt werden. Sie meinen, ich soll die Texte schreiben, als Preuße könnte ich das. Sturm sagt, unser Ziel ist, dass wir keins haben. Kaum habe ich das notiert, sagt er: »Durchstreichen! Es muss genau andersherum heißen …« Nach einer Stunde habe ich die Nase voll.

Anschließend von Lokal zu Lokal gezogen. Im Hofbräuhaus Gespräche über Frauen und den Fortschritt. Rembrandt hat Schopenhauer gelesen und sagt, er hasst die Frauen. Ich hab aber nicht das Gefühl. Morgens noch in Sturms Wohnung Aquarelle von beiden angesehen und Strawinsky-Platten gehört.

Sonntag: Wieder Morgenandacht bei Kandinsky. Sturm hält einen Vortrag über die Fläche: Wie eine Ameise durchs Gras krabbelt, so bewegt sich der Maler von den kleinsten Einheiten ausgehend über die Fläche. Der Kosmos von Klein, Größer und Groß. Tachismus, kein metrisches Gerüst vorher, Seiltanz ohne Netz. »Was wir eben besprochen haben, ist ganz wichtig, ist die Grundlage der kommenden Kunst. Wir müssen sofort zu Rembrandt und ihm das erzählen.« Ich bin müde, aber Sturm besteht darauf. Wir klingeln. R. öffnet. »Gerade haben wir das Wesentliche in der Kunst des 20. Jahrhunderts entdeckt«, ruft er, noch in der Tür.

Wir marschieren ins nächste Gasthaus und reden weiter über die kommende Malerei. R. ist hungrig und bestellt 2mal Lüngerl … Wie jede Diskussion endet auch diese mit dem Thema Frauen. Zum Schluss bei Sturm eine Oper von Hindemith angehört. Wir schliefen beide ein.

Am nächsten Morgen schimpft Sturm auf die Preußen.

27.7.57

Sturm spielte mir Platten von Bach, Strawinsky und anderen vor. Dann gingen wir essen und redeten über Transparenz. Nachts um 3 wurden wir aus dem Lokal geschmissen. Viel Ärger. Draußen weitergeredet. Über das Organische und das Technische. Nicht analytische Zerstückelung, sondern organische Auflösung in Bewegung. Bewegung ist alles, es gibt keine Form, wenigstens keine vereinzelte, alles hängt zusammen. Es gibt nur Struktur. Sturm ist Cézanne-Anhänger. Als ich von Nolde und dem nördlichen Expressionismus anfange, schimpft Sturm auf Nolde: Der macht den Fleck immer an der falschen Stelle, da sitzt nichts richtig! Ich: Gibt es überhaupt so was wie die »richtige« Stelle? Wir sind uns nur einig in der Ablehnung des Konstruktivismus.

28.7.57

Das Semester ist zu Ende. Ich bin freier geworden.

Die Ausstellung beginnt am 17. Sept. Inzwischen haben wir ein Plakat gemacht, die Organisation verschlingt viel Zeit. Fischer kümmert sich hauptsächlich darum.

Das Wetter ist herrlich. Ich bin dabei, einen barocken Kubismus zu entwickeln. Ich versuchte eine Kopie von El Grecos Grablegung in der Pinakothek. Sturm spricht dauernd vom Futurismus und der Bewegung. Über Kandinsky sagt er: Hurra, da geht was durch!

15.8.57

Alles hat einen neuen Aspekt bekommen. Meine Sachen werden rhythmischer. Rhythmus ist räumliche und zeitliche Bewegung in uns und um uns herum, animalisch, aus dem Nervensystem. Es scheint so, als ob viele Krankheiten heute aus der Brechung des natürlichen Rhythmus herrühren, aus der Unterdrückung des organischen Verhaltens … Der eigentliche Maler ist der Rhythmus, der aus uns malt. Wir müssen nur versuchen, ihn zu steuern, anhalten und ihn abwürgen darf man nicht. Dennoch geht alles mühsam voran, mir fehlt noch das volle Instrumentarium. Aber ich sehe langsam einen Weg.

19.8.57

Sturm will den Tachismus organisieren wie Cézanne den Impressionismus.

Dabei blickt er würdevoll durch seine Brille. Streit wegen des Ausstellungsprogramms. Während jeder dem anderen sagt, dass das, was er will, nicht geht, hat Fischer bereits den Katalog organisiert, hat Geld durch Anzeigen besorgt und war beim Drucker.

