Etappenziel - Louisa C. Kamps - E-Book

Etappenziel E-Book

Louisa C. Kamps

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Beschreibung

Drei Jahre ist es nun schon her, dass Johannes nach der Flucht vor seinem gewalttätigen Ex-Freund und einer anschließenden Entführung vom Zeugenschutz in einer Nacht und Nebelaktion aus dem Krankenhaus geholt wurde. Drei Jahre, in denen er zwar sein Leben einigermaßen regeln konnte, aber weit davon entfernt ist, glücklich zu sein. Als er beim Stöbern im Internet die Hochzeitsanzeige seines einstigen Freundes Raik und dessen Partner Christian sieht, reist er kurzentschlossen heimlich nach Köln, sich wohl bewusst über die Konsequenzen, falls er bei seinem Regelverstoß vom Zeugenschutz erwischt wird. Der Plan ist einfach. Johannes will nur einen Blick durch das Fenster der Hochzeitsfeier erhaschen und unbemerkt wieder verschwinden, findet sich aber plötzlich in einem Wechselbad der Gefühle wieder. Denn trotz seiner aufwendigen Tarnung wird er nicht nur zufällig entdeckt. Jemand hat auf ihn gewartet. Schlagartig sieht sich Johannes erneut einem möglichen Neuanfang gegenüber. Soll er es wagen? "Etappenziel" ist der Nachfolgeband des Romans "Etappenflucht"

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Seitenzahl: 554

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Louisa C. Kamps

Etappenziel

Impressum

© dead soft verlag, Mettingen 2020

http://www.deadsoft.de

© the author

Cover: Irene Repp

http://www.daylinart.webnode.com

Bildrechte:

Hans Kim – shutterstock.com

brandmix – shutterstock.com

1. Auflage

ISBN 978-3-96089-370-7

ISBN 978-3-96089-371-4 (epub)

Inhalt:

Drei Jahre ist es nun schon her, dass Johannes nach der Flucht vor seinem gewalttätigen Ex-Freund und einer anschließenden Entführung vom Zeugenschutz in einer Nacht und Nebelaktion aus dem Krankenhaus geholt wurde. Drei Jahre, in denen er zwar sein Leben einigermaßen regeln konnte, aber weit davon entfernt ist, glücklich zu sein. Als er beim Stöbern im Internet die Hochzeitsanzeige seines einstigen Freundes Raik und dessen Partner Christian sieht, reist er kurzentschlossen heimlich nach Köln, sich wohl bewusst über die Konsequenzen, falls er bei seinem Regelverstoß vom Zeugenschutz erwischt wird. Der Plan ist einfach. Johannes will nur einen Blick durch das Fenster der Hochzeitsfeier erhaschen und unbemerkt wieder verschwinden, findet sich aber plötzlich in einem Wechselbad der Gefühle wieder. Denn trotz seiner aufwendigen Tarnung wird er nicht nur zufällig entdeckt. Jemand hat auf ihn gewartet. Schlagartig sieht sich Johannes erneut einem möglichen Neuanfang gegenüber. Soll er es wagen?

Vorwort

Liebe Leser*innen,

da die Zeit zwischen der Etappenflucht und dem Etappenziel nun doch zwei Jahre beträgt und es sich nicht vermeiden ließ, in diesem Roman einige Ereignisse aus dem Vorgängerbuch aufzugreifen, hat Johannes nachstehend eine kleine Zusammenfassung geschrieben. Diese hilft vielleicht auch jenen Leser*innen unter euch, die das vorherige Buch nicht kennen.

Darüber hinaus möchte ich noch auf etwas hinweisen:

Die Abteilung „Zeugenschutz“ ist mitunter eine der geheimsten der Polizei. Der Zeugenschutz soll primär eins tun: Menschenleben schützen. Deswegen wissen nicht einmal die Kollegen im Polizeipräsidium untereinander, wer mit dem Zeugenschutz zu tun hat. Genau aus diesem Grund gibt es verständlicherweise und völlig legitim, kaum Informationen darüber, wie diese Abteilung arbeitet.

Die in diesem Roman verwendeten Aussagen stammen hauptsächlich aus Dokumentationen, in denen ehemalige Zeugen über ihre Zeit im Zeugenschutzprogramm berichten. Dabei ist zu beachten, dass bei diesen Menschen nicht alles nach ihren Wünschen und Hoffnungen verlaufen ist und das Programm nicht gegriffen hat. Das hat mir für meinen Roman in die Karten gespielt und ich habe mich an den getroffenen Aussagen in diesen Berichterstattungen orientiert. Über die spärlichen Informationen besagter Berichte hinaus, habe ich mir schriftstellerische Freiheiten erlaubt. Ich möchte daher ausdrücklich darauf hinweisen, dass es sich um keine realistische Darstellung der Arbeitsweise dieser geheimen Abteilung handelt, sondern um einen Unterhaltungsroman.

Wichtige Personen aus den vorherigen Büchern:

Raik: Bester Freund von Johannes, trägt meist schwarz, spricht Sarkastisch als zweite Muttersprache und hatte einen ausgeprägten Fluchtreflex, sobald es schwierig wurde. Bezugsperson für Johannes während seiner Zeit in Köln vor drei Jahren.

Christian: Ehemann von Raik, Kriminalpolizist, hat Johannes seinerzeit geholfen und darüber Raik kennengelernt.

Jörn: Bruder von Raik, Therapeut, verheiratet mit Julia, haben ein Kind zusammen. Raik und Jörn stammen aus Hamburg, haben sich aber in Köln niedergelassen. Sie haben einen Zufluchtsort für junge LGBTQ*-Menschen geschaffen.

Alex: Bruder von Christian und die Dragqueen Lili, die bei der Entführung dabei war.

Florian: Anwalt, ehemaliger Richter, ist mit seinem Partner Mathias von Hamburg ebenfalls nach Köln gezogen und unterrichtet inzwischen Rechtswissenschaften an der Uni Köln.

Mathias: Krankenpfleger, stammt aus dem Sauerland.

Hauke: Bruder von Raik und Jörn, bester Freund von Florian, wohnt noch mit seiner Frau Marlene in Hamburg auf einem Gestüt.

Dr. Knaur: Leitender Staatsanwalt in Hamburg, Bekannter von Florian, hat die Anklage gegen den Ex-Freund von Johannes geführt.

Michael: Ex-Freund von Johannes, Polizist, war verwickelt in Organisiertes Verbrechen und hat Johannes während deren Partnerschaft unter Drogeneinfluss über einen längeren Zeitraum misshandelt, bis dieser geflüchtet ist.

Zusammenfassung Etappenflucht:

Mein Name ist Johannes Haarmann und ich möchte euch ein bisschen was über mich erzählen. Ich bin inzwischen siebenundzwanzig Jahre alt, halb Asiate, halb Deutscher und stamme ursprünglich aus Hamburg. Durch gewisse Umstände bin ich in Köln gelandet und habe dort das erste Mal ein Gefühl von Familie gespürt, als ich Raik und die anderen Jungs kennenlernte. Jetzt lebe ich allerdings in Füssen und ich hasse es. Aber eins nach dem anderen.

Nachdem ich nicht mehr in meinem Elternhaus bleiben konnte, bin ich auf der Straße gelandet. Das war nicht lustig. Zum Glück hat mich dort ein Polizist aufgegabelt, mit dem ich dann sogar eine Beziehung eingegangen bin. Das ging einige Zeit gut, aber dann hat sich Michael, besagter Polizistenfreund, verändert, und mein Leben wurde zur Hölle, bis es schließlich eskaliert ist und ich geflüchtet bin. Das war nicht einfach, gerade weil Michael mir wortwörtlich eingeprügelt hat, dass er mich, sollte ich auch nur auf die Idee kommen abzuhauen, suchen und finden würde. Aber jeder Mensch hat eine Grenze, so auch ich.

Ich bin dann doch abgehauen und auf dieser Flucht in Köln bei Raik und Jörn gelandet. Ein Segen, wie sich schnell herausgestellt hat, denn dort habe ich nach und nach ein bisschen zu mir selbst zurückgefunden. Dabei geholfen hat mir, neben Raik und Jörn, eine Dragqueen namens Lili. Sie nahm mich unter ihre Obhut und so konnte ich als Jona in eine Hülle schlüpfen, die mir, Johannes, ein Ventil gab. Außerdem habe ich in Raik einen Freund gefunden. Einen, der mich nicht aufgegeben hat, obwohl ich mich zwischenzeitlich wie ein Idiot benommen und ihn zu Unrecht ziemlich mies behandelt habe. Ich dachte, er hätte mich bezüglich seiner Sexualität angelogen, dabei wusste Raik zu dem Zeitpunkt selber nicht, dass er bi ist. Als ich dann mitbekommen habe, dass da was zwischen ihm und Christian läuft, habe ich total überreagiert. Mit Jonas Hilfe konnte ich mir selbst eine Stimme geben und habe es an Raik ausgelassen. Trotz allem hatte ich aber das Gefühl, angekommen zu sein. Ich war optimistisch und wollte meine Zukunft planen und in die Hand nehmen, ohne dass mir alles vorgeschrieben wird.

