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Chronischer Schmerz ist ein höchst individuelles und persönliches Geschehen, das nicht nur körperlich weh tut. Chronischer Schmerz reißt den Betroffenen aus seinem seelischen Gleichgewicht, stürzt ihn in Einsamkeit, beraubt ihn seines Selbstwertgefühls, gefährdet seine Eigenständigkeit. Immer wieder wird einem suggeriert, dass man Schmerzen bewältigen könne. Dass man die psychische und seelische Ursache dafür suchen und angehen, mit Muskeltraining die Strukturen stärken müsse. Doch der Schmerz lässt sich nicht bewältigen. Im besten Falle lässt er sich lindern – ganz sicher aber lässt er sich beeinflussen. Nicht in seiner eigentlichen Stärke, sondern in seiner Wahrnehmung. Schöne Erlebnisse wecken in uns positive Emotionen, die sich über den Schmerz legen, ihn zudecken, ihn weich zeichnen. Diese Emotionen wirken nicht anhaltend. Oft verbessern sie den Schmerzzustand nur für kurze Zeit, für Momente, für einen Augenblick. Aber wenigstens hat man eine kurze gute Zeit, die wiederum positive Emotionen wecken kann. So entsteht ein Kreis. Ein positiver Kreis. Ein Engelskreis! Mit ihrem Buch "Es ist, wie es ist - Mein Leben mit dem Schmerz spricht die Autorin chronische Schmerzpatienten und deren Angehörige an, sowie Ärzte und Therapeuten und alle Menschen, die mit Schmerzpatienten zu tun haben. Sie möchte eine Hilfestellung auf dem Weg des Annehmens, des Verstehenlernens geben. Neben persönlichen Empfindungen und Erfahrungen wie zum Beispiel Trauer, Wut und Hilflosigkeit spricht die Autorin auch allgemein wichtige Themen an: Therapiemöglichkeiten, Versorgung und Betreuung in Kliniken, Positives Denken, Achtsamkeit, Entspannungstechniken, Subjektivität und Individualität bei der Behandlung chronisch Schmerzkranker, Umgang mit Krankheit und Schmerz. Das Buch liest sich so spannend wie emotional berührend. Medizinische Vorgänge werden fachlich kompetent und gut verständlich beschrieben.
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Seitenzahl: 202
Veröffentlichungsjahr: 2015
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›Wechselbad der Gefühle
Traurig und müde
wechseln sich ab mit
hoffnungsvoll und mutig
schlagen um in
schweigsam und in sich gekehrt
verwandeln sich in
froh und dankbar
gehen über in
wütend und zornig
enden in
lachen und fröhlich sein.‹
DANIELE HÄNLE
Es ist, wie es ist
Mein Leben mit dem Schmerz
Vom ersten Ibuprofen
bis zur Medikamentenpumpe.
Ein Buch für chronische Schmerzpatienten
und deren Angehörige, für Ärzte, Therapeuten
und Pflegepersonal, für alle, die sich für einen Menschen
mit chronischen Schmerzen interessieren.
Vorwort: Inspiration zu diesem Buch
Das Spiel des Lebens
Gebet von Antoine de Saint-Exupéry
Kurzer Überblick
Eine Krankheit belastet und verändert
Schmerzen
Chronologie Teil 1
Schmerzklinik die Erste
Richtungswechsel – ein großer Verlust
Chronologie Teil 2
Operation und Klinikerfahrung
Chronologie Teil 3
Psychotherapie
Was mir für mein Leben wichtig ist
Begegnungen mit mir selbst und anderen
Orientierung
Schwarze Gedanken
Die Zuversicht gewinnt langsam wieder Oberwasser
Positives Denken
Entspannungstechniken
Progressive Muskelentspannung (PME)
Shiatsu
Hypnosetherapie
Indische Heilkunst
Achtsamkeit
Behandlungsarten – Therapien
Physiotherapie
Therapie nach Vojta
Osteopathie
Cranio-Sacral-Therapie
Akupunktur
Akupunktmassage (APM)
Erfahrungen mit Ärzten
Besuch beim Orthopäden
Termin beim Neurologen
Periradikuläre Therapie (PRT)
Ärztehopping
Verhältnis zwischen Arzt und Patient
Mein Leben mit dem Schmerz
Es ist, wie es ist
Die nächsten Schritte
Schmerzklinik die Zweite
Biofeedback
Wieder daheim
Wut und Seelenschmerz
Wutimpressionen
Die Ärzteodyssee geht weiter
Im Dschungel der Formulare
Befreiung von Zuzahlungen
Antrag auf Schwerbehinderung
Ein weiterer Schritt – eine neue Chance
Epidurale Rückenmarkstimulation(SCS)
Leider bleibt die SCS ohne Erfolg
Wüstenzeit – eine neue Krise
Medikamentenpumpe – Option und Alternative
Intrathekale Medikamentenpumpe
Medikamente
Pumpentestung
Port-System
Implantation der Pumpe
Medikamententestung
Medikamentenanpassung
Umgang mit meiner neuen Lebenssituation
Mut
Amtsmühlen mahlen langsam
Neue Therapieformen
Hyperthermie
Oxithermie
Epilog
Literatur
»Mögest du an jedem Tag spüren,
dass auch dunkle Stunden einen
hellen Hoffnungsschimmer besitzen«.
