Essstörungen und Persönlichkeit - Helga Simchen - E-Book

Essstörungen und Persönlichkeit E-Book

Helga Simchen

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Beschreibung

Viele Ärzte und Psychologen haben Essstörungen bisher zumeist als eine Folge von Beziehungsstörungen oder schweren, psychisch belastenden Ereignissen in der Kindheit angesehen. Inzwischen zeigt die Forschung jedoch, dass diese Sichtweise überholt ist. Tatsächlich ist es häufig eine genetisch bedingte Persönlichkeitsvariante, die zu Essstörungen mit Krankheitswert führen kann. Wenn sich deren Symptomatik automatisiert, entwickelt sich ein zwanghaftes Suchtverhalten. Dies dient dem Abreagieren unerträglicher Wahrnehmungs- und Gefühlszustände, was wiederum das Belohnungssystem aktiviert. Daraus entwickelte die Autorin einen neuen Therapieansatz. Sie erläutert die Ursachen und Behandlungsmöglichkeiten von Kindern und Jugendlichen mit Magersucht, Bulimie und Adipositas fachlich versiert und anschaulich. Dabei geht sie auch dem Zusammenhang von AD(H)S und Essstörungen nach.

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Zur Autorin

Dr. med. Helga Simchen war zunächst Oberärztin der Kinderklinik und dann als Oberärztin wissenschaftlich sowie klinisch in der Kinder- und Jugendpsychiatrie und Neurologie der Medizinischen Akademie Magdeburg tätig. Dort arbeitete sie in enger Kooperation mit dem Institut für Neurobiologie und Hirnforschung auf dem Gebiet der Aufmerksamkeits-, Lern- und Leistungs- sowie Verhaltensstörungen bei Kindern und Jugendlichen. In der ehemaligen DDR galt sie als Spezialistin für die Problematik der hyperaktiven Kinder. Schwerpunkte waren dabei die Früherfassung von Teilleistungsstörungen (z. B. Legasthenie), der Komorbiditäten des Hyperkinetischen Syndroms (HKS) sowie der Tic- und Tourette-Symptomatik. Im Vorstand der Gesellschaft für Rehabilitation war sie über viele Jahre als Arbeitsgruppenleiter tätig. Sie hielt Vorlesungen über Kinder- und Jugendpsychiatrie und Entwicklungsneurologie mit Lehrauftrag auch am Institut für Rehabilitationspädagogik.

Dr. med. Helga Simchen hat eine abgeschlossene Ausbildung als Facharzt für Kinderheilkunde, Kinder- und Jugendpsychiatrie und Neurologie, Verhaltenstherapie und tiefenpsychologische Psychotherapie, Hypnose und Systemische Familientherapie. Der breite Fundus ihres Wissens und die täglichen Erfahrungen aus ihrer Spezialpraxis für AD(H)S und Teilleistungsstörungen in Mainz verleihen Frau Dr. Simchen eine besondere Befähigung, sich mit dem zukunftsweisenden Thema der Begleiterscheinungen und Folgeerkrankungen des AD(H)S zu beschäftigen. Sie war eine der ersten in der Medizin, die aus eigener praktischer Erfahrung verbunden mit ihren neurobiologischen Kenntnissen den Zusammenhang von AD(H)S und den Essstörungen Magersucht, Bulimie und Esssucht erkannte und die Betroffenen entsprechend behandeln konnte. Schwerpunkt war dabei der durch diese Kombination bedingte besondere Krankheitsverlauf mit Einbeziehung des familiären und sozialen Umfelds.

Helga Simchen

Essstörungen und Persönlichkeit

Magersucht, Bulimie und Übergewicht – Warum Essen und Hungern zur Sucht werden

3., aktualisierte Auflage

Verlag W. Kohlhammer

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3., aktualisierte Auflage 2021

Alle Rechte vorbehalten

© W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Gesamtherstellung: W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Print:

ISBN 978-3-17-039750-7

E-Book-Formate:

pdf:        ISBN 978-3-17-039751-4

epub:     ISBN 978-3-17-039752-1

mobi:     ISBN 978-3-17-039753-8

Inhalt

 

 

 

