Etappenflucht - Louisa C. Kamps - E-Book

Etappenflucht E-Book

Louisa C. Kamps

4,0

Beschreibung

Eigentlich kann Raik nicht sonderlich gut mit Menschen. Er versteckt sich lieber hinter seiner spitzen Zunge. Doch als in die Soziale Einrichtung, die er gemeinsam mit seinem Bruder Jörn leitet, eingebrochen wird, wählt einer der Schützlinge ihn unverhofft zu seiner persönlichen Vertrauensperson. Als wäre diese plötzliche Bindung nicht schon verwirrend genug für Raik, muss er sich auch noch den Vorwürfen seines Bruders stellen, er liefe vor jedweder zwischenmenschlichen Verantwortung davon. Und dann steht auch noch der Kriminalpolizist Christian Kies vor der Tür und bietet Raik eine riskante Zusammenarbeit an. Doch nicht nur diese bereitet Raik schlaflose Nächte, auch Christian raubt ihm den letzten Nerv. Was stimmt mit dem Deo dieses Mannes nicht, sodass Raik ständig Magenschmerzen in dessen Nähe bekommt? Und wie soll er es nur schaffen, seinen Fluchtreflex unter Kontrolle zu bekommen, wenn dieser Polizist ihn regelrecht zu verfolgen scheint?

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Impressum:

© dead soft verlag, Mettingen 2018

http://www.deadsoft.de

© the author

Cover: Irene Repp

http://www.daylinart.webnode.com

Bildrechte:

© anetta – shutterstock.com

© KHIUS – shutterstock.com

© popcorner – shutterstock.com

1. Auflage

ISBN 978-3-96089-189-5

ISBN 978-3-96089-190-1 (epub)

Inhalt:

Für meine Oma.

1 Villa Kunterbunt

Wann hat sich mein Leben in diese Seifenoper verwandelt? Ich bin mir nicht sicher. Zu meiner Verwunderung ist es mir aber egal. Genervt bin ich lediglich von ein paar winzigen Kleinigkeiten, die sich leider zu einem Rudel zusammengeschlossen haben und eine Allianz gegen mich zu bilden scheinen. Es ist für mich sonst nicht zu erklären, warum ich an einem Samstagmorgen um zehn Uhr bereit bin, einen Mord zu begehen.

„Jörn!“, schreie ich zum wiederholten Mal die Zimmertür meines Bruders an. „Du hattest nur eine Aufgabe gestern. Nur eine einzige, verdammt. Ist es so schwer, Kaffee zu kaufen?“

„Reg dich doch nicht so auf!“, kommt es gedämpft zurück. Allerdings nicht von Jörn, wie ich zu meinem Bedauern feststellen muss. Ich kann mir ein Stöhnen nicht verkneifen.

„Julia“, knurre ich. „Du auch hier?“

„Natürlich, Sonnenschein.“ Ich bekomme die Antwort just in dem Moment, in dem die Tür vor meiner Nase geöffnet wird. „Warum so schlecht gelaunt? Heute noch kein Huhn geschlachtet?“

„Witzig“, kommentiere ich ohne jeglichen Sinn für Humor. Ich spare es mir allerdings, sie darauf hinzuweisen, dass ich lediglich schwarz mag und die Klamotten cool finde, aber weder Satan noch sonst jemandem huldige. Ich bin nicht mal ein Goth und sehe auch nicht so aus. In meinem Zimmer steht auch kein Altar, wie sie sehr wohl weiß. Ich nenne mein Zimmer zwar gerne die Bat-Höhle, weil ich graue Wände, dunkle Möbel und meist schwarze Bettwäsche habe, aber auch das macht mich nicht zu einem okkulten Anhänger. Um das der nervigen Freundin meines Bruders zu erklären, fehlt mir allerdings die Motivation und ihr der nötige Grips. Die Frau ist in meinen Augen von sehr schlichtem Gemüt und es nicht Wert, meine Zeit mit ihr zu verbringen. Reicht schon, wenn Jörn das tut. Wobei, egal ist mir die Frau nicht. Wäre sie es, könnte ich mich mit ihr in der gleichen Umgebung aufhalten, ohne rot zu sehen. So suche ich aber nach kürzester Zeit Reißaus, um mich nicht mit dieser Person auseinandersetzen zu müssen. Genau wie jetzt.

„Vergiss es“, sage ich lauter als nötig, da meine nächste Aussage für Jörn und nicht für Miss Toastbrot bestimmt ist. „Ich frühstücke auswärts.“

„Jetzt warte doch mal.“ Meine Verwandtschaft klingt reichlich gehetzt. „Wir können doch zusammen …“

„Nein!“ Zur Bekräftigung knalle ich die Zimmertür hinter mir zu. Es tut mir ja leid für ihn. Mir ist durchaus bewusst, wie sehr er Julia mag und es ihm zusetzt, dass ich sie so gar nicht leiden kann. Ich werde mich aber für niemanden verbiegen, auch nicht für ihn, obwohl er doch die mir am nächsten stehende Person von allen auf diesem Planeten ist. Noch während ich meine schwarze Jogginghose gegen eine schwarze Jeans mit Rissen über den Knien tausche, höre ich sie zetern.

„Jetzt lass ihn doch. Vielleicht hat er seine Tage“, sagt sie gerade, als ich denke, ein Schaben vor der Tür zu vernehmen. Und Bingo. So laut, wie Jörns Stimme ist, muss er genau davor sein.

„Jetzt hör doch mal auf! Was ist das nur mit euch? Könnt ihr nicht einmal normal miteinander reden?“

Ich vermute, dass das auch an meine Adresse gerichtet ist, aber wenn ich etwas kann, dann auf stur stellen.

„Ich hab doch gar nichts gemacht!“, schnauzt sie zurück.

„Du hättest ja wenigstens normal guten Morgen sagen können! Und du, mein Freund“, er wendet sich jetzt definitiv an mich, „musst nicht ständig abhauen.“

„Dann hättest du Kaffee kaufen sollen!“, schreie ich durch die immer noch geschlossene Tür. Ich habe gerade den zweiten Sneaker zugebunden, als die Tür aufgestoßen wird.

„Das hat länger gedauert als ich dachte“, sage ich ruhig, schaue ihn aber nicht an.

„Du bist unausstehlich, weißt du das? Kaffee steht übrigens im Regal.“

„Welches Regal. Das im Supermarkt?“, frage ich spitz, während ich mich aufrichte und ihn mit in die Hüften gestemmten Händen ansehe.

„Nein. Das Regal im Vorrat.“

„Witzig. Ich hätte schwören können, du hättest gerade gesagt, in dieser Wohnung würde sich schwarzes Gold befinden. Dabei habe ich gerade die Küche auseinander … Warte mal.“ An Jörn vorbei gehe ich in den Flur.

„Julia?“, frage ich mit vor Lieblichkeit triefender Stimme, im Angesicht der nahenden Tötung im Affekt.

„Ja, Sonnenschein?“, flötet sie und schiebt erst ihren Kopf aus der Badezimmertür, um mich anzuschauen und dann den Rest von sich hinterher.

„Sag mal, du hast nicht zufällig gestern aufgeräumt, oder?“

„Ich räume euch ständig hinterher. Du solltest schon etwas genauer werden, Schätzchen“, säuselt sie und sieht mich übertrieben augenklimpernd an. In diesem Moment werde ich ruhig. Lediglich mein linkes Augenlid zuckt leicht. Leider kennt sie mich gut genug, um zu merken, dass sie einen Fehler begangen hat, denn sie wird bleich und weicht einen Schritt zurück. Abwehrend hebt sie die Hände. Von Jörn kommt nur ein gehauchtes „Scheiße, Julia“ hinter mir und ich kann regelrecht hören, wie er den Kopf schüttelt. Dem kann ich mich nur anschließen. Wer dermaßen bescheuert ist, hat es mit dem Knüppel verdient. Im übertragenen Sinn, denn so weit, dass ich sie schlagen würde, wird es nie kommen.

„Erstens, Herzchen. Du räumst hinter mir mit Sicherheit nicht her. Zweitens, bin ich nicht dein Schätzchen, dein Sonnenschein und auch nicht dein Engel der Nacht oder was weiß ich. Und drittens – jetzt solltest du ganz genau zuhören – ist es für deine Lebenserwartung nicht förderlich, mir morgens den Kaffee vorzuenthalten. Aber das weißt du ja, sonst hättest du es nicht getan und ihn versteckt. Dass du nicht alle Lichter am Baum hast, war mir ja schon klar. Dass du so unterbelichtet sein könntest, hätte aber selbst ich dir nicht zugetraut. Also, Herzlichen. Glückwunsch! Du hast es geschafft, mich noch zu beeindrucken. Und jetzt gehst du mir aus dem Weg. Und zwar für immer. Mir egal, ob du mit meinem Bruder ins Bett gehst oder nicht. In meiner Gegenwart lässt du in Zukunft besser den Mund zu oder lässt dich am besten gar nicht mehr hier blicken, wenn ich da bin. Oder noch besser …“ Ich drehe mich zu Jörn um. „Ich ziehe aus.“

Ich kann genau sehen, wie ihm die Farbe aus dem Gesicht weicht und das ist nicht einfach, denn er ist der Paradiesvogel von uns. Während ich mich mit den verschiedensten Schwarztönen auseinandersetze, ist er das bunte Gegenstück. Seine Haare haben ständig eine andere Farbe, seine Hosen ebenfalls. Alles, nur nicht schwarz, dafür aber gerne auch mit Löchern oder Ketten versehen. Seine Shirts spotten dagegen jeder Beschreibung. Von Batik über Sprüche bis hin zu politischen Parolen ist alles vertreten. Genauso, wie sich die dunklen Farben durch mein Leben ziehen, lebt Jörn die bunten. Sein Zimmer gleicht zum Beispiel einem Handgranatenwurfstand nach Farbexplosion. Nur seriös, das ist in unser beider Kleiderschränke nicht zu finden. Na ja, zu finden schon. Wir sind uns jedoch einig, dass es keine Anlässe geben könne, um diese mal aus dem Schrank zu holen, geschweige denn auch anzuziehen. Aber wie heißt es? Haben ist besser als brauchen.