Irischer Segenswunsch
Der Mangel an publizierten Selbsterfahrungsberichten von chronischen Schmerzpatienten hat mich dazu aufgefordert, aus meinen eigenen Aufzeichnungen und Texten vorliegendes Buch zu schreiben.
Für andere Schmerzpatienten – um ihnen zu sagen, dass sie nicht alleine sind, mit ihrem Schmerz und den damit verbundenen Gefühlen der Trauer, Angst und Verzweiflung.
Für Angehörige und Freunde eines Schmerzpatienten – um ihnen zu helfen, sich besser in ihren Partner oder Freund einzufühlen.
Für Ärzte, Psychologen und andere Menschen, die beruflich mit Schmerzpatienten zu tun haben – um es ihnen zu erleichtern, die Situation Betroffener umfassender und differenzierter kennen zu lernen, das Erleben bei chronischem Schmerz besser nachzuvollziehen.
Im Folgenden spreche ich auch über Aspekte, die in der gängigen Schmerztherapie zu wenig beachtet werden – zum Beispiel die Trauer der Betroffenen über die Verluste, die mit der Schmerzerkrankung einhergehen, den Gedanken an Suizid, weil man den Schmerz nicht mehr ertragen kann, oder die innere Einsamkeit durch eine teilweise oder völlig verminderte Teilhabe am gesellschaftlichen Leben.
Ich beschreibe das Verhältnis zu meiner engsten Umgebung, zu Ärzten, Therapeuten und zu mir selbst, schildere anschaulich und konkret, wie ein Alltag mit anhaltenden Schmerzen aussehen kann, zeige auf, was mir gut tut, was mir hilft, meinen Schmerz zu ertragen.
Neben meinen persönlichen Empfindungen spreche ich allgemein wichtige Themen an: Versorgung und Betreuung in Kliniken, Therapiemöglichkeiten, Positives Denken, Entspannungstechniken, Aufmerksamkeitslenkung, Verständnis und Unverständnis von Ärzten und Therapeuten ebenso wie von Freunden und Bekannten, Subjektivität und Individualität bei der Behandlung chronisch Schmerzkranker, Umgang mit Krankheit und Schmerz, Schwerbehinderung und andere.
In vorliegendem Buch beschreibe ich meinen Weg des Annehmens, des Verstehenlernens. Ich berichte unter anderem von dem, was mir für mein Leben wichtig ist, über einen Richtungswechsel meiner Einstellung und eine neue Orientierung, über eine sehr schwere Lebensphase und die Verarbeitung dieser.
Meine Aufzeichnungen legen positive und gute Momente offen, verleugnen dabei aber nicht die Schwere dieses Lebens.
Die verschiedensten Begebenheiten verdeutliche und bestärke ich durch Lebensweisheiten und eigene Gedichte.
Meine Zuversicht ist dabei immer erkennbar.
Letztendlich bleibt offen, wie das Leben für mich weitergehen mag. Es ist, wie es ist und kommt, wie es kommt, und ich bin mittendrin.
»Die Auseinandersetzung mit anderen bringt Rhetorik hervor, die Auseinandersetzung mit sich selbst Poesie.«
William Butler Yeats, Irischer Dichter
Bei der Entstehung dieser Geschichte bin ich fünfzig Jahre alt, befinde mich sozusagen in der Mitte des Lebens.
Ich bin glücklich verheiratet, gemeinsam haben wir vier gesunde und schon erwachsene Kinder – eine Tochter und drei Söhne – die weitestgehend auf eigenen Beinen stehen.
