Es lebe der Tod - Dr. Rudolf Likar - E-Book

Es lebe der Tod E-Book

Dr. Rudolf Likar

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Beschreibung

 "Der Tod ist nicht so schrecklich, wie alle meinen. Er gehört zum Leben, man darf ihn nicht ausblenden." Univ.-Prof. Dr. Rudolf Likar, Intensivmediziner am Klinikum Klagenfurt und Präsident der österreichischen Palliativgesellschaft, kennt den Tod wie kein anderer. Er und sein Autoren-Team wollen aufklären und Hoffnung geben. Anhand von Beispielen aus dem Ärztealltag zeigt sich: Sterbende weinen am Ende nie. In den letzten Augenblicken sind sie mit sich völlig im Reinen. Das Leid und die Trauer treffen die Angehörigen. Als Arzt muss man sich diesem Tabuthema stellen, täglich: Wann beginnt das Sterben und wann endet das Leben wirklich? Was uns alle betrifft: Wie sorgt man rechtzeitig vor? Warum ist der Tod im Krankenhaus für Ärzte keine Option? Sterbehilfe und der gesetzliche Umgang in europäischen Ländern. Und inwieweit hilft Spiritualität, den Übergang in eine andere Daseinsform zu ebnen? Die Antworten auf die großen Fragen der Menschheit kommen aus der Medizin, der Wissenschaft, dem Rechtsbereich, der Religion, der Kultur und einer Gesellschaft, die den Tod als Teil des Lebens sieht.

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Über das Buch

»Der Tod ist nicht so schrecklich, wie alle meinen. Er gehört zum Leben, man darf ihn nicht ausblenden.«

Univ.-Prof. Dr. Rudolf Likar, Intensivmediziner am Klinikum Klagenfurt und Präsident der österreichischen Palliativgesellschaft, kennt den Tod wie kein anderer. Er und sein Autoren-Team wollen aufklären und Hoffnung geben.

Anhand von Beispielen aus dem Ärztealltag zeigt sich: Sterbende weinen am Ende nie. In den letzten Augenblicken sind sie mit sich völlig im Reinen. Das Leid und die Trauer treffen die Angehörigen.

Als Arzt muss man sich diesem Tabuthema stellen, täglich: Wann beginnt das Sterben und wann endet das Leben wirklich? Was uns alle betrifft: Wie sorgt man rechtzeitig vor? Warum ist der Tod im Spital für Ärzte keine Option? Was hat es mit dem neuen Gesetz zur Sterbehilfe auf sich? Und inwieweit hilft Spiritualität, den Übergang in eine andere Daseinsform zu ebnen?

Die Antworten auf die großen Fragen der Menschheit kommen aus der Medizin, der Wissenschaft, dem Rechtsbereich, der Religion, der Kultur und einer Gesellschaft, die den Tod als Teil des Lebens sieht.

Dieses Buch widmen wir dem Leben.

INHALT

Die Autoren

Der Eremit

Das große Tabu

Der Seemann

Der Tod als Theorie

Ein Hoch auf die Palliativversorgung

Von Fall zu Fall

Irrsinn Reparaturmedizin

Im Voraus verfügen

»Gerlinde, der Berg ruft!«

Sterbehilfe – Mord oder Mildtätigkeit?

An der Schwelle zum Jenseits

Besuch bei den Bischöfen

Zeit für Ethik

Euren Gott gibt es nicht

Wenn Kinder sterben

Wo die Stille wohnt

Alternative Abschiedsmöglichkeiten

Und die Blätter brennen

Der Bestatter im Ruhestand

Die letzte Liste

Jemand wartet

Die Autoren

Hon.-Prof. Mag. Dr. Karl Cernic, MAS ist seit 2018 Geschäftsführer des Kärntner Gesundheitsfonds und seit 2020 Mitglied des Vorstandes der FH Kärnten University of Applied Sciences, davor seit über 16 Jahren in mehreren Stationen am Klinikum Klagenfurt, zuletzt als kaufmännischer Direktor des Klinikums, tätig. Sein umfangreiches Wissen vermittelte er als Lehrbeauftragter an der Universität Klagenfurt, der Fachhochschule Kärnten, IMC Krems und weiteren Bildungseinrichtungen. Er ist Autor zahlreicher Publikationen.

