Es waren stille Tage - Wolfgang Brammen - E-Book

Es waren stille Tage E-Book

Wolfgang Brammen

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Beschreibung

Sechs Erzählungen, wie das Leben sie wohl schreiben könnte, vielleicht auch schon geschrieben hat, genauso oder so ähnlich, irgendwann, irgendwo. Oder sind es vielleicht eigene Erlebnisse, zumindest ein Teil davon, von denen der Autor erzählt? Erträumte er sie sich, sehnte er sie herbei, schlummerten sie womöglich schon seit langem als verborgene Gedanken und Wünsche in seinem Innersten? Wer sich ans literarische Schreiben heranwagt, gibt viel von sich preis, macht sich verwundbar, selbst wenn er das nicht möchte. Die Grenzen zwischen Erfundenem, zwischen Ausgedachtem und dem eigenen Leben des Schreibenden verschwimmen meist bis zur Unkenntlichkeit. Eine klare Trennung ist nicht möglich, und jeder Autor tut deshalb gut daran, es gar nicht erst zu versuchen. Er begibt sich, ob er es nun will oder nicht, in eine Art stummer Zwiesprache mit seinen Lesern, wie sie intimer kaum sein kann. Bedingungslos vertraut er sich ihnen an, so wie es umgekehrt in nahezu gleicher Weise bei und mit jenen geschieht, die seine Bücher in die Hand nehmen und seine Gedanken und Sätze lesen, die er niederschrieb und für alle Augen sichtbar macht.

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Seitenzahl: 240

Veröffentlichungsjahr: 2015

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Und da ist jene unstillbare Sehnsucht, schmerzlich und glückselig; jene geheimnisvolle Betörung, die oft liegt um Erregendes, Faszinierendes, Beklemmendes.

Für Inge

Inhalt

Bob

„Landunter“

Beschützer im Advent

Die Sommer mit Pawlow

Es waren stille Tage

So blau waren die Trauben

Epilog

Übersetzung wesentlicher Dialektwörter bzw. -begriffe

Weitere Veröffentlichungen des Autors

Bob

Niemand wußte so richtig, woher der Hund kam, wem er gehörte, geschweige denn, wie er hieß. Kaum einer sprach ihn an, nicht mal Kinder, wie denn auch, wenn man seinen Namen nicht kannte. Er sah nur kurz auf, wenn trotzdem mal jemand was zu ihm rüberrief, aber weiter reagierte er darauf nicht. Ein Wunder war es ohnehin, daß er bislang nicht unter ein Auto geraten war, weil er scheinbar planlos die Straßenseiten wechselte. Doch er verstand es immer, rechtzeitig auf der anderen Seite anzukommen in seinem eher müden Trab, und manchmal bremsten die Autos auch nur noch halbherzig, weil alle wußten, daß er es sowieso heil rüberschaffte.

Er wirkte reichlich heruntergekommen und hatte wohl seit ewigen Zeiten keine Bekanntschaft mehr mit einem Waschzuber gemacht. Man kümmerte sich nicht groß um ihn, nur ein paar Leuten, die selbst Hunde oder andere Tiere im Haus hatten, fiel er auf, und sie gerieten sich in die Haare, von welcher Rasse er abstamme. Einig waren sie sich nur darin, daß er das Ergebnis einer wilden Kreuzung sein mußte, ein ziemlich arger Mischling von wer weiß was für Hunderassen.

Von der Statur her konnte er ein Schäferhund sein oder auch ein Labrador oder Rottweiler, genausogut aber auch ein Dalmatiner, obwohl von dessen Farben wirklich nur mit großer Mühe an ihm was zu sehen war. Im Grunde ähnelte er fast allen größeren Hunden, die im Ort herumliefen, ohne daß man ihn sicher einer bestimmten Rasse hätte zuordnen können. Von allen Farben schien er ein bißchen in sein struppiges, oft verdrecktes Fell abgekriegt zu haben.

Die anderen Hunde gingen ihm aus dem Weg, nicht das übliche Geknurre und Gebell, wenn sie ihm begegneten. Dabei zeigte er keinerlei Aggressivität, beachtete seine Artgenossen nur beiläufig. Nicht, daß er sich was gefallen lassen hätte, doch es genügte, wenn ihm mal einer zu nahe kam oder den Anschein erweckte, sich gegen ihn wenden zu wollen, daß er kurz die Zähne zeigte, meist ganz stumm, nur selten mit einem merkwürdigen dumpfen Laut verbunden, woraufhin man ihn sofort in Ruhe ließ.