Meine Vorstellungen über die Mitte meines Lebens waren andere. Ich hatte mir ausgemalt, dass ich, wenn unsere Kinder groß sind, selbst noch relativ jung bin. Nicht, dass ich mit dem Leben gewartet hätte, nein, ich habe gelebt und erlebt. Trotzdem war meine Vorstellung die, dass ich dann keine so große Verantwortung mehr für die Kinder tragen und in aller Ruhe meinen Interessen würde nachgehen können.
Viel mehr als ein Interesse war mein Lebenstraum, meine Liebe zur Afrikanischen Musik. Dieser Liebe war ich im Alter von achtunddreißig Jahren mit Haut und Haar verfallen. Sie hatte mein Herz verzaubert, meine Seele berührt. Nur zehn Jahre lang konnte ich diese Liebe leben, bevor sie mir durch die Krankheit genommen wurde.
Die Wirklichkeit hat mich beim Schopf gepackt, in der Mitte meines Lebens. Die Kinder sind groß, und ich bin noch relativ jung. Aber meine Vorstellung muss der Realität weichen. Mein Geist hat bei seiner Lebensplanung eine wichtige Unbekannte übersehen, meinen Körper.
In der Mitte meines Lebens kann ich etwa fünf Minuten frei gehen oder stehen, etwa fünfzehn Minuten lang (mittels einer Stehhilfe) leichte Arbeiten im Haushalt verrichten, etwa dreißig Minuten irgendwo gesellig dabei sitzen.
Ein Einkauf ist nicht zu bewerkstelligen, ein Essen am Stück zuzubereiten nicht möglich. Ein Kinobesuch oder ein kleiner Ausflug sind undenkbar, einmal spontan auf ein Eis oder ein Bier auszugehen, ist mir versagt.
Ich liege etwa dreiviertel vom Tag. Oftmals macht mich dieses Stillhaltenmüssen schier verrückt. Manchmal durchfährt mich ein unbändiger Bewegungsdrang und ich habe das Gefühl, gleich wie ein Ei in der Mikrowelle zu explodieren. Dann muss ich aufstehen, zumindest ein paar Meter gehen oder etwas tun. Dieser Drang macht auch vor der Nacht nicht halt.
Es ist, wie es ist, in der Mitte meines Lebens.
Meine Vorstellung verliert sich im Nebel der Zeit.
Die Realität gebietet mir einen Platz, auf dem mitunter hart zu sitzen ist.
Die Karten werden neu gemischt.
Das Leben, ein Glücksspiel?
Kunst der kleinen Schritte
Ich bitte nicht um Wunder und Visionen, Herr, sondern um die Kraft für den Alltag.
Lehre mich die Kunst der kleinen Schritte.
Mache mich findig und erfinderisch, um im täglichen Vielerlei und Allerlei rechtzeitig meine Erfahrungen zu notieren, von denen ich betroffen bin.
Mach mich griffsicher in der richtigen Zeiteinteilung.
Schenke mir das Fingerspitzengefühl, um herauszufinden was erstrangig und was zweitrangig ist.
Ich bitte um Kraft für Zucht und Maß, dass ich nicht durch das Leben rutsche, sondern den Tagesablauf vernünftig einteile, dass ich auf Lichtblicke und Höhepunkte achte und wenigstens hin und wieder Zeit finde, für einen kulturellen Genuss.
Lass mich erkennen, dass Träume nicht weiterhelfen, weder über die Vergangenheit noch über die Zukunft.
Hilf mir, das Nächste so gut wie möglich zu tun und die jetzige Stunde als die wichtigste zu erkennen.
Bewahre mich vor dem naiven Glauben, es müsste im Leben alles glatt gehen.
Schenke mir die nüchterne Erkenntnis, dass Schwierigkeiten, Niederlagen, Misserfolge und Rückschläge eine selbstverständliche Zugabe des Lebens sind, durch die wir wachsen und reifen.
Erinnere mich daran, dass das Herz oft gegen den Verstand streikt. Schicke mir im rechten Augenblick jemand, der den Mut hat, mir die Wahrheit in Liebe zu sagen.
Ich möchte dich und die anderen immer aussprechen lassen.
Die Wahrheit sagt man nicht sich selbst, sie wird einem gesagt.
Du weißt, wie sehr wir der Freundschaft bedürfen.
Gib, dass ich diesem, schönsten, schwierigsten, riskantesten und zartesten Geschäft des Lebens gewachsen bin.