Prof. Dr. Thomas Frühwald ist Facharzt für Innere Medizin und seit 1983 in der Geriatrie tätig. U. a. Oberarzt am Haus der Barmherzigkeit in Wien, Oberarzt an der geriatrischen Universitätsklinik Genf, Oberarzt im Geriatriezentrums am Wienerwald, Oberarzt im Krankenhaus Hietzing. Mitarbeit in diversen ExpertInnengruppen zum Thema Geriatrie. Weiters war er an einigen Universitäten als Lehrbeauftragter für Geriatrie tätig. Er ist u. a. Mitglied des Wiener Beirates für Bio- und Medizinethik, Mitglied des Beirates für Altersmedizin des BM für Gesundheit und Mitglied der Österreichischen Bioethikkommission.

Univ.-Prof. Dr. Herbert Janig ist Klinischer und Gesundheitspsychologe, Prof. i. R. an der Alpen- Adria-Universität Klagenfurt. Ehem. Leitung des Studienbereichs »Gesundheit und Pflege« an der FH Kärnten. Arbeitsschwerpunkte: Projektbegleitung im Gesundheitsbereich.

Univ.-Prof. Dr. Rudolf Likar ist Facharzt für Anästhesiologie und allgemeine Intensivmedizin, außerdem Spezialisierung auf den Gebieten der Schmerztherapie und Palliativmedizin. Er ist Vorstand der Abteilung für Anästhesiologie und Intensivmedizin am Klinikum Klagenfurt und Vorstand der Abteilung für Anästhesiologie und Intensivmedizin am LKH Wolfsberg. Lehrstuhl für Palliativmedizin an der SFU Wien. Gerichtssachverständiger für Anästhesiologie, allgemeine Intensivmedizin und Palliativmedizin. Erster Vizepräsident der Österr. Palliativgesellschaft (OPG). Past Präsident ÖGARI, Generalsekretär der Österreichischen Schmerzgesellschaft (ÖSG).

Dr. Georg Pinter ist Vorstand des Zentrums für Altersmedizin am Klinikum Klagenfurt, Facharzt für Innere Medizin/ Geriatrie, außerdem Sektionsleiter für Klinische Geriatrie der Österreichischen Gesellschaft für Geriatrie und Gerontologie (ÖGGG).

Weiters ist er medizinisch-wissenschaftlicher Leiter der Schule für Gesundheits- und Krankenpflege des Landes Kärnten am Klinikum Klagenfurt und Co-Referent für Geriatrie der Österreichischen Ärztekammer.

Der Eremit

Auf dem Berg Athos zieht Nebel auf. Es ist ganz still. Eine Möwe kreist am Himmel, kreischt zweimal, fliegt weiter, als hätte sie ein Ziel und alles verstanden. Der Berg, die Weite, das Meer. Die Luft mit einer Reinheit, die alle Lungen füllt und jeden Geist klärt. Manche Plätze auf dieser Erde sind Kraftorte, und das ist so einer.

Alles strömt Kraft aus und Ruhe.

Am Fuße des Bergs legt ein Schiff an. Ein paar Besucher betreten das Land, sehen sich um, nehmen erste Eindrücke in sich auf. Ehrfurcht und Erwartung. Der Skipper legt wieder ab. Die Besucher machen sich auf den Weg. Ein Pfad führt hinauf auf den Berg. Man darf höchstens vier Tage bleiben. Vielleicht nimmt sich der Eremit Zeit für ein Gespräch. Es wäre wichtig für das Buch.

Der Legende nach ist die Jungfrau Maria auf ihrer Reise nach Zypern hier vorbeigekommen. Die Schönheit der 350 Quadratkilometer großen Halbinsel im Nordosten Griechenlands hat sie überwältigt. Gott, so erzählt man, hätte ihr daraufhin den Berg Athos als Geschenk gemacht. Als Garten, als Denkmal ihrer weiblichen Reinheit, nur bestimmt für sie als Jungfrau Maria. Ein heiliger Platz. Seit dem 10. Jahrhundert dürfen Frauen aus diesem Grund den Ort nicht betreten. Auch keine weiblichen Tiere sind willkommen; die einzige Ausnahme sind Katzen. Der Blick von oben, wo die Vögel schweben, ist einzigartig. Zwanzig Klöster stehen aneinandergereiht als kleine Stadt und bilden die Mönchsrepublik. In bunten Farben gehalten, gebaut aus mittelalterlichem Stein.