Vorwort

1   Essstörungen – eine Einführung

1.1   Ein Konflikt zwischen Wollen und Können

1.2   Ein gesellschaftliches und persönliches Problem

1.3   Essstörungen und Persönlichkeit

1.4   Ein neuer biologisch fundierter Ansatz

1.5   Warum psychische Störungen in der Kindheit zunehmen

1.5.1   Die zunehmende Reizüberflutung im Alltag unserer Kinder und Jugendlichen

1.5.2   Der Mangel an sozialer Intelligenz und Kompetenz

1.5.3   Der Verlust stabiler sozialer Strukturen

1.5.4   Die Anziehungskraft vermeintlicher Vorbilder

1.5.5   Die Mängel unseres Schulsystems

1.6   Die Bedeutung der Forschung

2   Die Bedeutung von Veranlagung, Erziehung und sozialem Umfeld für das Essverhalten

2.1   Der »schlechte Esser« – eine frühkindliche Entwicklung

2.1.1   Im Säuglingsalter

2.1.2   Im Kleinkindalter – wenn der Esstisch zum Stresstisch wird

2.2   Wahrnehmung und Entwicklung von Essstörungen

2.2.1   Die Veranlagung, der genetische Code entscheidet

2.2.2   Veranlagung und Entwicklung als Einheit verursachen Essstörungen

2.2.3   Die Bedeutung der Geschlechtszugehörigkeit

2.3   Verhaltensänderung ist möglich

2.4   Negativer emotionaler Dauerstress als eine Ursache für Essstörungen im Erwachsenenalter

2.5   Negativer Dauerstress schon in der Kindheit?

3   Die Magersucht (Anorexia nervosa)

3.1   Folge einer über Jahre bestehenden Störung des biologischen, psychischen und sozialen Gleichgewichts

3.1.1   Eine Magersüchtige berichtet

3.1.2   Die neurobiologische Ursache der Magersucht

3.2   Eine angstbesetzte Störung mit veränderter Wahrnehmung

3.3   Problemlösung durch zwanghaftes Verhalten

3.4   Wenn zwanghaftes Verhalten zur Sucht wird

3.5   Folge einer genetisch geprägten Persönlichkeitsstruktur mit reaktiver Fehlentwicklung

3.6   Die Sucht – ein Mittel zur psychischen Stabilisierung

3.7   Aktuelle wissenschaftliche Diagnosekriterien der Magersucht

3.7.1   ICD-10-Kriterien

3.7.2   DSM-5-Kriterien

3.8   Beispiele aus der Praxis – wie sich die Schicksale von Magersüchtigen gleichen

3.8.1   Mara, eine 23-jährige Frau, hochbegabt mit Rechenschwäche in der Schulzeit

3.8.2   Svenja, eine 17-jährige Gymnasiastin, die sich nicht wiegen lassen wollte

3.9   Ein Wechselspiel von Persönlichkeitsprofil und Belastung

3.10 Weitere Faktoren, die die Entwicklung einer Magersucht begünstigen

3.10.1 Soziokulturelle Faktoren

3.10.2 Individuelle und personenzentrierte Faktoren

3.10.3 Krankheitsbedingte Besonderheiten

3.11 Viele Gemeinsamkeiten in den Krankengeschichten – das kann kein Zufall sein!

3.11.1 Das Wesen von Magersüchtigen gleicht einer anspruchsvollen, empfindlichen Blume

3.11.2 Selbstwertgefühl und soziale Kompetenz

3.11.3 Gemeinsamkeiten in den Biographien von Magersüchtigen deuten auf eine gemeinsame Ursache

3.12 Gibt es eine gemeinsame genetisch bedingte Veranlagung?

3.13 Herkömmliche Erklärungsmuster zur Entstehung von Magersucht

3.13.1 Die Beziehungsstörung

3.13.2 Psychische Traumen in der Kindheit

3.13.3 Das »Steinzeit-Gen« und seine vermeintliche Rolle bei der Entstehung von Essstörungen

3.13.4 Die Bedeutung der veränderten Informations-verarbeitung für die Persönlichkeitsentwicklung

3.14 Magersüchtige haben viele Persönlichkeitsmerkmale gemeinsam

3.15 Der Body-Mass-Index (BMI)

3.16 Die Psychodynamik der Pubertätsmagersucht im Überblick

3.17 Magersucht kann tödlich sein – zwei Beispiele von tragischen Krankheitsverläufen

3.18 Die Bedeutung der Frühdiagnostik und -behandlung

3.18.1 Beispiele aus der Praxis – wie Frühdiagnose und -behandlung schwere und chronische Verläufe einer Magersucht verhindern können

3.18.2 Frühsymptome, die in ihrer Summe zur Magersucht führen können

3.19 Das Dysmorphie-Syndrom (Hässlichkeitssyndrom)

3.20 Schwerpunkte der Frühbehandlung

3.20.1 Frühbehandlung der genetisch veränderten Informationsverarbeitung

3.20.2 Das therapeutische Gespräch und die persönlichkeitszentrierte Behandlung

3.20.3 Die pubertätsbedingte Überforderung als Risikofaktor Nr. 1

3.20.4 Ziele der Frühbehandlung

3.21 Die häufigsten Begleit- und Folgeerkrankungen

3.21.1 Psychische Begleit- und Folgeerkrankungen

3.21.2 Durch Mangelernährung bedingte organische Erkrankungen

3.21.3 Ursachen der psychischen Begleit- und Folgeerkrankungen

3.22 Therapeutische Strategien bei der Behandlung einer AD(H)S-bedingten Magersucht

3.22.1 Wissensvermittlung und gemeinsame Reflexion über mögliche Ursachen der Magersucht

3.22.2 Verhaltenstherapie

3.22.3 Die medikamentöse Therapie mit Methylphenidat

3.22.4 Management zur Reduzierung möglicher Nebenwirkungen von Methylphenidat bei der Therapie des AD(H)S

3.22.5 Überprüfen der Therapiefortschritte

4   Die Bulimie (Ess-Brech-Sucht)

4.1   Symptome

4.2   Aktuelle wissenschaftliche Diagnosekriterien

4.2.1   ICD-10-Kriterien

4.2.2   DSM-5-Kriterien

4.3   Psychodynamik der Entwicklung einer Bulimie auf Grundlage einer angeborenen Impulssteuerungsschwäche

4.4   Frühsymptome

4.5   Beispiele aus der Praxis

4.6   Auswirkungen auf die Gesundheit

4.7   Bulimie und Magersucht – zwei Varianten einer Essstörung, die sich im Krankheitsverlauf abwechseln können

4.8   Auch männliche Jugendliche können eine Bulimie, eine Magersucht oder beides entwickeln

4.8.1   Allgemeine Ursachen

4.8.2   Gemeinsamkeiten männlicher Jugendlicher mit Essstörungen

4.8.3   Männliche Jugendliche und ihr Verhältnis zu ihren Eltern

4.8.4   Männliche Magersüchtige beschreiben ihre Familie

4.8.5   Das Verhalten von Eltern essgestörter Jugendlicher – eine Zusammenfassung

4.8.6   Beispiele aus der Praxis – drei männliche Jugendliche mit einer restriktiven Essstörung

4.9   Magersucht, Bulimie und Esssucht – Folgen einer anlagebedingten stressassoziierten Störung

5   Essanfälle, Esssucht und Übergewicht (Adipositas)

5.1   Statistische Daten zur Gesundheit von Kindern und Jugendlichen von 2006 bis 2017

5.2   Stress und Hungergefühl

5.2.1   Stressabbau durch Essen

5.2.2   Neurobiologische Ursachen von Adipositas und Essanfällen

5.3   Übergewicht bei Kindern und Jugendlichen und seine Folgen

5.4   Verschiedene Formen des Übergewichts bei Erwachsenen und ihre Bedeutung

5.4.1   Warum die bauchbetonte Fettansammlung besonders ungünstig ist

5.4.2   Stressbedingtes Übergewicht – Ursachen und Folgen

5.5   Das Metabolische Syndrom

5.6   Gewichthalten erfordert psychische Stärke

5.7   Frustessen und Bewegungsmangel führen zum Übergewicht

5.8   Negativer Stress und wie der menschliche Körper darauf reagiert

5.8.1   Gesundheitliche Folgen von Dauerstress

5.8.2   Stressüberempfindlichkeit und Essstörungen

6   Das Aufmerksamkeitsdefizit-Syndrom (AD[H]S) – eine häufige Ursache vieler Essstörungen

6.1   AD(H)S – eine genetisch bedingte überschießende Stressreaktion

6.2   Die Rolle der AD(H)S-Familie bei der Entwicklung von Essstörungen

6.2.1   Die Mutter – psychisch labil und überbehütend

6.2.2   Der Vater – abwesend, frustriert, hilflos und missverstanden

6.2.3   Die Geschwister – »Action« oder Rückzug

6.2.4   Das soziale Umfeld

6.3   Die bio-psycho-soziale Grundlage für die Entwicklung einer AD(H)S-bedingten Essstörung

6.3.1   AD(H)S als Wegbereiter für die Entwicklung von Essstörungen

6.3.2   Die Neurobiologie hilft uns, die Vielfalt der AD(H)S-Symptomatik zu erklären

6.4   Essstörungen als Folge der Angst vor dem Erwachsenwerden?

6.5   Essstörungen als Folge einer traumatischen Belastung in der Kindheit?

6.6   Die Suche nach einer gemeinsamen neurobiologischen Grundlage von AD(H)S und Essstörungen

6.7   Kinder und Jugendliche mit AD(H)S und Essstörungen haben viele gemeinsame positive Eigenschaften

6.8   AD(H)S – eine Reifungs- und Entwicklungsstörung mit unterschiedlicher Symptomatik

7   Neue Therapiestrategien sind gefragt

7.1   Verhaltenstherapie – der Kern der Behandlung einer AD(H)S-bedingten Essstörung

7.2   Medikamentöse Therapie als ergänzende Behandlungsstrategie

7.3   Ursachen behandeln und nicht nur Symptome

7.4   Defizite abbauen – Alternativen schaffen

8   Der Weg zur Hilfe führt über die Selbsthilfe

8.1   Die Bedeutung der Selbsthilfegruppen

8.2   Warum sind Selbsthilfegruppen für Essgestörte besonders wichtig?

8.3   Grenzen der Selbsthilfe

9   Essstörungen vorbeugen und verhindern – Wege einer wirkungsvollen Prävention

Kontaktstellen für Menschen mit Essstörungen

Befindlichkeits-Skala

ANIS-Skala (modifiziert) zur Diagnostik und Verlaufskontrolle einer Magersucht

20 Tipps und Ratschläge, um Ihr Übergewicht zu verringern

Literatur

Sachwortverzeichnis

Vorwort

 