„Jetzt übertreibst du aber.“ Jörn sieht mich erschrocken an. Ich kann ihm da nur recht geben, aber diese Frau ist die Pest. Hart stoße ich die Luft aus.

„Lass mich einfach erst einen Kaffee trinken, in Ordnung?“, sage ich resigniert und verschwinde in die Küche. Als mir wieder einfällt, dass ich ja nicht weiß, wo das Kaffeepulver steht und erneut zur Drama Queen zu werden drohe, schiebt sich Julia an mir vorbei. Sie greift ohne ein Wort oder einen Blick in meine Richtung zu werfen in den Schrank über der Spüle, in dem die Teller stehen, gibt mir das Paket und verschwindet. Ich versuche, nicht darüber nachzudenken, warum sie das tut. Sie ist die Freundin meines Bruders und Mitbewohners. Sollte man da nicht annehmen, wenn man in die Wohnung dieses Freundes kommt und deren Anhang kennenlernt, dass man erstmal kleine Brötchen backt? Nicht Julia. Sie kam rein, sah mich und fing an zu lachen. Also nicht wie eine Dame, sondern wie ein Bierkutscher mit Grunzen und allem was dazu gehört. Ich habe nur noch darauf gewartet, dass sie mit dem Finger auf mich zeigt. Seitdem ist bei uns an eine normale Konversation nicht mehr zu denken.

Über meine Gedanken hinweg habe ich die Kaffeemaschine vorbereitet, eingeschaltet und setze mich mit einem Seufzer an den Küchentisch, um der Maschine bei ihrer Arbeit zuzuschauen. Ich ahne, dass Jörn es nicht lassen kann noch einmal das Gespräch zu suchen und ich behalte recht. Man muss ihm aber zu Gute halten, dass er wartet, bis ich meine erste Tasse Lebenselixier intus habe. Genau in dem Moment, in dem ich diese auf dem Tisch abstelle, betritt er unsere Küche und setzt sich stillschweigend mir gegenüber auf den Stuhl. Schicksalsergeben lehne mich zurück und verschränke die Arme vor der Brust.

„Willkommen zu Ihrer ersten Therapiesitzung an diesem doch sehr durchwachsenen Tag“, nuschele ich vor mich hin und schaue ihn gleichgültig an. Wie nicht anders zu erwarten, verdreht er die Augen, sagt aber weiterhin kein Wort. Dieses Spielchen hat er sich von unserem älteren Bruder Hauke abgeschaut, seines Zeichens Sozialarbeiter. Oder es gibt ein Studienfach „Starren, um Leute zum Reden zu bringen“. Bei mir zieht das nicht. Das weiß er im Grunde auch, daher wundere ich mich über seine Vorgehensweise, spiele aber mit. Soll er sich doch die Zähne ausbeißen. Mir egal.

Schließlich ist er es, der das Schweigen bricht. „Ich sehe dir an, was du denkst. Es geht hier aber nicht darum, wer als erstes redet. Ich glaube zu wissen, was mit dir los ist. Schon lange. Aber es ist das erste Mal, dass du gedroht hast, auszuziehen. Und das wegen einer Nichtigkeit. Sag jetzt nichts. Ich weiß, was dir dein Kaffee morgens wert ist, aber das ist trotzdem kein Grund, so auszuflippen.“ Dieser Ton, den er an den Tag legt, so von oben herab, bringt mich gleich wieder in Wallung. Bevor ich aufmucken kann, bedeutet Jörn mir mit einer Handbewegung, zu schweigen.

„Das geht so nicht! Dieser Kleinkrieg muss aufhören!“

„Sag das nicht mir“, antworte ich trotzig.

„Oh doch, das wirst du dir jetzt anhören. Ständig haust du ab, wenn Julia hier ist und verkriechst dich bei Flo und Mathias auf der Couch. Glaubst du, ich weiß das nicht?“

„Das ist ja auch kein Geheimnis! Und es tut mir auch leid, dir das sagen zu müssen, aber deine Julia ist dumm wie Brot! Und mit solchen kindischen Aktionen wie heute überzeugt sie mich nicht unbedingt vom Gegenteil!“

„Schon mal drüber nachgedacht, dass ihr gar nicht miteinander reden würdet, wenn sie dich nicht auf die ein oder andere Art und Weise provozieren würde?“, fragt er mit hochgezogener Augenbraue.

„Und warum genau, meinst du, sollte sie so etwas wollen?“, frage ich ihn mit vor Sarkasmus triefender Betonung. „Die kann mich doch genauso wenig leiden, wie ich sie!“

„Du scheinst dir ja sehr sicher zu sein.“

„Bin ich. War’s das jetzt?“, will ich wissen und erhebe mich von meinem Platz. Jörn steht ebenfalls auf, blockierte mit seinem Körper aber den Ausgang zum Flur.

„Ja, das war’s. Fürs Erste. Aber denk mal drüber nach.“

„Mal sehen“, antworte ich lapidar und schiebe mich an ihm vorbei.

„Wo willst du jetzt hin?“, fragt er meinen Rücken; ich habe die Hand bereits an der Klinke zum Treppenhaus.

„Frühstücken.“

„Auswärts?“

„Ja. Was dagegen?“

„Nein. Wollte nur wissen, ob ich Brötchen holen muss.“

„Musst du wohl. Ich hab noch was vor.“ Mit diesen Worten verlasse ich endgültig die Wohnung.

Unten auf der Straße bleibe ich kurz stehen und hole tief Luft. Das ist ja wieder super gelaufen, denke ich und setze mich in Bewegung Richtung Bäcker. Über die beiden Turteltauben will ich nicht mehr nachdenken, sonst wäre ich nur noch gekränkter, als ich es bereits bin. Wie kann Jörn es wagen, sich gegen mich zu stellen? Natürlich will er glauben, dass Julia ein höheres Ziel oder gar noble Gründe für ihr dämliches Verhalten hat. Aber ich bin sein Bruder! Wir sind wie Zwillinge, obwohl uns eineinhalb Jahre trennen. Er ist der Ältere von uns beiden mit seinen neunundzwanzig Jahren. Wir teilen alles miteinander. Haben das schon immer getan. Wir sind sogar in dieselbe Klasse gegangen, seit Jörn in der Grundschule darauf bestanden hatte. Erst nachdem unsere Lehrer und Eltern sich keinen Rat mehr wussten, durfte er die Dritte wiederholen. Niemand kennt mich besser als er und jetzt stellt er sich auf ihre Seite? Ich sollte darüber nachdenken, ob ich die Drohung nicht unterbewusst doch wahr machen will oder sogar die Entscheidung bereits getroffen habe, ohne es zu merken. Vielleicht ist es an der Zeit, unsere Villa Kunterbunt zu verlassen und in meine eigene Höhle zu ziehen. Bei dem Gedanken daran wird mir das Herz schwer, aber eventuell wird es doch Zeit für mich, dass der Racheengel lernt zu fliegen.

2 Flügel ausbreiten

Ich weiß nicht, wo ich hin soll. Kurz überlege ich, einfach Brötchen zu kaufen und zurückzugehen, bringe es aber nicht über mich. Stattdessen hole ich mir einen Kaffee zum Mitnehmen und ein belegtes Baguette und machte mich auf den Weg in unser Büro. Als Selbstständige gibt es schließlich immer was zu tun.

Vor ungefähr einem Jahr haben Jörn und ich ein soziales Projekt aufgezogen, das uns sehr am Herzen liegt. Die Idee dahinter war, dass Betroffene von häuslicher Gewalt, ungewollter Prostitution und ähnlichen Zwangslagen sowohl zu schützen, als auch, ihnen Hilfestellung zu geben, einen geregelten Alltag zu beginnen. Inzwischen sind wir etabliert und haben einen guten Ruf. Unsere Zimmer sind alle bewohnt. Als die Entscheidung gefallen war, dass wir es wirklich durchziehen, war uns klar, dass wir es nicht in Hamburg tun würden, wo wir ursprünglich unsere Wurzeln haben. Die Erinnerungen an einen Vorfall während unserer Schulzeit waren aber zu schmerzhaft und örtlich zu nah dran, so dass wir uns eine andere Stadt suchen wollten. Warum es uns dann nach Köln gezogen hat, weiß ich gar nicht mehr. Die Lockerheit und Offenheit der Menschen hat mich persönlich aber schon immer angesprochen. Sobald aber meine Gedanken zu den damaligen Vorkommnissen schweifen, verbiete ich mir noch immer, daran zu denken.

