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"Verstehen können wir die Wahrnehmung und das Verhalten unserer Patienten erst, wenn wir sie aus der Vogelperspektive betrachten. Insbesondere das sozialeund das emotionale Umfeld des Patienten geben dem Schmerzleiden seine erklärende Funktion – und bieten geeignete therapeutische Ansätze.Genau diese Perspektive bietet Ihnen das wunderbare Buch von Andreas Jelitto. Es ist aber nicht so sehr sein beeindruckender Lebenslauf und seine berufliche und politischeKarriere als Schmerzmediziner, die den Wert dieses Werks ausmachen. Es ist die ganzheitliche Sichtweise, mit der er seine Patienten beobachtet, und sein feines Gespür für ihren Kontext, was die Sammlung der Geschichten so lesenswert gestaltet."PD Dr. med. habil. VOLKER BUSCH
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Seitenzahl: 207
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ANDREASJELITTO
Lösungen für einen heilsamen Umgangmit chronischem Schmerz
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
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© Verlag Fischer & Gann in Kamphausen Media GmbH, Bielefeld 2019, [email protected]
Lektorat: Ulrike Frühwald, Hamburg
Umschlaggestaltung | Layout, Satz, Illustrationen: Gesine Beran, Turin, Italy
Umschlagmotiv: © Shutterstock | Weerachai Khamfu
Abbildung auf Seite 79: Rattlesnake © Fotolia | Juulijs
eBook Gesamtherstellung:
Bookwire GmbH, Frankfurt a. M.
ISBN 978-3-903072-76-3 | ISBN E-BOOK 978-3-903072-77-0
www.fischerundgann.com
FÜR NOAH UND ELIAS
Geleitwort
Vorwort
EINLEITUNG
Die Herausforderung chronischer Schmerz
Einstieg in das bio-psycho-soziale Krankheitsmodell
Zu diesem Buch
KAPITEL 1EINE KRANKE(N-)GESCHICHTE
Akut versus chronisch
Die Flaggen
KAPITEL 2EINE KURZE GESCHICHTE ZUR ZEIT
Schmerz, wie geht das?
KAPITEL 3SEIN ODER NICHT-SEIN, DAS IST HIER DIE FRAGE
Schmerz als Lernmittel
KAPITEL 4WENIGE SEKUNDEN REICHEN
Modulation von Schmerzen
KAPITEL 5DIE FRAU MIT DEM SPITZEN SCHUH
Emotion und Bewegung
KAPITEL 6ANSTELLEN
Gegenden der Schmerzrepräsentation
KAPITEL 715 WAYS TO LEAVE
Gewalt und Schmerz
KAPITEL 8NOTLÖSUNG
Umgang mit Machtlosigkeit – Konversion
KAPITEL 9DER ORDNUNGSHÜTER
Bewusst versus unbewusst
KAPITEL 10DIE GESCHICHTE VOM DR.-BEST-MANN
Spiegelneurone
KAPITEL 11MEINE FIBRO
Zurück zum Ich
KAPITEL 12WIE GELINGT SCHMERZTHERAPIE?
Ausleitung
Schlusswort
Dank
ANHANG
Randbedingungen
Glossar
Literatur
SCHMERZEN – NICHT ALS SYMPTOM einer akuten Schädigung, sondern in ihrer chronischen Form – als Ausdruck einer eigenständigen Erkrankung gehören zu den großen Herausforderungen der Gesundheitssysteme der westlichen Welt im 21. Jahrhundert. Während Verständnis, Kenntnis und Möglichkeiten der Behandlung akuter Schmerzen aktuell besser sind als jemals zuvor, steigt die Zahl der von chronischen Schmerzen geplagten Betroffenen seit Jahrzehnten kontinuierlich an.
Die Ursachen hierfür sind mannigfaltig und liegen nicht nur in der besonderen Form der bewussten Wahrnehmung von Schmerzen – an der Grenze zwischen körperlicher und seelischer Existenz – begründet, sondern auch an der kontextabhängigen Fähigkeit des Menschen, sie zu bewältigen oder zumindest in ihrer mitunter wahrhaft überwältigenden Macht so weit einzuschränken, dass ein selbstbestimmtes Leben möglich wird.
Bei keiner anderen chronischen Erkrankung ist die moderne Medizin dabei so sehr auf die Zusammenarbeit mit den Betroffenen und deren Fähigkeit zur Selbsthilfe angewiesen wie bei chronischen Schmerzen. Bei keiner anderen chronischen Erkrankung sind die Beschränkung der modernen Medizin, der Unterschied zwischen naturwissenschaftlich fundiertem Handwerk und ärztlicher Kunst so evident und der Bedarf an einem partnerschaftlichen Vorgehen von Patient und Arzt so entscheidend wie bei chronischen Schmerzen. Und bei keiner anderen chronischen Erkrankung hängt der Unterschied zwischen Erfolg und Misserfolg jedweder Therapie so stark von einer ganzheitlichen Betrachtungsweise ab, weit jenseits dessen, was einst vielleicht einmal der akute Auslöser gewesen sein mag.