Zweitausend Mönche leben auf dem Berg Athos in einer anderen Welt, in einem Zustand gesteigerter Wahrnehmung. Ihr Geist hat eine höhere Stufe erreicht. Ihre Weisheit ist groß. Auf dem Berg Athos laufen die Uhren anders. Die Zeit, wie wir sie kennen, gilt hier nicht. Es gibt einen eigenen Ablauf nach byzantinischem Uhrwerk. Mitternacht ist, wenn die Sonne untergeht. Bis dahin sind es noch ein paar Stunden. Minuten sind nicht wichtig, Stunden nur umrissen, Tage vage. Es gibt keine Eile, keine Hast, keine Termine und kein Internet. Digitalisierung, Optimierung, Leistungsdrang. Diese Dinge sind bedeutungslos.

Das russisch-orthodoxe Großkloster Panteleimon ruht seit dem 12. Jahrhundert oben auf dem Berg wie ein Bollwerk. Es hat alles gesehen, alle Kriege, alle Feldherren, alle Freuden und Veränderungen, Abertausende Umdrehungen des Planeten. Die Doppelkirche im vierten Stock ist mit Goldschmuck verziert. Die Zarenglocke wiegt zwölf Tonnen. Ihr Gong klingt weit über den Berg Athos hinweg. Mit ihrem Schall wird die Mystik in die Welt hinausgetragen. Alles ist mit Schwingungen verbunden. Unsichtbare Fäden, die alles verweben. Viel Schall, wenig Rauch.

Jemand atmet.

Ein. Und aus.

Ein Novize geht durch das Gästehaus und wird zur Ekklesia gerufen, zur Versammlung in der Kirche. Die Morgenliturgie dauert drei Stunden. Danach machen sich die Mönche auf zur Trapezia, zum Mahl. Das Laben beginnt mit einem Gebet. Gegessen wird nur, was in der Umgebung wächst, in Demut vor der Natur. Der Mensch nimmt es in sich auf. Obst, Gemüse, Brot, Honig. Es gibt getrocknete Feigen, Krautsuppe, Fisch, aber nie Fleisch, nie.

In der Kirche verbringt der Besucher neun Stunden am Tag. Bei Kerzenlicht ertönen vierstimmige Choräle. Das Ambiente lässt die Menschen ganz von allein in eine Phase tiefer Meditation gleiten. Man ist mit sich völlig im Reinen. Abgeschirmt von äußeren Einflüssen. Das Innere füllt sich mit einem warmen Strom aus Liebe und Geborgenheit. Wenn die Sonne untergeht, kommt der Mönch mit den Schlüsseln und schließt die Tore. Alles ist friedlich und austariert, in abgestimmter Harmonie. Bevor es dunkel wird und der Sternenhimmel aufzieht.

Ermolaos sitzt beim heiligen Brunnen.

Der Eremit hat die gesamte Bibliothek aufgebaut und jedes einzelne der 25.000 Bücher inventarisiert. Jetzt kommt er nur mehr selten ins Kloster und redet wenig. Für dieses Buch hat er sich Zeit genommen, weil der Inhalt wichtig ist, die Aussage, das Erfassen. Der Tod, ach ja. Ermolaos hat schon mehrere Bücher geschrieben, in denen er das Leben der Mönche darstellt. Er lebt in einem Kellion, einem kleinen Kloster, wo er sich genug ist. Hin und wieder hat er spärlichen Kontakt zu den anderen.

Er weiß, dass es Schakale gibt, wenn er vom Kellion hinunter zur Kirche geht. Er hat keine Angst vor ihnen. Wenn der geistige Vater ihn beauftragt hinunterzugehen, wird er von keinem Tier angegriffen. Die Schakale weichen ihm aus.

»Es ist wichtig, dass man das Weltliche abstreift«, sagt er. Ermolaos schaut aus wie der junge Luciano Pavarotti, mit seinem Bart und dem schwarzen Mönchsgewand. »Es gibt einen Unterschied zwischen Tier und Mensch. Der Mensch kann beten.«

Sein Leben besteht aus sechs Stunden Schlaf, vier Stunden schreibt er seine Gedanken nieder, den Rest verbringt er im Gebet. Zeit spielt keine Rolle. Er weiß nicht, welcher Monat, welcher Wochentag, wie spät es ist. Er schreibt, was er fühlt, was er denkt. Das einzig Lebendige, das ihn umgibt, ist Pinscho, sein Hund. Ermolaos reicht dem Besucher die Hand und bietet ihm das Du-Wort an. Er nimmt sich die Zeit, die großen Fragen zu beantworten.