Während Jörn sich offensiv damit auseinandersetzte was damals geschah, versuchte ich mich zu distanzieren und es mit mir selber aus zu machen. So ist es bis heute. Jörn zieht aus allem etwas Positives und ich rechne von vorn herein mit dem Schlimmsten. Vermutlich, um nicht enttäuscht zu werden. Bei diesen Gegensätzen ist es ein Wunder, dass wir immer noch so eng zusammenstehen.

Inzwischen sind auch Florian, der beste Freund unseres großen Bruders Hauke und sein Partner Mathias hier ansässig. Sehr zu meinem Vorteil, denn die beiden haben eine bequeme Couch, die mir in letzter Zeit sehr vertraut geworden ist. Ich bin gerne bei ihnen. Sie sind so herrlich unkompliziert.

Über meinen Grübeleien bin ich schneller im Büro angekommen, als es mein Zeitgefühl geglaubt hätte und es dauert nicht lange, bis ich völlig in meine Arbeit vertieft bin. Ich schrecke regelrecht auf, als plötzlich jemand im Türrahmen auftaucht.

„Hilfe, hab ich mich erschrocken.“ Mein Herz pocht heftig und ich halte mir die Hand auf die Brust. Ich erkenne den jungen Mann, der dort steht, vom Sehen, weiß aber nicht seinen Namen. Nach wie vor kümmere ich mich nur um den Papierkram. Für alles andere ist Jörn da oder einer unserer Angestellten. „Kann ich dir irgendwie helfen?“, frage ich, nachdem sich mein Puls wieder halbwegs normalisiert hat.

„Ich … Nein, schon gut. Ich wollte dich nicht erschrecken“, sagt er und dreht sich um.

„Jetzt warte doch mal! Hilf mir mal bitte kurz mit deinem Namen aus. Vor lauter Schreck komme ich gerade nicht darauf“, flunkere ich. Wenn ich eins von Jörn und Hauke gelernt habe, dann, dass man aufgewühlte Menschen nicht einfach gehen lässt, wenn sie doch offensichtlich in irgendeiner Art und Weise Hilfe suchen. Es klappt, der Junge bleibt stehen und dreht sich wieder zu mir um.

„Ich bin Johannes. Ich wohne hier oben bei Maria, habe Licht gesehen und die Tür war auf. Ich wollte wirklich nicht stören“, murmelt er kleinlaut.

„Du musst dich nicht rechtfertigen“, sage ich mit einem, wie ich hoffe, offenen Lächeln. „Komm, setzt dich doch. Ich hol uns was zu trinken“, biete ich an, doch ich sehe sofort den Widerstand in seinen Augen.

„Nein, ich gehe besser wieder“, erklärt er auch direkt.

„Okay. Aber wenn was ist“, rufe ich seinem Rücken zu, „hast du unsere Nummer, ja? Und mit Maria kannst du auch jederzeit reden.“

„Ja, hab ich. Bis dann“, sagt er und ist verschwunden. Mein Herz ist immer noch in Aufruhr. Ich sollte daran denken, die Tür hinter mir zu schließen, wenn ich alleine bin. Bis jetzt ist noch nichts passiert, aber man kann ja nie wissen. Heute ist es dieser Johannes, der die Gelegenheit genutzt hat. Nächstes Mal ist es vielleicht ein Exfreund oder Zuhälter, der sein Eigentum wiederhaben will. So gut konzipiert wir auch sind, hat unser Büro doch eine feste Anschrift. Wer, über welche Umwege auch immer, rausfindet, wohin eine Person sich geflüchtet hat, bekommt auch unsere Adresse raus, sofern die Motivation stimmt. Ein Blick auf die Uhr sagt mir, dass ich mich bereits seit fast fünf Stunden hier verkrochen habe. Zeit nach Hause zu gehen, beschließe ich und fahre den PC runter. Der Rest wird auch bis Montag nicht weglaufen. Auf dem Weg zurück denke ich ausgiebig über Johannes nach. Er sieht recht gesund aus. Körperlich jedenfalls. Er ist nicht sonderlich groß, schlank und hat schwarze Haare. Seine Augen sind blau, was sehr ungewöhnlich ist aufgrund seiner vermutlich asiatischen Abstammung. Vom Alter her würde ich ihn auf Anfang bis Mitte zwanzig schätzen, was aber schwer zu sagen ist, da er sehr zusammengesunken und schüchtern gewirkt hat. Ein Widerspruch in sich. Einerseits ist er anscheinend auf der Suche nach Gesellschaft, andererseits kann er dieser nicht schnell genug wieder entkommen. Damit kann ich einfach nicht umgehen. Er ist aber noch nicht lange da, denn das Zimmer bei Maria, unserer guten Seele und Mädchen für alles, ist lediglich als Übergangslösung zu sehen. Wir haben das ganze Gebäude gemietet, mit insgesamt drei Wohnparteien. In der untersten haben wir unser Büro eingerichtet. In der mittleren ist eine Studenten-WG untergebracht und in der dritten Etage wohnt Maria. Sie hat immer ein Bett frei, um Fälle wie Johannes, die kurzfristig in keinem unserer Häuser untergebracht werden können, aufzunehmen. Wieder bin ich über meine Gedanken schneller am Ziel, als erwartet. Bleibt zu hoffen, dass ich nicht direkt in die Arme der Turteltauben laufe. Noch so eine Konfrontation wie heute Vormittag kann ich nicht gebrauchen. Außerdem fehlt mir der Rückzugsort bei Florian und Mathias, da diese in Hamburg bei Hauke und Marlene sind. Wobei mir einfällt: ich habe unseren Bruder auch schon länger nicht mehr besucht.

Mit dem Entschluss, spontan ein paar Sachen zu packen, um das Wochenende in der Hansestadt zu verbringen, betrete ich die Wohnung. Wider Erwarten empfängt mich dort allerdings … Stille. Die Vögelchen sind ausgeflogen. Soll mir nur recht sein Die Tasche würde schneller gepackt sein, wenn ich mich nicht rechtfertigen oder erklären muss, warum ich wegfahre oder, noch schlimmer, die beiden sich mir anschließen wollen. Julia ist noch nicht mit bei Hauke gewesen, aber ich weiß, das Gespräch ist schon öfter aufgekommen. Bisher hatte es sich aber nicht ergeben und ich will mein Schicksal nicht herausfordern. Kurz kommen mir Zweifel, ob Florian und Mathias es gut fänden, wenn ich ihnen wieder an einem Wochenende auf der Pelle hänge, verdränge diesen Gedanken aber. Ich möchte schließlich nur meinen Bruder besuchen und das ist ja nicht verboten.

Als ich mit meiner fertigen Tasche zur Wohnungstür haste, sehe ich im Augenwinkel etwas auf dem Küchentisch, das meine Aufmerksamkeit erregt. Ich bleibe stehen, drehe mich um und gehe die zwei Schritte zur Küchentür zurück. Ich habe keine Ahnung, was ich davon halten soll.

Auf dem Tisch sind zehn Pfund Kaffee drapiert. Fein säuberlich zu einer Pyramide aufgestellt. An diesem hängt ein Zettel. Mich beschleicht ein komisches Gefühl und ich bin mir nicht sicher, ob ich die Nachricht lesen will. Sich davor zu drücken wäre aber albern. Trotzdem überlege ich kurz, ob ich es ignorieren soll. So tun, als hätte ich nichts gesehen, einfach ins Auto steigen und bis morgen Abend verschwinden. Ich weiß aber, dass ich bis dahin keine Ruhe finden würde und sich damit mein Ausflug im Sinn widerspräche. Zögerlich trete ich einen Schritt vor. Die Reisetasche lasse ich neben mich fallen. Noch ein Schritt. Ich erkenne die Schrift meines Bruders.

Ich denke, wir sind jetzt an einem Punkt angekommen, an dem du dir nur noch selber helfen kannst. Du wolltest alleine leben? Bitte. Hier ist deine Chance. Ich bin für unbestimmte Zeit zu Julia gezogen. Die Wohnung gehört vorläufig dir. Wir sehen uns Montag im Büro.

Jörn

PS: Nicht, dass du denkst, ich wäre sauer auf dich oder dass das eine Strafe sei. Ich bin der Meinung, du brauchst Zeit zum Nachdenken. Der Kaffee ist auch kein Friedensangebot, sondern eine Versicherung, dass du dich nicht wegen deiner Morgenmuffeligkeit selbst verletzt. Und um das klar zu stellen, Julia hat mit dieser Entscheidung nichts zu tun!

Das ist ein Scherz. Es muss ein Scherz sein. Ich könnte schwören, gerade einen Zettel gelesen zu haben, auf dem steht, mein Bruder, mit dem ich alles teile, seit ich denken kann, wäre ausgezogen. Und das ist unmöglich. Er würde mich nie, wirklich niemals im Stich lassen.