Wovon er lebte, was er fraß, wußte auch keiner. Irgendwo mußte er was finden oder was kriegen, doch niemand vermißte mal ein Huhn oder eine Gans, und an Abfalltonnen und in Scheunen wurde er auch noch nicht überrascht. Gut, viel war an ihm nicht dran, man sah deutlich seine Knochen, die sich durch das Fell abzeichneten, aber irgendwie schaffte er es, sich durchzubringen, auch im Winter, wenn er mit einem dickeren Fell auftauchte und hin und wieder Schnee fraß oder das Tauwasser trank.

Wenn überhaupt, dann mußte es schon eine ganze Weile her sein, daß er mal ein Halsband getragen hatte. An seinem Hals waren die Haare nämlich genauso lang wie überall, nicht die Andeutung einer Scheuerstelle oder einer Rasur.

Eigentlich war das nicht in Ordnung, denn es gab natürlich auch keine Steuermarke, der Hund lief frei herum, machte, was er wollte und niemand kam für ihn auf. Deshalb gab’s auch keinen Namen für ihn, der sonst auf der Rückseite der Steuermarke abzulesen war, jedenfalls bei den meisten Hunden. So gehörte es sich im Ort und auch in den anderen Orten ringsum. Für den Fall, daß mal einer weglief und ihn einer einfing. Dann war es gut, seinen Namen ablesen und mit ihm reden zu können, ihn mit seinem Namen anzusprechen. Bei den meisten Hunden half das, sie waren dann meistens schnell wieder ruhig und weniger aufgeregt, und man konnte sich schneller mit den Besitzern verständigen, daß sie ihren Hund wieder abholten oder daß man ihn selbst zurückfuhr. Jeremias Fuller, der einen Berner Sennhund hatte, störte das fehlende Halsband und demzufolge die nicht sichtbare Steuermarke so sehr, daß er einen Versuch unternahm, den streunenden Hund einzufangen. Doch davon ließ er sogleich wieder die Finger, als der ihn nämlich, nachdem er Fuller zunächst kaum beachtet hatte, unverhofft wütend mit hochgezogenen Lefzen angegangen war, ohne ihn allerdings zu beißen. Seitdem ließ man den Hund zufrieden, auch in der Gemeindeverwaltung kümmerte man sich nicht mehr um die Angelegenheit, schließlich tat er keinem was, wenn man ihn in Ruhe ließ. Jeder wußte, daß dem Hund nicht mit friedlichen Mitteln beizukommen war. Man hätte ihn schon erschießen müssen, doch das wollte nun doch keiner, auch von den Jägern fühlte sich keiner veranlaßt, auf ihn anzulegen. Irgendwie hatte man sich an seinen Anblick gewöhnt. Größeres Wild riß er nicht, das hätten sie festgestellt, und wenn er sich mal ein Kaninchen holte, dann war das auch gut und störte niemand.

Das alles wäre wohl noch eine ganze Zeitlang so weitergangen, die Tage und Wochen wären wie immer verstrichen, ohne daß sich groß was getan hätte in der Gegend, eben die üblichen Dinge, wie sie sich in so einem Distrikt auf dem Land eben zutrugen. Doch dann war auf einmal der alte Mann da. Über die staubige Landstraße kam er daher und steuerte schnurstracks Emmys Laden an. Obwohl dort eine Menge Leute zu der Zeit gerade auch einkauften, grüßte er keinen, suchte sich was zum Essen und Trinken aus, Sachen, die man selbst auf den Herd stellt, verstaute sie in einem mächtigen Rucksack, bezahlte umständlich und war im Nu wieder über die Landstraße verschwunden. Richtig alt war er wohl gar nicht, doch durch seinen kahlen Schädel, den er kurz zeigte, als er den Hut lüftete, um den Schweiß abzuwischen, machte er den Eindruck, als ob er schon ein ordentliches Päckchen Jahre auf dem Buckel hätte.

Er kam dann regelmäßiger, lief aber nicht weiter in den Ort rein, hielt sich immer nur zwischen den ersten Häusern auf, kaufte bei Emmy seinen Kram und, was aber seltener vorkam, stapfte die Stiegen zu Willeys Coffeeshop hoch. Da trank er zumeist einen Kaffee von der pechschwarzen Sorte, in den er sich manchmal einen Schuß Whisky kippen ließ. Betrinken tat er sich nie, es blieb bei dem bißchen Whisky im Kaffee oder auch mal, anstelle des Whiskys, einem Schuß von dem klaren Schnaps, den Willey von einem Händler in der Nachbarstadt bezog.