Dass ein solches Vorgehen sinnvoll ist, erscheint verständlich. Dass es nicht nur helfen, sondern in scheinbar ausweglosen Situationen auch konkret nützen kann, über den Tellerrand der organischen Störung hinauszublicken und den Menschen in der ganzen Fülle seiner individuellen Besonderheiten miteinzubeziehen, wird offensichtlich, wenn man sich den Ausführungen in diesem medizinischen Kleinod widmet, welches so viel mehr ist als nur ein Sachbuch zum Thema Schmerz.
Es wäre allen Betroffenen zu wünschen, wenn der, immer wieder gerade auch zwischen den Zeilen aufblitzende, langjährige Erfahrungsschatz des Autors und seine große Empathie letztlich auch Eingang in unsere immer technokratischere (schmerz)medizinische Versorgungsrealität finden könnte. Mehr hiervon kann in keinem Fall schaden!
PD Dr. med. MICHAEL A. ÜBERALL
Präsident – Deutsche Schmerzliga (DSL) e.V.Vizepräsident – Deutsche Gesellschaft für Schmerzmedizin (DGS) e.V.g
ALS ICH WÄHREND DER DIESJÄHRIGEN Fußball-Weltmeisterschaft ein Spiel im Fernsehen verfolgte, bei welchem die Kamera aus unbekannten Gründen für mindestens 20 Sekunden den Schiedsrichter fokussierte, fiel mir etwas auf: Das Verhalten dieses Mannes, den ich aufgrund der engen Kameraperspektive völlig aus seinem Kontext herausgelöst betrachtete, mutete mehr als seltsam an. Stellen Sie sich doch mal vor, Sie hätten noch nie ein Fußballspiel gesehen und Ihr erster »Kontakt« hiermit wären die besagten 20 Sekunden, von denen ich hier spreche. Sie würden sehen, was ich sah: Ein erwachsener Mann in schwarzen Kniestrümpfen rennt rückwärts mit einer Trillerpfeife im Mund über eine Wiese, hält plötzlich an und streckt nacheinander zwei bunte Karten in die Luft. Danach sprüht er unvermittelt eine verschwenderische Menge Schaumfestiger auf den Boden und bläst in seine Pfeife. Mal ehrlich: Wirkt ein solches Verhalten nicht ganz schön psychisch auffällig, zumindest aber irgendwie unerklärlich?
Wie immer ist es jedoch eine Sache der Perspektive. Denn sobald die Kamera aufblendet und wir den Schiedsrichter im Kontext des ganzen Spiels wahrnehmen, wird seine Rolle auf einmal deutlich und selbst die lächerlichen Kniestrümpfe, die bunten Karten und der Markierungsschaum werden plausibel. Der Kontext hilft also zu verstehen. Die Wahrheit wird in der Regel immer aus einer ganzheitlichen Perspektive erkennbar.
Ganz genauso geht es uns bei unseren Schmerzpatienten. Die Fokussierung auf ihre Schmerzen (wo, wann und wie stark sie auftreten) führt zu klassischen anamnestischen Fragen und liefert zweifelsohne wichtige Informationen. Aber diese bleiben so lange unzureichend oder ggf. sogar missverständlich, so lange wir sie aus dem Kontext des Patienten herausgelöst betrachten. Ein zu früher oder starker Fokus beengt unser diagnostisches Gesichtsfeld. Verstehen können wir die Wahrnehmung und das Verhalten unserer Patienten erst, wenn wir sie aus der Vogelperspektive betrachten. Insbesondere das soziale und das emotionale Umfeld des Patienten geben dem Schmerzleiden seine erklärende Funktion – und bieten geeignete therapeutische Ansätze.
Genau diese Perspektive bietet Ihnen das wunderbare Buch von Andreas Jelitto. Es ist aber nicht so sehr sein beeindruckender Lebenslauf und seine berufliche und politische Karriere als Schmerzmediziner, die den Wert dieses Werks ausmachen. Vielmehr ist es die ganzheitliche Sichtweise, mit der er seine Patienten beobachtet, und sein feines Gespür für ihren Kontext, was die Sammlung der Geschichten so lesenswert gestaltet:
»Die Geschichte vom Dr. Best-Mann« beispielsweise beschreibt einen Kopfschmerz als Folge einer inneren Blockade, die gelöst werden konnte, weil die Perspektive vom Kopf auf die Wohnsituation des Patienten erweitert wurde. »Die Frau mit dem spitzen Schuh« erzählt die beeindruckende Kraft einer unterdrückten Emotion, die so lange Beinschmerzen verursachte, bis der emotionale Kontext erkannt und ein neues Ventil gefunden wurde.