Aber wie das so ist im Leben – erstens kommt es anders und zweitens als man denkt. Deshalb fand ich mich schließlich in einem Kofferraum wieder, der mich zu meiner Beerdigung bringen sollte. Zum Glück wurde ich rechtzeitig gefunden. Allerdings haben mich die Beamten des Zeugenschutzes noch in derselben Nacht aus dem Krankenhaus geholt und nach Bayern verfrachtet. Mein Ex ist nämlich nicht nur ein gewalttätiges Arschloch gewesen, sondern auch ein korruptes. Das große Problem – ich hatte zu viel gehört. Daher hatte nicht nur er, sondern auch seine Gangster-Chefs ein Interesse daran, dass ich niemandem auch nur irgendwas erzähle. Das wiederum wollten aber die Polizei und die Staatsanwaltschaft. Die Korruption zog nämlich größere Kreise, als ich mir hätte ausmahlen können. Während die Staatsdiener also alles daran setzten, dass ich gegen meinen Ex aussage und somit auch gegen die Organisation, von der er bezahlt wurde, setzten mein Ex und die Organisation Leute auf mich an, um mich zum Schweigen zu bringen. Das ist jetzt ungefähr drei Jahre her.

Hier sitze ich nun, unzufrieden, einsam und unglücklich, dafür am Leben. Vor ein paar Wochen entdeckte ich dann im Internet die Anzeige über Raiks Hochzeit mit seinem Partner Christian.

Christian ist Kriminalbeamter in Köln und die beiden haben sich, mehr oder weniger wegen mir, kennengelernt. In dem Moment, als ich diese Anzeige las, setzte etwas bei mir aus. In einer Nacht und Nebelaktion habe ich ein paar Sachen gepackt und mich auf den Weg nach Köln gemacht. Nur um einen Blick durch ein Fenster werfen zu können. Was dann geschieht, lest am besten selbst.

1 – Erwischt

Meine Füße schmerzen in den Schuhen und die Kontaktlinsen in meinen Augen brennen wie Feuer. Das ist es, das ich am meisten hasse: meine Augen. Wäre ich ein durchschnittlicher Mann mit asiatischen Wurzeln, hätte ich wohl kein Problem. Es ist wissenschaftlich erwiesen, dass Menschen einer anderen ethnischen Herkunft für viele gleich aussehen. Das mag auch auf viele zutreffen, aber eben nicht auf mich. Meine blauen Augen fallen auf. Hier, wo mich einige Leute kennen, würde ich keine zwei Meter weit kommen. Trotzdem habe ich es mir nicht nehmen lassen und bin gegen alle Auflagen nach Köln gereist, um an dieser Hochzeit teilnehmen zu können. Ab morgen kann ich wieder Turnschuhe tragen, aber heute nicht. Heute bin ich eine Spaziergängerin höheren Alters mit Rollator, die nur einen Blick auf das Hochzeitspaar erhaschen möchte.

Mir sind fast die Augen aus dem Kopf gefallen, als ich die Anzeige ihrer Hochzeit im Internet gefunden habe. Auch wenn ich mich nicht bei ihnen melden darf, heißt das nicht, dass ich nicht mal einen Blick erhaschen darf, was öffentlich im Internet an Informationen zugänglich ist. Als ich die Anzeige las, konnte ich sie jedoch nicht ignorieren. Raik ist schließlich wohl der erste Mann, der wahrhaft mein Freund war. Ohne Hintergedanken und böse Absichten. Ich musste einfach herkommen. Wie gerne würde ich jetzt in diese Halle gehen, ihn umarmen und beglückwünschen. Aber es geht nicht. Ich kann nur hier in der Abenddämmerung stehen und durch die Fenster beobachten, wie sie sich auf der Tanzfläche verliebt in die Augen schauen. Gut sehen die beiden aus, in ihren schwarzen Anzügen. Bei Raiks schwarzem Hemd muss ich sogar etwas schmunzeln. Er hat sich nicht verändert, wie es scheint. Mit einem lachenden und einem weinenden Auge wende ich mich ab und schiebe meinen Rentnerporsche langsam den Weg zurück zu meinem Leihwagen.

Jeder Schritt schmerzt. Nicht nur an meinen Füßen, sondern auch in meinem Herzen. Ich möchte nicht gehen. Die letzten drei Jahre waren für mich zwar ein Neuanfang, aber beschwerlich und nicht vollständig. Ich vermisse so viel und fühle mich einsamer, als ich es je zuvor in meinem Leben war. Meine Knöchel treten weiß hervor, so sehr halte ich mich am Rollator fest. Muss mich anstrengen, nicht umzukehren. Doch es nützt nichts. Ich darf hier nicht bleiben und mich schon gar nicht zu erkennen geben. Noch eine Abmahnung vom zuständigen Beamten beim Zeugenschutz kann ich nicht gebrauchen. Dabei wollte ich doch nur einen Brief an Raik schreiben und hatte diesen an den Staatsanwalt Dr. Knaur in Hamburg adressiert. Er sollte das Schriftstück lediglich weiterleiten. Das sah man aber nicht so gerne und man zitierte mich zu einem Treffen. Außerdem bin ich nicht lebensmüde. Wer weiß, ob nicht auch die Organisation, die wegen mir ziemlichen Ärger hatte, jemanden schickt, der hier auf mich wartet.

Ich lege einen Schritt zu und kann meinen Mietwagen schon sehen. Plötzlich habe ich es doch eilig. Von weitem entsperre ich mit dem Schlüssel die Verriegelung. Am Auto angekommen, öffne ich sofort den Kofferraum und hebe den Rollator hinein. Wie bereits beim Ausladen, bleibt eins der Räder an der Kofferraumumrandung hängen. Sperriges Ding, aber ich schaffe es, ohne mich ernsthaft zu verletzen oder einen Lackschaden zu verursachen. Mit Schwung schließe ich die Klappe und mache vor Schreck einen Schritt zurück.

„Ich habe mir gedacht, dass du kommen würdest“, sagt eine mir bekannte Stimme und mustert mich mit strengem Blick. Seine Oberarme hat er vor der Brust verschränkt und sieht so imposant aus, wie eh und je in seinem schwarzen Anzug, dessen Stoff über seine Muskeln spannt. Mein Herz springt mir fast aus dem Brustkorb und ich muss mir unauffällig die Hände am Rock abwischen. Erwischt, geht es mir in einem Stakkato durch den Kopf.

„Ich kenne Sie nicht, junger Mann“, stammele ich und versuche mich so aus der Affäre zu ziehen, weiche langsam Richtung Fahrertür zurück. Weg hier, bevor ...

„Netter Versuch, jetzt steig schon in das verdammte Auto und sieh zu, dass du wegkommst. Du solltest überhaupt nicht hier sein.“

Perplex starre ich ihn an. Ich weiß, wer da vor mir steht. Ich weiß auch, dass ich schleunigst die Beine in die Hand nehmen sollte. Dass Markus mich direkt loswerden will, habe ich dagegen nicht erwartet. Aber ich hätte damit rechnen müssen, so, wie ich Raik vor meinem Weggang behandelt habe. Wahrscheinlich ist die ganze Truppe nicht gut auf mich zu sprechen wegen meines Verhaltens damals. In meinem Kopf wirbeln die Gedanken durcheinander. Ich freue mich, wenigstens Markus zu sehen und seine Stimme zu hören. Gleichzeitig überkommt mich die Panik vor den Konsequenzen. Da passt das Gefühl von Enttäuschung über seine Reaktion überhaupt nicht rein und doch bin ich es. Enttäuscht. Da ich nicht so richtig weiß, wie ich reagieren soll, tue ich wie geheißen und gehe zur Fahrertür. Zu meinem Erstaunen geht auch er um das Auto herum. Schlimmer noch, einen Moment später sitzt er auf dem Beifahrersitz, während ich noch die offene Tür in der Hand halte.

„Worauf wartest du? Steig ein und lass uns fahren.“ Er klingt ungehalten und ich bin erneut überfordert mit der Situation. In mir wächst ein Druck, der droht, meine Haut zu zersprengen. Ich weiß, ich muss hier weg, obwohl ich es nicht will und ich bin mir im Klaren darüber, dass mir Markus nichts tun wird, aber seinen Anweisungen Folge zu leisten, widerstrebt mir zutiefst. Umstände, in die ich mich nicht selbst gebracht habe, ich aber zum Handeln gezwungen bin, sind schwer für mich zu ertragen. Noch bevor ich mich entschieden habe, welche Stimme in mir den Sieg davonträgt – die Vernunft oder der Trotz – steigt Markus wieder aus. Er schließt die Tür, stützt sich mit den Armen auf dem Autodach ab und schaut zu mir herüber. Beobachtet mich und meine Mimik ganz genau.