 

 

Wenn die Seele hungert,reagiert der Körper mit einer Essstörung!

Mehrere Gründe haben mich veranlasst, dieses Buch zu schreiben. Vor allem möchte ich Akzente setzen für neue Strategien bei der Frühdiagnostik und Therapie von Essstörungen. Mit diesem Buch möchte ich Betroffene, deren Eltern und Therapeuten über aktuelle neurobiologische und psychologische Forschungsergebnisse informieren und neue entwicklungsdynamische Besonderheiten aufzeigen, die für die Entstehung von Essstörungen von Bedeutung sind. Des Weiteren möchte ich den Betroffenen helfen, aus dem großen Spektrum der verschiedensten therapeutischen Angebote die für ihre Essstörung geeignete Therapie zu finden.

Bisher wurden Essstörungen in erster Linie als eine Folge von Beziehungsstörungen oder psychisch schwer belastender Ereignisse in der Kindheit angesehen. Die daraus abgeleiteten Therapien konnten jedoch nicht recht überzeugen und ließen viele Fragen offen.

Inzwischen liefern Forschung und Praxis Anhaltspunkte dafür, dass Magersucht, Ess-Brech-Sucht (Bulimie) und Esssucht sehr häufig Folge einer genetisch bedingten und somit angeborenen Persönlichkeitsvariante sind, bei der sich die Regulierung von Wahrnehmungen, Gefühlen und Reaktionen von denen Gleichaltriger wesentlich unterscheidet. Diese Personen reagieren viel zu empfindlich gegenüber Emotionen und Stress. Anhaltende psychische Belastungen führen bei ihnen zu emotionalem Dauerstress, der psychisch destabilisiert und ihre Leistungsfähigkeit, ihr Verhalten und somit ihr Selbstwertgefühl und ihre soziale Kompetenz beeinträchtigt. Um dieser psychischen Destabilisierung entgegen zu wirken, beginnen sie, ihre für sie unerträglichen emotionalen Spannungszustände über Essen oder dessen Verweigerung abzureagieren, um auf diesem Wege ihre Hilflosigkeit zu kompensieren. Deshalb können die Betroffenen diese Selbsthilfemaßnahme – Essen oder Nichtessen – nur schwer aufgeben, ohne dass der Therapeut ihnen eine spürbare und für sie akzeptable Alternative anbietet.

Diesen Entwicklungsverlauf zur Essstörung frühzeitig zu unterbrechen ist nicht nur ein wissenschaftliches, sondern – im Hinblick auf die Vielzahl der Betroffenen und deren schwerwiegenden gesundheitlichen Folgen – auch ein gesellschaftliches Problem. Ohne eine rechtzeitige Behandlung wird aus dem gestörten Essverhalten eine frustbedingte und automatisch ablaufende Fehlreaktion, die zunehmend zwanghaft und schließlich zur Sucht wird. Eine Sucht, die das Belohnungssystem aktiviert, dort die sogenannten »Glückshormone« freisetzt und in die Abhängigkeit führen kann.

Neue Denkweisen – und das nicht nur in der Psychiatrie – profitieren von einem fachübergreifenden Wissen und ermöglichen es, die gefährdete Personengruppe frühzeitig zu erkennen. Das erfordert neue diagnostische Strategien, die Eltern, Kindergärtnerinnen und Lehrer mit in die Diagnostik einbeziehen, um bei den in ihrer Entwicklung auffälligen Kindern und Jugendlichen folgenschwere psychische Störungen, wie es auch Essstörungen sind, zu vermeiden.

Neue Therapieoptionen sind also erforderlich, die nicht wie bisher primär am Symptom, sondern an dessen Ursache ansetzen. Diese Art der Frühbehandlung hat sich in einigen Praxen schon bewährt. Sie wird aber durch Mangel an entsprechenden Studien noch viel zu zögerlich angewandt, zum Nachteil der Betroffenen, die sich dann weiterhin mittels ihrer Essstörung selbst behandeln und dadurch gefährdet sind, eine Magersucht, eine Bulimie oder eine Esssucht mit oder ohne Übergewicht zu entwickeln.

Mainz, Dezember 2009

Helga Simchen

1          Essstörungen – eine Einführung

 

 

 

1.1       Ein Konflikt zwischen Wollen und Können

Neue Erkenntnisse der neurobiologischen Forschung mithilfe bildgebender Verfahren zeigen, wie eng Psyche, Körper und soziales Umfeld miteinander verbunden sind und welche Bedeutung negativer Dauerstress als Bindeglied dabei spielt. Das Gehirn mit seinen wichtigen Funktionen und seinem großen Einfluss auf die Persönlichkeitsentwicklung sollte in Zukunft in der Psychiatrie und Psychologie viel stärker berücksichtigt werden. Die bisher mehrheitlich symptomzentrierten therapeutischen Ansätze müssen durch mehr ursachenorientierte Behandlungsstrategien ersetzt und die Entwicklung der Persönlichkeit von Kindheit an mit in die Diagnostik einbezogen werden.

In Bezug auf Essstörungen bedeutet das, nach einem ganz bestimmten Persönlichkeitsprofil zu suchen, das infolge einer veränderten Verarbeitung von Informationen und Stress die biologischen Voraussetzungen für das Entstehen und Aufrechterhalten von Magersucht und Esssucht schafft. Die Entwicklung einer Essstörung beginnt nicht erst in der Pubertät, sondern schon viele Jahre vorher, nur werden diese frühen Symptome viel zu oft übersehen oder als solche verkannt. Wenn dann Hilflosigkeit, Stress, Frust, Versagensängste, Selbstwertproblematik und Auffälligkeiten im Sozialverhalten die Persönlichkeitsreife so beeinträchtigt haben, dass die Betroffenen den Anforderungen der Pubertät nicht gewachsen sind, kommt es zur Essstörung als Folge einer psychischen und körperlichen Dekompensation. Denn Essgestörte erleben ständig, dass sie ihre vorhandenen Fähigkeiten nicht in Erfolg und Anerkennung umsetzen können, selbst wenn sie sich noch so sehr darum bemühen.