20.8.57

Morgens bin ich in der Malklasse allein mit Herbert Zeiler. Er will Zeichenlehrer werden, ist dick und verbindlich. »Die Malereiiiiiiii is a Abenteuerrr, verschtehsssssssssst?« Einen eigenen Raum in der Akademie habe ich noch nicht, Glette sagt, vielleicht später. Eigentlich kriegen nur Meisterschüler ein Atelier, aber die Raumnot ist katastrophal. Wie soll man da arbeiten? Ein Tee kochendes Irrenhaus voller Mädchen – wenn es wenigstens hübsche wären … Wie ein Verrückter renne ich durch die Straßen. Ich beneide Sturm um seinen Raum. Da sitzt er den ganzen Tag, trinkt Rotwein, isst Schafskäse und tüftelt neue Malmethoden aus. Gestern hatte er den Pinsel an eine lange Bohnenstange gebunden und fuchtelte damit in der Gegend rum, um den persönlichen Hand-Rhythmus zu übersetzen.

Abends gehe ich mit ihm zur Eröffnung der Jan-Voss-Ausstellung. Dr. Franz Roh hielt die Rede. Hinterher gehen wir hin und Sturm erklärt ihm freundlich, es gibt im Moment keine besseren Künstler als uns in Deutschland.

Roh mit milder Toleranz: O, es gibt doch ein breites Panorama. Ich sehe hier einen Gipfel und dort einen! – Wir laden ihn zu unserer geplanten Ausstellung ein. Er sagt: Ah, ein frischer Sturm im Zimmer!

HP Zimmer

Tagebuchzeichnung 1957

HP Zimmer

Tagebuchzeichnung 1957

26.8.57 München

Farbkurs bei Itten begonnen. Es fällt mir schwer, saubere Flächen auszufüllen. Er sagt zu mir: Hemmungslose Fantasie ist Gehirn-durchfall.

19.9.57 München

Gestern war die Eröffnung der Ausstellung »Atelierschau junger Künstler«. Kurz vorher hatte Senft-Hohburg, ein Freund von Sturm, der auch mitmachen wollte, seine Bilder durch einen Dienstmann abhängen und abtransportieren lassen. Er hatte den Linolschnitt gesehen, den ich für die Einladungskarte entworfen hatte, und gemeint: »Mit diesem Abstraktling will ich nicht zusammen ausstellen.«

Großer Reinfall, weil Sturm sich weigerte, die Rede, die wir vorbereitet hatten, vorzulesen. Er ist verliebt in ein dünnes Mädchen aus der Gletteklasse und kann sich nicht konzentrieren (sagt er). Schade, wir hatten einen schneidigen Text aufgesetzt, der nur den winzigen Nachteil hatte, dass wir so viel drin rumgestrichen hatten, dass wir nicht mehr wussten, wo der Anfang und wo das Ende war, Sturm sollte es einfach als Fragment vorlesen … So stellte sich Rembrandt hin und forderte die Leute auf, mit uns zu diskutieren über unsere Malerei. Er sagte noch, wir wollen uns dem Tachismus aussetzen, aber gleichzeitig einen neuen Gegenstand suchen, damit man als Maler nicht wie ein Boxer in die Luft boxt. Das mit dem Boxen hätte er nicht sagen sollen, denn die Leute bekamen es in den falschen Hals und die Diskussion wurde so heftig, dass sie in eine allgemeine Rauferei ausartete, sodass wir flüchten mussten. Sturm brüllte wie ein Löwe und trampelte auf der Rede rum, ein Tisch kippte um und Herr König, der Leiter des Pavillons, war den Tränen nahe.

24.9.57

Ausstellung Sonderborg in einer neuen Galerie in der Maximilianstr. (van de Loo). Diese Art von Tachismus ist Selbstreportage der Seele. Mir zu sentimental. Mir fehlt die Farbe, Rembrandt war ganz erschüttert über die erzielte Geschwindigkeit … Sturm sagt, zu viel Illusionsraum, der erst durch Malerei getilgt werden müsste … Die heutige Malerei ist gespalten in Konstruktivismus und Tachismus. Wir sind wieder in der Eiszeit, aber dazwischen liegt die Renaissance. Das Unterbewusste und das Bewusste.

Das Leben ist ein grauer Traum, und die Langeweile die verschwendete Zeit zur Kunst.

30.9.57 München

Besuch bei Voss. Bei Sturm »Pulcinella« gehört. Die Uhr tickte leise und er schnarchte im Hintergrund. Ich kratzte die letzten Spaghettireste aus seinem Kochtopf. Ich schlief auf dem Sofa, nebenan sein Bruder, der arbeitet auf dem Bau. Morgens klingelt’s ziemlich früh: Der Polier kam, um den Bruder, der verschlafen hatte, zu holen. »Bitte kommen Sie schnell, wir haben zu wenig Leute.« Abends ging ich zu Günther Franke in die Wohnung, er zeigte mir die Beckmann-Bilder, die an der Wand hingen. War sehr beeindruckt.