»Glaubst du, gibt es ein Leben nach dem Tod?«, fragt der Besucher.

Ermolaos lächelt und nickt. »Ich glaube es nicht, ich weiß es.«

»Was bedeutet der Tod für dich?«, fragt der Besucher weiter.

»Er ist für mich ein Übergang. Ich bin sicher, dass jeder Mensch in seiner Seele fühlt. Die Seele ist das Leben. Unsere Seele lebt zeitweise in unserem Leib, dann muss sie unseren Leib verlassen und in einer anderen Welt auf ewig weiterleben. Deshalb ist der Tod für mich nur ein Übergang. Mir ist egal, wann das geschieht. Ich will es nicht, ich strebe nicht danach. Ich habe absolut keine Angst. Ich bin sicher, mein Geist wird weiterleben. Was ich fühle, ist nicht mein Leib, das ist die Seele. Ich spreche mit meiner Seele, ich fühle meine Seele. Der Leib ist nur dazu da, Gefühle zu empfinden, etwas Materielles zu schaffen ist nicht das Wichtigste, das Wichtigste ist die Seele. Die Seele wird in Ewigkeit bleiben, deshalb – warum soll ich vor dem Tod Angst haben?«

Der Besucher denkt nach und fragt: »Warum haben die Menschen dann Angst vor dem Tod?«

»Weil sie keine Sicherheit haben, dass die Seele ewig leben wird. Um diese Sicherheit zu erlangen, muss man Gott kennenlernen. Die Menschen kannten Gott, haben den Kontakt zu ihm aber verloren und damit die Gewissheit, dass sie ewig leben werden. Ohne Gott ist das nicht sicher, deshalb suchen Mönche, geistliche Menschen, den Kontakt zu Gott, die meisten erreichen diesen Zustand. Diese Verbindung geschieht einmal unter einer Million Male. Und wenn es dazu kommt, dann kann der Mensch bestätigen, dass diese Verbindung möglich ist und die Seele ewig bleiben wird.«

Der Besucher wird stutzig, zweifelt an den Worten. Der Eremit kennt das. Er fragt weiter: »Gibt es einen Übergang vom Leben zum Tod? Geschieht das langsam?«

Ermolaos antwortet ohne nachzudenken: »Nein, es gibt kein Aufhören, die Seele bleibt. Was ein Mensch fühlt, kann niemand auslöschen. Wir alle sind Teile Gottes. Unsere Seele ist nicht geschaffen, sondern von Gott gegeben. Unser Leib ist geschaffen und unsere Seele ist mit diesem Leib verbunden. Und weil wir Teile Gottes sind, bleiben wir auf Ewigkeit.«

Der Besucher fragt: »Wen treffen wir dann dort in der Ewigkeit?«

Der Eremit kratzt sich den Bart. »Gott können wir auch hier und jetzt treffen, das ist wie mit sich selbst zu sprechen. Was bedeutet das? Wie ich mir verzeihe, wie ich mit mir spreche, wie ich mit mir im Herzen rede, genau so wird das Treffen mit Gott sein, denn wir sind ein Teil von ihm. Wenn wir ein Teil Gottes sind, dann sind wir alle miteinander verbunden. Ohne dich, lieber Besucher, der du vor mir stehst, gibt es keinen Gott, ohne mich gibt es keinen Gott, ohne Giuseppe Verdi gibt es keinen Gott. Jeder ist ein Teil von Gott. Wir alle sind Gott und wir alle sind einig und ewig.«

Das ist schwerer Tobak, denkt der Besucher, aber der Eremit scheint mehr zu wissen, weshalb der Besucher dranbleibt und nachhakt: »Hattest du nie Angst vor dem Tod?«

»Seitdem ich Gott gefunden habe, habe ich keine Angst.«

»Und vorher?«

Der Eremit lächelt. »Vorher, ja. Vorher hatte ich wie jeder Mensch Angst. Ich dachte, dass ist ein lösbares Problem. Ich dachte, Gott existiert und ich muss ihn finden. Als ich ihn gefunden habe, ist diese Angst verschwunden.«

Ermolaos steht auf und deutet weiterzugehen. Er führt in einen Raum, in dem Hunderte Totenköpfe Reihe um Reihe in Regalen liegen und die Besucher anstarren. Makabre Ausstellungsstücke.