Verleihe mir die nötige Phantasie, im rechten Augenblick ein Päckchen Güte, mit oder ohne Worte, an der richtigen Stelle auszugeben.
Mach aus mir einen Menschen, der einem Schiff mit Tiefgang gleicht, um auch die zu erreichen, die unten sind.
Bewahre mich vor der Angst, ich könnte das Leben versäumen. Gib mir nicht, was ich mir wünsche, sondern was ich brauche. Lehre mich die Kunst der kleinen Schritte.
Ein degeneratives Geschehen in der Wirbelsäule und in verschiedenen Gelenken bereitet mir seit vielen Jahren chronische, zum Teil sehr starke Schmerzen. Schmerzen, die meine Bewegungen einschränken, Schmerzen, die mein ganzes Leben beschränken. Obwohl diese Schmerzen primär eine physische Ursache haben, beinhalten sie sekundär auch eine psychische Komponente. Kein Mensch kann auf Dauer und über viele Stunden am Tag starke Schmerzen aushalten. Infolge solch einer Belastung sind gravierende Auswirkungen auf das Seelenheil und die Psyche vorherbestimmt. Aus diesem Grund befinde ich mich seit Januar 2011 in psychotherapeutischer Behandlung, versuche in vielen Gesprächen einen guten Umgang mit meinem Körper und den zermürbenden Schmerzen zu finden.
Im Folgenden geht es um meine Krankheit. Dabei möchte ich vor allem über die seelischen und psychischen Anteile meiner chronischen Schmerzen schreiben, sowie über deren Auswirkungen auf mein Leben.
Ich bin ich, mit all meinen Geschichten. Mit allen Ecken und Kanten, Ausflüchten und allem Nicht-Verstehen-Wollen. Mit all meinen charakteristischen Zügen, die mich mal mehr, mal weniger stark straucheln, mal verzweifelt und hoffnungslos, dann auch wieder optimistisch und zuversichtlich nach vorne schauen lassen.
»Möge das Leben Ihnen aufgehen, Tür um Tür; mögen Sie in sich die Fähigkeit finden, ihm zu vertrauen, und den Mut haben, gerade dem Schweren das meiste Vertrauen zu geben.«
Rainer Maria Rilke
Ich lebe in einem guten familiären Umfeld, wo ich ICH sein darf, wo ich ohne Wenn und Aber unterstützt werde, trotz meiner Unzulänglichkeiten und Einschränkungen. Dennoch liegt die Herausforderung darin, dass ich mich selbst genauso ohne Wenn und Aber annehmen muss, was mir nicht immer gleich gut gelingt. Es ist schwer, meiner verminderten Selbständigkeit und meiner ungenügenden Kräfte bewusst zu sein, obwohl ich, mitten im Leben, noch viel mehr leisten könnte, vor allem aber möchte.
Was ein chronischer Schmerzpatient erlebt, empfindet, erleidet und wie sich das auf sein gesamtes Leben auswirkt, ist für einen gesunden Menschen kaum vorstellbar. Am ehesten verstehen das noch diejenigen, die mit dem Patienten eng zusammenleben, über den Beruf damit konfrontiert oder selbst betroffen sind.
Chronische Schmerzen machen hilflos und klein. Fast vierundzwanzig Stunden am Tag Schmerzen zu haben, ist manchmal kaum zu ertragen. Die anhaltenden Schmerzen und die vielen Medikamente mit ihren Nebenwirkungen rauben mir sehr viel meiner Lebensenergie, meiner Selbstständigkeit, vermindern mein Selbstwertgefühl.
Chronische Schmerzen ermüden Körper und Geist. Die Schmerzen selbst, aber auch die Medikamente fordern ihren Tribut, machen mich sehr, sehr müde. Physisch und auch psychisch. Diese Müdigkeit gleicht eher einer tiefen körperlichen und mentalen Erschöpfung als der Mattigkeit nach einer durchwachten Nacht. Diese umfassende Müdigkeit treibt mich manchmal an den Rand der Verzweiflung, an dem ich immer wieder auch mit meinen schwarzen Gedanken konfrontiert werde. Die Gedanken um mein Leben haben sich verändert.
Chronische Schmerzen tun nicht nur körperlich weh. Grundsätzlich neide ich keinem anderen Menschen sein Glück, seine Gesundheit. Dennoch tut es mir manchmal weh, zu spüren, zu sehen, zu akzeptieren, dass so Vieles von dem, was mir wertvoll und wichtig gewesen ist, keinen Platz mehr in meinem Leben haben kann.