Die Leistung des Buches ist der Panoramablick des Autors, mit welchem er Menschen betrachtet und ihr Leiden versteht. Daraus leitet er in zahlreichen Beispielen Möglichkeiten einer Behandlung ab, die den Patienten den Umgang mit ihren Beschwerden effektiv erleichtert und die einen als Leser mitunter gleichermaßen staunen wie schmunzeln lassen. Schwarze Kniestrümpfe bedarf es hierfür nicht. Gott sei es gedankt …
PD Dr. med. habil. VOLKER BUSCH
Facharzt für Neurologie, Psychiatrie und PsychotherapieLeiter der wissenschaftlichen AG Psychosozialer Stress und Schmerzan der Universitätsklinik für Psychiatrie und Psychotherapie/Medbo GmbH Regensburg
ICH SITZE IM ZUG, einem von diesen schnellen mit großen Fenstern, die man selber nicht aufmachen kann (ja, ich fahre immer noch mit der Deutschen Bahn, bin schon als Gymnasiast jeden Schultag mit dem Zug zur Kreisstadt und wieder zurück in die Heimatstadt gefahren). Zeit für eine Zeitung (ja, ich bin bekennender Analog-Fan, ich blättere immer noch lieber mit zwei Fingern um als mit einem). Darin Werbung ohne Ende, unter anderem für Schmerzmittel. Jetzt wird’s interessant, da bin ich natürlich angesprochen. Nicht als Konsument, sondern als Therapeut.
Da wird in Hochglanz ein Mittel angepriesen, das immerhin Minuten schneller wirkt als das Konkurrenzpräparat. Dafür werden (neuerdings neudeutsch als »Golden Ager« bezeichnete) Senioren fotografisch perfekt in Szene gesetzt, um klarzumachen, dass sie nicht nur sich, sondern mindestens noch ein Sportgerät und ihre Enkel mühelos durch die Gegend tragen können. Da werden »Vorher-Bilder« mit Händen, die mühsam einen rot leuchtenden Rücken stützen, schmerzverzerrten, geplagten Gesichtern und niedergeschlagen gesenkten Köpfen in Kontrast gestellt zu »Nachher-Bildern«, auf denen strahlende Gesichter und rot-weiß kariert behemdete Bergwanderer Aktivität und Attraktivität ausstrahlen.1
Ist es das, was es braucht bei der Behandlung von Menschen, die an chronischen Schmerzen leiden? Ein Minutenvorteil bei einer Erkrankung, die oft jahre- oder gar jahrzehntelang andauert? Wird hier nicht die Illusion verkauft, immer mehr, immer schneller Schmerzfreiheit erkaufen zu können?
Aus meiner mittlerweile jahrzehntelangen Erfahrung in der Behandlung von Menschen mit chronischen Schmerzen weiß ich: Chronischer Schmerz ist anders, ist viel mehr. Chronischer Schmerz ist eine große Herausforderung.
DIESE HERAUSFORDERUNG STELLT SICH zunächst für den Patienten selbst, der erlebt, wie der Schmerz immer größere Anteile seines Alltags besetzt. Am Anfang greift der Schmerz vielleicht nur leicht in seine alltäglichen Aktivitäten ein, z. B. indem der Betroffene spürt, dass längeres Stehen am Arbeitsplatz, langes Sitzen beim Autofahren oder auch Haushaltsaktivitäten schmerzhaft eingeschränkt sind. Er leidet daran, dass für ihn eigentlich ganz normale Funktionen gestört sind. Im Verlauf kann der Wunsch entstehen, etwas zu unternehmen, damit das Symptom verschwindet, z. B. durch die Einnahme von Schmerzmitteln.
Doch oft wirken diese nur anfangs, im weiteren Verlauf immer weniger, und auch die Erfahrung, dass Medikamente irgendwann nicht mehr wirken, wird schmerzlich erlebt. Später müssen viele Betroffene erleben, wie der Schmerz als scheinbar selbstständig handelnder Täter immer mehr Zugriff auf immer mehr Bereiche des Alltags gewinnt und sie nichts daran ändern können.