Ich werde aus meiner Fassungslosigkeit gerissen, als mein Handy piept. Ich ziehe es wie in Trance aus der Tasche und blickte auf das Display. Jörn. Wenn man vom Teufel spricht.

Hauke hat angerufen. Du willst nach Hamburg?

Ist ja klar, dass hier nichts geheim bleibt.

Jetzt nicht mehr.

Ich schicke noch einen wütenden Smiley hinterher. Er ist nicht sauer auf mich? Schön für ihn! Das gilt aber nicht für mich. Umso länger ich auf die Kaffeepyramide starre, umso wütender werde ich. Ich soll mir selber helfen? Wobei denn? Jetzt bin ich schuld, dass seine Freundin so eine Bitch ist?

Komm runter. Wir reden Montag.

Wie bitte? Das kann er sich abschminken. Er haut ab und erwartet, dass ich noch mit ihm rede? Das wollen wir doch erstmal sehen. Eine Antwort spare ich mir. Auch Hauke sage ich nicht ab. Die beiden Idioten mit Helfersyndrom lassen bestimmt eh schon die Leitung glühen wegen mir Problemfall, dann kann Jörn auch Bescheid geben, dass es sich erledigt hat. Ist vielleicht auch besser. Ich wäre sonst Mathias und Florian nur wieder auf die Nerven gegangen. Zwar werden sie nie müde mir zu sagen, dass dem nicht so ist, aber ich bin nicht blöd. Mich würde es stören, ständig den kleinen Bruder von meinem besten Freund auf der Couch zu haben. Ich nehme mir auch jedes Mal vor, dass es das letzte Mal ist, dass ich zu ihnen flüchte. Dabei bleibt es aber, sobald eine gewisse Zicke das Feld betritt. In diesen Momenten setzt etwas bei mir aus und ich bin vor der Tür, noch bevor ich darüber nachdenken kann, dass ich genau das nicht mehr tun wollte. Einmal habe ich mich sogar in einem Hotel eingemietet. Es dauerte nicht lange und mein Handy stand nicht still, bis ich dranging. Jörn hatte bei Mathias angerufen und erfahren, dass ich nicht angekommen war. Danach bekam ich erst recht Ärger, dass ich nicht zu ihnen gekommen war. Ich verstand es ja. Sie hatten sich Sorgen gemacht. Kaum zu glauben, dass ich schon achtundzwanzig Jahre alt bin. In solchen Momenten fühle ich mich selber wie ein Sechsjähriger.

3 Superkräfte

Mein Wochenende ist die Hölle. Ich komme nicht zur Ruhe, weil es zu still ist und mich jedes Rascheln oder das Geräusch, wenn jemand vor dem Haus entlangläuft, aufschrecken lässt. Unsere Wohnung liegt im zweiten Stock eines Mehrfamilienhauses. Keine Gefahr also, dass es plötzlich an meinem Fenster klopft. Das weiß ich. Schlafen kann ich deswegen trotzdem nicht. In der Nacht von Samstag auf Sonntag bin ich daher ins Wohnzimmer gewechselt. Der Fernseher liefert die nötige Illusion von Gesellschaft und lässt mich auf der Couch doch noch ein paar Stunden Schlaf finden. Ich bin auch am überlegen, um die Häuser zu ziehen. Ich hatte schon länger keinen Sex mehr, wobei mir gerade nicht der Sinn danach steht, diesen Zustand zu ändern. Um einfach so raus zu gehen, fehlt mir die Begleitung. Viel Anschluss habe ich nicht, denn einen Freund, den ich hätte anrufen können, gibt es schlicht nicht in Köln. Bekannte, ja, aber nicht mehr. In Hamburg schon, aber mitten in der Nacht einen von ihnen aus den Federn oder aus dem Club zu klingeln, nur um zu jammern, erscheint mir dann doch albern.

In der Nacht von Sonntag auf Montag gehe ich erst gar nicht in mein Bett, sondern bleibe direkt im Wohnzimmer. Glücklicherweise bin ich müde vom Nichtstun. Der Sonntag war nämlich der langweiligste, den jemand in der Weltgeschichte jemals verbrachte. So kommt es mir jedenfalls vor. Gefühlt bin ich nicht mal richtig wach, als ich an diesem Montag das Büro betrete.

Dieser Zustand ändert sich innerhalb von Sekunden. Ich werde von einem Wust aus Menschen und Stimmen empfangen, erkenne allerdings kein bekanntes Gesicht. Gerade als ich mich frage, ob ich auch im richtigen Haus bin, werde ich angesprochen.

„Hier gibt es nichts zu sehen. Bitte verlassen Sie das Gebäude wieder“, fordert mich eine mir unbekannte Stimme auf. Als ich zu deren Quelle sehe, bemerke ich die Uniform. Ich werde mich nie an das neue Blau gewöhnen. Auch wenn ich noch nicht alt bin, sind Polizistenuniformen für mich grün und das werden sie auch in meiner Vorstellung immer bleiben. Es dauert eine Sekunde, bis ich meine Befangenheit abschütteln kann. Uniformen schüchtern mich ein. Rausschmeißen lassen werde ich mich allerdings nicht, denn ich bin mir inzwischen sicher, im richtigen Haus zu sein.

„Ich gehe nirgendwo hin“, sage ich daher mit fester Stimme. „Vielleicht verraten Sie mir erstmal, was sie in meinem Büro zu tun haben, bevor Sie mich aus meiner eigenen Immobilie werfen wollen.“

Das bringt den Mann aus der Balance, ebenso wie er zuvor mich. Mit einem merkwürdigen Gesichtsausdruck, den ich nicht zu deuten weiß, schaut er mich von oben bis unten an. Ich tue das Gleiche. Der Mann muss Mitte fünfzig sein, hat mehr graue als braune Haare unter seiner Mütze und Augen, die schon mehr gesehen zu haben scheinen als so manche andere.

„Sind sie ein Verantwortlicher hier?“, fragt er mich mit skeptischem Unterton. Ich kann ihn sogar verstehen. Ein Typ in Schwarz mit mehr Löchern im Shirt als Stoff drumherum, und somit sichtbaren Tattoos, ist nicht der Inbegriff einer verantwortungsvollen Person. Jedenfalls bei Leuten seines Alters und seiner Generation.

„Raik Wilhelmsen“, stelle ich mich vor und reichte ihm die Hand. „Ja, ich bin einer der Geschäftsführer. Mein Bruder sollte auch hier irgendwo sein. Also, was ist hier los?“

„Das soll Ihnen der Kollege sagen. Wenden Sie sich bitte an den Mann da hinten in Zivil, in dem blauen Hemd.“

Ich nicke als Antwort und gehe ohne ein weiteres Wort an ihm und allen anderen Menschen im Raum vorbei. Als ich freie Sicht habe, sehe ich den besagten Beamten, der neben meinem Stuhl steht. Auf diesem sitzt der Junge, der mich noch vor zwei Tagen so erschreckt hat. Er sieht blass aus und hat eine Beule an der Stirn. Mein Bruder hockt vor ihm und redet auf ihn ein.

„Morgen“, sage ich, als ich bei den drei angekommen bin.

„Morgen“, entgegnet Jörn und erhebt sich. „Bevor du fragst, es ist nur ein Missverständnis.“

„Aha“, antworte ich geistig hochqualifiziert und werfe demonstrativ einen weitschweifenden Blick durch das Zimmer.

„Evers, Kriminalpolizei Köln“, meldet sich der Mann in Zivil zu Wort. „Sie müssen der Kaufmännische Leiter sein. Herr Wilhelmsen, richtig?“

„Ja, richtig“, antworte ich und reiche auch diesem Mann die Hand. Er muss Anfang vierzig sein, schätze ich. „Wofür genau sind Sie zuständig?“, frage ich angriffslustiger als beabsichtigt.

„Wie bitte?“, fragt mich der Kriminalbeamte. Er hat anscheinend nicht mit einer Gegenfrage gerechnet. Über meinen Mangel an Respekt will ich gerade nicht nachdenken, aber meine Nerven sind dünn und ich bin zunehmend verärgert über einfach alles.

„Kriminalpolizei. Das sagten Sie doch, dass Sie da arbeiten, oder? Ich habe bis jetzt keinen Schimmer, was hier los ist. Daher dachte ich, wenn mir schon keiner was sagt, frage ich einfach mal nach, wofür Sie zuständig sind. Das würde mir das Missverständnis vielleicht erklären“, sage ich spitz mit Blick auf meinen Bruder. Jörns Antwort besteht lediglich aus einem Verdrehen der Augen, bevor er wieder in die Hocke geht und mit dem jungen Mann spricht. Johannes heißt er, fällt mir wieder ein. Dieser schaut allerdings nicht Jörn an, sondern mich. Komisch. Ich blicke wieder auf, als sich der Beamte neben mir räuspert.