»Wenn Mönche am Berg Athos sterben, werden sie nur für drei Jahren in der Erde begraben. Danach werden sie exhumiert und ihre Schädel aufbewahrt. Siehst du die unterschiedliche Verfärbung?« Er nimmt einen Totenkopf in die Hand und zeigt auf die dunklen Stellen. »Es kann sein, dass der Knochen schwarz wird, dann war der Mönch mit sich nicht im Reinen, und wenn er heilig war, dann ist die Farbe des Knochens hellgelb bis golden. Bleibt der Kopf weiß, ist der Mönch schlecht gewesen. So will es die Legende. Aber sprechen wir lieber über die Ewigkeit.«

»Ist es egal, wie man begraben wird?«

»Ja, völlig gleichgültig. Auch wenn man verbrannt wird, Gott kann dich überall finden. Man bleibt in Ewigkeit, die Seele bleibt. Auch den Leib kann Gott finden. Denn auch vom Leib bleiben Spuren.

Jedes Wort des Eremiten zeugt von einer tiefen Weisheit.

»Soll man mit Kindern über den Tod sprechen?«

Ermolaos denkt kurz nach. »Erwachsene haben selbst Schwierigkeiten, den Tod als Teil des Lebens zu akzeptieren. Wie soll man über etwas sprechen, das man nicht kennt? Kinder müssen wissen, dass das leibliche Leben einzigartig ist. Die Seele entwickelt sich nur im irdischen Leben, nach Verlassen des Leibs ist das nicht mehr möglich. Kinder müssen wissen, dass sie anständig leben, dass sie alles geben sollen und sich auch bemühen sollen, das zu verwirklichen. Das muss jeder Mensch seinem Kind beibringen.«

»Macht Gott einen Unterschied, ob jemand ein Verbrecher ist oder sein ganzes Leben anständig gelebt hat?«

Er lächelt. »Absolut nicht. Es gibt zahllose Ursachen, um zu einem Verbrecher zu werden. Ein Mensch wird auf einer Insel geboren, ein zweiter in einem Schloss, ein dritter im Dschungel. Keiner kann etwas dafür, dass es keine gerechte Verteilung von Gütern und große geografische Unterschiede gibt. Jeder braucht zu essen, jeder will ein gutes Leben haben. Wenn ein Mensch zum Verbrecher wird, so hat die Gesellschaft Schuld. Eltern, Schule, soziale Umgebung können einen guten oder einen schlechten Einfluss ausüben. Die Menschen haben viel falsch gemacht. Tausende Jahre Ungleichheit in der Gesellschaft haben dazu geführt, dass Menschen Verbrechen begehen. Und jetzt richten wir über sie. Gott wird das nie machen, wenn man ihn anerkennt und um Vergebung bittet.«

»Warum greift niemand ein und sagt, wir müssen wieder eine liebende Gesellschaft werden?«

Der Eremit schüttelt den Kopf. »Menschen setzen auf Gewalt. Solange sie nicht die Liebe als Fundament der Zivilisation erkennen, werden die Probleme bestehen bleiben.

Ich erzähle dir einen Traum – meinen Gebetstraum: Drei Neandertaler laufen in einen Wald. Dort sehen sie, die fast wie Tiere waren, das erste Mal Feuer. Zuerst ist der Schrecken groß, dann wagt einer der drei, den brennenden Stock in die Hand zu nehmen. Und er begreift, dass Feuer möglich ist. Dann sagt er zu seinen zwei Begleitern: Gott hat uns Kraft gegeben, seine göttliche Kraft. Jetzt sind wir Gottes auserwählte Menschen. Wir wurden gerufen, Gott zu dienen. Das ist ein Zeichen. Jetzt müssen wir allen Menschen sagen, dass wir auserwählt wurden, Gott zu dienen und dieses Geschenk zu bewahren. Der zweite sagt: Vielleicht will Gott, dass wir ihn weiter suchen. Wir wissen doch nicht, wie wir ihm dienen sollen. Er hat Zweifel, er weiß nicht, wie er weitermachen soll. Der Dritte sagt: Vielleicht kommt das gar nicht von Gott. Die drei Menschen haben gegeneinander gehandelt. Der Erste hat gewonnen. Er hat gesagt, dass er ausgewählt wurde, er ist jetzt Priester, er kann einen anderen Menschen zum König machen, er ist auserwählt, um allen anderen Menschen das zu erklären.