„Verstehe“, sagt er nach einiger Zeit und stellt sich wieder gerade hin. Er sieht enttäuscht aus, und das kann ich noch weniger ertragen, allerdings auch nicht nachvollziehen. Er wollte mich doch loswerden, sobald er mich gesehen und erkannt hat. Warum sollte es ihm also was ausmachen, wenn ich ihn nicht mitfahren lasse?

„Ich wollte nur mit dir reden. Hören, wie es dir geht, aber das eben nicht hier, wo jederzeit jemand kommen könnte. Ich hatte nicht bedacht, dass dir das zu viel Nähe sein könnte. Tut mir leid. Aber jetzt steig bitte in das Auto und fahr zurück, wohin immer du musst. Tu mir nur einen Gefallen und fahr ein paar Schleifen. Nimm nicht den direkten Weg, sondern vergewissere dich, dass dir niemand folgt, ja?“ Er klopft einmal mit den Fingern auf das Autodach und entfernt sich zwei Schritte vom Fahrzeug. Er lässt mich gehen. Einfach so, und ich habe noch nicht ein Wort gesagt. Einsteigen und wegfahren. Klingt schlicht, kann ich aber nicht. Nicht, nachdem ich durch seine Äußerung nun weiß, dass er mich doch nicht loswerden wollte und ich seine Stimme gehört habe. Eine von denen, die ich so vermisst habe in den letzten drei Jahren, obwohl es die Einzige ist, die ich so selten zu hören bekam, da Markus nie viel gesprochen hat. Aber er war immer da und ich hatte nie das Gefühl, dass ich mich vor ihm in Acht nehmen müsste. Auch jetzt weiß ich im Grunde, dass ich ihm vertrauen kann, ohne zu wissen, warum. Außerdem ist da plötzlich dieser Funke Hoffnung, dass, wenn Markus mich nicht in die Wüste schicken will, es Raik vielleicht auch nicht tun würde. Ich hebe mein rechtes Bein in den Fußraum des Autos, lasse mich aber nicht auf den Sitz fallen. Ich kann den Blick nicht von Markus abwenden, der mit hochgezogenen Schultern dasteht, die Hände in den Taschen seiner Anzughose vergraben hat und mich anschaut, als wollte er keine Sekunde meines Anblicks verpassen.

„Steig ein“, sage ich leise und lasse mich auf den Sitz gleiten. Ich atme tief durch und schließe für einen Moment die Augen. Fahrlässig, einfach nur fahrlässig. Dafür kann ich aus dem Zeugenschutz fliegen, und was mache ich dann? Über die Konsequenzen darf ich nicht nachdenken. Was ich gerne tun würde, wüsste ich sofort. Leider liegen Wunsch und Wirklichkeit meist kilometerweit auseinander. Aber ich kann diesen Strohhalm jetzt nicht einfach ignorieren, der mir da vom Schicksal gereicht wurde, daher schiebe ich meine Sorgen über ein mögliches Erwischtwerden ganz weit zur Seite. Durch das Geräusch der Autotür aus meinen Gedanken gerissen, hebe ich die Lider und sehe zu, wie Markus neben mir Platz nimmt. Er schließt sofort die Tür und schnallt sich an. Anschließend richtet er den Blick wieder auf mich und zieht die Augenbraue hoch.

„Worauf wartest du? Willst du es drauf anlegen, dass Christian und Raik dich auch noch erwischen?“

Die Frage lässt mich stutzen. Möchte ich das? Erwischt werden? Die Antwort erschreckt mich, denn sie lautet ja. Dann hätte dieses ganze Theater ein Ende, so oder so und ich würde vielleicht endlich die Chance dazu bekommen, mich bei Raik zu entschuldigen.

„Verstehe. Es ist bestimmt nicht leicht und glaub mir, hier gibt es Menschen, die dich genauso vermissen. Aber versau es nicht. Zieh es durch und mach das Beste draus. Für dich.“

„Was weißt du schon?“, murmele ich, komme aber gleichzeitig in Bewegung und schließe ebenfalls meine Autotür. Sie vermissen mich auch? Mein Herzschlag beschleunigt sich bei diesem Gedanken noch ein klein wenig mehr.

„Vom Weglaufen oder vom Erwischtwerden?“, fragt er leichthin.

„Von Einsamkeit.“

„Mehr, als mir lieb ist.“

Von der oberflächlichen Lockerheit ist nichts mehr da. Müde und resigniert starte ich den Wagen und lenke ihn vom Parkplatz. Ich habe keine Ahnung, wo ich hinfahren soll, also tue ich das Erste, das mir einfällt. Ich fahre Richtung Innenstadt, wo sich das Büro befindet, das mir mehr zu Hause war, als irgendein Ort es zuvor je war.

Wir sind schon eine Weile unterwegs, und gerade als die Stille im Wagen von unangenehm zu erdrückend zu kippen scheint, klingelt Markus‘ Handy.

„Jörn, was gibt’s?“, meldet er sich und blickt zum Seitenfenster hinaus. Mir wird schlecht. Ich höre Jörns Stimme durch das Telefon hindurch sehr gut, weil er gegen den Lärm im Hintergrund anschreien muss. Er ist also noch auf der Hochzeit. Kein Wunder, es ist ja gerade mal neun Uhr durch.

„Was es gibt? Wo bist du? Wir suchen dich schon seit fast einer Stunde, Mann!“

„Ich musste mal frische Luft schnappen.“

„Du hast die ganze Zeit in der offenen Tür zur Terrasse gestanden. Du hattest genug Sauerstoff, also erzähl keinen Mist. Wir haben alle gehofft, aber mal ehrlich. Geglaubt, dass er einfach so auftauchen würde, hat doch im Grunde genommen niemand. Viel zu riskant. Aber deswegen einfach abzuhauen geht nicht.“

Reden sie etwa von mir?

„Ich komme ja wieder, also reg dich nicht auf. Gib mir noch ein bisschen, ja? Jörn? Bist du noch dran?“

„Ja. Markus? Wo bist du?“

„Kurz unterwegs.“

„Scheiße“, höre ich Jörn sagen und vernehme zunehmend, dass es stiller wird. Er scheint sich einen ruhigeren Platz zum Telefonieren zu suchen. Ich denke schon, dass ich jetzt, da er nicht mehr schreien muss, von dem Telefonat nichts mehr mitbekomme, als Markus mir bedeutet anzuhalten. Ich lenke den Wagen auf den Standstreifen und schalte den Blinker ein. Im nächsten Moment höre ich wieder Jörns Stimme. Weiterhin laut und deutlich, denn Markus hat den Lautsprecher angestellt und hält das Telefon nun locker in der Hand zwischen uns. „Sag mir nicht, er ist aufgetaucht.“

„Okay, dann sag ich’s nicht.“

„Scheiße!“

„Du wiederholst dich. Aber bevor du dich weiter aufregst, ich bin gerade dabei, dafür zu sorgen, dass er die Stadt ungesehen verlässt. Dann komme ich wieder.“

„Gib ihn mir.“

„Ich höre mit“, sage ich leise. „Hallo, Jörn. Schön, deine Stimme zu hören.“

„Verdammt, du bist es wirklich. Wie geht es dir?“

„Soweit gut, danke. Und dir?“

„Auch. Ich bin inzwischen Vater geworden, wusstest du das?“

„Nein, wusste ich nicht. Glückwunsch! Das sind ja tolle Neuigkeiten!“ Ich meine es ehrlich, aber es stimmt mich auch traurig. Ich habe so viel verpasst. Ich klammere mich am Lenkrad fest, um nicht die Fassung zu verlieren. Es ist ein unglaubliches Gefühl, dass sie so an mich gedacht zu haben scheinen, wo ich mich doch so abscheulich verhalten habe in meiner letzten Zeit in Köln.

„Pass auf, ich ... Es ist egoistisch und falsch. Ich kann auch nicht glauben, dass ich im Begriff bin, diese Worte wirklich auszusprechen, geschweige denn überhaupt daran zu denken, aber ... können wir uns treffen?“

„Was?“ Ich kann mich nur verhört haben. Oder gaukelt mein Hirn mir vor, etwas gehört zu haben, was ich gerne hören wollte?

„Ich weiß, vergiss es. Es war dumm. Viel zu gefährlich und … vergiss es einfach.“

Noch bevor ich über die Konsequenzen nachdenken kann, antworte ich jedoch: „Okay.“

Den bitterbösen Blick vom Beifahrersitz versuche ich zu ignorieren. Eine andere Chance werde ich aber wohl nie bekommen, also ja, ich will das Risiko eingehen.

„Nein.“ Die Endgültigkeit in Markus’ Stimme lässt mich im Sitz zusammensinken. Überrascht bin ich allerdings nicht.