Vom Reden hielt er nicht viel. Einige gaben sich richtig Mühe, aus ihm was rauszuholen, doch er blieb einsilbig, grüßte zwar nach ein paar Tagen ab und zu, meistens aber nur diejenigen, die er bereits mal gesehen hatte, vor der Ladenkasse oder bei Willey; oder auch die, die er schon mal fast umgelaufen hatte, denn er blickte immer vor sich runter, wenn er ging, vielleicht so zwei, drei Schritte nach vorne, aber viel weiter sicher nicht.

Wo er wohnte, war auch so eine Sache. Man sah ihn immer nur über die Landstraße herankommen. Auf einmal war er auf dem staubigen Weg neben dem Asphalt zu sehen, und Leute, die kurz hintereinander in beiden Richtungen unterwegs waren, wußten nicht mit Bestimmtheit zu sagen, wo genau an der Straße er als erstes aufgetaucht war.

Dann sah ihn einer mal, wie er an der Stelle aus dem Wald kam, wo der schmale Weg abging, hin zum Gesindehaus vom Petrovicz-Hof, der auf der anderen Seite vom Wald lag, aber längst nicht mehr existierte, denn da hatte es mal mächtig gebrannt, alles ging unter, nichts blieb stehen, fünfundzwanzig Stück Vieh oder noch mehr verbrannten, die Petroviczs konnten sich gerade noch selbst ins Freie retten samt ihren vier oder fünf Kindern, die fürchterlich dabei schrieen. Die Feuerwehr beschränkte sich darauf, so weit zu löschen und abzureißen, daß nicht auch noch der Wald zu brennen anfing. Was übrigblieb, qualmte noch tagelang, und die Feuerwehr ließ Brandwachen zurück, um jederzeit erneut löschen zu können, wenn irgendwo aus den Aschehaufen wieder Flammen rauskommen sollten.

Wie es dann weiterging, wußte keiner mehr so genau, wie das mit der Versicherung ablief, was die Petroviczs weiter machten, denn die verschwanden von heute auf morgen. Nur so viel sickerte durch, daß sie an der Stelle, wo es gebrannt hatte, nichts mehr hinbauen wollten, daß sie überhaupt nicht im Bezirk bleiben wollten. Wo sie schließlich hinzogen, was aus ihnen dann weiter wurde, wußte auch keiner.

Warum der Petrovicz-Hof eines Nachts lichterloh brannte, daß manche zunächst meinten, es mit ungewöhnlich starkem Wetterleuchten zu tun zu haben, so hell wurde der Himmel, kam nie richtig raus. Ob sich in einer der Scheunen tatsächlich Heu selbst entzündete, wie es irgendwann hieß, blieb die Frage. Selbstentzündung mitten in der Nacht? Gab es so was?

Das Gesindehaus hatte nichts abbekommen vom großen Brand, es stand immerhin ein paar hundert Meter weit weg, mitten auf einer Lichtung, und wurde anschließend von allerlei Leuten bewohnt, stand auch immer wieder mal leer. Gekauft hatte das ziemlich heruntergewirtschaftete Haus, das immer düster und unheimlich wirkte, ein Mann aus der Bezirkshauptstadt, der sich aber wenig um seinen Erwerb scherte und so gut wie nie in der Gegend gesehen wurde. Es war zu Fuß eine gute Stunde bis zu Emmys Laden, im Winter, je nachdem, wie hoch der Schnee lag, mitunter auch mal zwei Stunden.

Von dort also kam Bob, wenn er neben der Landstraße gesichtet wurde, so zwei- oder dreimal in der Woche machte er sich auf den Weg zu Emmys Laden. Ob er wirklich Bob hieß, war überhaupt nicht sicher. Irgendwann erzählte jemand von Bob, meinte damit den alten Mann, und von da an redeten alle nur noch von Bob, wenn sie von ihm sprachen. Natürlich kriegte er mit, daß sie ihn Bob nannten, obwohl ihn so gut wie keiner anredete, schon gar nicht mit Bob. Erst recht war nicht bekannt, wie er weiter hieß, also mit Nachnamen. Er ließ nichts anschreiben, nicht bei Emmy, nicht bei Willey, so daß man auch auf diese Weise nicht weiterkam mit ihm.