Freitag, 27.9.57

Es gibt einen Fortschritt in der Kunst, unabhängig von den Leistungen, den der Ideen.

1.10.57

Es gibt eine Wahrheit: Brutalität ist menschliche Schwäche.

Früher wollte ich wissenschaftlich malen und verleugnete den Malprozess.

Malen und Denken sind zweierlei. Denke ich, denke ich, male ich, malt es.

HP Zimmer

Tagebuchzeichnung 1957

10.10.57

Das erste Bild (für 200,– Mark) verkauft. Die Glocken läuten, hinter der Armeeruine am Herkules-Saal erscheint ein wuchtiger violetter Mond.

Laotse: Die höchste Vollendung muss unvollendet bleiben, dann erst wird ihre Wirkung unausschöpflich.

Ich will einige japanische Farbholzschnitte grell-farbig abmalen.

Ich versuche eine meditative Malerei, die den Bereich des Gegenständlichen assoziativ gelten lässt. Rembrandt sagt, Geschwindigkeit und Rhythmus interessieren ihn jetzt weniger als das Räumliche und Poetische. – Ich will auf keinen Fall Statik und Symmetrie. Sturm wiederum sucht eine Art nayhafte Syntax, eine musikalische Satztechnik. Fischer diskutiert selten mit.

26.10.57

Baumeister: Das Unbekannte in der Kunst.

Irgendwer erzählt von WOLS … Wir sitzen im Gasthaus, reden uns die Köpfe heiß und kritzeln zur Freude der Bedienung die Bierdeckel voll. Sturm ist sparsam und kommt den ganzen Abend mit einem kleinen Hellen aus. Prem bestellt 3mal hintereinander Tiroler Gröstl.

Donnerstag, 31.10.57

Hamburg ist so ein trübes Pflaster, dass man hier nur essen, schlafen oder gähnen kann, keinesfalls aber malen.

Gelesen: Yogis, verborgene Weisheit Indiens von Paul Brunton und Gedichte von James Joyce.

o bella bionda

sei come l’onda …

4.11.57

Ausstellung in der Galerie 17, Brust und Sugai. Danach Vortrag von Bayerthal über [die Ausstellung] »Aktiv-Abstrakt« in der Städtischen Galerie. Platschek und Schuhmacher kennengelernt.

Geld geht zu Ende.

Montag, 2.12.57

Unmöglich, von einem Zeichenstil auf die Malerei zu kommen. Deshalb, weil die Farbe andere Wege einschlägt, muss ich zurück.

Ich fühle mich in München sehr einsam und verlassen. Man könnte an den Menschen verzweifeln. Es gibt keinen, der beunruhigt ist, der nach etwas sucht. Überall dieser selbstzufriedene, bequeme, vermoderte (oder modische, was dasselbe ist) Geist.

Sturm ist der einzige Maler, aber wir sind zu verschieden. Und dann die Akademie, die gehört eingerissen. Die Professoren, Grafiker, Bühnenbildner, Lehrer und alle Oberflächlichen gehören rausgeschmissen. Den ganzen Laden zumachen. An der Akademie kann man nichts lernen: Sie ist voll von Trotteln, Hanswürsten und Idioten, die hinterlistig und gefährlich sind: Sie bringen mir nur Falsches bei, weil sie ahnen, dass sich wahre Ideen gegen sie selbst richten.

Eine polyphone Farbigkeit. Aber zugleich interessieren mich die Form, die Modulation und die Struktur. Es ist alles so verwirrend.

3.12.57

Vortrag von H. Kühn über die Eiszeitmalerei.

11.12.57

In den Schriften von Kokoschka gelesen.

Ich würde gern Beckmanns krude Formwelt und Kokoschkas farbige Improvisationen zusammenbringen, aber es geht nicht. Sturm sagt: Du willst zu viel vereinigen.

Die Bilder zerrinnen mir unter den Händen, die Dinge spalten sich auf, wölben sich weg. Wols, dieser Gestrüppmaler, gefällt mir sehr. In der Bildmitte sammelt sich ein Fleck an, eine Insel der Unseligen mit vergifteter Kokosmilch und verdorbener Romantik … Aber wir müssen weiter, vorwärts zurück zu den Großvätern, zu den »lenkbaren Großvätern«, denn die sind noch ausbaufähig, entwicklungsfähig, während alles, was auf Wols aufbaut, zum Modetachismus wird.

Die unermesslichen Wüsten der Unordnung. Vorsicht vor der Galerie-Kunst!

Das Chaotische ist nicht goldgerahmt!

Die Jury des Berufsverbandes der bildenden Künstler (BBK) tagte. Mein Aufnahmeantrag wurde abgelehnt (»mangelnde Qualität«).