Häufig schildern meine Patienten, wie am Anfang der Schmerz kam und wieder ging, wie er dann immer öfter kam und immer länger blieb, bis zum Dauerschmerz, »der einfach nicht mehr wegging« (gerade hier wird deutlich, dass Schmerz als handelndes Subjekt erlebt wird). Je mehr Zeit mit dem Schmerz verbracht wird, wenn dieser auch nachts nicht lockerlässt und gar die Nachtruhe unterbricht (Schlafstörungen sind ein sehr häufiges Begleitsymptom bei chronischen Schmerzen), desto größer sind die Auswirkungen auf die persönliche Erholungs- und Regenerationsfähigkeit.
Diese erlebte Zermürbung hat ihrerseits weitergehende Folgen und verstärkt den erlebten Schmerz im Sinne eines sich selbst verstärkenden Kreislaufs. Immer wieder beschreiben Patienten eine Zunahme ihrer Schmerzintensität von einem anfänglichen, gelegentlichen leichten Flüstern über ein Anzischen, ein Anherrschen, dem jeweils noch entgegnet werden kann. Später wird daraus ein vorwurfsvolles Anklagen, das vielleicht zeitweise noch besänftigt werden kann, bis der Schmerz den Betroffenen sozusagen anschreit. Bis diesem nichts mehr anderes übrigbleibt, als sich bildlich gesprochen die Ohren zuzuhalten und sich zu verkriechen.2
Die gleiche Zunahme erfahren Patienten auch auf der Ebene der räumlichen Ausdehnung. Zunächst eng begrenzte schmerzhafte Areale werden größer, auch zahlreicher. Erlebt wird, wie bisher friedliche Körperbereiche angegriffen und besetzt werden, »es breitet sich aus«, bis hin zu Schmerzerkrankungen, bei denen in sämtlichen Körperregionen ein Schmerzempfinden vorhanden ist.
Patienten erzählen, wie sie ihren Schmerz als übermächtiges Etwas mit Handlungs- und Bestimmungsmacht erleben, das Besitz von ihnen ergreift. Ihr Schmerz wird so zum feindlichen Gegenüber, das bekämpft werden muss. Und für diesen Kampf gilt es, sich Unterstützer zu besorgen, die in der Lage sind, ihrerseits mächtige Waffen gegen den Gegner Schmerz einzusetzen. Im englischen Sprachraum werden Schmerzmittel dementsprechend als »painkillers« (wörtlich: Schmerztöter) bezeichnet.
Eine große Herausforderung stellt das Leiden an chronischen Schmerzen auch für diejenigen dar, die dank ihrer Ausbildung in der Lage sein sollten, Schmerz mit einem ganzen Arsenal3 von Maßnahmen zu bekämpfen. Leider taugen diese Maßnahmen in der Regel nur zur Behandlung von akuten Schmerzen. Hier kommt es nämlich auf zügigen Wirkungseintritt, Entzündungshemmung, Reparatur von Beschädigungen etc. an, und hier sind diese Maßnahmen außerordentlich erfolgreich.
In der Behandlung von chronischen Schmerzen gelten, und das ist wissenschaftlich schon lange gesichert, allerdings vollkommen andere Bedingungen, und der Großteil dieses Buchs wird darauf abzielen, diese Bedingungen deutlich und verstehbar zu machen.
RICHARD A. DEYO, Professor für Evidence-based Medicine an der Oregon Health & Science University, also einer der Mediziner, die sich mit dem Nachweis der Wirksamkeit (oder eben auch Unwirksamkeit) einzelner Behandlungsmaßnahmen beschäftigen, wird hier ganz deutlich: »There is no magic bull for chronic back pain, and expecting a cure from a drug, injection, or operation in chronic low back pain is generally wishful thinking.« [0-1] Auf Deutsch: Es gibt keine Zauberformel für chronische Rückenschmerzen, und die Erwartung von Heilung durch ein Medikament, eine Injektion oder eine Operation bleibt in jedem Fall bloßes Wunschdenken. [Übers. durch Verf.]
WERFEN WIR EINEN BLICK DARAUF, wie die Gesundheitswelt der westlichen Industriestaaten funktioniert: Die Basis liefert eine technisierte Apparatemedizin mit einem vorherrschenden technisch-naturwissenschaftlich ausgerichteten Blick auf den Menschen. In diesem Medizinsystem gelangen Patienten mit beginnend chronisch werdenden Schmerzen in die Behandlung von Ärzten, die mittels ihrer apparativen Diagnostik (Röntgen, CT, MRT, Labor u. v. m.) und auch ihrer persönlichen Untersuchung in der Lage sind, jede körperliche Normabweichung zu erfassen und zu dokumentieren.