Chronische Schmerzen machen einsam, innen und außen. Die Traurigkeit in mir hat deutlich zugenommen. Meine Prioritäten haben sich verlagert und auch das, was mir wichtig ist. Ich habe ein Stück meiner Unbeschwertheit und meiner Lebensfreude verloren, auch viele meiner sozialen Kontakte.
Chronische Schmerzen verändern. Dabei bin ich grundsätzlich nicht böse oder egoistisch geworden. Viel eher lässt mich die Krankheit ruhiger, bedachter, toleranter sein. Bis auf gelegentliche Wutausbrüche, die schlicht und ergreifend aus der Hilflosigkeit dem Schmerz gegenüber resultieren.
Meine Krankheit verändert nicht nur mich allein. Mein Kranksein greift sehr tief in unser Familiengefüge ein. Ich bin froh, dass unsere Kinder groß sind und sie zumindest meine körperlichen Kräfte nicht mehr wirklich benötigen. Mein Leid zu sehen, geht auch an ihnen nicht spurlos vorüber.
Lothar, mein Ehemann, ist und bleibt in großem Maße mit betroffen. Allein schon durch die Sorge um mich. Dazu kommt eine Ohnmacht: Er kann mir die Schmerzen nicht abnehmen. Darüberhinaus kostet es ihn viele freie Tage, auch Urlaubstage, um mich zu den unterschiedlichen Ärzten zu begleiten. Urlaubstage, die alles andere als erholsam für ihn sind. Dazu muss er neben seiner beruflichen Tätigkeit auch den Haushalt mitversorgen. Nicht zuletzt können wir nur noch sehr wenig gemeinsam unternehmen. Wir waren früher viel unterwegs. Mit der Familie, wie auch zu zweit.
Es bedrückt meinen Mann – ich möchte sogar sagen, dass es ihm zeitweilig ein schlechtes Gewissen bereitet – dass er seinen Hobbies nachgehen kann und mich alleine, womöglich traurig daheim weiß. Dabei ist es mehr als wichtig und richtig, dass er auch etwas tut, das ihm Spaß und Freude bereitet, das seine Gedanken zerstreut, das ihm Kraft für die vielen belastenden Momente daheim gibt.
Gemeinsam versuchen wir das Beste aus dieser Situation zu machen. Wie haben wir vor Gott gelobt: »in guten, wie in schlechten Zeiten.«
In guten Zeiten ist alles viel einfacher. Das ist wie Segeln bei seichtem Wind. Doch bedarf es des vollen Einsatzes eines jeden an Bord, um ein Schiff durch stürmische Gewässer zu lenken.
Man unterscheidet zwischen akutem und chronischem Schmerz.
Der akute Schmerz hat eine Warnfunktion zum Schutz für den Körper. Er tritt plötzlich auf; zum Beispiel bei Verletzungen, Entzündungen oder nach einer Operation. In der Regel klingen die Schmerzen, sobald die Ursache beseitigt wurde, von allein wieder ab. Je nach Art kann es Stunden, Tage, vielleicht auch wenige Wochen dauern. Mit dem Schmerz selbst verschwindet auch die Erinnerung daran.
Der chronische Schmerz hat seine Warnfunktion verloren.
Es gibt viele chronische Erkrankungen, die mit Schmerzen einhergehen; zum Beispiel Tumorerkrankungen, Diabetes, rheumatische und auch degenerative Erkrankungen. Diese körperlichen (somatischen) Schmerzen können sich verselbstständigen und zur Entstehung einer Schmerzerkrankung führen. Mitverantwortlich können schwere Grunderkrankungen, psychische Belastungen oder ein schlechter Allgemeinzustand sein. Bei der Schmerzerhaltung spielen auch neurophysiologische Abläufe im Körper eine große Rolle. Ganz einfach erklärt: Das körpereigene Schmerz-Hemmsystem, zu dem auch die Endorphine zählen, verliert an Wirkung. Es kommt zu Veränderungen im zentralen Nervensystem. Der Schmerz wird abgespeichert, es kann sich ein Schmerzgedächtnis ausbilden.
Seelenschmerzen machen auch Körperschmerzen. Es gibt von Schmerzen betroffene Menschen, bei denen keine körperliche Ursache nachweisbar ist; man spricht von einer somatoformen oder psychosomatischen Schmerzstörung.