Dann hat die Geschichte der Menschheit begonnen und es war alles falsch. Diese drei Quellen: Gott zu dienen, zu zweifeln oder absolut zu verweigern. Diese drei Möglichkeiten haben sie nicht erkannt. Nur eine haben sie gewählt: Gott zu dienen. Aber sie wussten nicht, wie, und sie haben alles falsch gemacht. Dann wurde die Gesellschaft aufgebaut, Zivilisation entwickelte sich. Deshalb ist die Liebe zweitsächlich geworden und die Menschen haben sich gegenseitig umgebracht. Die Weltkriege sind die Folge davon, dass Menschen die falsche Richtung gewählt haben. Seit siebzig Jahren versuchen die Menschen, das alles wiedergutzumachen, versuchen, dass die Liebe wieder zurückkehrt. Aber das geht sehr langsam. Die Menschheit braucht Zeit. Ich bin sicher, nach fünfhundert oder tausend Jahren wird niemand über Nationalitäten sprechen, über Grenzen, Kriege und Waffen, das wird alles lächerlich sein. So wie es jetzt lächerlich ist, über Weltkriege zu sprechen. Menschen schämen sich, sich daran zu erinnern. Die Menschheit braucht Zeit.«

»Haben wir das Recht, nach ewigem Leben zu streben?«

»Warum nicht? Ja, das ist alles von Gott. Der Mensch allein kann nichts schaffen. Gott hat alles vorausgeplant, in unserem Leib, in unserem Gehirn. Wir müssen es nur entdecken. Wir können nichts entdecken, was nicht existiert. Du findest nur etwas, das schon lange existiert. Genetik, Gentechnik – alles wurde von Gott vorausgedacht. Ich lüge nicht. Ich habe Gott gesehen und weiß, was er will. Er will, dass wir alle Teile der Liebe werden, jede Sekunde sollen wir nur nach Liebe streben.«

»Hast du den Tod schon gesehen?«

»Der Tod existiert nicht. Das ist eine Nanosekunde. Wie soll man etwas sehen, das nicht existiert?«

»Du bist wohl schon viel näher bei Gott als andere.«

»Nein, das macht keinen Unterschied. Um Gott näher zu kommen, braucht man Liebe. In welcher Form man diese Liebe verbreitet, ist egal. Als Mönch, Arzt, Prediger, Alpinist – in der Liebe aufzugehen bedeutet, den Egoismus aufzuheben und für alle anderen Menschen zu leben. Zu erkennen, dass jeder andere Mensch ebenso Teil Gottes ist wie ich selbst, das ist Liebe. Wenn man das erkennt, wenn man weiß, dass jeder Mensch ein unaufhörlicher Teil Gottes ist, warum soll man dann egoistisch sein? Wenn man sich dessen ständig bewusst ist, dann ist man bei Gott – hier auf Erden als Mönch oder Arzt oder irgendein anderer Mensch.«

Draußen ertönt ein mächtiger Gong. Es ist langsam Zeit, zu gehen. Das Schiff wartet.

Die Möwe zieht ihre Bahnen.

Jemand atmet.

Ein. Und aus.

Der Nebel hat sich aufgelöst. Hinter dem Berg Athos geht die Sonne unter. Der Tag neigt sich dem Ende zu. Jemand betet.

Alles fügt sich zusammen, Anfang und Ende.

Alles ist.

Das große Tabu

Wenn die Rede auf das Thema Sterben kommt, gehen die Menschen zwei Wege: Entweder sie legen Scheuklappen an und verleugnen den Tod gänzlich oder sie machen sich lustig darüber und verdecken den Schrecken durch makabre Witzeleien. Der Wiener insbesondere. Was gibt es Eleganteres als »a schene Leich’«? Der Tod als Sinnbild für den Hang zum Morbiden.