Diese Behandler sind jedoch nicht hinreichend dafür ausgebildet, die für die Entwicklung einer chronischen Schmerzerkrankung wesentlichen Faktoren überhaupt in den Blick zu bekommen. Sie leisten mittels ihrer Methodik viel mehr selbst einen wesentlichen Beitrag zur Verschlimmerung in Richtung einer weiteren Chronifizierung, eines verstärkten Chronischwerdens mit im Verlauf steigender Notwendigkeit für eine immer aufwendigere Behandlung.4
Zwar gehört der Umgang mit dem gesamten Bereich der chronischen Erkrankungen (nicht nur in der Schmerzmedizin, sondern in allen anderen Bereichen ärztlicher Heilkunst) zu den traditionellen und wesentlichen ärztlichen Arbeitsfeldern gerade auch in einer zunehmend älter werdenden Gesellschaft, allerdings werden die speziellen hierzu erforderlichen Qualitäten des Therapeuten sowohl in der aktuellen Ausbildungslandschaft als auch im Medizinbetrieb weder ausreichend gefördert noch ausreichend honoriert.
Wo das Problem des Behandelten mit dem Werkzeug des Behandlers nicht zusammenpasst, ist Scheitern bei der Problemlösung häufig. Stellen Sie sich vor, wie ein an Schmerzen leidender Mensch sich vertrauensvoll in Behandlung begibt und erlebt, dass diese ihm nichts nützt. Wenn das sogar mehrfach passiert, wenn die Behandlung mehrfach scheitert, dann kann der Griff nach dem Strohhalm zu einer routinierten Handlung werden, trotz wiederholter Erfahrung, dass ein Halm eben keinen sicheren Halt bietet. Wie oft lesen wir gerade in Werbeanzeigen, aber auch in zahlreichen Medien Heilsversprechungen der Art »Schmerzfrei in ABC Wochen mit der Methode XYZ!«. Wie oft bekommen Menschen mit chronischen Schmerzerkrankungen sogenannte Empfehlungen aus ihrer persönlichen Umgebung wie »Nimm doch mal ein richtiges Schmerzmittel!« oder auch »Mach doch mal dies oder jenes, das hat doch XY auch geholfen!« und erleben diesen doch nur gut gemeinten vermeintlichen Ratschlag als Entwertung. Logisch, dass sie sich nicht ernst genommen fühlen, Ablehnung spüren und dadurch ihre Hilflosigkeit verstärkt, geradezu zementiert wird. Vertröstungen durch Ärzte (»In sechs Wochen müsste es eigentlich viel besser sein«) lassen wertvolle Zeit verstreichen.
Patienten erleben den von ihrem Behandler gesprochenen Satz »Ich kann (ersatzweise auch »wir können«) nichts mehr für sie tun« wie einen Niederschlag, der das Gefühl entstehen lässt, die eigenen Wünsche an ein normal lebbares Leben mit einer vorher für selbstverständlich gehaltenen Lebensqualität beerdigen zu müssen.
NICHT NUR FÜR DIE PATIENTEN und ihre Behandler, sondern gerade auch für die Umgebung, insbesondere für die Angehörigen von Schmerzpatienten, stellt chronischer Schmerz eine große Herausforderung dar. Oft sind die Angehörigen in das Hilflosigkeitserleben eingebunden, auch ihr Alltag wird durch die Schmerzerkrankung ihres leidenden Familienmitglieds erheblich beeinträchtigt. Partner, Kinder, Eltern und Freunde (oft bleiben nicht mehr viele übrig!) leisten einen oft beträchtlichen zeitlichen Aufwand, sei es als Begleiter, Transporteur, Versorger etc. Häufig tragen sie vielfältige zusätzliche Belastungen durch eigene Mehrarbeit, Versorgungsleistungen und Einschränkungen der eigenen Freizeit. Gerade in fortgeschrittenen Stadien der Schmerzerkrankung leiden alle Beteiligten unter den finanziellen Einbußen, die durch Arbeitsunfähigkeit, Berufsunfähigkeit oder sogar Erwerbsunfähigkeit hervorgerufen werden (und auch unter den sehr oft erlittenen Entwertungserfahrungen innerhalb von Rentenverfahren). Nicht zuletzt entsteht Leidensdruck bei Angehörigen, wenn sie erleben müssen, dass eine früher ganz normale Kommunikation mit dem Betroffenen nicht mehr stattfindet, dass Rückzug als ganz normale Folge des dauernden Schmerzes entsteht, bis hin zum Verlust sämtlicher Kontakte – in der Nachbarschaft, im Vereinsleben, jeden zwischenmenschlichen Bereich betreffend.5
Von außen, mit geschultem therapeutischen Blick sozusagen, kann allerdings auch wahrgenommen werden, wie im aus dem Patienten und seinen Angehörigen bestehenden System eingefahrene Umgangsweisen, speziell die routinierte Beschäftigung mit nichts anderem als dem Schmerz, ihrerseits krankheitsverschlechternd und symptomfixierend wirken können und mögliche Lösungswege versperren.6
Wenn Kinder von Menschen mit chronischen Schmerzen erleben müssen, dass ein Elternteil seiner Rolle nicht gerecht werden kann und als Vorbild oder Stütze wegbricht, können sie selbst in ihrer persönlichen emotionalen und sozialen Entwicklung erheblich beeinträchtigt werden. Dieses Erleben dringt in der Regel nicht in die soziale Umgebung oder wird von ihr nur selten wahrgenommen. Erforderliche Hilfen und Entlastungsmöglichkeiten sind real kaum vorhanden oder werden nur selten in Anspruch genommen.