Wenn es nicht anders ging, wenn er im Laden mal zur Seite treten sollte oder Willeys Bedienung ihn was fragen wollte, dann hieß es „Hello“, „Hey, Mister“, „Hello, Mister“ oder auch mal einfach nur „Hey“. Ihn schien das alles nicht zu interessieren, entweder hieß er tatsächlich Bob oder es war ihm egal, welchen Namen sie ihm gegeben hatten.

An einem heißen Nachmittag im August tauchte Bob wieder mal auf und schlug die Richtung zu Emmys Laden ein. Den ganzen Tag schon hatte sich der streunende Hund in den Straßen herumgetrieben, die meiste Zeit im Schatten der großen Kastanien am Rand der Tankstelle im Gras gelegen und nur ab und zu den Kopf gehoben, wenn sich was in seiner Nähe tat. Als er Bob sah, ging sein Kopf in die Höhe, und da behielt er ihn auch, bis Bob an der Straße angekommen war, die zu Emmys Laden führte. Da stand er langsam auf, streckte und dehnte sich, um dann über die Straße zu trotten, Bob hinterher, der von ihm nichts mitbekam, weil er wie immer die Augen vor sich auf den sandigen Weg richtete. Vor Emmys Laden hockte sich der Hund hin, blickte mal zur Tür hin, hinter der Bob verschwunden war, verzog sich dann ein Stück vom Weg fort ins hohe Gras.

Bei Bob dauerte es ein bißchen, bis er seine Sachen beisammen hatte, und als er wieder rauskam aus dem Laden, stand der Hund auf und lief hinter ihm her. Er hielt Abstand zu Bob, vielleicht so zwei Meter, schlug das gleiche Tempo wie Bob an, was am Anfang nicht gleich gelang, doch als sie die Hauptstraße erreichten, hatte er seinen Rhythmus zu ihm gefunden.

Von alledem hatte Bob bisher nichts mitgekriegt, erst jetzt, als er zum Ortsausgang hin, Richtung Landstraße, abbog, bemerkte er den Hund, starrte ihn ein paar Sekunden lang an und setzte dann seinen Weg fort. Der Hund war stehengeblieben, als Bob ihn musterte, folgte dem Mann dann im alten Abstand. Aus den letzten Häusern wurde noch beobachtet, daß der Hund, als die beiden die Trafostation passierten, die schon außerhalb des Gemeindegebietes lag, langsamer wurde und Bob sich fast gleichzeitig umdrehte, um ihn mit rudernden Armbewegungen zurückzuscheuchen. Der Hund setzte sich, wirkte unruhig, sah Bob hinterher, legte sich dann langausgestreckt hin, als ob er auf seine Rückkehr wartete. Währenddessen stapfte Bob weiter, drehte sich kein einziges Mal um, hatte bald den Rand des Waldes erreicht, der die Straße von dort an auf der linken Seite säumte, wurde kleiner und kleiner, bis ihn der Dunst, der von den Wiesen über die Straße zog, verschluckte.

Bill Anderson hatte sich die Darbietung bis zuletzt angesehen. Mindestens eine Viertelstunde dauerte es, ehe sich der Hund wieder erhob und die Landstraße runterschaute, wohin der alte Mann verschwunden war. Drei, vier Schritte machte er noch in Bobs Richtung, dann drehte er um und bewegte sich ziemlich langsam zurück in den Ort rein, wahrscheinlich wollte er wieder unter die Kastanien an der Tankstelle, vielleicht aber auch ganz woanders hin. Wo er die Nächte verbrachte, konnte man nie vorhersagen. Er wurde morgens schon an vielen Stellen gesehen, kam auch mal aus dem verwilderten Grasland neben der Landstraße raus, lange bevor Bob sie für seine Wanderungen zu Emmys Laden benutzte.

Von da an, seit diesem wirklich heißen Augusttag, war der Hund immer zur Stelle, wenn Bob in den Ort kam. Er war einfach da, wie von Geistern gerufen erschien er, manchmal lief er bereits hinter dem Mann her, bevor der den Ort erreichte, oft sprang er aber auch aus einer der Nebenstraßen heraus, als ob er zu spät dran sei, und reihte sich hinter ihm ein.

Meist lief er im gewohnten Abstand hinter Bob, es kam aber auch vor, daß er ihn auf der gegenüberliegenden Straßenseite begleitete und erst herüberwechselte, wenn Bob nach Emmys Laden abbog. Da saß er dann im Gras, bis Bob wieder rauskam. Hatte der anschließend noch Lust auf einen Kaffee bei Willey, sah ihm der Hund das an, noch bevor er die Richtung dahin eingeschlagen hatte, lief voraus und ließ sich an der Einfahrt zu Willeys Lagereinfahrt nieder, so weit zurück, daß zumeist nur seine Schnauze zu sehen war, wenn man von Willeys Treppe zu ihm rüberblickte.