„Kriminaldauerdienst. Grob zusammengefasst bearbeiten wir: Tod, Brand, Sex und Vermisste. Aber auch alles dazwischen. Eben alles, was dringend ist und sofort bearbeitet werden muss. In diesem Fall ermitteln wir wegen Körperverletzung in Folge eines versuchten Einbruchs. Gerade habe ich die Zeugenaussage des Geschädigten, Herrn Haarmann, aufgenommen. Sobald wir hier fertig sind, übernimmt das zuständige Kommissariat die weitere Ermittlung.“

Wieder werfe ich einen kurzen Blick zu meinem Bruder und muss schnaufen. „Missverständnis, ja?“ Jörn springt so schnell auf, dass es mich schon fast überrascht. Aber nur fast. Ich habe diese Reaktion schließlich herausgefordert. Dass er vor einem unserer Schutzbefohlenen so impulsiv reagiert, ist allerdings neu.

„Ja, genau. Es war anscheinend wirklich nur ein Einbruchsversuch, den Johannes verhindern konnte und kein Versuch, an die Adressen unserer Wohnungen zu kommen. Er war zwar so dumm und hat sich ihnen direkt in den Weg gestellt und dafür Bekanntschaft mit der Hauswand gemacht, aber es ist alles gut gegangen.“

„Sieht mir nicht so aus. Sollte sich das nicht ein Arzt anschauen?“, frage ich und klinge genauso schlecht gelaunt, wie ich bin.

„Nein!“, sagt Johannes sehr hektisch. „Keinen Arzt, bitte“, kommt es fast flehentlich hinterher. Mit meinem Einfühlungsvermögen für andere Lebewesen ist es nicht weit her, aber dass hier ein tiefergehendes Problem vorliegt, erkenne sogar ich. Grundsätzlich keine Meisterleistung. Schließlich ist niemand ohne Grund nicht zu Hause, sondern versteckt sich in einer anderen Stadt vor irgendwas oder irgendwem. Trotzdem, das hier ist … anders.

„Wir haben Herrn Haarmann über alles informiert, dennoch hat er sich gegen eine ärztliche Untersuchung entschieden“, erklärt der Kripobeamte. „Die Aussagen haben wir, die Spurensicherung sollte auch gleich fertig sein. Und ich stimme Ihrem Bruder zu. Es scheint, dass es sich um einen zufälligen Einbruchsversuch gehandelt hat. In der Nachbarschaft wurden ebenfalls Einbrüche angezeigt. Wir gehen also davon aus, dass die nicht gezielt nach etwas gesucht haben und somit nicht wiederkommen werden. Damit würde ich mich nun auch verabschieden. Es kann sein, dass sich die Kollegen zu gegebener Zeit noch einmal bei Ihnen melden. Einen schönen Tag noch.“ Mit diesen Worten dreht er sich um. Als ich ihm nachsehe, bemerke ich, dass sich das Büro in der Zwischenzeit ebenfalls geleert hat. Ich bin mit Björn und Johannes alleine.

„Willst du nicht doch, dass ich dich zum Arzt fahre?“, fragt Jörn in einer leisen und ruhigen Tonlage. Ich bekomme immer Aggressionen, wenn ich das höre. Dieses Gesäusel finde ich schlimm.

„Jetzt lass ihn doch, wenn er nicht will“, fahre ich dazwischen. „Er wird schon wissen, was gut für ihn ist. Und wenn er später umfällt und nicht mehr wach wird, weil er Hirnbluten hat, haben wir wenigstens jetzt einen offiziellen Polizeibericht, dass er die Untersuchung selber abgelehnt hat. Wegen unterlassener Hilfeleistung kann uns jedenfalls keiner was.“

Diplomatie war noch nie meine Stärke.

„Spinnst du?“, braust Jörn auch direkt auf. „Sowas kannst du doch nicht sagen!“

„Hab ich doch gerade. Und es stimmt!“, schnauze ich zurück.

„Bist du jetzt völlig übergeschnappt?“

„Kann ich nicht behaupten, nein“, erwidere ich lapidar. „Wenn ich aber näher drüber nachdenke, wurde mir vor nicht allzu langer Zeit unterstellt, ich solle mir selber helfen. Das impliziert, dass ich wohl Probleme habe. Davon weiß ich aber nichts, ehrlich gesagt. Bin wohl doch unzurechnungsfähig, was?“

„Jetzt lass den Scheiß“, zischt Jörn und blickt entschuldigend zu Johannes, der verschreckt zwischen uns hin und her sieht. „Es geht hier nicht um …“

„Na, wenn das so ist, erklär mir doch nochmal, wobei genau ich mir nur selber helfen könne“, fordere ich mit beißender Ironie.

„Das kannst nur du wissen“, sagt Jörn resigniert. „Ich habe nämlich keinen Plan, was los ist. Ich habe nur gesehen, dass es immer schlimmer wird und da mache ich nicht mehr mit. Du weißt, du kannst immer zu mir kommen. Aber du kommst nicht. Nicht mal mehr zum Reden oder Spaß haben oder einfach nur, um einen Film zu schauen.“

Da hat er recht. Aber es liegt nicht an mir oder ihm, sondern an seiner bescheuerten Freundin. Das will ich ihm auch gerade sagen, als er die Hand hebt und mir so den Mund verbietet.

„Wag es nicht, Julia da mit rein zu ziehen“, fährt er mir in die Parade. „Sie ist die Letzte, die damit was zu tun hat. Wenn überhaupt, ist sie deine Ausrede, dich wie ein Idiot aufzuführen. Aber das bist du nicht. Also wag es nicht, sie für deinen Kram verantwortlich zu machen.“

„Du machst es dir ja mächtig einfach“, sage ich giftig. „Ich darf sie nicht verantwortlich machen, aber du darfst mir die ganze Schuld geben für etwas, das es gar nicht gibt? Merkst du eigentlich selber, wie verrückt sich das anhört?“

„Was ich merke ist, dass es dir schlecht geht und das tut mir weh. Wir haben alles miteinander geteilt. Wir beide gegen den Rest der Welt. Schau uns doch an! Unterschiedlicher geht es doch gar nicht und trotzdem konnte uns nichts und niemand was anhaben. Da hab ich mich anscheinend getäuscht. Irgendwas konnte und das macht mich traurig.“

„Ja, so traurig, dass du deine Sachen packst, abhaust und mich alleine lässt. Ist ja echt weit her mit deinen Musketier-Parolen“, entgegne ich schnippisch. „Wer von uns hat hier gerade eine Ausrede gefunden, hmm? Passt dir ja ganz gut. Jetzt kannst du wenigstens mit Julia zusammenwohnen, ohne dass der kleine Bruder nervt.“

„Wenn du das wirklich von mir denkst, haben wir uns vorläufig nichts mehr zu sagen“, sagt er und verlässt den Raum. Ich schaue ihm verdutzt hinterher. Das tut weh.

„Ich glaube, ich würde doch gerne mal jemandem meinen Kopf zeigen. Ich kriege ein bisschen Kopfschmerzen gerade.“ Johannes. Ich hatte ihn völlig vergessen. Jörn allerdings auch, wie es scheint. Die Tatsache, dass er sich hat hinreißen lassen, vor einem unserer Bewohner die Stimme zu erheben, geschweige denn zu streiten, lässt ahnen, wie durch den Wind auch er sein muss.

„Äh, ja, klar. Warte, ich rufe ein Taxi und dann fahren wir ins Krankenhaus.“

„Nein, bitte. Kein Krankenhaus. Gibt es niemand anderen, der sich das angucken kann? Irgendjemand, der sich damit auskennt vielleicht? Ich will nicht in ein Krankenhaus.“

„Ich weiß nicht …“

„Bitte“, fleht er mich an.

„Nicht gut auf Krankenhausärzte zu sprechen?“

„Zu viele davon gesehen“, entgegnet er knapp.

„Okay. Ich glaube, ich weiß, wen ich anrufen kann. Warte kurz“, murmele ich und gehe zum Telefon.

„Raik“, sagt Mathias eine Stunde später, als wir alleine im Flur stehen. Ich will ihn zur Tür begleiten und hören, was er denkt. Er kommt mir jedoch zuvor. „Wenn ich es nicht besser wüsste, würde ich sagen, da ist einiges schiefgelaufen. Er ließ sich kaum von mir anfassen, ohne zusammen zu zucken. Und das, obwohl ich nur in seine Pupillen geschaut habe. Außerdem bin ich kein Arzt. Seine Werte sind jetzt in Ordnung, aber ich kann dir nicht garantieren, dass das auch so bleibt. Er braucht ein CT, um sicher zu sein. Wenn ich mir seine Beule an der Stirn anschaue, sieht es zwar nicht so aus, dass da was Schlimmeres passiert ist, aber ich kann unmöglich die Verantwortung dafür übernehmen, dass es auch wirklich so ist!“

„Das sollst du auch gar nicht“, versichere ich ihm schnell. „Mir war es nur wichtig, dass jemand schaut. Ich glaube auch nicht, dass da mehr ist.“

„Das ist ja schön und gut, aber wir können unmöglich sicher sein. Manchmal treten Blutungen oder Hirnschwellungen erst später auf.“

„Das ist mir bewusst, aber ich glaube wie gesagt nicht, dass da so viel war.“

„Also übernimmst du die Verantwortung?“, fährt mich Mathias an.