»Der Tod, das muss ein Wiener sein«, hat Georg Kreisler einmal gesagt.

Gut, dass wir aus Kärnten sind.

Wir Ärzte wollen aufklären, Hoffnung geben. Der Tod ist nicht so furchtbar, wie alle meinen. Er gehört zum Leben, man darf ihn nicht ausblenden.

Im Alltag von Ärzten ist der Tod etwas Paradoxes. Auf der einen Seite begegnen wir ihm fast täglich, auf der anderen Seite gilt im Spital das ungeschriebene Gesetz: Der Tod existiert nicht. Als würde der Tod eines Patienten ein Scheitern des Arztes bedeuten. Genau das stimmt nicht. Der Tod ist keine Option, eine schwarze Chimäre, die durch die Gänge huscht, nicht greifbar, nicht wirklich da im Realen.

Interessant: Sterbende weinen am Ende nie. In den letzten Augenblicken sind sie meistens mit sich im Reinen. Friedlich, bevor sie loslassen. Das Leid und die Trauer treffen immer die Angehörigen, die Hinterbliebenen.

Als Mediziner müssen wir uns diesem Tabuthema stellen, es ernsthaft und umfassend besprechen. Es stellt sich die Frage: Wann beginnt das Sterben und wann endet das Leben wirklich?

Mit diesem Buch wollen wir allen Lesern die Angst nehmen vor dem Ende, ob vermeintlich oder tatsächlich. Anfang und Ende bilden immer einen Kreis und in zwei Momenten des Lebens ist der Mensch immer allein: bei der Geburt und beim Tod.

Wie sorgt man richtig vor? Was hat es mit dem neuen Gesetz der Sterbehilfe auf sich? Und inwieweit hilft Spiritualität, den Übergang in eine andere Daseinsform zu ebnen?

Die Antworten auf die finalen Fragen der Menschheit – insbesondere auf die größte überhaupt: Was ist der Sinn des Lebens? – kommen heute aus der Medizin, der Wissenschaft, dem Rechtsbereich, der Religion, der Kultur und einer aufgeklärten Gesellschaft, die den Tod als Teil des Lebens sieht.

Dieses Buch soll mit falschen Vorstellungen aufräumen und die Furcht vor dem Unbekannten nehmen. Dem Jenseits im Diesseits.

Der Tod gehört genauso zum Leben wie die Geburt. Die Geburt bekommt man bewusst nicht mit, den Tod hingegen sehr wohl. Der Tod kann auf unterschiedliche Weisen kommen. Man kann in Ruhe einschlafen, leicht erkrankt sein oder eine schwere Krebserkrankung haben und unter medikamentöser Behandlung einschlafen. Der Tod ist keine medizinische Diagnose. Der Mensch kann auch im hohen Alter friedlich einschlafen. Der Tod hat so viele Gesichter.

Es sind uns viele Erlebnisse mit Menschen in Erinnerung geblieben, die gestorben sind. Man tut sich unendlich schwer, Abschied zu nehmen. Auch das Alter spielt eine Rolle: Ob es ein Kind ist, das stirbt, oder ein erwachsener älterer Mann oder eine Greisin. Beim Kind bleibt nur eine Leere, Unverständnis über die Tatsache. Wie kann das sein? Wie kann es einen Gott geben, der zulässt, dass ein vierjähriges Mädchen stirbt? Wir werden uns diesen Fragen noch im Laufe des Buches nähern.

Der Tod gehört zum Leben. Wir müssen über ihn reden, es hat keinen Sinn, ihn zu verleugnen. Wir müssen den Tod wieder ins Leben zurückholen.

Natürlich sind auch wir Mediziner nicht frei von Angst, das möchten wir an dieser Stelle deutlich sagen. Niemand sagt: »Pah, wenn’s mich erwischt – was soll’s? Gutes Leben gehabt und tschüss.« Der weiße Kittel schützt nicht vor dem Unausweichlichen. Aber wir wollen gemeinsam lernen, damit umzugehen. Natürlich haben wir Angst. Nicht vor dem Sterben, dem Prozess an sich, sondern Angst, weil wir noch viele Dinge erledigen wollen und die Zeit so wichtig, so kurz und kostbar ist.