„Bitte?“ In diesem einen Wort klingt so viel Unglaube mit, dass es mich fast zum Lachen bringt. Wie es scheint, hat Jörn nicht mit einer solchen Reaktion von Markus gerechnet.

„Jörn. Das ist ... Wie stellst du dir das vor? Das wir einfach in einen Raum voller Leute spazieren, uns an einen Tisch setzen, nett quatschen und dann haut er wieder ab? Denk doch mal nach!“

„Ich weiß das doch! Aber du weißt, wie sehr Raik es sich gewünscht hat und Johannes ist nun mal jetzt hier, oder? Wir müssen vorsichtig sein, aber ein paar Minuten … Markus, komm schon. Du weißt, was es ihm bedeutet. Was es uns bedeutet. Und wenn wir jetzt mal ehrlich sind, hast du das auch gar nicht zu entscheiden, oder?“

„Das ist richtig, aber einer muss hier ja wohl die Stimme der Vernunft annehmen.“

„Vernünftig? Du?“

„Zum Teufel, Jörn. Du weißt, was ich meine.“

„Ich mach’s“, falle ich den beiden in ihr Gespräch.

„Nein“, sagt Markus erneut, woraufhin ich ihn mit zusammengekniffenen Augen anschaue.

„Das kannst du nicht bestimmen. Jörn hat recht. Es ist meine Entscheidung und ich möchte mich mit ihm und Raik treffen.“

2 – Eine Krone für den King

Ich muss total verrückt sein. Meine Tarnung als Rentnerin mag vielleicht gut sein, aber unfehlbar ist sie nicht. Jetzt auch noch einem Treffen mit Raik und Jörn zuzustimmen, bei dem ich nicht mal abschätzen kann, wer sonst noch dabei sein wird, ist schon nicht mehr nur fahrlässig. Das hat selbstzerstörerische Tendenzen.

„Warum hast du aufgelegt?“ Ich bin irritiert und etwas sauer, als mir bewusst wird, dass er genau das getan hat.

„Der ruft wieder an“, antwortet Markus lapidar. „Warum hast du zugesagt?“, stellt er die Gegenfrage. „Das ist bescheuert.“

„Vielleicht. Aber was hab ich denn sonst noch?“

„Was soll das heißen? Du bist in Sicherheit. Jedenfalls noch. Warum willst du das so sehr aufs Spiel setzen, hmm?“

„Weil er recht hat. Ihr alle. Ja, es war bekloppt hier hinzukommen. Aber ich bin nicht lebensmüde, sonst säße ich bestimmt nicht als Rentnerin hier neben dir, und trotzdem hast du mich erwischt. Was macht es dann jetzt noch, wenn ich die anderen ebenfalls treffe? Wir können doch irgendwo einen Treffpunkt ausmachen. Dann hättest du auch gleich eine Mitfahrgelegenheit zurück.“

„Du hältst dich für richtig schlau, oder?“

„Nein. Aber ich möchte auch einmal egoistisch sein. Mein ganzes Leben lang hat immerfort jemand über mich bestimmt. Erst meine Eltern, dann Michael, dann die Polizei. Und was hat es mir gebracht? Ständig nur noch mehr Scheiße. Jeder hatte stets gute Gründe, Entscheidungen für und über mich zu treffen. Die Begründung war immer anders, aber im Grunde doch gleich. Weil es das Beste für mich ist. Jetzt sieh, wo es mich hingebracht hat. Ich bin siebenundzwanzig Jahre alt, habe keine Freunde, eine Wohnung, die mir nicht gefällt, einen Job, der mich fertig macht, keine Perspektive etwas an der Situation zu ändern und ständig meckert jemand an mir rum, weil alles, was ich tue, doch nicht gut genug ist. Also wenn es mir hilft, die nächsten zehn Jahre zu überstehen, weil ich jetzt einmal für zehn Minuten Menschen treffen kann, die mir wirklich etwas bedeuten, dann sind mir die Konsequenzen schon fast egal.“

„Und wenn du erwischt wirst? Dann verlierst du das bisschen, dass du hast auch noch. Und dafür kannst du dann niemandem die Schuld geben, außer dir selbst. Ist es dir das wert?“

„Jetzt gerade? Ja.“

„Johannes –“

„Stopp! Bitte. Lass mich einfach … nur ein paar Minuten, ja? Sieh es als Hochzeitsgeschenk für Raik und als Weihnachts- und Geburtstagsgeschenke für mich. Ich weiß selbst, wie hirnrissig das ist. Glaub mir. Ich habe mehr Angst, als du ahnst. Aber ich brauche das.“ Umso mehr ich rede, desto mehr bricht meine Stimme. So viele Emotionen dringen an die Oberfläche, die so lange unter Verschluss bleiben mussten. Aber jetzt ist das Ventil auf und ich kann meinen Redefluss kaum stoppen. „Du kannst dir nicht vorstellen, wie ich mich fühle. Ich hasse mein Leben! Die Zeit hier bei euch in Köln und die Freundschaft mit Raik, ganz zu schweigen von dem Selbstbewusstsein, das ich durch Jona erleben durfte – ich möchte doch nur nochmal ein kleines Stück davon haben, bevor ich wieder zurück muss. Kannst du das denn nicht verstehen?“ Ich muss mehrfach blinzeln, um zu verhindern, dass ich anfange zu weinen. Tief durchatmend blickt Markus nach vorn durch die Windschutzscheibe. Sein Kiefer ist fest zusammengepresst; die Muskeln spannen und entspannen unablässig.

„Ich will mir gar nicht vorstellen, wie viel dir das hier bedeuten muss, bei dem, was du hier aufs Spiel setzt. Sag mir nur eins: Wenn ich nicht aufgetaucht wäre – wärst du einfach wieder gefahren? Den ganzen Weg von wo auch immer, nur um einen Blick durch das Fenster einer Feiergesellschaft zu werfen und dann tschüss?“

„Ja“, sage ich einfach nur, denn genau das ist es, was passiert wäre. „Im Grunde bin ich froh, dass du mich erwischt hast. Ich wollte so unbedingt mehr haben, als nur aus der Ferne zuzuschauen, war aber zu feige, es mir zu holen.“

„Also gut, du hast gewonnen“, sagt er und wischt energisch über den Sperrbildschirm seines Telefons. Leise, während er den richtigen Kontakt raussucht, beschimpft er sich selbst. Dass er verrückt sein muss, völlig wahnsinnig und sich lieber hätte betrinken sollen, statt auf seine Instinkte zu hören, denn dann säßen wir jetzt nicht hier. Seine letzten Worte töten das warme Gefühl, das mich aufgrund seiner Fürsorge zuvor erfasst hat, direkt wieder ab. Allerdings vertreibt es auch meine weinerliche Stimmung und verwandelt sie in Trotz.

„Stell dich drauf ein, dass die ganze verdammte Meute dort auflaufen wird und den Anschiss vom Superanwalt, sollte er mit dabei sein, musst du dir ganz allein anhören, verstanden?“ Ich nicke und merke, wie mein Puls vor Aufregung steigt. Mich erfasst eine Euphorie, wie ich sie schon lange nicht mehr gespürt habe. In diesem Moment ist die Stimme der Vernunft in meinem Kopf nur noch ein leises Flüstern im Hintergrund. Gebannt beobachte ich, wie Markus auf den Kontakt seines Telefons drückt. Anschließend hält er sich das Handy ans Ohr. Ich höre das Freizeichen, als würde ich auf das Entgegennehmen des Anrufs warten.

„Wir treffen uns am Verteilerkreis West, beim King. Parkplatz. Ihr nehmt mich dann wieder mit zurück, der Kleine geht danach direkt auf die Autobahn und haut wieder ab. Kein Drama, verstanden? Und Jörn – Diskretion. Es wäre schön, wenn nicht die gesamte Hochzeitsgesellschaft da auftauchen würde.“

„Hältst du mich für bescheuert?“ Jörn klingt aufgebracht.

„Ehrliche Antwort?“

„Hey, ich bin immer noch dein Boss!“

„Heute nicht. Also, einverstanden?“

„Ja, sicher. Wir beeilen uns. Wird nicht so einfach, Raik von seiner eigenen Hochzeit unauffällig wegzulotsen.“

„Lass dir was einfallen. Brautentführung, was weiß ich.“

„Wie bitte?“

„Du weißt, was ich meine. Für politische Korrektheit hab ich gerade keinen Nerv. Diese Aktion hier macht mir Bauchschmerzen, also hau rein.“

„Ja, ist gut. Ich melde mich, wenn wir losgefahren sind und sage dir, wie lange wir brauchen werden.“

„Alles klar. Bis gleich“, erwidert Markus und legt auf.

„Danke, Markus“, sage ich und wische meine Hände, die bis jetzt das Lenkrad umklammert hielten, an meinem Rock ab. Erst jetzt bemerke ich, dass sie zittern.