„Nein! So meinte ich das …“

„Du hast mich nach meiner Meinung gefragt. Jetzt hast du sie. Mach damit, was du meinst, aber komm mir nicht später damit, dass ich schuld bin, wenn doch was passiert.“

„Das hatte ich nicht vor, keine Sorge“, antworte ich überrascht.

„Dann ist ja gut. Denn ehrlich gesagt bin ich gerade schon verärgert darüber, dass du mich erst um meine Meinung bittest, und diese dann ignorierst. Wenn dir meine Kompetenz anscheinend nicht reicht, hättest du auch nicht anrufen brauchen. Ich bin nicht dazu da, dir nach dem Mund zu reden und dir die Antworten zu präsentieren, die du gerne hören würdest. So, und da wir das jetzt geklärt haben, gehe ich. Wir sehen uns.“

Und wieder ist es passiert, ohne dass ich weiß, was genau. Zum zweiten Mal innerhalb kürzester Zeit schaue ich einer Tür beim Zufallen zu und habe es geschafft, so ziemlich jeden gegen mich aufzubringen, der mir etwas bedeutet, und das, ohne zu wissen, wie. Ein Glück, dass das keine Superkraft ist, denn das wäre wirklich verstörend.

4 Gedankenkarussell

Zurück im Büro erwartet mich ein in sich gekehrter Johannes. Und ich bin überfordert. Überfordert mit dem Streit zwischen Jörn und mir, überfordert mit dem Streit zwischen Mathias und mir und überfordert mit der Tatsache, dass ich nur ein Sesselfurzer bin. Ich bin so weit entfernt von einem einfühlsamen Menschen wie die Erde vom Mars. Oder weiter. Nach dem Abi wollte ich mit sozialem Engagement nichts zu tun haben und entschied mich für ein betriebswirtschaftliches Studium. Ich dachte, in der Wirtschaft gehet es um Zahlen und Fakten. Da interessieret sich keiner für die menschlichen Schicksale dahinter. Damals erschien mir die Idee perfekt, um bloß so wenig wie möglich mit Emotionen in Berührung zu kommen. Entsprechend schlecht waren meine Noten. Ein Schnitt von drei Komma sechs ist nicht berauschend und für eine Karriere auf dem Arbeitsmarkt nicht von Vorteil. Wundern musste ich mich jedoch nicht über die Noten. Wenn man nur in den Vorlesungen sitzt und denkt, jetzt merk dir das, damit du das nur einmal lernen musst, ist das Aussage genug. Ich habe allerdings bis zum Schluss gebraucht, um zu erkennen, was da los ist. Das Studium habe ich zwar beendet, aber nur, weil ich schon so weit war. Hätte ich eher bemerkt, dass mich BWL nicht die Bohne interessiert, hätte ich mit Sicherheit abgebrochen und etwas anderes angefangen. Im sechsten Semester jedoch keine Option mehr, so vernünftig war sogar ich. Und wäre ich in dieser Zeit an der gleichen Uni wie mein Bruder gewesen, der sich zum Therapeuten hatte ausbilden lassen, wäre mir bestimmt eher ein Licht aufgegangen. Aber so ist das mit den hätte, wäre und wenn’s. Hinterher ist man immer schlauer. Und jetzt stehe ich hier wie bestellt und nicht abgeholt in meinem eigenen Reich und weiß nicht, was ich tun soll.

„Tja, also …“, beginne ich wenig geistreich. „Ist alles in Ordnung?“

„Geht so“, entgegnet Johannes leise. „Danke.“

„Wenn du mir sagst, wofür du mir dankst, würde mir das echt helfen.“ Ich lache aufgesetzt. Er merkt es und sieht auf.

„Für den Typen gerade. Einen Arzt hätte ich echt nicht gepackt.“

„Keine Ursache“, sage ich und muss aus dem Fenster schauen. „Ich meine“, beginne ich zu reden, ohne ihn anzusehen, „es wäre schon besser, wenn du dich von einem Arzt durchchecken lassen würdest, aber dazu kann ich dich wohl kaum zwingen, oder?“

„Stimmt. Und deshalb, danke. Andere hätten es getan. Aber ich kann dich beruhigen. Ich hab nicht das erste Mal was abbekommen. Wenn überhaupt, habe ich eine leichte Gehirnerschütterung, aber mehr ist da nicht. Wenn ich ehrlich bin, hätte ich nicht mal was gesagt, wenn du nicht so mit deinem Bruder aneinandergeraten wärst. Das wollte ich nicht.“

„Da konntest du nichts dafür“, sage ich ernst und sehe ihn wieder an. „Wir haben uns quasi stillschweigend schon das ganze Wochenende in der Wolle. Ich hab ihn absichtlich provoziert, also kein Grund zur Sorge.“ Ich zwinkere ihm zu. War die Stimmung gerade auf dem dezenten Weg zu einer lockeren Unterhaltung, sehe ich in dem Moment, wie sich seine Miene verschließt.

„Ich geh dann mal“, murmelt er und flüchtet fast aus dem Raum. Ich komme kaum so schnell gedanklich mit, wie er verschwunden ist.

Kurz überlege ich, ihm zu folgen, entscheide mich aber dagegen. Ist vielleicht besser, nicht zu engen Kontakt mit ihm zu haben. Er ist nicht ohne Grund bei uns und ich bin keine geeignete Person, um ihm eine Hilfe zu sein.

Ich versuche den ganzen restlichen Vormittag, mich zu konzentrieren. Der Erfolg tendiert gegen Null. Ständig gehen mir die Gespräche der letzten Tage durch den Kopf. Jörn, der mir vorhält, ich wäre einer seiner Problemfälle. Mathias, der mir vorhält, ich würde seine Kompetenz in Frage stellen. Mein Problem daran ist, dass ich zwar einerseits der Meinung bin, alle spinnen, außer mir. Andererseits zeigen aber immer vier Finger auf einen selber, wenn man auf andere zeigen will. Problem Nummer drei: Selbstreflektion ist noch nie meine Stärke gewesen. War aber auch immer egal. Ich hatte ja Jörn, der mir sagte, wenn ich Scheiße gebaut hatte. Das hat er dieses Mal auch getan, nur dass ich meinen Fehler einfach nicht finde. Ich halte mich schon für einigermaßen intelligent, aber was in den letzten achtundvierzig Stunden abgelaufen ist, geht eindeutig über meinen Horizont.

Auch lässt sich niemand blicken. Es ist nicht so, dass ständig jemand um mich rum ist, während der Bürozeiten. Aber dass gar keiner da ist? Weder Jörn lässt sich blicken noch einer der anderen. Und das ist ungewöhnlich, denn ich bin der Herr über die Kaffeemaschine. Außerdem ziehen sich alle Fäden hier zusammen. Wir haben die komplette untere Etage als Kommandozentrale auserkoren. Hier wird sich getroffen, geredet und Pläne geschmiedet. Wenn die anderen von einem Haus zum nächsten fahren und dazwischen ein bisschen Zeit oder einen Kaffee brauchen, bin ich die erste Anlaufstelle. Nicht so heute.

Neben Jörn und mir gibt es noch drei weitere Mitarbeiter, welche mit einer unterschiedlichen Stundenzahl pro Woche hier arbeiten. Nadine, Maria und Markus. Nadine ist Therapeutin wie Jörn. Es ist uns wichtig gewesen, auch eine weibliche Bezugsperson zu haben. Für manche unserer Schützlinge ist es schwer, sich einem Mann anzuvertrauen. Maria ist unsere Sozialarbeiterin. Sie hört zu, vereinbart Arzttermine, kümmerte sich um Behördengänge und so weiter. Sie kennt sich aus mit den Anträgen bei Ämtern und allem, was dranhängt, während ich für das Laufen der Maschinerie im Ganzen zuständig bin. Sie wohnt auch hier im Haus und kümmert sich um die kurzfristigen Notfälle. Markus ist ebenfalls wie ein Mädchen für alles. Er repariert die Sachen, für die die Hausmeister der Mietobjekte nicht zuständig sind, hilft beim Schleppen, wenn es mal etwas größeres zu tragen gibt, und ist gleichzeitig so eine Art Security. Er ist früher Polizist gewesen und kennt sich dementsprechend aus. Seine Kontakte sind auch nicht von der Hand zu weisen. Wie er mal sagte, war das Beamtentum aber nichts für ihn. Ich habe es nicht weiter hinterfragt, finde es aber komisch, dass jemand freiwillig auf einen sicheren Job und eine Pension verzichten möchte. Vor allem, wenn dieser nun für wesentlich weniger Geld bei uns arbeitet und weniger Handlungsspielraum hat als ein Polizist. Er ist genauso unkonventionell gekleidet wie wir: Tattoos, schwarze Lederjacke, Jeans und Irokese. Damit wäre er wohl beim staatlichen Dienst angeeckt, das ist mir klar. Aber ich kann mir kaum vorstellen, dass das der Grund für seinen Entschluss war, der Polizei den Rücken zu kehren.