Essstörungen – wie Magersucht, Ess-Brech-Sucht und häufig auch die Esssucht – können zum missglückten Bewältigungsversuch unlösbar erscheinender Schwierigkeiten werden, wenn die Betroffenen zu keiner anderen Lösung fähig sind und ihnen das soziale Umfeld keine spürbaren Hilfen anbietet.

Leider wird die innere Not der vielen Betroffenen oft nicht erkannt oder, schlimmer noch, für »Theater« oder »komisches Getue« gehalten. Viele Therapeuten, die vorwiegend symptomorientiert arbeiten, reagieren erst dann, wenn die Betroffenen eine Summe von Symptomen aufweisen, die in ein vorgegebenes Diagnoseschema passen. Aber bei beginnenden Essstörungen sollte, wie bei vielen anderen psychischen Erkrankungen auch, die Behandlung früher einsetzen. Psychische Erkrankungen entwickeln sich langsam, meist über Jahre – das erfordert, deren Frühsymptome rechtzeitig zu erkennen und ernst zu nehmen.

Essgestörte weisen im Persönlichkeitsprofil viele Gemeinsamkeiten auf, was auf eine gemeinsame neurobiologische Ursache des Störungsbildes hindeutet. Diese zu erkennen und dadurch den Essgestörten mit bisher zu selten genutzten therapeutischen Strategien zu helfen, dazu möchte dieses Buch informieren und beitragen.

1.2       Ein gesellschaftliches und persönliches Problem

Die medizinische Forschung hat sich für das 21. Jahrhundert auf die Fahnen geschrieben, nicht nur Erkrankungen erfolgreich zu behandeln, sondern deren Entstehung frühzeitig zu verhindern. Einige Möglichkeiten, um Essstörungen frühzeitig erkennen und behandeln zu können, möchte dieses Buch aufzeigen. Mut dafür haben mir die vielen Patienten gemacht, denen durch eine frühzeitige Intervention erfolgreich geholfen werden konnte, und Therapeuten, die schon seit Jahren den Zusammenhang von Essstörungen und einer genetisch bedingten anderen Art der Informationsverarbeitung erkannt und ihr therapeutisches Konzept entsprechend ausgerichtet haben.

Im Mittelpunkt der folgenden Ausführungen stehen dabei jene Essstörungen, die als eine individuelle Bilanz eines deutlich beeinträchtigten Selbstwertgefühls, einer ständig erlebten schlechten sozialen Kompetenz und einer damit verbundenen hohen Empfindlichkeit gegenüber Kritik und Stress anzusehen sind, und bei denen der Verdacht besteht, dass sie der persönlichen Problemlösung dienen. Dem sozialen Umfeld kommt dabei eine Auslöser- und Verstärkerfunktion zu, vor allem durch Suggerieren von Leit- und Vorbildern, die den Schönheitswahn zum alles bestimmenden Element für Anerkennung und Akzeptanz einer jugendlichen Persönlichkeit machen. Schlanksein verspricht Perfekt-Sein, der Schönheitskult soll innere Werte ersetzen. Die Umwelt alleine löst jedoch keine Essstörung aus, eine entsprechende individuelle Veranlagung muss zusätzlich vorhanden sein. Unsichere und überforderte Jugendliche suchen verstärkt nach Orientierung und Sicherheit; Leit- und Vorbilder liefern diese, sie setzen Impulse zur Nachahmung. Oft wird die oberflächliche Abbildung einer Person zum »Leitbild«, wobei deren innere Werte kaum bekannt sind, nicht hinterfragt werden oder, noch schlimmer, überhaupt nicht vorhanden sind.

Vielen Jugendlichen fehlen Vorbilder, die ihnen innere Werte vermitteln. Die Orientierung an Äußerlichkeiten dominiert. Vorbild ist immer ein Mensch, der durch sein Verhalten und Aussehen positive Impulse zur Nachahmung auslöst. Eine Vorbildfunktion sollte vorgelebt werden. Abbildungen allein sind unzureichend, werden aber von verunsicherten und mit sich unzufriedenen Jugendlichen gern zum Leitbild für ihr Aussehen genommen. Da die Kommunikation immer mehr über die Medien erfolgt, gewinnen deren Bilder zunehmend an Bedeutung für Vorbildfunktionen.

Eine zu große Empfindlichkeit ist meist Folge einer angeborenen besonderen Art der Informations- und Stressverarbeitung, die bei entsprechender Ausprägung und als Summe mehrerer Faktoren zur psychischen Störung mit veränderter Wahrnehmung des eigenen Körpers und der Umwelt führen kann. Dazu kommen dann gleichzeitig oder zeitlich versetzt weitere psychische Symptome, wie Ängste, Zwänge, depressive Verstimmungen, Panikattacken oder ein Burnout-Syndrom, sowie psychosomatische Beschwerden, wie Kopfschmerzen, Übelkeit, Magen-Darm-Beschwerden, Schwindelanfälle oder auch Essstörungen.

Wem es nicht gelingt, sich psychisch wieder ins Gleichgewicht zu bringen, der versucht das, indem er sein Aussehen verändert und – wie er meint – attraktiver gestaltet, in der Annahme, dadurch weniger Probleme zu haben. Was anfangs als positiv erlebt wird, kann schnell zwanghaft und zur Sucht werden. Magersucht und Esssucht können die gleichen psychodynamischen Ursachen haben, in beiden Fällen sind die Betroffenen mit ihrem Schicksal unzufrieden.

Essstörungen nehmen zu, weil wir bei Kindern und Jugendlichen die psychischen Probleme nicht rechtzeitig erkennen und sie hierbei ungewollt allein lassen. Denn die meisten von ihnen sind nicht verhaltensauffällig, sondern haben Lernschwierigkeiten und soziale Probleme, die sie aufgrund ihrer meist guten bis sehr guten Intelligenz eine Zeit lang kompensieren können.

Aus vielen Gründen, wie Mangel an echten Vorbildern, zunehmender Reizüberflutung, strukturellen Veränderungen im Schulsystem und im familiären Zusammenhalt, steigt die psychische Belastung unserer Kinder und Jugendlichen. Psychische Störungen nehmen zahlenmäßig und an Schwere ständig zu, sodass es an der Zeit ist, nach Möglichkeiten zur Vorbeugung und frühzeitigen Behandlung zu suchen. Ein neuer erfolgreicher therapeutischer Ansatz bietet sich für betroffene Kinder, Jugendliche und Erwachsene, deren psychische Beeinträchtigung z. B. durch eine Aufmerksamkeitsdefizit-Störung (AD[H]S) bedingt ist. So lassen sich die verschiedenen Formen von Essstörungen immer häufiger als eine Folge eines zuvor nicht erkannten oder bisher unzureichend behandelten Aufmerksamkeitsdefizit-Syndroms ohne Hyperaktivität (ADS) ansehen und als solche erfolgreich therapeutisch bearbeiten. Dies erfordert für die Betroffenen und deren Eltern, sich über neue wissenschaftlich fundierte Therapien zu informieren und Ärzte oder Psychologen aufzusuchen, die diese praktizieren. Diese Therapeuten werden dabei von Anfang an an der Verbesserung des Selbstwertgefühls und der sozialen Kompetenz der betroffenen Kinder und Jugendlichen arbeiten und ihnen die dafür notwendigen Möglichkeiten bieten.