„Dank mir nicht. Ich habe das ernst gemeint. Ich fühle mich überhaupt nicht wohl dabei. Du hast Glück, dass es hier um meine beiden Bosse geht und ich dem Bräutigam nicht erklären möchte, dass ich seinen vermissten Freund getroffen habe und er nicht. Das würde nämlich mir die nächsten zehn Jahre zur Hölle machen.“

Es dauert fast eineinhalb Stunden, aber dann fährt Jörns Familienvan auf den Parkplatz des Schnellrestaurants. Showtime. Da wir in der letzten Ecke der Parkfläche geparkt haben, dauert es einen Moment, bis der Wagen nah genug bei uns ist, dass Markus sich bemerkbar machen kann. Wie in einem schlechten Krimi, denke ich noch, kurz bevor er aus dem Wagen steigt. Markus hat mich während der Wartezeit mehrmals geimpft, dass ich bloß im Wagen warten soll, bis er mir das Okay gibt, ebenfalls auszusteigen. Es hätte definitiv gereicht, wenn er es mir zwei Mal gesagt hätte, statt fünf Mal und mehr. Ich war zum Schluss hin ziemlich genervt davon, wollte mir aber nichts anmerken lassen. Ich habe mir schon recht viel rausgenommen, so wie ich mit ihm geredet habe, um ihn von diesem Treffen zu überzeugen. Ich dachte immer, dass ich Markus gut einschätzen kann. Früher. Ich hatte vergessen, wie viel Zeit vergangen ist, seit er mir mit dem Umzug geholfen und mit mir zu meiner Aussage nach Hamburg gefahren ist. Scheint, als hätte mir mein Hirn etwas suggeriert, dass nicht da war. Bevor ich allerdings noch mal etwas falsch beurteile, bin ich lieber vorsichtig und versuche ihn nicht weiter zu reizen. Wer weiß, wie er reagiert.

Als das Licht des Scheinwerfers Markus erfasst, lenkt der Fahrer das Auto in die Parklücke neben meinem Leihwagen und noch bevor der Wagen richtig steht, werden die hinteren Schiebetüren aufgeschoben und Raik springt heraus.

„Wo ist er?“, fragt Raik auch direkt und ziemlich aufgeregt. Suchend schaut er sich um und mir rutscht das Herz in die Hose. Freut er sich wirklich, oder sieht er jetzt die Chance, mir die Meinung zu sagen, weil ich so ein Arsch zu ihm war? Markus tritt einen Schritt zur Seite und gibt die Sicht auf das Auto frei, aus dem ich, verkleidet als Rentnerin, nun aussteige. Ich muss mich an der offenen Autotür festhalten, um nicht zusammenzubrechen. In dem Moment, in dem sich unsere Blicke treffen und Raik die Erkenntnis trifft, wer da gerade aus dem Wagen gestiegen ist, rennt er Markus fast um und umarmt mich schon einen Moment später. Ich erstarre kurz. Vor Schreck, dass ich einfach so in den Arm genommen werde. In der nächsten Sekunde kralle ich mich in seinem Jackett fest und genieße die körperliche Nähe, die ich sonst nicht zulassen kann. Das hier ist Raik und er stößt mich nicht von sich oder schreit mich an. Ich merke erst, dass ich weine, als Raik mein Gesicht mit seinen Händen umfasst, meine Tränen mit seinen Daumen abwischt und mich mit feucht glänzenden Augen anlächelt. Mein ganzer Körper zittert und kann einfach nicht aufhören zu weinen. So lange musste ich warten. Mein Herz droht mir aus der Brust zu springen, so sehr schlägt es gegen meine Rippen. Sein Geruch, seine Stimme, seine Nähe – ich bin verloren. Ich werfe mich in seine Umarmung zurück und lege meinen Kopf an seiner Schulter ab, nicht in der Lage, mich zu beruhigen und ganz bestimmt nicht darüber nachdenkend, dass ich mein Make-up an seinen Anzug schmiere.

„Ich hab dich vermisst“, sagt er und legt seine Arme wieder um meinen Rücken.

„Ich dich auch“, murmele ich in sein Hemd. „Es tut mir alles so leid. Ich habe dich so ungerecht und mies behandelt. Das tut mir alles so schrecklich leid.“

„Ist schon gut. Ich verstehe es. Wirklich, das tue ich. Was glaubst du, warum ich immer wieder zu dir gekommen bin, obwohl ich wusste, dass Jona mich fertig machen wird? Es war ein Missverständnis, und es tut mir leid, dass ich nicht eher mit dir darüber gesprochen habe. Ich war zu sehr mit mir und meinen Gefühlen beschäftigt und habe schlicht nicht darüber nachgedacht, was es für dich bedeuten könnte. Das ist mir erst später klar geworden und dann habe ich versucht, es wieder gut zu machen.“

Glücklich darüber, dass ich endlich meine Entschuldigung aussprechen und damit meine Schuldgefühle Raik gegenüber ein wenig lindern konnte, hebe ich den Blick, um Raik direkt anzuschauen. Er scheint ebenfalls erleichtert zu sein, wenn ich seinen Ausdruck richtig interpretiere. Als ich über Raiks Schulter sehe, nehme ich Christian wahr, der gerade Markus die Hand auf die Schulter legt.

„Das hast du gut gemacht“, höre ich ihn zu Markus sagen, während er zu uns rüber lächelt.

„Wie bitte? Siehst du nicht das Risiko? Und ihr seid einfach von eurer eigenen Hochzeitsfeier abgehauen. Was ist daran bitte gut?“ Markus’ Worte treffen mich erneut wie ein Kübel kaltes Wasser. So langsam sollte mich seine Haltung nicht mehr überraschen … eigentlich.

„Du hast meinen Mann sehr glücklich gemacht. Johannes, wie es aussieht, auch. Den beiden hat dieser Abschluss gefehlt und du hast es ermöglicht. Im Übrigen hast du diesen Parkplatz vorgeschlagen.“

„Das ist richtig“, mischt sich Jörn von der anderen Seite ein.

„Das ist falsch. Es war einzig Johannes. Der Kleine weiß, was er will, und er weiß auch, wie er es bekommt. Nur ist es ihm nicht bewusst.“ Christian lacht und klopft Markus nochmal auf die Schulter, bevor er seine Hand wegnimmt.

„Da ist was dran“, sagt er und kommt auf uns zu. „So, junger Herr. Zerdrück mir meinen Mann nicht, den will ich noch länger behalten!“ Er lacht und bleibt mit den Händen in der Hosentasche neben uns stehen.

„Ich freue mich auch, dich zu sehen“, sage ich und löse mich von Raik. „Verdammt, ich hab euch so vermisst.“ Ich kann das Schluchzen nicht unterdrücken und breche plötzlich weinend zusammen. Das habe ich nicht kommen sehen.

3 –  Freddy Krüger lässt grüßen

Ich zittere am ganzen Körper und bekomme kaum Luft. Hätte Raik mich nicht festgehalten, wäre ich unsanft auf den Knien gelandet oder Schlimmeres. Nun sitze ich auf dem Parkplatz und klammere mich weinend an Raiks Arm fest und versuche, nicht zu hyperventilieren. Ganz sachte streicht er mir über den Rücken und redet leise auf mich ein. Ich verstehe kein Wort, aber es hilft. Mein Atem beruhigt sich langsam.

„Kann ich Ihnen helfen?“ Die Stimme ist fremd, bemerke ich verzögert und schaue reflexartig auf. Neben uns hat ein Polizeiwagen gehalten und einer der Beamten blickt uns aus dem offenen Fenster der Beifahrerseite fragend an, bevor er die Tür öffnet und aus dem Auto steigt. Fast zeitgleich höre ich eine Autotür zufallen, was mir sagt, dass der Fahrer ebenfalls ausgestiegen sein muss. Sofort verkrampfe ich mich wieder und drücke mich näher an Raik, der noch immer vor mir kniet und mich festhält.

„Nein, es ist alles unter Kontrolle. Meine Tante hat nur gerade erfahren, dass ihr Mann, mein Onkel, ins Krankenhaus gekommen ist. Wir holen ihr gleich ein Wasser und sobald sie sich beruhigt hat, bringen wir sie zu ihm. Aber vielen Dank für Ihr Angebot“, sagt Markus ruhig und hat sich während seiner Lüge so in deren Blickfeld geschoben, dass die Polizisten mich nicht mehr direkt im Blick haben.

„Sind Sie sicher? Wir können Ihnen auch schnell einen RTW rufen.“

„Nein, wirklich. Vielen Dank, aber wir kommen klar.“

„Na, wenn Sie meinen“, sagt der Fahrer und schaut uns skeptisch an. „Wir holen uns ebenfalls einen Kaffee und sind noch ein paar Minuten im Restaurant. Falls Sie doch noch Hilfe benötigen, sprechen Sie uns gerne an.“ Mit diesen Worten begibt er sich wieder an die Tür des Wagens und steigt, wie sein Kollege, ein. Erst als das Auto weitergefahren und vorne auf dem Parkplatz verschwunden ist, atmen alle wieder aus. Ich war also nicht der Einzige, der die Luft angehalten hat.