Auch die Behandler von Menschen mit chronischen Schmerzen geraten an ihre Grenzen. Immer wieder müssen sie erleben, dass sie mit bestem Wissen und Gewissen aus der Perspektive ihres Fachgebiets sachgerecht ihre Behandlungsmethoden anwenden, diese aber nicht den erwarteten Erfolg erzielen. Sie verschreiben ihnen vertraute Medikamente, doch diese wirken bei Schmerzpatienten nicht oder kaum, stattdessen treten unübliche Nebenwirkungen auf. Sie müssen zur Kenntnis nehmen, dass sich die Schmerzausbreitung bei ihren Patienten nicht an die von ihnen erlernten anatomischen Strukturen hält. Sie müssen verarbeiten, dass der gegenübersitzende Schmerzpatient lächelnd von stärksten Schmerzen erzählt. Behandler geraten im Umgang mit Menschen mit chronischen Schmerzen immer wieder in Situationen, die mit dem Begriff »schwierig« beschrieben werden müssen. Von zahlreichen Patienten habe ich gehört, dass sie in einer solchen Situation das Empfinden gehabt hätten, dass ihnen nicht geglaubt werde, nach dem Motto »Das bilden Sie sich nur ein«, obwohl das direkt so nicht kommuniziert wurde.
CHRONISCHER SCHMERZ IST NICHT ZULETZT eine Herausforderung für unser Gesundheitssystem. Seine Behandlung stellt eine sehr große und ständig wachsende finanzielle Belastung dar. Dabei sind weniger die direkten Behandlungskosten, also die Ausgaben für diagnostische Verfahren (insbesondere Bildgebung), für Medikamente und Hilfsmittel, für ambulante ärztliche Behandlung, für ambulante nichtärztliche, vor allem physiotherapeutische Behandlung und für stationäre Behandlung inklusive operativer Eingriffe und stationäre Rehabilitation das Problem. Noch viel mehr belasten die indirekten Kosten der chronischen Schmerzerkrankungen die Budgets der Versicherungsträger innerhalb des solidarisch finanzierten Gesundheitswesens. Richtig teuer sind insbesondere die Aufwendungen für Lohnersatzkosten und Frühverrentungen.
Die im Juni 2007 veröffentlichte Bertelsmann-Studie »Gesundheitspfad Rücken« sieht Rückenschmerzen als bedeutendes sozioökonomisches Problem mit einem hohen Anteil indirekter Kosten (70 % bis 90 % der Gesamtkosten). Sie sieht auch ein großes Einsparpotenzial bezüglich der Verringerung der Arbeitsunfähigkeitstage. So werden allein für das Jahr 2002 eine volkswirtschaftliche Gesamtbelastung von ca. 20 Milliarden Euro (direkt: 8,4 Milliarden Euro, indirekt: 11,7 Milliarden Euro) sowie 400.000 verlorene Erwerbstätigkeitsjahre genannt. [0-3]
Als Präsident des Dachverbands der Europäischen Schmerzgesellschaften EFIC schätzt Professor KRESS anlässlich des EFIC-Kongresses 2013 in Florenz die direkten und indirekten Kosten chronischer Schmerzen auf 1,5 % bis 3 % des europäischen BIP, in konkreten Zahlen heißt das: 300 Milliarden Euro EU-weit für die direkten plus indirekten Gesundheitskosten, 500 Millionen Arbeitstage EU-weit. Beide Angaben beziehen sich auf nur ein Jahr. [0-4, 0-5]7
In einer solchen Situation muss intensiv darüber nachgedacht werden, wie diese immensen Kosten reduziert werden können. Aus der Erkenntnis, dass in der Behandlung von chronischen Schmerzen auch auf der Kostenerstattungsseite einige strukturelle Fehler eingebaut sind, werden zurzeit im Rahmen von Modellprojekten Modelle für eine zukunftsträchtige Behandlung chronischer Schmerzen erprobt. Auch im Bereich der Ausbildung von Ärzten, die in der Approbationsordnung festgelegt ist, bestehen strukturelle Defizite. Nach jahrelanger Auseinandersetzung wurden diese anerkannt, die Approbationsordnung wurde mit der Einführung des Pflichtlehre-Querschnittfachs Schmerzmedizin (Q14) erweitert, mit dessen Umsetzung erstmalig im Wintersemester 2014 begonnen wurde.