Das Schmerzempfinden entsteht in dem Teil des Gehirns, das auch Sitz der Gefühle ist. Unter Umständen kommt es zu einer Verknüpfung zwischen Schmerzempfinden und negativen Gefühlen. Dies bedeutet, dass psychische Einflüsse oder seelische Verletzungen für den Beginn und die Aufrechterhaltung einer Schmerzerkrankung verantwortlich sein können.
Doch ganz unabhängig davon, ob der chronische Schmerz einen physischen oder einen psychischen Ursprung hat: Er nistet sich wie ein Parasit im Körper ein. Krallt sich fest, nagt und plagt, greift massiv die Persönlichkeit seines Wirtes an.
Chronischer Schmerz ist ein höchst individuelles, höchst persönliches Geschehen, das nicht nur körperlich weh tut, sondern den Betroffenen aus seinem seelischen Gleichgewicht reißt, ihn in Einsamkeit stürzt, ihn seines Selbstwertgefühls beraubt, seine Eigenständigkeit gefährdet.
Aufgrund der Individualität des Geschehens gibt es kein Patentrezept, wie man mit dem Schmerz und dessen Begleiterscheinungen umgehen kann, soll, muss. Über kurz oder lang schafft man das auch nicht mehr allein, kommt ohne professionelle Hilfe nicht mehr weiter. Es gilt, einen Arzt, einen Therapeuten, einen Psychologen seines Vertrauens zu finden, der einen versteht, der mitfühlen kann, der sich darum bemüht, das eigene, persönliche, individuelle Leid nachzuvollziehen.
Ich selbst habe meine Schmerzen lange Zeit mit einem Lächeln erklärt, habe nicht klar genug gesagt, wie sehr sie mich belasten und einschränken. Ich wollte meine Fassung nicht verlieren. Denn eins ist gewiss: man würde oft weinen, wenn man nicht lachen würde. Und wer will sich schon diese Blöße geben? Leider kann dies zur Folge haben, dass man nicht ernst genommen wird.
Bis zum heutigen Tag mache ich bittere Erfahrungen im Umgang mit meinem Schmerz.
Da jeder Patient seinen Schmerz ganz individuell erlebt, ganz persönlich, ist auch meine Geschichte ganz persönlich geschrieben. Doch vermute ich, dass sich viele Leser darin wiederfinden werden, dass es deutliche Parallelen zu deren eigenen Schmerzerkrankungen geben wird.
›Das Leben gestaltet sich immer wieder neu.‹
Ich war ein aktiver Mensch. Allein schon bedingt durch die große Familie und ein Haus mit ausladendem Grundstück. Dazu spielte ich Badminton, fuhr Mountainbike. Beim Joggen konnte ich mich auspowern und zugleich meinen Kopf frei bekommen. Ich war Motorradfahrerin und zuletzt Trommlerin.
Mit Mitte dreißig registrierte ich die Schmerzen zum ersten Mal, beginnend in den Knien. Kaum jemand nimmt in diesem Alter Schmerzen als eine Bedrohung wahr. Ich verdrängte die Schmerzen, missachtete sie, verleugnete sie mir selbst und auch anderen gegenüber, gab ihnen keine Stimme, laut dem Motto, was man nicht ausspricht, kann auch nicht sein.
Irgendwann jedoch war der Weg zum Arzt unumgänglich. Die Diagnose: Retropatellararthrose (Kniescheibenarthrose), ein degenerativer Prozess, die Knorpelsubstanz ist – vermutlich durch einen Gendefekt bedingt – viel zu weich. Daraus resultiert ein Knorpelverschleiß – schneller und heftiger, als es meinem Alter entsprechen würde.
Ich erhielt verschiedene Empfehlungen zur Ernährung, zu Muskeltraining und Bewegung. Gegen die Schmerzen bekam ich Ibuprofen – ein Schmerzmittel, das auch entzündungshemmend wirkt.
Die gesamte Tragweite dieses Befundes war mir damals nicht bewusst, wollte ich mir auch nicht bewusst machen. Arthrose kennt man ja vom Hörensagen. Eine Krankheit, die man im Alter bekommt, nicht mit Mitte dreißig.
Mein Körper zeigte mir zwar seine Grenzen auf, mein Verstand aber überhörte und übersah sie. Ich betrieb weiter meinen Sport. Die glücklichen Momente während der sportlichen Betätigung wogen die schmerzlichen Momente danach zunächst noch auf. Dann aber kam die Zeit, in der die Schmerzen nach jeder Bewegung stärker wurden. Bei Unternehmungen während der Freizeit ebenso wie bei häuslichen Arbeiten.