„Verdammte Scheiße“, brummt Markus und sieht Jörn wütend an. „Was hab ich gesagt? Ich wusste, dass das schief geht!“

„Jetzt bleib ruhig. Es ist doch nichts passiert“, sagt Raik und will sich erheben. Ich kann aber nicht loslassen. Ich weiß, was jetzt kommt. Ich muss fahren. So schnell wie möglich. Aber ich kann nicht. Noch nicht. Es ist zu früh.

„Ich muss Markus leider recht geben.“ War ja klar, dass Christian auf der richtigen Seite des Gesetzes bleibt. „Das war haarscharf und noch sind wir nicht aus dem Schneider.“

„Johannes muss hier weg, und zwar so schnell wie möglich.“ Markus läuft vor uns auf und ab wie ein Boxer kurz vor dem Kampf und fährt sich unruhig mit den Händen über den Kopf durch seine Haare. Erst jetzt fällt mir bewusst auf, dass sein Irokese weg ist. Schade, denke ich und wundere mich in der nächsten Sekunde, worüber ich mir da Gedanken mache. Schließlich kralle ich mich immer noch an Raik fest wie ein kleines Kind, weil ich das Unausweichliche unnötig hinauszögern will.

„Was machen wir jetzt?“, fragt Raik und ich warte gespannt auf Antworten, bis mir klar wird, dass die Frage an mich gerichtet war. Ich probiere Luft zu holen. Es klappt, aber nicht gut. Es ist, als würde ich versuchen, gegen einen Amboss auf meiner Brust anzukommen und bin nicht stark genug.

„Ich schätze, das Beste wäre, ich würde mich so schnell wie möglich aus dem Staub machen“, krächze ich leise und versuche mich von Raik zu lösen.

„Aber das willst du nicht.“ Eine Feststellung von Jörn, der sich die letzten paar Minuten im Hintergrund gehalten hat. Ich hatte schon fast vergessen, dass er da ist.

„Nein“, antworte ich, wobei diese Bestätigung völlig unnötig ist.

„Aber hierbleiben kannst du auch nicht.“ Wieder eine Aussage, wieder von Markus ausgesprochen.

„Ich weiß“, sage ich und senke den Kopf auf die Brust. „Ich schätze, es bringt nichts, es noch länger hinaus zu zögern, oder?“ Mir fällt das Sprechen immer schwerer, der Kloß im Hals drückt gefährlich.

„Es war schön, dich zu sehen, Johannes. Glaub mir. Es fällt uns genauso schwer, dich jetzt fahren zu lassen, wie es für dich ist, wieder zu gehen. Aber deine Sicherheit geht vor“, sagt Raik und hebt mein Kinn leicht an, damit ich ihm in die Augen schauen kann. „So egoistisch es klingt, aber mit deiner bescheuerten Aktion hier, hast du mir das beste Hochzeitsgeschenk von allen gemacht. Es war eine der schlimmsten Erfahrungen in meinem Leben, im Krankenhaus zu stehen und zu hören, dass du nicht mehr da bist und keiner wusste, wo du warst. Ich wollte dir so viel sagen, so viel erklären. Es hat mir den Boden unter den Füßen weggezogen. Später dann zu wissen, dass es dir gut geht war das Eine. Es jetzt mit eigenen Augen zu sehen, ist etwas völlig anderes.“

„Es tut mir alles so leid.“ Sein Gesicht verschwimmt vor lauter Tränen vor meinen Augen. „Ich wollte nicht einfach gehen. Aber sie haben gesagt, wenn ich es nicht tue, gefährde ich euch damit. Sie sagten, wenn ich nicht aussage, können sie mir nicht helfen und es wäre meine Pflicht auszusagen. Ich habe klar gemacht, dass ich nicht gehen will. Nicht, ohne mich vorher zu verabschieden. Ich musste mich doch noch bei dir entschuldigen für alles und wollte es wieder gut machen, aber sie haben mich nicht gelassen. Meinten, jetzt oder gar nicht und es wäre doch sicher nicht mein Ziel, dass dir was passiert. Ich wollte dir doch nicht noch mehr wehtun. Es tut mir so leid!“

„Ist schon gut. Wir waren nur alle geschockt wegen der Ereignisse und haben dich vermisst. Aber wir hatten noch uns. Ich mag mir gar nicht vorstellen, wie es dir gegangen sein muss. Du glaubst gar nicht, wie gerne ich dich einpacken und für ein paar Wochen auf unsere Couch verfrachten würde. Aber wir wissen alle, dass das nicht geht.“

„Richtig. So schwer es mir fällt, das zu sagen, aber Johannes, du musst jetzt wirklich los.“ Christian klingt traurig, als er es sagt. Jörn lehnt an seinem Auto und Markus wandert immer noch unruhig auf und ab. Von seiner Frisur ist inzwischen nichts mehr übrig. Das hier ist die Familie, die ich nie wirklich hatte, mir jedoch immer gewünscht habe. Aber sie haben recht. Ich muss zurück. Ich habe bekommen, was ich wollte. Darüber sollte ich dankbar sein und nicht gierig werden. Mühsam erhebe ich mich, glätte meinen Rock und streiche mir etwas Dreck des Parkplatzes vom Stoff. Anschließend richte ich mich auf und reiche Raik meine Hand, damit er ebenfalls aufstehen kann.

„Dein Anzug ... Das wollte ich nicht.“

„Mach dir darüber keine Gedanken“, sagt er und blickt mich aufmunternd an. „Es gibt Wichtigeres.“ Dem kann ich nicht widersprechen. Müde blicke ich einen nach dem anderen an. Versuche, mir so viele Details wie möglich einzuprägen und drehe mich anschließend wieder zu Raik.

„Wir sehen uns.“ Ich umarme ihn ein letztes Mal. „Ich will nicht, dass das ein Abschied für immer ist.“

„Das ist es nicht.“ Er hat diese Sicherheit in der Stimme, die ich selber nicht fühle, an die ich aber so gerne glauben würde. „Lass dich nicht unterkriegen, hörst du?“

„Werde ich nicht, versprochen.“ Ich löse mich von Raik und schaue zu Markus. „Danke“, sage ich an ihn gewandt und blicke anschließend noch einmal in die Runde. „Euch allen.“

Ich wende mich ab, öffne die Tür zu meinem Leihwagen und werde begrüßt von Michael Meyers. Mir stellen sich sämtliche Nackenhaare auf und ich erstarre augenblicklich zu einer Salzsäule.

„Was ist das?“ Plötzlich steht Markus hinter mir und blickt neugierig über meine Schulter hinweg ins Auto. Er klingt übellaunig. Noch mehr, als den Rest der Zeit.

„Mein Handy.“ Resigniert lasse ich meine Hand von der offenen Autotür rutschen.

„Warum spielt es den Halloween Film-Soundtrack?“

„Weil Anrufe von dieser Nummer einfach zum Fürchten sind.“ Eine bessere Erklärung kann ich gerade nicht geben, denn ich sollte zusehen, dass ich mich soweit in den Griff bekomme, um diesen Anruf anzunehmen, denn von diesem Telefonat könnte mein Leben abhängen.

4 – Wie man einen Mord besser nicht begeht

„Haarmann.“

Ich werde nicht enttäuscht, als ich genau die Stimme am anderen Ende der Leitung höre, die ich so sehr fürchte.

„Herr Haarmann, Witzel hier. Schön, dass ich Sie direkt erreiche. Es wäre gut, wenn Sie Montag Zeit hätten, sich mit mir zu treffen. Selber Ort wie immer, zehn Uhr? Ich habe Ihre Papiere vorbereitet. Sobald diese unterschrieben sind, trennen sich unsere Wege.“ Während Witzel, mein Kontaktmann vom Zeugenschutz, gesprochen hat, bin ich immer weiter in mich zusammengesackt. Bei seinen letzten Worten richte ich mich allerdings ruckartig wieder auf. Ich muss mich verhört haben.

„Das können Sie nicht machen!“ Panik steigt in mir hoch wie ein Ballon. „Sie können doch nicht einfach –“

„Herr Haarmann“, unterbricht er mich ruhig, so als hätte er mit meiner Reaktion schon gerechnet und es würde ihn nicht im Geringsten interessieren. „Wir können alles am Montag in Ruhe besprechen. Sie kennen die Regeln. Nicht am Telefon. Bis Montag.“ Aufgelegt. Langsam lasse ich das Handy sinken und muss lachen. Völlig überraschend für mich und wahrscheinlich auch für alle anderen. Ich kann es nicht erklären. Es bricht einfach aus mir heraus. Irgendwann laufen mir die Tränen wieder in Bächen über die Wangen, dieses Mal allerdings nicht vor Freude, bis mein Lachen in ein Schluchzen übergeht. Ich lasse das Handy auf den Sitz fallen und kralle mich mit den Fingern in meinen Oberschenkeln fest.