1.3       Essstörungen und Persönlichkeit

Die starke Zunahme von Essstörungen, die unter Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen aller Gesellschaftsschichten auftreten, stellt für die Betroffenen und die Gesellschaft insgesamt ein großes Problem dar. So haben sich die Essstörungen in den letzten zehn Jahren fast verdoppelt und sie gehören zu den am schwierigsten zu behandelnden psychischen Störungen mit oft schwerwiegenden gesundheitlichen Folgen.

Die Häufigkeit der Übergewichtigkeit in der europäischen Bevölkerung liegt inzwischen bei etwa 30 % und die der Fettleibigkeit bei circa 10 %. Südliche Länder weisen hierbei höhere Zahlen auf als die nördlichen. Die Folge ist eine Zunahme des Metabolischen Syndroms und der Zuckerkrankheit (Diabetes mellitus Typ II). Gleichzeitig nehmen aber auch Magersucht und Bulimie in den westlichen Ländern ständig zu.

Das Robert-Koch-Institut in Berlin veröffentlichte 2007 eine erste umfassende Studie über die Gesundheit unserer Kinder und Jugendlichen (KiGGS-Studie, vgl. Hölling und Schlack 2007, Hölling et al. 2007, Schlack et al. 2007). Von den 18.000 befragten Kindern und Jugendlichen bestand bei 21,9 % der Verdacht auf Vorliegen einer Essstörung. Dabei waren Mädchen 50 % mehr betroffen. Diese Studie wurde vom Robert Koch-Institut weitergeführt bis zum Jahr 2017, die aktuellen Ergebnisse werden in Kapitel 5.1 ausführlich beschrieben. Vom Institut der Klinischen Psychologie der Universität Jena wurden 369 Gymnasiasten der Klassenstufe 9–11 untersucht und befragt: Bei 15 % von ihnen, so ein Ergebnis der Studie, lag ein hohes Risiko vor, eine Essstörung zu entwickeln. Besonders häufig sind Essstörungen bei weiblichen Spitzensportlern in den sog. ästhetischen Sportarten und bekanntermaßen bei Models (Herpertz-Dahlmann und Müller 2000). So leiden etwa 30 % der weiblichen übergewichtigen jungen Erwachsenen an einer Essstörung mit Essattacken (Binge-Eating-Störung). Meist begannen diese Essattacken im Alter von 9–12 Jahren (Herpertz-Dahlmann 2003b). Von den Jugendlichen und Frauen mit Untergewicht leiden 1–3 % und 0,1 % aller Männer in der Altersgruppe zwischen 15 und 35 Jahren an Magersucht. An der sog. Bulimie, der Ess-Brech-Sucht, leiden etwa 2–4 % aller Mädchen und Frauen und 0,5 % aller männlichen Erwachsenen (Herpertz-Dahlmann 2003b, Holtkamp und Herpertz-Dahlmann 2005, Meermann und Borgart 2006). Essstörungen mit Untergewichtigkeit bestehen bei ca. 15 % aller weiblichen Jugendlichen und Frauen, auch Kinder vor der Pubertät sind zunehmend davon betroffen. Diese Gruppe ist besonders gefährdet, eine Bulimie oder Anorexie zu entwickeln. Die Dunkelziffer der Häufigkeit von Essstörungen ist sehr groß, weil sie bei vielen mit Scham besetzt sind und von den meisten nicht als Krankheit gesehen werden.

Die mit den Essstörungen verbundenen Folgeschäden bedeuten für die Gesellschaft eine große finanzielle Belastung, für den Einzelnen und seine Familie ein Risiko, das für den Betroffenen tödlich enden kann. Bei jungen Frauen ist Magersucht die psychische Erkrankung mit der höchsten Sterberate von 10–20 %. Die Betroffenen sterben an den körperlichen Folgen ihrer Unterernährung oder sie begehen einen Suizid. Über zwei Drittel aller Magersüchtigen werden trotz meist jahrelanger Behandlung nie mehr psychisch stabil und körperlich voll leistungsfähig.

Vor dem oben beschriebenen Hintergrund kann kein Zweifel an der Notwendigkeit bestehen, wirksame Konzepte und praktikable Wege zu finden, Essstörungen erfolgreich zu behandeln und damit dauerhaft zu überwinden. Eine wesentliche Voraussetzung hierfür liegt darin, die tiefer liegenden Ursachen der Essstörungen zu erkennen. Denn Magersucht, Bulimie und Adipositas sind »Selbstbehandlungsversuche« zum Abbau eines emotional unerträglichen Spannungszustandes, der über Essen oder dessen Verweigerung abgebaut wird.

Somit dienen Essstörungen der Bewältigung massiver psychischer Schwierigkeiten, die als solche vom sozialen Umfeld oft nicht wahrgenommen werden. Betroffen sind vor allem sensible leistungsorientierte, überangepasste und junge Menschen, die infolge einer genetisch bedingten anderen Art der Verarbeitung von Informationen ihr inneres Selbstkonzept nicht verwirklichen können. Trotz intensiver Anstrengungen erleben sie in ihrem Alltag immer wieder Enttäuschungen, weil sie über ihr intellektuelles Potenzial nicht jederzeit und erfolgreich verfügen können und sich vom sozialen Umfeld unverstanden fühlen.

Dadurch gerät ihr Selbstvertrauen in eine Negativspirale, die zu emotionalem Dauerstress führt. Die Essstörung wird so zu einer stressassoziierten psychischen Störung, die frühzeitig professioneller Hilfe bedarf – viel früher als diese bisher zumeist erfolgt. Für Angehörige, Freunde und das nähere soziale Umfeld ist es deshalb von großer Bedeutung, nicht abzuwarten, bis die betroffenen Kinder und Jugendlichen – angetrieben durch ein schlechtes Selbstwertwertgefühl, innere Hilflosigkeit und Verzweiflung – eigene Wege der »Selbsthilfe« gehen. Dabei handelt es sich um eine Selbsthilfe, bei der die Betroffenen ihre Auseinandersetzung mit der Familie, mit Freunden oder auch mit der Schule auf ihren eigenen Körper verlagern, was rasch zu Ängsten, Zwängen oder auch depressiven Verstimmungen führt und schließlich in einem Suchtverhalten enden kann. Eine Sucht, die nichts mit Drogen zu tun hat, sondern die die Folge ständiger Versagensängste ist, verbunden mit einem quälenden Gefühl, nicht verstanden oder abgelehnt zu werden. Magersucht müssen wir in diesem Zusammenhang als eine Folge verdrängter Sehnsüchte, verschluckter Tränen, erlittener Kränkungen und fehlender sozialer Anerkennung verstehen. Eine Sucht, die hilft, durch Abnehmen die Anerkennung der Gleichaltrigen zu erlangen, ein Verhalten, das den betroffenen Kindern und Jugendlichen endlich einmal Macht über den eigenen Körper verspüren lässt und damit ihre psychische Befindlichkeit scheinbar verbessert.