HP Zimmer

Tagebuchzeichnung 1957

HP Zimmer

Symbol 1956

Öl auf Holz und Bilderrahmen 52 × 36,5 cm

16.12.57

Besuch bei Jan Voss. Er sitzt in seinem großen Meisteratelier und starrt tiefsinnig auf die kleinen Papierschnitzel, die er hin- und herschiebt und auf einer Platte aufklebt. Nachmittags gehe ich zu v. Graevenitz, der hat ein winziges Atelier in der Baracke. Er nagelt verrostete Kuchenbleche auf schwere Spanplatten. Mit dem Pinsel kann man nicht mehr malen, betont er.

Donnerstag, 19.12.57

Mit einem inneren Gefühl der Ungeklärtheit, Unsicherheit und Enttäuschung über mich selbst fahre ich heim ---

22.12.57 Hamburg

Über Weihnachten bei den Eltern. Berichte vom 1. Semester – war ja ein turbulenter Sommer. Lernte den Dichter Peter Gan kennen. Er sprach viel von der Freiheit der Kunst. »Ein Bild wird nicht mit Ideen gemalt, sondern mit Farben. Hüten Sie sich vor dem allgemeinen Geschwätz.«

1958

0.1.58 [sic!]

Ein Bild muss die ganze Welt sein. In einem Bild sind mehrere Bilder enthalten.

Hocke: Die Welt als Labyrinth. Gerade war ich aus dem Bett gestiegen, wird die Tür aufgerissen und Sturm stürzt rein. Er hatte im Radio einen Vortrag von Jaspers über die Atombombe gehört und war so begeistert, dass er unaufhörlich auf mich einredete. Ich konnte gerade meine Hose anziehen, aber Zähneputzen nix und Frühstück fiel auch aus. Ich hatte das Handtuch in der Hand und eine Stinkwut im Bauch … Rembrandt schreibt einen bedrohlichen Brief aus Roding, wohin er sich zurückgezogen hat. Sein Vater ist Säufer und liegt im Sterben, seine Mutter gibt ihm nichts zu essen und Geld hat er auch nicht, nur Schulden. Und zum Malen kommt er nicht.

29.1.58

Mein sogenanntes Akademiestudium ist völlig im Eimer. Sah ein Buch über Pollock, tolle Bilder. Von dieser Malerei muss man heute ausgehen, zumindest muss man sich mit ihr auseinandersetzen. Vielleicht kommt man dann zu einem neuen Gegenstand, und wenn der gefunden ist, können wir damit umgehen wie die alten neuen Meister … Die Akademie ist dagegen ein verstaubter Sauladen, das Modernste daran ist der Aufzug. Die Professoren sind egoistische Schweine, die die Werkstätten nur dazu benutzen, ihre minderwertigen Aufträge durchzuführen. Die meisten Studenten fragen schon im ersten Semester nach der späteren Lehrerpension und sind an Kunst völlig uninteressiert.

2.2.58

Null Geld. Die Bude bei Frau Wahl musste ich aufgeben. Wenn man teure Ölfarben kauft, kann man sich kein Zimmer leisten … Schlafe im Moment auf dem Gepäckrost der Kofferannahme am Hauptbahnhof, da es sehr kalt ist. Da strömt durch das Gitter warme Luft. Der Nachteil ist nur, dass morgens um 5 die Bahnpolizei kommt und kontrolliert. Um noch etwas weiterschlafen zu können, muss man eine Bahnsteigkarte lösen, sonst scheuchen die einen weg. Dann zum Donisl, der macht um 6 auf, 2 Brötchen klauen. Leider darf man nicht in der Akademie schlafen.

11.2.58

Beim Fasching im Regina den Fuß verstaucht.

14.2.58

Humpelnd zum Schwabylon-Fasching1. Auf einem Fuß getanzt.

Mir schwebt eine Kunst vor, die alle Ismen umfasst: Sensibilismus, Expressionismus, Surrealismus, Realismus, Intimismus, Vitalismus, Tachismus, Lyrismus, Symbolismus, Chaotismus …

Sturm, Fischer und Rembrandt machten eine Schneeplastik. Der Reporter, der sie knipsen sollte, kam aber nicht. Wir warteten die halbe Nacht, bis wir kalte Füße hatten. Ich ging weg und aß Pfannkuchen mit Birnenkompott.

15.2.58

Mit Sturm über Durchdringung geredet. Er sagt, sie darf nicht nackt gezeigt werden, man muss sie verschleiern. In einer sich ändernden Umwelt kostümiert sie sich immer neu … Rembrandt kommt dazu, stellt den ganzen Gedankengang infrage: Ihr wollt eben so eine altmodische Malerei wie [El] Greco. Wenn Wols eine Durchdringung will, kratzt er einfach mit dem Fingernagel durchs Bild.

7.3.58