Ich will mir gerade eine weitere Tasse Kaffee holen, als Johannes wieder in der Tür steht.

„Hallo“, sagt er schüchtern, als er sieht, dass ich ihn bemerkt habe.

„Selber Hallo. Was ist los? Langeweile?“

„Ja, kann man so sagen. Ich komme mir nutzlos vor.“

„Sag sowas nicht. Ruh dich lieber aus nach heute Morgen. Außerdem wird Jörn schon dafür sorgen, dass du nicht auf der faulen Haut sitzt. So wie ich ihn kenne, macht er gerade eine Bleibe in einer der Wohnungen für dich klar und sobald du da eingezogen bist und dich eingelebt hast, schickt er dich arbeiten.“

„Echt?“, fragt er aufgeregt. „Ihr besorgt mir Arbeit? Also, ich würde das ja auch selber machen, aber ich weiß gar nicht wo ich anfangen soll. Ich hab ja keinen Abschluss …“ Von der anfänglichen Euphorie ist erneut nichts mehr zu spüren.

„Das ist kein Problem. Das haben die Wenigsten, die hier sind. Uns ist nur wichtig, dass ihr in einen geregelten Tagesablauf zurückfindet und irgendwann auf eigenen Beinen stehend euer Leben selbst gestalten könnt. Wenn das läuft, kannst du deinen Abschluss ja auch nachholen, oder so.“

„Das möchte ich ja auch“, sagt er kleinlaut. „Wie lange, meinst du, wird das ungefähr dauern?“

„Kommt drauf an. Ich bekomme ja immer nur die Unterlagen hier auf den Tisch, habe aber keine Einblicke in die Hintergründe. Im Schnitt sind es aber schon ein paar Wochen bis hin zu Monaten.“

„So lange? Was soll ich denn bis dahin den ganzen Tag machen?“ Er klingt wirklich frustriert, was ich nachvollziehen kann.

„Okay, pass auf“, sage ich einer Eingebung folgend. „Ich kann dir ein paar Hilfsarbeiten geben. Wenn dir das reicht, kann ich dich ein bisschen beschäftigen.“ Das strahlende Gesicht ist mir Antwort genug, auch ohne sein begeisterndes Nicken. „Okay, Johannes. Ich bin Raik. Dann komm mal mit. Ich hab da hinten jede Menge Zeitungen liegen. Alles Fachzeitschriften. Die müssten nach Zeitschrift sortiert, chronologisch geordnet und in die Boxen sortiert werden. Wäre schön, wenn du auf die Kisten schreiben könntest, welche Ausgaben drin sind, damit wir später alles leichter finden.“

„Klar, mach ich“, sagt er und folgt mir ins Hinterzimmer. Wir nutzen es als eine Art Archiv. Bis jetzt haben wir noch nicht so viele Unterlagen, da es uns noch nicht so lange gibt. In der Zukunft wird sich das aber ändern.

Gerade als ich mich zur Tür abwende, hält Johannes mich auf.

„Raik?“, fragt er mit dünner Stimme.

„Ja?“

„Kann ich dir eine Frage stellen? Eine persönliche?“

„Klar“, sage ich ehrlich.

„Bist du schwul?“

Ich schnappe nach Luft. Das hat mich noch nie jemand gefragt. Nicht so offen, jedenfalls. Und auch noch nie in einem eher privaten Umfeld. Natürlich wurde ich schon angebaggert, wenn ich mit meinen schwulen Freunden in entsprechenden Bars war. In meinem Bett finden sich aber nur Frauen wieder.

„Tut mir leid“, rudert Johannes sofort zurück. „Ich wollte nicht … ich dachte nur, wegen dem Zwinkern und …“

„Deshalb bist du so schnell verschwunden vorhin?“, frage ich fast erleichtert. Ich habe seinen Abgang wirklich nicht verstanden. „Nein, ich bin nicht schwul“, beantworte ich seine Frage deutlich. „Mein Zwinkern vorhin war lediglich kumpelhaft gemeint.“

„Gut“, meint er und widmete sich seiner Aufgabe. Ich bleibe noch eine Sekunde verdutzt stehen, begebe mich dann aber zurück an meinen Schreibtisch. Diese blöde Kalkulation macht sich nicht von alleine.

Ich sitze gerade wieder an meinem Platz, als es an der Tür klingelt. Sofort streckt Johannes den Kopf aus dem angrenzenden Zimmer und schaut mich ängstlich an.

„Keine Panik. Das wird nur der Postbote sein“, sage ich schnell. Ich weiß nicht, warum ich ihn beschwichtige. Er sieht einfach danach aus, als würde er das brauchen. „Ich gehe schnell schauen.“

An der Tür angekommen, trifft mich der Schlag. Ich schaue in ein paar grüne Augen, die mich fast einen Schritt nach hinten treten lassen. Vor mir steht ein Mann, der vor Autorität nur so strotzt. Er ist groß, hat breite Schultern, einen minimalen Bauchansatz und braune Haare. Seine Kleidung ist leger, aber chic. Blaue Jeans, schwarze Lederschuhe, ein Hemd in Hellgrün, passend zu seinen Augen und eine schwarze Lederjacke darüber. Irgendetwas sagt mir aber, dass ich hier keinen Staubsaugervertreter vor mir habe. Sein Blick ist so durchdringend, dass ich denke, er brennt mir ein Loch in die Stirn. Meine Haut kribbelt überall dort, wo sein Blick mich trifft, und das ist überall, denn er sondiert mich quasi einmal von oben bis unten. Als sein Scan beendet ist und seine Augen mein Gesicht wiederfinden, hat er eine Augenbraue hochgezogen. Das bringt mich aus meiner unerklärlichen Starre zurück in die Wirklichkeit.

„Was kann ich für Sie tun?“, frage ich eher unhöflich. Der Kerl verunsichert mich und das gefällt mir nicht. Ich bin heute nicht auf meiner emotional gefestigten Höhe und habe keine Lust auf weitere Komplikationen.

„Kriminalpolizei, Kies. Sie müssen Herr Wilhelmsen sein“, sagt er mit einer rauchigen Stimme, die klingt, als hätte er seit längerem nicht mehr gesprochen.

„Richtig, der bin ich. Haben Sie noch Fragen wegen heute Morgen? Ich dachte, die Spurensicherung wäre durch.“

„Können wir drinnen reden?“, bittet er emotionslos. Selbst seine Augenbraue hat sich wieder nach unten verzogen.

„Natürlich.“ Ich wende mich ab und gehe zurück in mein Büro. Er wird mir schon folgen. Unhöflich? Vielleicht, aber so langsam bin ich genervt und das bekommt nun leider der Mann hinter mir zu spüren. Ich laufe direkt durch zur Kaffeemaschine.

„Auch einen?“, frage ich in den Raum hinein.

„Gerne. Schwarz bitte.“ Seine Stimme klingt nun nicht mehr belegt, sondern angenehm tief.

Mit zwei Tassen Kaffee gehe ich zurück und lasse mich auf meinen Sessel fallen. Mister Kriminalpolizei setzt sich auf den Stuhl mir gegenüber und nimmt mir mit einem Nicken die Tasse ab.

„Danke“, sagt er und trinkt einen kleinen Schluck, da der Kaffee noch sehr heiß ist.

„Mhm“, brummt er überrascht. „Der ist gut! Was ist das für eine Sorte?“

„Muss ich auf die Packung schauen“, antworte ich ehrlich. „Ich hab ihn im Eine Welt Laden um die Ecke gekauft und einen Löffel Kakao mit rein gegeben. Nimmt die Bitterstoffe. Aber Sie sind bestimmt nicht hier, um mit mir über Kaffee zu philosophieren. Was kann ich für Sie tun?“ Auf Smalltalk kann ich verzichten und die Gründe dafür sind mir selber nicht klar. Es muss eine dieser Amtsträger-Respekt-Sachen sein, denn anders lassen sich meine schweißnassen Hände nicht erklären, welche ich mir unauffällig an meiner Hose abwische.

„Stimmt wohl“, sagt er, weiterhin mit ausdrucksloser Miene. „Ich bin wegen Johannes Haarmann hier.“ Er sieht mich aufmerksam an. „Sie kennen ihn?“, fragt er. Ich habe allerdings den Eindruck, er weiß die Antwort bereits und will meine Reaktion testen.

„Könnte ich bitte Ihren Ausweis sehen?“, kontere ich, statt zu antworten. Wäre ja noch schöner, wenn hier jeder rein spazieren und sich nach unseren Schützlingen erkundigen würde. Ich scheine den Steinmenschen überrascht zu haben, denn ich sehe seine Augenbraue leicht zucken.

„Sie glauben doch nicht, dass ich hier jedem Auskunft gebe, oder?“, sage ich angriffslustig. Das scheint ihn zu amüsieren, denn während er in seine Innentasche greift, zuckt ein Mundwinkel. Überrascht stelle ich fest, dass ich mich diebisch freue, eine Gefühlsregung bei ihm hervorgerufen zu haben, die sichtbar ist. Es ist so weit, man bestelle mir die Männer mit den Jacken.