Im Umgang mit ihrem eigenen Körper gelingt es essgestörten Kindern und Jugendlichen erstmalig, vermeintliche Probleme scheinbar erfolgreich zu lösen, und zwar hundertprozentig und damit besser als allen anderen. Mit ihrem Nahrungsentzug erleben sie das erste Mal Erfolge durch selbstbestimmtes Handeln. In Bezug auf ihren Körper setzen sie ihren Willen durch, das zu erreichen, was sie unbedingt wollen und was anderen nicht so gut gelingt. Das haben sie sich für ihr Leistungs- und Sozialverhalten schon immer gewünscht, nur zufrieden waren sie mit den Ergebnissen bisher nie.

Alles in ihrem Leben verlief bisher schlechter als erwartet, eine Enttäuschung folgte der nächsten, auch wenn sie sich noch so bemühten. Das machte sie frustriert und hilflos. Dabei wollten und konnten sie von ihrem hohen Selbstanspruch nicht lassen und so begann für sie ein stiller Leidensweg, den niemand bemerken sollte. Denn das soziale Umfeld reagierte nur mit tröstenden Worten, die ihnen nicht halfen. Sie spürten immer wieder, dass sie nicht verstanden, ihre Fähigkeiten nicht bemerkt und sie von anderen eher gemieden wurden. Warum das so war, darauf fanden sie keine Antwort.

1.4       Ein neuer biologisch fundierter Ansatz

Die bisherigen Theorien zur vermeintlichen Ursache restriktiver Essstörungen sollten hinterfragt werden, da sie die jüngsten wissenschaftlichen Erkenntnisse der neurobiologischen Forschung nicht berücksichtigen. Magersüchtige junge Frauen lehnen weder ihre Rolle als Frau noch Sexualität als solche ab und sie sind in den seltensten Fällen wirklich sexuell missbraucht worden. Vieles deutet darauf hin, dass sexueller Missbrauch und Essstörungen eine Folge der gleichen bio-psycho-sozial geprägten Grundstörung sind, die mit einer inneren Verunsicherung der Betroffenen und ihrer Unfähigkeit verbunden ist, sich anderen gegenüber energisch und erfolgreich wehren zu können. Beides geht häufig mit einer schwachen Persönlichkeit einher.

Menschen mit ausgeprägten Essstörungen haben in ihrer Entwicklung und Persönlichkeitsstruktur viele Gemeinsamkeiten. Das kann kein Zufall sein! Die neuesten Ergebnisse der bildgebenden Hirnforschung (Braus 2004, Spitzer 2002) liefern Erklärungen für diese Gemeinsamkeiten, die unter ganz bestimmten Voraussetzungen die Ausbildung einer Essstörung begünstigen können.

Als unbekannte Größe für die Entstehung von Essstörungen wurde bisher immer wieder eine genetisch bedingte Persönlichkeitsvariante benannt, die man sich aber nicht erklären konnte. Wichtig ist es, frühzeitig nach entsprechenden Symptomen dieser Persönlichkeitsvariante, die zur AD(H)S-bedingten Spektrumsstörung gehört, zu suchen. Dadurch wird ein rechtzeitiges Eingreifen in deren Psychodynamik möglich, schon lange bevor die Betroffenen sich mit ihrer Problematik allein gelassen fühlen und zur »Selbsthilfe« greifen. Denn Magersucht und Bulimie, teilweise auch Adipositas, sind nur der Gipfel eines Eisbergs, dessen Entstehung eine über viele Jahre bestehende andere Art der Informationsverarbeitung vorausgeht. Diese wird durch die Überangepasstheit der Betroffenen und deren Bemühen, nur nicht negativ aufzufallen, lange kompensiert. Deshalb werden für eine möglichst frühzeitige Diagnose in erster Linie Kinderärzte, Eltern, Lehrer, Ergotherapeuten sowie Kindergärtnerinnen und Freunde der Betroffenen benötigt, die oft als Erste länger bestehende Auffälligkeiten im Verhalten der Betroffenen bemerken.

Schon lange, bevor es zu einer Essstörung mit suchtartigen Charakter kommt, läuft ein psychodynamischer Prozess ab, der erkannt und unterbrochen werden muss. Hierfür erforderlich sind jedoch Kenntnisse und ein genaues Beachten von Besonderheiten im Entwicklungsverlauf der betroffenen Kinder und Jugendlichen. Ein solcher vorbeugender Ansatz ermöglicht eine frühzeitige Intervention und Behandlung zur Vermeidung von Essstörungen als Spätfolge einer langen Leidensgeschichte, die so von der Umwelt bisher nicht wahrgenommen wird.

Aufgrund der großen körperlichen und seelischen Nöte, unter denen die betroffenen Kinder, Jugendlichen und jungen Erwachsenen mit Essstörungen leiden, und wegen der mit ihnen verbundenen hohen Sterblichkeitsrate, die bei einer ausgeprägten Anorexie (Pubertätsmagersucht) etwa 23 % beträgt, besteht dringender Handlungsbedarf. Jeder Therapeut weiß, dass eine über längere Zeit bestehende Anorexie sich kaum mehr erfolgreich behandeln lässt. Infolge der anhaltenden Unterernährung kommt es zu bedrohlichen körperlichen und psychischen Schäden. Nerven- und Köperzellen leiden, ein rationales Denken ist nicht mehr möglich und wird durch irrationale Zwänge mit verzerrter Wahrnehmung ersetzt. Das anfängliche Vorhaben, an Gewicht abzunehmen und kalorienbewusst zu essen, wird zur zwanghaften Sucht, die Denken und Handeln bestimmt.

Veranlagung und Umwelt, innere und äußere Faktoren, Persönlichkeit und Belastbarkeit prägen im Wesentlichen die Entwicklung eines jeden Menschen. Das soziale Umfeld, die Umgangs- und Kommunikationsformen, das Schulsystem und die Freizeitbeschäftigung haben sich in den letzten Jahrzehnten so schnell und zum Teil grundlegend verändert, dass für viele die Anpassung an die neuen Strukturen und Lebensverhältnisse zum Problem wurde. Besonders bei Menschen mit anlagebedingten Besonderheiten in der Informationsverarbeitung können diese neuen Bedingungen psychische und physische Überforderungen auslösen. Bleibt die Überforderung aus, können sie von ihren besonderen Eigenschaften durchaus profitieren. Deshalb ist es für Kinder und Jugendliche, die sich noch in der Entwicklung befinden, wichtig, die dafür notwendigen optimalen Bedingungen zu kennen und zu schaffen, um deren seelische und körperliche Überforderung weitgehend zu vermeiden.