Ab Anfang Vierzig nahmen meine körperlichen Aktivitäten im gleichen Maße ab, wie die Schmerzen zunahmen. Arztbesuche häuften sich. Immer mehr an Diagnostik, Therapie und Medikamenten wurde nötig. Ich unterzog mich Spritzenkuren mit Hyaluronsäure, testete die ganze Palette an Grünalgenextrakt, Glucosamin und Chondroitin, Vitaminen und Mineralstoffen. Es gab nichts, was die Degeneration hätte aufhalten können. Meine Homöopathin wurde nicht müde, mich symptomatisch mit Globuli zu versorgen. Sie hatte schon sehr viel bei mir bewirkt, doch gegen diese körperlichen Schmerzen schien einfach kein Kraut gewachsen zu sein.
Aus manchen ärztlichen Mündern kamen Sätze wie »Sie sind noch viel zu jung für solche Beschwerden!« »Was haben Sie denn gemacht, dass Sie schon solche Anzeichen einer Degeneration aufweisen?« Bemerkungen wie »Sie sind austherapiert, da kann ich Ihnen auch nicht weiterhelfen« waren an der Tagesordnung. Weil meine Knie bei jedem Schritt laut knirschen, meinte einmal ein Möchtegernspaßvogel: »Mit diesen Knien können Sie aber nicht mehr als Einbrecher gehen.« Kopfschüttelnd verließ ich seine Praxis. Es war unglaublich! Als ohnehin schon geplagter Mensch wurde ich mit unqualifizierten Aussagen konfrontiert und fühlte mich dadurch nicht mehr ernst genommen.
Nach langer konservativer Behandlung wurde 2001 das rechte Knie arthroskopiert. Dabei kam es zu einer Einblutung in das Kniegelenk. Zur Entlastung wurde es mehrere Male punktiert. Um einer Infektion des Kniegelenks vorzubeugen, bekam ich eine Woche lang Antibiotika-Infusionen. Leider hat das Knie seine volle Beweglichkeit nicht zurückerlangt. Auf die Arthroskopie des anderen Knies habe ich dann verzichtet.
Badminton gehörte schon lange der Vergangenheit an. Aus dem Joggen wurde Walken, dann Spazierengehen. Aus dem Mountainbiking wurde Radeln am Ergometer. Das Schlagwort lautete ›Bewegung ohne Belastung‹.
Im September 2004 wurden ein Bandscheibenvorfall in der Lendenwirbelsäule diagnostiziert sowie eine beginnende Arthrose der Wirbelgelenke. Mein behandelnder Arzt verordnete eine konservative Reha, gefolgt von sechs Monaten ambulanter konservativer Therapie. Leider stellte sich keine Verbesserung ein. Im Gegenteil, Schmerzen und Einschränkungen nahmen schleichend zu. Eine Operation läge in meinem Ermessen, so die Ärzte.
Ich konnte viel ertragen und aushalten, nachträglich gesehen zu viel. Ich lebte in dem Glauben, dass meine Beschwerden vorrübergehend wären, dachte nicht eine Minute lang daran, dass sie der Anfang einer schwerwiegenden Erkrankung sein könnten.
Mai 2005. Nach einem Fensterputztag kam ich gar nicht mehr auf die Beine. Mein behandelnder Orthopäde überwies mich als Notfall in eine Klinik für Neurochirurgie. Die Ärzte dort behielten mich gleich zur Operation da. Dem Klinikaufenthalt schloss sich eine Anschlussheilbehandlung an. Zunächst ging es mir besser, die Schmerzen kamen jedoch bald zurück.
Im Herbst 2006 stellte ich mich einem Schmerztherapeuten vor. Nach einer eingehenden Untersuchung und einem ausführlichen Gespräch meinte der Arzt, dass ich meine Aktivitäten weiter reduzieren müsse. Er erzählte etwas von Überlastung und dass mein Körper Ruhe bräuchte, um sich zu regenerieren. Ruhe? Im besten Alter des Lebens? Zunächst schenkte ich ihm keinen Glauben, konnte mir noch lange kein Kranksein eingestehen, betrachtete alles als eine körperliche Einschränkung, die sich auf jeden Fall wieder bessern würde.