Es wird also einiges getan, aber es gibt noch viel zu tun.
VON DER BESCHREIBUNG DER RANDBEDINGUNGEN für die Behandlung von chronischen Schmerzen möchte ich jetzt wieder zum Kern meines Anliegens zurückkehren. Aus meiner Sicht ist eine wesentliche Aufgabe in der Behandlung von Menschen mit chronischen Schmerzen die Kenntlichmachung des Inhalts der Aussage »Es tut so weh« als etwas Einzigartiges, das zur individuellen Person und Geschichte desjenigen gehört, der den Schmerz fühlt. Mit der Entdeckung und Aufdeckung des Inhalts (was wahrlich eine spannende Aufgabe ist, wie wir in den folgenden Kapiteln noch sehen werden) wird der scheinbar handelnde Täter »Schmerz« degradiert und vom handelnden Subjekt zu einem behandelbaren Objekt. Schmerz ist immer persönlich.
Mit der Enthüllung (die eigentlich einer Entkleidung gleichkommt, bei der oft mehrere Schichten abgelegt werden müssen), der Entdeckung der Zusammenhänge mit der eigenen Biografie und der Identifizierung des Ichhaften am Schmerz erhält die Schmerztherapie auch einen großen pädagogischen Anteil. Englisch sprechende Menschen drücken es so aus: »No brain, no pain« (wörtlich: kein Gehirn, kein Schmerz).8
Gleichzeitig gilt es, deutlich zu machen, dass diese Enthüllung überhaupt nichts mit einer Psychiatrisierung zu tun hat. Der Therapeut hat dem Patienten deutlich zu machen, dass eine chronische Schmerzkrankheit eben keine psychische Erkrankung ist (wenngleich sie einerseits erhebliche psychische Folgen haben und zum Beispiel in eine Depression münden kann und andererseits auch durch einige psychische Begleiterkrankungen beeinflusst werden kann). Behandlern und Behandelten sollte klar sein, dass der Satz »Das bilden Sie sich nur ein« in der Therapie von Menschen mit chronischen Schmerzen überhaupt keinen Platz hat.
Aus therapeutischer Sicht ist es weiterhin notwendig, stets den aktuellen Erkenntnisstand bezüglich der Physiologie der Schmerzentstehung, der Schmerzverarbeitung, der Schmerzverstärkung und der Schmerzbeeinflussung bei der Behandlung von Menschen mit chronischen Schmerzen zu berücksichtigen. Das heißt, ich als Behandler muss diese Zusammenhänge kennen und ich muss sie vor allem vermitteln, am besten auch noch verständlich.
Jahrhundertelang wurde das durch DESCARTES geprägte Bild eines Körpers einerseits, der eine Beschädigung erleidet, und andererseits eines Gehirns, in dem die Seele diese »Erleidung« erlebt, fortgeschrieben und in der technisierten Medizin auf die Spitze getrieben. Diese Zweiteilung von Leib und Seele zu überwinden ist eine weitere große Aufgabe. Zu ihrer Lösung ist ein personhafter Zugang (ich verwende diesen umständlichen Begriff, um deutlich zu machen, dass eine Person und ihr Körper untrennbar verbunden sind, sozusagen miteinander verhaftet sind) zu dem »Schmerzenden« erforderlich.
Der Begriff des »Schmerzenden« beinhaltet mehrere Ebenen und Aspekte gleichzeitig: Er umfasst sowohl das Schmerzempfinden in seiner Qualität und Quantität als auch das Schmerzareal sowie das Erlebte und das Geäußerte. Wir werden im Verlauf des Buchs Gelegenheit haben, uns diesen Aspekten zu widmen.
Hier hat die funktionelle Bildgebung des Gehirns einen wesentlichen Beitrag geleistet, insbesondere konnten mit der fMRI (funktionelle Magnet-Resonanz-Tomografie, eine Bildgebung, bei der durch die Messung der Stoffwechselleistung sozusagen dem Gehirn bei der Arbeit zugesehen werden kann) erhellende Einblicke in die Funktionsweise des menschlichen Gehirns gewonnen werden. Mit zunehmender zeitlicher und räumlicher Auflösung des Verfahrens werden weitere Details des in den Grundzügen schon recht gut verstandenen schmerzverarbeitenden Netzwerks beschrieben werden können.