„Was ist passiert?“, fragt Jörn und ich höre ihm an, wie besorgt er ist.

„Ich soll zurückkommen“, antworte ich, ohne mich umzudrehen. „Montagmorgen soll ich mich mit meinem Ansprechpartner vom Zeugenschutz treffen und meine Papiere unterschreiben. Ich bin raus.“

„Was soll das heißen?“ Raik scheint der Einzige zu sein, der nicht begriffen hat, was hier gerade passiert ist. Oder er will sichergehen, dass er es nicht missverstanden hat.

„Das heißt, ich bin zum Abschuss freigegeben. Ich hab’s versaut.“ Langsam drehe mich um und bereue es sofort. Das Entsetzen springt mich förmlich an und lässt mich zittern. Alles aus und vorbei. Man sollte eben aufpassen bei dem, was man sich wünscht.

„Und jetzt?“ Die Frage kommt wieder von Jörn. Ich weiß es nicht. Das will ich ihm gerade sagen, als Raik völlig eskaliert.

„Soll das ein Witz sein?“, schreit er und baut sich vor Jörn auf. „Nichts ist jetzt. Wenn er die Papiere nicht unterschreibt, können sie ihn nicht rausschmeißen. Er hat nichts Falsches getan.“

„Na ja, eigentlich doch.“ Dass es Christian ist, der ihm widerspricht, lässt Raik nun sogar rot anlaufen. „Ich kenne die Regeln des Programms nur aus dem Fernsehen, weil Genaueres nur die Beamten wissen, die wirklich damit zu tun haben. Aber einig sind sie sich alle, dass man sämtliche Kontakte zu Personen aus seiner Vergangenheit komplett kappen muss. Was das angeht, sehe ich hier vier Verstöße plus Mathias und Florian, die noch auf unserer Hochzeitsfeier sind, übrigens. Ich finde die Frage also durchaus berechtigt. Dieses vor den Problemen davon laufen hatten wir doch abgehakt, oder?“

„Ich laufe nicht weg.“

„Nein, du stiftest nur Johannes dazu an, es zu tun.“

„Aber im Grunde macht er doch seit Jahren nichts anderes“, sagt Markus plötzlich und sorgt damit für Stille bei allen Anwesenden, denn er hat den Kern der Sache sehr gut getroffen. „Ob jetzt unterstützt von staatlicher Seite oder allein oder wie auch immer. Weglaufen ist weglaufen.“

„Du bist also dafür, dass er die Papiere unterschreibt?“, fragt Raik ungläubig nach. „Das kannst du nicht ernst meinen!“

„Das habe ich nicht gesagt. Ich habe lediglich die Fakten aufgezeigt. Nicht mehr und nicht weniger. Die Diskussion, ob Unterschrift ja oder nein, ergibt sich aber doch im Grunde gar nicht. Wenn der Zeugenschutz sagt raus, dann ist Johannes raus. Das eigentliche Problem ist doch, dass mit dem Ausscheiden aus dem Programm der gesonderte Schutz nicht mehr vorhanden ist. Johannes ist dann ein Bürger wie jeder von uns und kann somit auch von jedem aufgespürt werden. Meinst du wirklich, wenn er sich weigert zu unterschreiben, hat das irgendwelche Auswirkungen auf das Ergebnis? Ob er dann irgendwo in der Pampa sitzt und der Staat weiß, wo er ist, oder nicht, ändert dann auch nichts mehr, sollte es noch jemand auf ihn abgesehen haben.“

„Füssen“, sage ich leise, doch die anderen haben es gehört. Als hätten sie vergessen, dass ich überhaupt da war, starren sie mich an. „Sie haben mich in einen Vorort von Füssen gesteckt.“

„Könntest du denn dableiben, auch wenn du nicht mehr im Zeugenschutz bist?“

„Ich denke schon, ja. Aber ich will es nicht.“ Erst, als ich es ausspreche, wird mir die Wahrheit der Worte bewusst. Ich habe Angst und bin unsicher. Aber mein Leben die letzten Jahre, so vermeintlich sicher es auch gewesen sein mag, habe ich gehasst. Jetzt ist es vorbei, sobald ich unterschrieben habe. Wenn ich unterschrieben habe.

„Und was hast du dann vor?“ Raik schiebt sich wieder vor mich, während er mich eingehend studiert. Ich schaue ihn an und mir treten wieder Tränen in die Augen.

„Ich weiß es nicht.“ Sofort ist er bei mir und nimmt mich in den Arm.

„Dann sollten wir es so schnell wie möglich rausfinden, oder?“ Ich klammere mich an seiner Anzugjacke fest und nicke. Ja, das sollte ich. Dringend. Dafür hab ich allerdings nur noch zwei Tage Zeit.

Jörn tritt hinter Raik und legt ihm die Hand auf die Schulter. „Was haltet ihr davon, wenn Johannes erst mal mit zu uns kommt? Julia ist mit dem Kleinen eh schon zu Hause, somit wäre Johannes nicht allein und wir könnten zur Hochzeit zurück. Ihr habt schließlich noch Gäste, um die es sich zu kümmern gilt. Morgen nach dem Aufräumen treffen wir uns und reden in Ruhe. Vielleicht können Florian und Mathias dann auch mitkommen. Flo hat bestimmt nochmal einen anderen Blick auf die Dinge.“

„Klingt gut“, sagt Raik und der Bewegung seines Oberkörpers nach zu urteilen, blickt er sich gerade um. Wahrscheinlich zu Christian. „Was meinst du?“

„Ich weiß nicht, ob das so eine gute Idee ist.“ Als ich meinen Blick hebe, schaut Christian mich entschuldigend an. „Ich meine, natürlich sollte Johannes nicht allein sein. Aber wenn ihn wirklich jemand hier erwartet, was wir ja nicht wissen – würde er dann nicht bei euch zu Hause nach ihm suchen?“ Ich zucke zusammen. Daran hatte ich nicht gedacht und anscheinend auch kein anderer. Nicht mal Markus, denke ich gehässig und realisiere, wie verletzt ich durch seine Aussagen mir gegenüber bin.

„Das war auch mein Gedanke. Die Chancen dazu halte ich zwar für gering, vor allem wenn Johannes in dem Aufzug das Haus betritt, aber willst du wirklich deine Frau und dein Kind da mit reinziehen?“, fragt Markus.

Oh ja, verletzt ist kein Ausdruck, aber Markus hat Recht.

„Ich kann auch in ein Hotel gehen“, sage ich leise und geknickt. So hatte ich mir das alles nicht vorgestellt, aber es ist nur logisch. Ich bin Kryptonit. Wer mit mir in Kontakt kommt, ist in Gefahr. So einfach ist das.

„Du kommst mit zu mir.“ Markus verschränkt zur Untermalung seiner Aussage die Arme vor der Brust, seine Miene ist verbissen, scheint keinen Widerspruch zu dulden. Ich möchte allerdings gar nicht mit zu ihm gehen und will das gerade sagen, als Jörn meint: „Auch gut. Hotel kommt nicht in Frage. Sind alle einverstanden? Markus, dann fahrt. Ich fahre mit Raik und Christian zur Hochzeit zurück, lasse sie dort raus und hole dich dann ab.“ Ohne, dass auch nur einer etwas dazu sagt, setzen sich alle in Bewegung und gehen zu dem ihm zugewiesenen Auto. Nur ich bleibe stehen. Fühle mich mal wieder in einer Tretmühle aus erzwungenem Handeln. Alles nur, weil ich irgendwann vor hundert Jahren mal dem falschen Mann vertraut habe. Aber was wäre die Alternative gewesen? Ich möchte es mir gar nicht genauer vorstellen.

„Hey“, sagt Raik plötzlich und reißt mich damit aus meinen trüben Gedanken. „Geht es dir gut?“

„Wie soll es mir gut gehen?“, frage ich nach, merke aber sofort, wie schnippisch es geklungen hat. „Tut mir leid. Es ist nur alles so viel. Wäre ich doch nur nicht hergekommen.“

„Das bist du aber, und auch wenn ich das nicht sagen sollte und es unglaublich egoistisch ist, freue ich mich sehr darüber, dass du es getan hast. Mir tun nur die Konsequenzen unheimlich leid. Aber dafür finden wir schon eine Lösung. Morgen sieht die Welt schon nicht mehr so düster aus, ja?“

„Wenn du meinst.“ Ich kann mir nur wünschen, dass er recht hat, aber momentan sehe ich da keinen Lichtblick.