1.5       Warum psychische Störungen in der Kindheit zunehmen

Es gibt viele Gründe und Erklärungen dafür, weshalb seelische Störungen bei Kindern und Jugendlichen in den letzten Jahren zugenommen haben. Die wichtigsten seien im Folgenden genannt.

1.5.1     Die zunehmende Reizüberflutung im Alltag unserer Kinder und Jugendlichen

Eine Vielzahl von Medien bildet heute im Alltag der Familien eine beständige Geräuschkulisse, die regelmäßige bzw. intensive Kommunikation beeinträchtigt und teilweise ersetzt. Kinder und Jugendliche tauschen ihre Gedanken und Gefühle zunehmend über die Medien oder das Handy aus.

Ständiges Fernsehen und stundenlanges Computerspielen überlasten das Arbeitsgedächtnis und verdrängen eben Gelerntes, sodass es nicht ins Langzeitgedächtnis weitergeleitet werden kann. Lernprozesse werden unterbrochen, Wichtiges kann unwiederbringlich verloren gehen. Die massive Reizüberflutung überlastet das Arbeitsgedächtnis und ein sowieso schon reizüberflutetes Gehirn reagiert mit Stress. Die Aufnahmekapazität des Gehirns sinkt, es ermüdet schneller, die Betroffenen arbeiten oberflächlich und unkonzentriert. Neurobiologisch gesehen kann ein ständig mit vielen optischen und akustischen Reizen überflutetes Gehirn keine »dicken Lernbahnen« zur schnellen Weiterleitung von Informationen vom Arbeitsgedächtnis zum Langzeitgedächtnis ausbilden, sodass die Automatisierung von Lern- und Handlungsstrategien und deren sofortiges Abrufen erschwert werden (Spitzer 2002).

Unkontrolliertes Fernsehen, Computerspielen und Chatten im Internet sind Lernkiller und werden so zu Stressfaktoren erster Ordnung. Sie werden von Kindern und Jugendlichen zwar als Entspannung empfunden, belasten jedoch tatsächlich das Gehirn und verdrängen das Gelernte aus dem Arbeitsgedächtnis, noch bevor dieses im Langzeitgedächtnis abgespeichert werden kann.

Die häufig anzutreffende Reizüberflutung durch die Medien beeinträchtigt die Lernfähigkeit und das Sozialverhalten.

1.5.2     Der Mangel an sozialer Intelligenz und Kompetenz

Unter sozialer Intelligenz versteht man dabei die Fähigkeit, in Beziehungen klug zu handeln, d. h. ein Gefühl von Empathie, soziale Intuition und Impulse zum tätigen Mitgefühl entwickeln zu können (Goleman 1997).

Die soziale Kompetenz ist eine Fähigkeit, die sich nur durch persönliche Kontakte und Erfahrungen entwickeln kann. Sie schafft eine wichtige Voraussetzung dafür, dass wir unser Verhalten sozial angepasst ausrichten, unsere Umgebung emotional richtig erfassen und uns spontan in die Gefühle der anderen hineinversetzen können. Zur sozialen Intelligenz gehört auch die kognitive Fähigkeit, die Körpersprache der anderen zu verstehen, um unser Handeln dementsprechend auszurichten. Sie setzt eine gute Eigenwahrnehmung voraus, die wiederum durch eigene Erfahrungen und Beobachtungen erworben wird. Je mehr und je früher jedoch Medien zum wichtigsten und bevorzugten Kommunikationsmittel werden, umso weniger Selbsterfahrungen erwerben Kinder und Jugendliche für die Ausbildung einer emotionalen und sozialen Intelligenz. Auch bei vorhandener angeborener Störung in der Informationsverarbeitung leidet zuerst die soziale Intelligenz und mit ihr die soziale Kompetenz.

1.5.3     Der Verlust stabiler sozialer Strukturen

Die sich immer mehr auflösenden festen Strukturen in der Gesellschaft, in der Familie, in der Erziehung und im Schulunterricht sind nur einige Faktoren, die in ihrer Summe eine psychische Überforderung von Kindern und Jugendlichen begünstigen. Dazu gehören auch die unzureichende Vermittlung von sozialer Geborgenheit, Wertschätzung, Anerkennung und die gesellschaftlich bedingte zunehmende Unsicherheit der eigenen persönlichen und beruflichen Perspektive. Eine große Anzahl von Facebook-Freunden ist kein Ersatz für echte Beziehungen zu Mitmenschen. Nur diese können soziale Fähigkeiten vermitteln.

1.5.4     Die Anziehungskraft vermeintlicher Vorbilder

Selbstunsichere Menschen sind sehr abhängig von externem Feedback. Auf der Suche nach Erfolg und Anerkennung suchen sie sich solche Vorbilder, denen nachzueifern im Bereich ihrer Möglichkeiten liegt. In der jetzigen Zeit scheinen innere Werte und Leistungsbereitschaft unter dem Gros der Jugendlichen viel weniger Anerkennung zu finden als äußere Erscheinungsbilder. In der Schule werden gute Leistungen von den Mitschülern oft als Streberei bezeichnet und verspottet. Gerade selbstunsichere Jugendliche können die Hintergründe nicht durchschauen und möchten auf keinen Fall als Streber gelten. TV-Serien und Kinofilme zeigen den Jugendlichen, dass gut aussehende Menschen Erfolg haben, während die weniger gut aussehenden die Benachteiligten oder gar die »Bösen« sind und meist als schwache Charaktere erscheinen.

1.5.5     Die Mängel unseres Schulsystems

Zu den Faktoren, die eine Zunahme psychischer Störungen bei unseren Kindern begünstigen, zählen auch Veränderungen in Schule und Unterricht, die den Lernerfolg nicht weniger Schüler beeinträchtigen und bei diesen zusätzlich zu Stress und Misserfolgen führen. In vielen pädagogischen Bereichen, die wesentlichen Einfluss auf die Entwicklung der Kinder und Jugendlichen ausüben, wird viel zu sehr auf wissenschaftlich unzureichend fundierter Basis experimentiert. Beispiele dafür sind:

•  Kein frontaler Unterricht mit Blickkontakt zum Lehrer

•  Das Schreiben in den ersten Klassen erfolgt nach Gehör und ohne Beachtung von Groß- und Kleinschreibung, Doppellauten und Vorsilben. Dadurch entwickeln sich bei vielen Kindern die neuronalen Bahnen, das Wortbildgedächtnis und die Automatisierung des Schreibvorganges zu spät oder nur unzureichend. Falsch geschriebene Wörter werden im Langzeitgedächtnis dann erst einmal abgespeichert.