Die ganze Gemeinde, zumindest der westliche Teil davon, denn dort spielte sich das Ganze ab, rätselte darüber, was man von der Sache halten sollte und was wohl in den Hund gefahren war, daß er sich so seltsam aufführte und den alten Mann auf Schritt und Tritt verfolgte. Wie kriegte das Tier so schnell mit, daß Bob wieder mal im Ort unterwegs war, denn der Hund war auch sogleich zur Stelle, wenn der Alte vorher tagelang nicht mehr in den Straßen gesehen worden war.

Bob hatte mit dem Hund nichts am Hut; auf keinen Fall waren die beiden, worüber auch schon spekuliert wurde, vorher irgendwie bereits mal zusammengewesen, da waren sich bald alle einig. Meistens kümmerte Bob sich nicht um ihn, doch wenn’s ihm zu bunt wurde, jagte er ihn weg, zumindest versuchte er das, drohte ihm mit der Faust oder ging auf ihn los, wobei er mit hoher Stimme, soweit davon was zu verstehen war, alle möglichen Verwünschungen und Flüche ausstieß. Der Hund wich, was er sonst vor keinem tat, zurück, aber nur so weit, daß der Mann nicht an ihn herankam. Er zeigte nicht mal die Zähne, hielt Bob im Auge, auch bellte er nicht, was er sowieso kaum tat. Fast schien es, als ob er ein bißchen in sich zusammensackte, sich ein bißchen klein machte, so eine Art Unterwerfungshaltung.

Genau das sei es, verkündete Arthur Cunningham, der sich mit Wölfen auskannte, weil er irgendwann welche gejagt hatte, genauso verhielten sich Wölfe vor anderen Wölfen, die im Rudel einen höheren Rang hätten.

Ja, schön und gut, hieß es, aber warum sollte der Hund, der sonst vor niemandem Angst zeigte, gerade vor dem alten Mann einen Rückzieher machen und ihm nicht an die Gurgel fahren? Darauf wußte auch Arthur Cunningham keine schlüssige Antwort, außer, daß der Hund in Bob vielleicht so was wie einen Leitwolf sah und deshalb hinter ihm herrannte und sich ihm andiente, vielleicht sei der Hund ja ein verkappter Wolf, dem das Rudel abgehe, denn schließlich sei er ja immer nur alleine unterwegs und das schon ewig lange. Oder habe ihn schon jemand mit einem anderen Hund zusammen gesehen? Nein, keiner hatte ihn je mit einem anderen Hund angetroffen, er war ein richtiger Einzelgänger, und das wäre wiederum ganz untypisch für Wölfe, meinte Arthur Cunningham weiter, das gäbe es zwar auch, doch Wölfe wären Rudeltiere, lebten und jagten im Rudel mit strenger Hierarchie. Wenn es mal Einzelgänger gäbe, dann wären das aus dem Rudel ausgestoßene Tiere, meist alt und griesgrämig, mit denen das Rudel nichts mehr zu tun haben wollte.

Daß Bobs Hund noch nie so geheult und gejault hatte wie Wölfe, sei eigentlich der Beweis dafür, daß sie es hier mit keinem richtigen Wolf zu tun hätten, wandten ein paar Leute ein. Andererseits wäre natürlich ein Stückchen Wolf noch in jedem Hund drin, denn sie alle stammten doch vom Wolf ab, selbst noch die kleinsten und harmlosesten Exemplare. Und überhaupt, der fragliche Hund oder Wolf sei schließlich ein Rüde, wahrscheinlich gehe so mancher Wurf hier in der Gemeinde auf seine Rechnung, warum auch nicht, denn es sei bekannt, daß sich Wölfe, falls der hier überhaupt einer sei, bei passender Gelegenheit mit Haushunden kreuzten, wenn sie diese nicht vorher totbissen, was öfter vorkäme. Am Ende einigte man sich darauf, daß Bobs Hund wohl ein ziemlich naher Verwandter vom Wolf sein mußte, zwar kein richtiger Wolf, aber daß es trotzdem besser war, ihn in Ruhe zu lassen.