Nicht zuletzt gilt es, deutlich zu machen, wie Schmerz, insbesondere chronischer Schmerz, neben den biografischen und Beziehungsaspekten untrennbar in einen sozialen Kontext eingebunden ist – wie der gesamte Mensch eben auch. Hierzu können unter anderem berufs-, schicht-, gender- und geschlechtssowie insbesondere kulturspezifische Faktoren gefunden werden, deren Benennung oft neue Aspekte in die Behandlung der individuellen Schmerzerkrankung einbringt und weitere Lösungsmöglichkeiten eröffnet.9 Ich will an dieser Stelle Begrifflichkeiten wie Handlungsmacht, Selbstverantwortlichkeitsempfinden und Selbstüberzeugung in einer globalisierten Welt oder die in allen Bereichen der Berufswelt auftretende Leistungsverdichtung bis hin zu der Tatsache, dass selbst Arbeitspausen unter dem Aspekt der Leistungsoptimierung gestaltet werden (Stichwort Powernapping), nur andeuten, von unserer Art der Freizeitgestaltung und der Durchdringung unseres Alltags mit elektronischen Medien und deren Auswirkungen auf das Stresserleben gar nicht erst zu sprechen.
Mit diesem Buch möchte ich Patienten, deren Angehörigen und den Behandlern (nebenbei auch den Akteuren im Gesundheitswesen) eine Sichtweise auf den chronischen Schmerz vorstellen, die es ermöglicht, die wesentlichen schmerzbeeinflussenden Faktoren in das eigene Blickfeld rücken zu lassen. Diese Sichtweise ist aus meiner Erfahrung von mittlerweile mehr als 20 Jahren klinischer Zusammenarbeit mit Menschen mit chronischen Schmerzen erwachsen. Menschen, mit denen ich nach teilweise fünfzehn oder mehr Vorbehandlern in Kontakt kam, die das gesamte Spektrum der therapeutischen Bemühungen hinter sich hatten (beziehungsweise überstanden hatten, manchmal auch mit schweren und unumkehrbaren Folgen) und von denen ich das lernen konnte, was in den vorhandenen Lehrbüchern der beteiligten Fachdisziplinen kaum oder gar nicht enthalten ist.
Eine gleichzeitig befragende Betrachtungsweise, die nicht nur eine Sicht-, sondern auch eine Hör-, Tast-, Riech- und Fühlweise ist, die die unterschiedlichen eigenen Sinnesleistungen mit einschließt und im Vertrauen auf die eigene WAHRnehmung Sachverhalte so präzise erfassen kann, dass über eine Problemformulierung auch eine Lösungserarbeitung möglich werden kann. Jenseits der einengenden fachärztlichen Perspektive, aber zwingend unter Einbeziehung der notwendigen fachärztlichen Expertise, interdisziplinär in sich und mit den unterschiedlichen, gerade auch nicht ärztlichen Disziplinen kooperierend, kann diese Sichtweise ein Panoramabild des Untersuchungsgegenstands liefern, die eine Unterscheidung von Vordergrund, Mittelgrund und Hintergrund ermöglicht.
Dieser Untersuchungsgegenstand ist der Mensch mit allen seinen Fähigkeiten, Unzulänglichkeiten, Erfahrungen. Daher kann meines Erachtens und meiner Erfahrung nach Schmerztherapie nur unter Berücksichtigung der spezifischen, individuellen Biografie eines Menschen unter Einschluss seiner schmerzlichen und schmerzhaften Erfahrungen, aber auch seiner Bewältigungsstrategien und seiner Sicht auf seine Geschichte gelingen.
Schmerzmedizin eben. Gelingend. Nebenbei kostengünstig.
ALLE HIER BESCHRIEBENEN FÄLLE habe ich zur Wahrung der Anonymität sowohl bezüglich der Namens-, Orts-, Alters-, Berufs-, Zeit- und Beziehungsangaben verfremdet. Nichtsdestotrotz haben sie sich genau so abgespielt; der Inhalt, die darin enthaltenen Beziehungen und der Kontext sind in der literarisch verfremdeten Veränderung in der Substanz unverändert geblieben.
Zugunsten der Aufrechterhaltung des Erzählflusses sowohl in den Fallgeschichten als auch in den dazugehörigen Sachgeschichten habe ich an manchen Stellen auf eine Beschreibung von detaillierten physiologischen und anatomischen Zusammenhängen verzichtet, stattdessen werden solche Zusammenhänge innerhalb des Glossars am Ende des Buchs dargestellt.