Erst mit den Jahren verstand ich, was mir Dr. J zu Beginn der Behandlung sagen wollte. Bis heute bin ich Patientin bei ihm. Er genießt mein vollstes Vertrauen.
Dr. J begann mit dem vollen Programm der speziellen Schmerztherapie: mit einem Cocktail aus verschiedenen Schmerzmedikamenten (Analgetika), einem Antidepressivum und einem Muskelrelaxans zur Entspannung der Skelettmuskulatur. Ich habe Akupunktur bekommen und ein TENS-Gerät zur elektromedizinischen Reizstromtherapie.
Und ich habe gelernt, wie Entspannung geht!
Die vielen Medikamente haben sehr in mein Sein und Tun eingegriffen – Alpträume vom Antidepressivum, massive Kreislaufprobleme vom Muskelrelaxans, Magenschmerzen von den Analgetika – weshalb ich die Dosierung oft eigenmächtig verändert oder bei Besserung die Einnahme ganz unterbrochen habe. Das ist wenig sinnvoll gewesen und hat die Schmerzlinderung letztendlich nur verzögert.
Mitte Vierzig. Meine Beschwerden verschärften sich. Auch Bewegungsbad, Physiotherapie, Muskelaufbautraining und Entspannung konnten die Zunahme der Schmerzen und Einschränkungen nicht abwenden. Schlechtere und bessere Phasen wechselten sich ab. Die schlechten zwangen mich zur Ruhe und Erholung, danach ging es wieder besser. Ich stieg dort ein, wo ich aufgehört hatte. Ein ewiger Kreislauf entstand, den ich nicht, noch nicht gewillt war, zu unterbrechen. Mir fehlte es ganz schlicht an der Einsicht, dass ich krank bin.
Mein Schmerztherapeut beantragte eine nochmalige konservative Reha. Die Krankenkasse bewilligte diese für September 2009. Es folgten bessere Zeiten, mitbedingt durch eine mehrmonatige Trommel-Unterrichtspause.
Ab April 2010 ging es jedoch rapide bergab. Zwei Bandscheibenvorfälle in der Halswirbelsäule wurden diagnostiziert. Wie in der Lendenwirbelsäule zeigte sich auch hier Arthrose an mehreren Wirbelgelenken.
Lähmungserscheinungen im linken Arm und starke Schmerzen schränkten mich – zusätzlich zu den Beschwerden im unteren Bereich der Wirbelsäule – mehr und mehr ein.
Im Oktober 2010 kamen zum ersten Mal die Worte »ich kann nicht mehr« über meine Lippen. Existentielle Ängste brachen sich in mir Bahn.
Folgende Zeilen sind entstanden, tief im Herzen vermutlich wissend, für den Verstand aber noch unbewusst, dass ein langer und schwieriger Weg vor mir liegen würde.
›Gedanken
Hell wirft der Mond sein Licht auf die dunkle Nacht,
ich kann nicht schlafen, die Pein hält mich wach.
Lenkt meine Gedanken auf die Trauer,
auf die Wut, auf den Schmerz
in meinem Körper, meiner Seele, meinem Herz.
Ich kann es nicht verstehen!
Was ist es, das dies traurige Lied anstimmt,
mir mehr und mehr meiner geliebten Dinge nimmt?
Ich fühle mich meiner Freuden beraubt!
Schmerzen, die mich Tag für Tag übermannen,
mich martern, verändern, in die Einsamkeit verbannen.
Ich weiß nicht um deren Sinn!
Ich suche nach Hoffnung und Licht,
suche nach Mut und Zuversicht.
Will in Geduld mich üben, will lernen zu verstehen.
Wie viel Zeit mag dabei vergehen?‹
»Sein Unglück ausatmen können.
Tief ausatmen, so dass man wieder einatmen kann.
Und vielleicht auch sein Unglück sagen können.
In Worten, in wirklichen Worten,
die zusammenhängen und Sinn haben.
Und die man selbst noch verstehen kann
und die vielleicht irgendwer sonst versteht
oder verstehen könnte.
Und weinen können.
Das wäre schon fast wieder Glück.«
Erich Fried
Über den Jahreswechsel 2010/2011 verbrachte ich vier Wochen in einer Schmerzklinik. Mein behandelnder Schmerztherapeut, Dr. J, hielt diesen Aufenthalt für unumgänglich. Ich sollte und musste einen besseren Umgang mit meinen Schmerzen und vor allem auch mit mir selbst erlernen.