Und das mit Bob war dessen ureigene Angelegenheit, das ging sonst keinen was an, der sollte selbst zusehen, wie er mit dem Hund klarkam, der immer um ihn herum war, auch wenn er ihn nicht bei sich haben wollte, ihn weiterhin wegzujagen versuchte, ihn mit immer gröberen Flüchen belegte, inzwischen auch schon mal einen Stein oder einen Holzknüppel nach ihm warf, ohne ihn auch nur einmal zu treffen. Nein, gut behandeln tat er ihn wirklich nicht, trat sogar hin und wieder nach ihm und wäre wohl nie auf die Idee gekommen, ihm was zu fressen auf den Weg zu werfen.

Das alles hielt den Hund nicht davon ab, stoisch hinter Bob herzurennen, wenn der im Ort auftauchte. Keiner verstand das, keiner konnte sich erinnern, von so einer verdammt merkwürdigen Sache je was gehört zu haben. Bobs Grobheiten und Ausfälle schienen dem Hund nichts anzuhaben, im Gegenteil, man gewann fast den Eindruck, daß sie ihn noch enger an den Mann banden, ihn noch anhänglicher machten. Auch Arthur Cunningham schüttelte ein übers andere Mal den Kopf, wußte keine Erklärung für das sonderliche Gebaren des Tieres.

Allmählich wuchs dann Gras über die Sache, weil es immer so weiterging mit Bob und dem Hund. Man erblickte die beiden im Gänsemarsch durch die Straßen marschieren, wenn Bob im Ort war, und dachte sich nichts mehr dabei. Lief der Hund alleine herum, wußte jeder, daß mit Bob an dem Tag nicht zu rechnen war.

So gingen die Wochen und Monate dahin, ohne daß die beiden in irgendeiner Weise besonders auffällig wurden. Bis zu diesem verfluchten Montag im heißesten Juli seit langem. Den Tag vergaß keiner mehr, der den Vorfall miterlebte. Auf einmal lag Bob der Länge nach am Boden, nicht weit weg von Emmys Laden, vielleicht fünfzig Schritte, so auf halber Strecke zur Hauptstraße hin. Zuerst glaubte man, er sei gestolpert und gestürzt, habe sich wehgetan und werde wohl gleich wieder aufstehen und den Hund wegjagen, der wie immer bei ihm war. Aber nichts dergleichen geschah. Bob blieb liegen und rührte sich nicht mehr von der Stelle, den Kopf zur Seite gedreht, in Richtung der Bäume, die da standen.

Der Hund beschnüffelte ihn kurz, nachdem er minutenlang zu ihm hingesehen hatte, richtete sich wieder auf, drehte sich um sich selbst und legte sich dicht bei Bob hin und beobachtete die Leute, die sich inzwischen angesammelt hatten. Als Bob auf Zurufe nicht reagierte, wollte ein Mann nachschauen, was mit ihm war, sprang aber gleich wieder erschrocken zurück, nachdem der Hund mit aufgerissenem Maul wütend auf ihn losgegangen war. So hatte ihn noch keiner erlebt, so böse, so angriffslustig. Daß man ihm grundsätzlich nicht zu nahekommen durfte, wußten alle längst, doch das hier war was anderes, da mußte was anderes vorgefallen sein. Ganz sicher hing es mit Bob zusammen, denn der rührte sich nicht, lag unverändert auf dem Weg.

Bob sei vielleicht tot, tönte Ron Ballister, der mal aus sicherer Entfernung von der Seite her nach Bob gesehen hatte. Bobs Mund stünde offen, das sähe nach tot aus, da wäre er sich fast sicher, man sollte endlich den Doc holen.

Doc Jefferson bahnte sich bald darauf einen Weg durch die stetig anwachsende Menschenmenge, sein zerknittertes schwarzes Tuchköfferchen mit beiden Händen vor sich hinhaltend. Obwohl eher schmächtig von Gestalt, galt er gemeinhin als ziemlich furchtlos. Doch auch er stob davon, als der Hund auf ihn losfuhr, begleitet von einem raubtierhaften Laut, wie ihn zuvor noch niemand von einem Hund gehört hatte.

Also doch ein Wolf, äußerte sich Arthur Cunningham triumphierend, er hätte es doch gleich gesagt. Ein weiterer Versuch wurde gestartet, an das Tier ranzukommen, und zwar von einer spindeldürren älteren Frau, die vorgab, sich mit Hunden bestens auszukennen, davon hätte sie genügend in ihrem Haus großgezogen. Sie hatte ein weites, bei jeder Bewegung wehendes gelbes Kleid an, und als sie damit auch nur einen Schritt auf den Hund zumachte, sprang der so wild hin und her, daß sie, als sie sich entsetzt rückwärts wandte, auf die Erde fiel, was den Hund nur noch wütender machte.