„Hier, mein Ausweis. Bitte entschuldigen Sie, dass ich ihn nicht sofort vorgezeigt habe. Aber … ich bin ehrlich zu Ihnen. Ich folge eher einem Bauchgefühl, als das ich Ihnen einen offiziellen Besuch abstatte.“

Das lässt mich von seinem Ausweis aufblicken und meinerseits eine Augenbraue skeptisch hochziehen. Ich reiche ihm den Ausweis über den Tisch und lehne mich mit verschränkten Armen zurück in meinen Stuhl.

„Dann frage ich mich erst recht, warum ich Ihnen Auskunft geben sollte.“

„Das verstehe ich und es ist nachvollziehbar, dass Sie so reagieren, aber lassen Sie mich das kurz erklären. Bei der Bearbeitung der Berichte von heute Morgen, die der Kriminaldauerdienst übergeben hat, ist der Fall auf meinem Tisch gelandet. Die Personenüberprüfungen haben ergeben, dass im Raum Hamburg der Zeuge Johannes Haarmann als vermisst gemeldet wurde. Herr Haarmann ist volljährig und niemandem Rechenschaft schuldig. Es scheint allerdings Hinweise darauf zu geben, dass Herr Haarmann sich selbst gefährden könnte und da sein Name jetzt in unserem System aufgetaucht ist, muss ich dem nachgehen. Bevor ich die Information über seinen Verbleib allerdings blind weitergebe, möchte ich sicher sein, dadurch keinen Schaden anzurichten.“

„Und was würden Sie dann mit der Information anfangen, wenn der Gesuchte hier sesshaft ist?“, will ich wissen. Ich bin misstrauisch, und das kann er ruhig merken, denn einen Selbstzerstörerischen Eindruck macht Johannes nicht auf mich, wenn man von leichtsinnigen Einbruchsvereitelungsaktionen absieht.

„Ich würde dem Kollegen in Hamburg auf kurzem Dienstweg eine Information zukommen lassen, mit dem Hinweis auf Sensibilität.“ Ich weiß darauf nichts zu sagen. Das klingt wie ein gutes Angebot, vor allem, da wir durch das Wochenende noch nicht aktiv werden konnten, um Johannes’ Aufenthaltsort mit einem Sperrvermerk versehen zu lassen, geschweige denn ihn überhaupt hier in Köln anzumelden. Der Aufenthaltsort unserer Schützlinge muss in den meisten Fällen geheim bleiben. Bei Johannes ist das so. Würde ich dem Beamten vor mir also sagen, dass Johannes hier wohnt und er das weiterleitet, wäre es das nicht mehr. Wobei ich mir gar nicht sicher bin, ob diese Vermerke für die Polizei gelten. Wahrscheinlich nicht. Und durch den Einbruch am Morgen weiß der Polizist ja auch schon, dass Johannes hier ist. Ich finde die ganze Situation zunehmend merkwürdig und weiß nicht, was ich tun soll. Ich will gerade Luft holen, um Herrn Kies zu antworten, als hinter mir im Archiv das Fenster zuschlägt.

„Oh, da war wohl noch ein Fenster auf. Moment, ich bin gleich zurück“, sage ich und springe auf. Im Abstellraum angekommen, finde ich einen kreidebleichen Johannes vor, der neben dem offenen Fenster sitzt und mich ängstlich ansieht.

„Da sind Gitter vor“, flüstert er verzweifelt. Also hat er versucht abzuhauen, was mich ebenfalls stutzig werden lässt, denn wer versucht schon vor der Polizei weg zu laufen?

„Was ist hier los?“ Johannes antwortet nicht, schaut mich nur panisch an. Von ihm werde ich wohl jetzt keine Antwort bekommen, daher beschließe ich, mir die Antworten später zu holen. Ich würde mich bei Florian, dem Partner von Mathias und seines Zeichens Jurist, absichern müssen, aber so wie ich das sehe, ist es keine Straftat bei einer inoffiziellen Befragung nicht zu antworten. Florian und ich kennen uns schon ewig; sind quasi zusammen aufgewachsen. Florian und Mathias sind vor ungefähr einem Jahr ebenfalls nach Köln gezogen, nachdem Florian in Hamburg einiges an Staub aufgewirbelt hatte. Damit einhergehend, hat sich aber seine gesamte Einstellung geändert und er zog es vor, lieber ein ruhiges Leben als Dozent mit seinem Partner zu leben, statt seinen beruflichen Werdegang weiter zu forcieren. Dieser Umstand kommt uns natürlich in Fällen wie diesen entgegen, da er jetzt hier ist und uns zur Seite stehen kann.

„Bleib hier, ich regle das, und dann reden wir“, sage ich leise und schließe mit einem extra lauten Zuschlagen das Fenster. Mit schnellen Schritten gehe ich zurück ins Büro.

„So, tut mir leid. Wegen Ihrer Frage … Ich kann Ihnen da im Moment keine Auskunft geben“, sage ich knapp, aber bestimmt.

„Also ist er hier wohnhaft und Sie wollen seinen Aufenthaltsort nicht Preis geben?“, fragt er nach.

„Ich sage weder, dass es hier jemanden mit diesem Namen gibt, noch, dass es so jemanden nicht gibt“, schließe ich und stehe auf. Er versteht den Wink und erhebt sich ebenfalls.

„Sie wissen aber, dass durch die Personenüberprüfung schon bekannt ist, dass Herr Haarmann sich hier zumindest heute Morgen aufgehalten hat, oder? Es geht lediglich darum, wie ich es den Kollegen in Hamburg mitteile. Denken Sie noch einmal darüber nach und rufen mich an“, sagt er und überreicht mir eine Visitenkarte. „Ich kann Ihnen nur versichern, dass Ihrem Gast keine Gefahr drohen würde. Ich weiß ja, worin Ihre Arbeit hier besteht, und es geht mir nicht darum, Ihren Schützling auszuliefern. Es wäre nur zu seinem Vorteil, die Sache nicht auf dem regulären Dienstweg zu verfolgen“, fügt er an und geht.

Nur Sekunden später höre ich die Tür zuschlagen. Habe ich das richtig verstanden? Johannes wird in Hamburg als vermisst geführt und der Polizist würde seinen Aufenthaltsort trotzdem nicht melden?

Mein Kopf steht kurz vorm Platzen. Das ist eindeutig einer dieser Tage, an denen selbst mein Kaffee einen Kaffee braucht. Derartig komplexe Denkvorgänge sind noch nie mein Ding gewesen. Zu anstrengend. Glücklicherweise komme ich nicht wirklich dazu, etwas zu analysieren, da ich hinter mir eine Bewegung wahrnehme. Johannes kommt aus dem Archiv geschlichen und drückt sich mehr an der Wand an mir vorbei Richtung Tür, als dass er läuft.

„Stehengeblieben“, sage ich streng. Er zuckt kurz zusammen, tut aber wie geheißen. Seine Schuhe scheinen allerdings interessanter zu sein, als ich.

„Sag mir, warum ich diese Chance auf dem Silbertablett abgelehnt habe“, verlange ich.

„Danke“, sagt er statt einer Antwort. Das hilft mir nur gerade nicht weiter bei meinem Dilemma.

„Pass auf. Ich bin schlecht in sowas und kann nicht einschätzen, ob ich gerade besser die Klappe halten sollte oder nicht. Dafür bin ich auch nicht zuständig. Ich mag dich und mir ist klar, dass du nicht ohne Grund bei uns bist. Wenn aber eine offizielle Suchaktion nach dir läuft, müssen wir das wissen. Also, raus mit der Sprache.“

„Es … Ich weiß nicht. Kann sein“, sagt er kleinlaut.

„Was heißt das genau?“

„Ich habe jemanden angezeigt und diese Anzeige dann später versucht zurückzunehmen. Das ging aber nicht! Der Polizist sagte was von ‚besonderem öffentlichen Interesse‘ oder so und dass man, in dem Fall, Anzeigen nicht zurücknehmen kann. Das geht nur bei Bagatellen. Bei gefährlicher Körperverletzung wird sowieso ermittelt. Da habe ich Angst bekommen und bin abgehauen. Also, kann schon sein, aber ich weiß es eben nicht.“

„Aber das hat doch nichts mit der Vermisstenanzeige zu tun. Weißt du, wer dich als vermisst gemeldet haben könnte?“

„Ja, und genau diese Person soll nicht wissen, wo ich bin.“

„Ich könnte den Beamten zurückrufen …“

„Nein! Bitte nicht“, unterbricht er mich. „Es würde raus kommen“, fleht Johannes fast. „Er findet raus wo ich bin, garantiert.“

„Er?“

„Ja.“ Nur ja? Eine Erklärung werde ich wohl nicht bekommen, so abweisend wie Johannes gerade wirkt. Trotzdem war es fahrlässig, den Beamten so gehen zu lassen. Ich begreife mich selber nicht, dass ich das zugelassen habe.

„Wie sollte er denn?“, frage ich daher und fange langsam an zu glauben, Johannes ist paranoid. Mir ist völlig unerklärlich, wie jemand es rauskriegen sollte, wenn einfach nur nicht weitergesucht würde.

„Bitte, er tut es, sag nichts.“