•  Das gleichzeitige Aufzeigen zu vieler unterschiedlicher Rechenwege

•  Das Erlernen der Zeichensprache oder der alten deutschen Schrift

All diese methodisch nicht abgesicherten und die Schüler überfordernden Vorgehensweisen mussten Kinder über sich ergehen lassen, die in den letzten Jahren wegen Lernproblemen in meiner Praxis in Behandlung waren. Natürlich gingen ihre Lehrer davon aus, ihren Unterricht durch den Einsatz vielfältiger Methoden besonders gut und interessant zu gestalten. Manches sollte den Kindern das Lernen erleichtern – nur wurde bei einigen Schülern dadurch das Gegenteil erreicht.

Auch das ständige Umsetzen in den unteren Klassenstufen ist eine zusätzliche Belastung für viele Kinder. Die heutzutage in Klassenzimmern häufig anzutreffende Anordnung der Tische und Stühle in Sechsergruppen und kreisförmig im Raum kann kein Vorteil sein. Viele Kinder haben weder den Lehrer noch die Tafel im Blickfeld, wenn sie geradeaus schauen. Kinder brauchen in der Grundschule zum Lernen den Frontalunterricht und Ruhe in der Klasse. Ihr Augenkontakt zum Lehrer, seine Mimik und Gestik fixieren ihre Aufmerksamkeit auf das von ihm Gesprochene. Ein Kind, das in der ersten Klasse schon mit dem Rücken zur Tafel sitzt und sich ständig zur Lehrerin und zur Tafel umdrehen muss, ist in seiner Lernfähigkeit von Anfang an benachteiligt. Da hilft auch kein ständiger Platzwechsel.

Lernen setzt eine Kontinuität im Lernprozess mit einer guten Beziehung zum Lehrer und einem stabilen äußeren Rahmen voraus.

Die häufigen Vertretungsstunden aufgrund abwesender Lehrer, der Lehrermangel und die häufige Überforderung unserer Lehrer belasten die Schüler indirekt.

Die Ganztagsschule, die richtig ausgeformt grundsätzlich zu begrüßen ist, weist zum gegenwärtigen Zeitpunkt noch einige Mängel auf. Sensible, reizüberforderte Kinder leiden unter der Lärmbelastung, der sie den ganzen Tag ohne Unterbrechung ausgesetzt sind. Sie können sich in den Zwischenzeiten nicht ausreichend erholen, um Kräfte zu sammeln und Stress abzubauen. Schriftliche und mündliche Schularbeiten sollten erledigt sein, wenn Schüler gegen 16 Uhr die Schule verlassen. Wenn Kinder in der Unterstufe nach 17 Uhr noch ausstehende Hausaufgaben zu Hause erledigen müssen, sind sie damit überfordert und reagieren mit Ablehnung oder Verweigerung.

Der häufig überfüllte Pausenhof stellt für einen Teil der Kinder mit seinem zu hohen Geräuschpegel ein weiteres belastendes Problem dar. Auf dem Schulhof größerer Schulen verbringen nicht selten über 1.000 Kinder ihre Pause. Hier kann nicht abgeschaltet werden, die Geräuschkulisse verstärkt stattdessen vorhandenen Stress. Für vorgesehene körperliche Beschäftigungen reichen die bereitstehenden Spiel- und Sportgeräte oft nicht aus. Die Enge des Pausenhofs erhöht die Aggressivität, da viele Kinder bewusst oder unbewusst angerannt werden und sich provoziert fühlen. Vorhandene Aggressivität wird durch das Provozieren von Mitschülern abreagiert. Der Aufsicht habende Lehrer ist dabei von vornherein überfordert.

Entwicklungsbeeinträchtigungen nehmen in der Kindheit infolge nicht verkraftbarer psychischer Dauerbelastungen und dem damit verbundenen Stress zu.

Was könnte das Schulsystem dagegen tun? Für eine positive Persönlichkeitsentwicklung aller Schüler sind qualitativ gut ausgebildete und als Vorbild für die Schüler dienende Lehrer, die nach einem wissenschaftlich fundierten Lehrprogramm kontinuierlich arbeiten, leider noch zu häufig ein Wunschtraum. Ruhe, Kontinuität und Rituale im Unterrichtsablauf wären erforderlich. Auch eine regelmäßige Kommunikation und Zusammenarbeit mit dem Elternhaus wären förderlich bzw. notwendig.

Warum die Schule für manche Kinder zum »Stressfaktor Nr. 1« wird

Ein häufiger Platzwechsel im Klassenzimmer, die Abschaffung des Frontalunterrichtes, die vielen Freiarbeitsstunden schon in den unteren Klassen, ineffektive, die Kinder überfordernde Methoden des Schreiben- und Rechnenlernens, die vielen Vertretungsstunden und die ständige Unruhe in der Klasse und auf dem Pausenhof sind eine große psychische Belastung, der viele Kinder auf Dauer nicht gewachsen sind. Hinzu kommen die verordnete Nachhilfe, die einige Schüler zwei- bis dreimal pro Woche haben, sowie der Förderunterricht in der Schule, manchmal sogar auf Kosten der Sportstunde, die gerade die psychisch labilen Kinder so dringend benötigen.

Um es klarzustellen: Schulische Stressfaktoren sind keine direkten Auslöser einer Essstörung, sie belasten aber die Schüler und begünstigen bei einigen von ihnen die Zunahme und Schwere psychisch und psychosomatisch bedingter Erkrankungen, von denen eine die Essstörung sein kann. Denn anhaltender negativer Stress wird auch schon von Kindern und Jugendlichen mit Appetitlosigkeit oder Frustessen abreagiert. Zu diesen schulischen Faktoren kommen noch sehr viele aus dem familiären Bereich und dem sozialen Umfeld, die aber weitgehend bekannt sind. Die für die Entwicklung einer Essstörung wichtigen Faktoren werden im Folgenden in den entsprechenden Kapiteln dieses Buches beschrieben.

1.6       Die Bedeutung der Forschung

Medizinische Wissenschaftler (Braus 2004, Kaye 2008, Bulik et al. 2007, Krause und Krause 2009) suchen nach genetischen und molekularbiologischen Ursachen, um die Auswirkungen der angeborenen veränderten Informationsverarbeitung in einen Zusammenhang mit der Entwicklung psychischer Störungen zu bringen. Essstörung als Ausdruck einer angeborenen veränderten Art der Reizverarbeitung anzusehen, würde diese Ursachenforschung beleben und helfen, viele Details ihres Verlaufs zu erklären. Im Interesse der Betroffenen und den Erfahrungen aus der Praxis folgend sollte die psychiatrische Forschung die Neurologie, die Entwicklungspsychologie und die Verhaltensforschung mit einbeziehen. Auch in der Psychiatrie haben Studien zu Krankheitsverläufen, die Erfahrungen aus der Praxis sowie die Erkenntnisse durch die bildgebenden Verfahren in der Neurobiologie und der Genetik für die Forschung eine wegweisende Bedeutung. Eine fachgebietsübergreifende Forschung ermöglicht die Trennung von mancher ausgedienten »klassischen« Lehrmeinung.