Sengend stand die Sonne über dem Ort, und Bob lag ohne Schatten in der brütenden Hitze auf dem glühendheißen Sand des Weges. Die ersten Frauen fingen an, sich frische Luft ums Gesicht zu wedeln. Es müßte was geschehen, und zwar ziemlich rasch. Wenn er tot sei, dann wüßte doch jeder, was die Sonne mit ihm anrichten könnte, dann würde man bald was riechen von ihm. Und falls noch ein Funken Leben in ihm wäre, dann würde der wohl bald ausgeblasen sein, wenn man ihn nicht schnellstens da fortschaffte.

Ein paar der Männer wollten gerade ihr Gewehr oder ihren Revolver holen, denn anders wäre die Angelegenheit wohl nicht zu regeln, auch wenn es schade um das Tier wäre. Doch da fuhr schon Sheriff Hollister vor, nach dem zwei Jungen geschickt worden waren, der gleich seinen Deputy mitgebracht hatte. Dann ging alles ziemlich schnell. Hollister ließ sich kurz erzählen, was passiert war, holte sein Gewehr aus dem Wagen und herrschte die Leute an, sie sollten ein Stück zurückgehen, sich auf jeden Fall hinter ihm aufhalten.

Als der Hund sah, wie sich der Mann aus der Menge löste und langsam zwei, drei Schritte auf ihn zukam, zeigte er wieder die Zähne, erneut gab er diesen dumpfen, merkwürdigen Laut von sich, doch er ging nicht auf Hollister los, er verharrte auf der Stelle und fing ein rasendes Bellen an, als ob er tollwütig sei, duckte sich vorne runter wie zum Sprung. Am Maul zeigte sich weißlicher Geifer, der in Flocken abtropfte. Auch schien er arg unter der Hitze zu leiden, denn die Zunge hing ihm weit heraus.

Da sei nichts zu machen, rief Hollister nach hinten, jeder sehe das, hob das Gewehr und feuerte einen Schuß auf das Tier ab, das von der Wucht der Kugel nach hinten gerissen wurde und dann auf die Seite sank. Das Bellen war mit dem Schuß verstummt, dafür jaulte der Hund jetzt leise, hob den Kopf nach dem Sheriff, der an ihn herangetreten war und aus der Nähe einen zweiten Schuß auf ihn abgab, worauf der Kopf des Tieres in den Sand fiel.

Bob war wirklich tot, mausetot, und es wurde höchste Zeit, daß er aus der Sonne weggetragen wurde. Der Schlag hatte ihn getroffen, notierte Doc Jefferson, einfach so, er konnte nichts anderes feststellen bei Bob, nichts weiter, keine Verletzungen, nichts, was ihm irgendwie verdächtig vorgekommen war. So könnte man gut sterben, so schlecht wäre das nicht, da gäbe es eine Menge schlimmerer Möglichkeiten. Er hatte auch noch einen kurzen Blick auf den toten Hund geworfen, bevor er sich wieder verzog. Ein bißchen Wolf sei da wohl drin, und entweder zerrissen die einen oder sie brächten sich für einen um. Er wüßte von einer Sache, da sei einer noch monatelang zu der Stelle gelaufen, wo sein Leitwolf, in dem Fall ein ganz verhutzeltes Männlein, verbuddelt lag, und das Loch war wirklich tief genug, wo sie den versenkt hatten.

Zwei Tage später wurde Bob begraben. Nicht auf dem Hauptfriedhof, der im Osten der Gemeinde lag, sondern auf dem kleinen, sandigen Friedhof im Westen, gut zwei Meilen vom Ortsrand weg und fast genauso weit von der Straße, die Bob immer gegangen war. Er hieß auch nicht Bob, sondern Marvin und weiter Sanders, Marvin Sanders, stammte aus dem Norden. Und für den kleinen Friedhof hatte er sich ein Grab gekauft, schon vor etlichen Jahren, was kaum einer wußte, mit Sarg und allem Drum und Dran.