Als überzeugte Naturwissenschaftler lehnen wir uns aus dem Fenster und wagen Folgendes zu sagen, von dessen Richtigkeit wir überzeugt sind: Der Tod ist die Barriere vom Hier ins Jenseits. Der Tod, unser ständiger Begleiter, trägt keine schwarze Kutte und hält auch keine rostige Sense in der Hand. Der Tod ist der Übertritt vom Jetzt in eine Sphäre, die noch keiner gesehen hat.

Der Tod ist kein Fallbeil, sondern eine Tür.

Die Uhr tickt

Wir, die Autoren dieses Buches, haben jahrzehntelange berufliche Erfahrung mit sterbenden Menschen. Wir haben keine Erfahrungen, wie sich unser Sterben und unser Tod anfühlen werden, wann und wie uns der Tod ereilen wird. Wir können uns nur mithilfe eines gewissen Maßes an Lebensweisheit und unserem Einfühlungsvermögen eine Vorstellung davon machen, wie eine Vorbereitung auf den Tod aussehen könnte. Ohne Gewährleistung. Wir sind Ärzte, keine Propheten.

Gewissen steht über Gewissheit.

Die gestiegene Lebenserwartung und die Leistungen der Medizin beeinflussen unsere Vorstellungen vom Altwerden. Unser eigenes Altwerden wird ziemlich sicher nicht so vor sich gehen, wie wir uns das in jüngeren Jahren vorstellen. Wir haben zwar als Ältere die prinzipielle Chance, uns in das Erleben von jüngeren Menschen einzufühlen – unabhängig davon, ob wir es tun –, aber wir haben kaum die Möglichkeit, uns in Menschen, die älter sind als wir, einzufühlen. Altern gleicht einer Reise ins Ungewisse. Wir wissen weder, ob wir gesund bleiben oder krank werden, wie wir sterben werden, noch wann uns der Tod »am Krawattl packt«. Wir haben keine Kontrolle über unser zukünftiges Leben. Es geht uns nicht anders als der Zwiebelfliege, die sich von Schale zu Schale durchfrisst, bevor sie die nächste Schale erreicht hat, aber nicht weiß, wie sie schmeckt. Zwiebelfliegen, das sind wir.

Erik H. Erikson, ein Pionier der Erforschung der psychosozialen Entwicklung, stellte fest: Ein Kindergartenkind hat nur eine vage Vorstellung davon, was in der Schule vor sich geht, ein liebendes Paar nur wenig Vorstellung davon, wie es ist, ein Kind zu haben und wie sich die Paarbeziehung dadurch verändert, genauso wie ein 50-Jähriger nur eine ungenaue Vorstellung davon hat, wie es einem 85-Jährigen geht, den die Organe zusehends im Stich lassen.

Irgendwie klar. Jede Phase hat ihre Tücken. Blind tappen wir vor Richtung Zukunft.

Den Wunsch, alt zu werden und dabei gesund, aktiv und in gewisser Weise trotzdem jung zu bleiben, hegen viele Menschen. Genährt wird diese Hoffnung durch die kontinuierlich steigende Lebenserwartung der Bevölkerung in den vergangenen Jahrzehnten. Die Zahl der Alten hat sich in Relation zu jener der Jungen deutlich verschoben, manche fürchten sogar einen aging tsunami. Die Weltgesundheitsorganisation spricht davon, dass »die Überalterung der Bevölkerung ein menschheitsgeschichtlich beispielloses und umfassendes Phänomen mit vielfältigen Auswirkungen auf das individuelle gesellschaftliche Leben« sei.

Als Mann um die sechzig haben Sie in Österreich heute beispielsweise, statistisch gesehen, eine Lebenserwartung von rund 21 weiteren Jahren, als Frau von rund 25 Jahren. Allerdings: Statistische Durchschnittswerte beziehen sich auf die Gesamtbevölkerung, sie können ein Hinweis für uns sein, treffen aber nur sehr bedingt eine Aussage über unser persönliches Leben. Allzu leicht vergisst man, dass die Lebenserwartung einen Durchschnittswert angibt – die Hälfte der Menschen ist schon vor Erreichen dieses Durchschnittsalters verstorben. Dem Tod ist die Statistik ziemlich gleichgültig. Er verfolgt seine eigene Strategie. Das muss man ihm zugestehen. Der Tod ist ein sturer Hund.