Gar nicht so wenige Leute waren da, als er unter die Erde gebracht wurde, mindestens drei Dutzend oder sogar noch mehr. Es war genauso heiß wie an dem Tag, als er starb, und der Wind trieb Sandwolken über den Friedhof in die angrenzenden Wiesen. Den Hund gaben sie ihm mit ins Grab. Nicht in den Sarg, das war verboten, der hätte auch überhaupt nicht zu ihm noch reingepaßt. Ein paar Männer hatten das Tier in einen Sack eingenäht und legten es am Ende, als Pfarrer Wesley bereits gegangen war, auf den Sarg. Auch das sei verboten, meinten noch einige, die dabei zuschauten, doch in Windeseile hatte Pete Baker, der dafür zuständig war, ohne sich um was zu kümmern, das Grab bald zugeschaufelt.

Nach einigen Tagen steckte ein Holzkreuz am Kopfende des Grabes im Erdreich, ziemlich grob zusammengehämmerte Bretter, doch es waren Eichenbretter, nicht das übliche Fichtenholz. Natürlich stand darauf sein wahrer Name. So richtig alt war er wirklich nicht, als er starb, denn da war er gerade mal zweiundsechzig. Unter seinem Namen hatte man noch „Bob“ hingeschrieben, so wie die Leute ihn immer nannten, auch wenn er nie darauf gehört hatte.

Niemand kümmerte sich groß um das Grab, aber hin und wieder standen ein paar Blumen darauf, die aussahen, als ob Frauenhände sie dorthin gestellt hätten. Meist war es jedoch von verdorrtem Gras und Disteln überzogen. Irgendwann sackte das Kreuz ein Stück zur Seite, fiel aber nicht um. Keiner richtete es wieder auf, doch so schief, wie es jetzt stand, hielt es noch eine ganze Reihe von Jahren durch. Nur die Schrift machte nicht lange mit, schon nach dem zweiten Sommer war nichts mehr von ihr zu sehen.

„Landunter“

(Zu den in nordfriesischem bzw. norddeutschem Dialekt geführten Dialogen gibt es auf den Seiten 228 und 229 zu den wesentlichsten Wörtern bzw. Begriffen eine Gegenüberstellung zu ihren hochdeutschen Entsprechungen. Der Autor ist zuversichtlich, daß sich auch dem nicht der nordischen Dialekte kundigen Leser im Kontext der Erzählung sowohl Inhalt als auch Atmosphäre der wörtlichen Reden ohne allzu große Mühe erschließen.)

In diesem Jahr schlug das Wetter schon um, kaum daß der September vorbei war, der bereits ordentlich Regenwolken übers Land getrieben hatte. Kein Wunder, daß die Bauern auf den Marschhöfen, wenn man sie darauf ansprach, bedenklich mit den Köpfen wackelten, denn das verhieß meistens nichts Gutes für den Rest des Jahres. Und so kam es dann auch. Schon im Oktober wurden Flutstände abgelesen, wie sie in normalen Jahren sonst frühestens im Dezember auftraten.

Die erste Sturmflut rollte, was keinen mehr richtig wunderte, denn auch bereits eine Woche vor Ende Oktober auf die Küste zu und bescherte den Halligen das erste Landunter, ohne jedoch nennenswertes Unheil anzurichten. Was auffiel, war der viele Nebel, der zäh an den Festlandsdeichen hing, sich oft übers Watt bis zu den Inseln und Halligen hinzog und sich tagelang nicht lichten wollte. Die Sonne machte sich rar, tagsüber herrschte ein tristes gelbliches Licht, aus Nordwest jagten die Stürme, einer hinter dem anderen, über die See und das mit einer Hartnäckigkeit und Ausdauer, wie man das schon lange nicht mehr erlebt hatte und alle sich fragten, was davon zu halten sei.

Bei den Seeleuten heißt es, daß jede siebte Welle ein Stück höher ist als die sechs davor. Und wenn der Sturm nicht aufhört, sagen sie, wenn er über den ganzen Tag und die ganze Nacht anhält, dann ist ein Kaventsmann darunter, so eine besonders große Welle, so ein Ungetüm, wobei davon das Schiff nicht untergeht, manchmal schon, doch das ist eher selten, aber so ein Kaventsmann rüttelt den Kahn ordentlich durch, und jeder sollte sich vorsehen und nicht so einfach auf dem Deck herumlaufen bei schwerem Wetter.

Mit den Sturmfluten war das in diesem Jahr so ähnlich wie bei der siebten Welle, aber nur beinahe, denn es war die sechste in dem anstehenden Winter, die sich in die besonderen Register und Berichte über Katastrophenfluten zumindest nicht ganz hinten eintragen lassen wollte.