„Ja, meine ich. Jetzt komm. Markus steht schon am Auto und sieht ungeduldig aus. Wir haben morgen Zeit, okay? Und du fühlst dich bestimmt auch besser, wenn du aus den Klamotten erst mal raus bist.“ Er versucht mich aufzumuntern. Das weiß ich zu schätzen, aber es funktioniert nicht wirklich. Ergeben, weil mir selber auch nichts anders einfällt und ich auch keine Lust habe, jetzt direkt zurück nach Füssen zu fahren, gehe ich um das Auto herum auf die Beifahrerseite. Verdutzt schaut Markus mich an, als ich neben ihm stehen bleibe.

„Könntest du fahren?“, frage ich kleinlaut und lasse den Kopf noch mehr hängen. „Ich kenne den Weg ja nicht und … eigentlich habe ich auch keinen Führerschein.“ So, nun ist es raus und ich warte auf das Donnerwetter, das jetzt folgt. Lange. Sehr lange. Als ich es nicht mehr aushalte und vorsichtig den Blick hebe, steht Markus noch genauso da wie vorher, mit ausdrucksloser Miene und starrt auf mich herunter bis … Ja, bis er nur nickt, auf die Fahrerseite wechselt, und einsteigt. Ich bin völlig perplex.

„Steig ein.“ Ich bin noch immer so in Gedanken über den ausgebliebenen Anpfiff, dass ich tue, was er verlangt, ohne nachzudenken. Erst als wir beide die Türen geschlossen haben und ich mich anschnalle, ärgere ich mich über mich, dass ich schon wieder einer Aufforderung einfach gefolgt bin. Krampfhaft denke ich darüber nach, ob ich auch eingestiegen wäre, hätte er es mir nicht gesagt, oder ob ich es nur getan habe, weil es mir gesagt wurde. Dann muss ich über mich selber den Kopf schütteln, weil allein diese Gedanken völlig bescheuert sind, denn ich habe Markus schließlich gebeten zu fahren, was ja in gewisser Weise voraussetzt, dass ich gewillt bin, einzusteigen, oder? Egal, ob ich darüber begeistert bin, bei ihm zu bleiben, oder nicht. Verdammt. Ich gehöre dringend ins Bett oder an einen anderen Ort, an dem ich mir die Decke über den Kopf ziehen kann und für nichts und niemanden Entscheidungen treffen muss. Auch für mich nicht. Dabei ist mir kaum etwas wichtiger geworden in den letzten Jahren, als genau das zu tun. Selbstständig und unabhängig zu sein. Mir von nichts und niemandem mehr etwas aufzwingen oder vorschreiben zu lassen oder zumindest in dem Wissen zu handeln, dass es mich früher oder später an genau diesen Punkt bringen wird. Das müssen also die Rückschläge in alte Verhaltensmuster sein, von denen meine Therapeutin immer geredet hat. Also ist das jetzt die Stelle, an der ich es akzeptieren und wieder nach vorne schauen soll. Ich habe ihn immer ausgelacht dafür. Innerlich, damit er nicht beleidigt ist. Aber mal ehrlich. Ist doch alles Scheiße. Ich werde es nie schaffen, mich davon zu lösen. Ich werde immer der kleine Asiatenbastard sein, den man rumschubsen kann. So wie es aussieht, wird sich da auch so schnell nichts dran ändern. Vielleicht sogar nie.

Markus startet den Wagen und fädelt sich in den Verkehr ein. Eine lange Weile ist es ruhig im Auto und das monotone Motorbrummen lullt mich ein. Ich schaue aus dem Fenster und hänge meinen Gedanken nach, bis Markus die Stille durchbricht.

„Du bist also ohne Führerschein unterwegs. Kannst du mir mal verraten, wie du an das Auto gekommen bist? Reine Neugierde“, fügt er nach einer Sekunde an.

„Mein Nachbar arbeitet bei einer Autovermietung. Er weiß nicht, dass ich keinen habe. Hab gesagt, ich hätte ihn vergessen, da hat er mir das Auto so gegeben.“

„Und wenn du erwischt worden wärst?“

„Bin ich aber nicht“, antworte ich schlicht. Was soll ich auch sagen. Dass ich mir da keine Gedanken drüber gemacht habe? Neben mir atmet Markus geräuschvoll aus.

„Dann werde ich dich nach Hause begleiten. Auf keinen Fall fährst du nur noch einen Meter ohne gültige Fahrerlaubnis, verstanden? Sobald wir in Füssen sind, fahre ich dann mit dem Zug zurück nach Köln.“ Ich bin so überrumpelt, dass ich es nicht schaffe, auch nur einen Ton von mir zu geben. Als ich merke, dass ich ihn nur schockiert anstarre, schaue ich schnell weg. „Was ist los?“ Plötzlich ist seine Stimme sanft, gar nicht mehr so fordernd und bestimmend wie in den letzten Stunden. Das irritiert mich noch mehr.

„Nichts“, antworte ich. Wieder atmet Markus geräuschvoll aus und wieder herrscht Stille. Nach einer gefühlten Ewigkeit parkt Markus den Wagen in einer Seitenstraße vor einem Mehrfamilienhaus, doch anstatt auszusteigen, dreht er sich auf dem Sitz zu mir um.

„Alles etwas viel, hmm?“

„Kann man so sagen.“ Ich bin müde, habe kaum noch Kraft, die Augen aufzuhalten, geschweige denn zu reden. Im Grunde möchte ich noch immer nicht hier sein, so wie er eigentlich nicht will, dass ich es bin.

„Pass auf. Wenn du nicht hierbleiben magst, dann –“

„Möchte ich tatsächlich nicht, aber darum geht es nicht.“

Überrascht reißt er die Augen auf, wendet dann aber den Blick ab.

„Es ist nur … ach, ist auch egal. Ich komm schon klar.“

„Hast du Angst vor mir?“ Die Frage trifft mich völlig unvorbereitet und ich erstarre. Was soll ich darauf sagen? „Verstehe.“ Bilde ich es mir nur ein, oder klingt er niedergeschlagen? „Ist vielleicht auch etwas viel verlangt, allein mit einem fast Fremden in seiner Wohnung zu bleiben, bei deiner Vorgeschichte. Du kannst gerne mein Schlafzimmer haben und die Tür abschließen.“ Ja, eindeutig. Er ist verletzt.

„Ich habe keine Angst vor dir, weiß der Geier warum, und ich kann auf der Couch schlafen. Mein Problem ist eher Bevormundung. Ich mag es nicht, wenn mir jemand sagt, was ich tun soll oder über meinen Kopf hinweg Entscheidungen trifft.“ Die Blöße, ihm zu sagen, dass er mir das Gefühl gibt, unerwünscht zu sein, gebe ich mir nicht. Deswegen schweige ich zu diesem Punkt.

„Mhm. Was hast du denn dann vor?“ Kalt erwischt. Daher zucke ich bei seiner schlichten Frage zusammen, was ihm nicht verborgen bleibt. Das ist der Markus, den ich kenne. Und den ich auch ein bisschen vermisst habe. Der stille Typ, der einfach da ist. Der aber auch zu viel sieht. Frustriert schließe ich die Augen und sacke noch weiter in mich zusammen.

„Das ist es ja. Ich weiß es nicht.“

Nachdem wir das betretene Schweigen hinter uns gelassen und seine Wohnung betreten haben, beginne ich langsam wieder freier zu atmen. Selber von mir genervt, will ich mir gar nicht ausmalen, wie sehr ich Markus frustrieren muss. Michael hat auch immer gesagt, ich wäre zu wankelmütig. Daher bin ich froh, dass Markus  nicht weiter auf das Thema eingeht. Ungefragt streife ich mir die Schuhe von den Füßen. Den erleichterten Seufzer kann ich nicht zurückhalten, als meine Zehen sich wieder frei entfalten können. Die Schuhe sind mir eine halbe Nummer zu klein, aber auf die Schnelle konnte ich nichts anderes Passendes auftreiben. Ich hatte auch nicht gedacht, dass ich so lange darin laufen würde. Hinter mir fällt die Tür ins Schloss und Markus geht an mir vorbei den Flur entlang, mit meiner Tasche in der Hand, die er vom Rücksitz mitgenommen haben muss. Ich habe überhaupt nicht daran gedacht. Neugierig schaue ich ihm nach, wie er das Gepäckstück in ein Zimmer bringt und anschließend zurück in den Flur kommt. Zwei Meter vor mir bleibt er stehen und deutet zu dem Raum, aus dem er gerade gekommen ist.

„Da ist das Schlafzimmer.“ Er deutet auf eine weitere Tür. „Hier das Bad. Dort die Küche. Geradeaus ist das Wohnzimmer. Fühl dich wie zu Hause und sag bitte, wenn du was brauchst, ja?“ Ich nicke zur Antwort, mehr bringe ich gerade nicht zustande. „Gut. Dann … kommst du klar? Ich kann sonst auch bleiben …“

„Nein!“, sage ich schnell. „Ich möchte nicht, dass du das verpasst. Ich habe schon genug durcheinandergebracht. Bitte, geh zurück und feier mit den anderen. Ich werde morgen auch noch hier sein, versprochen.“

„Ist gut“, antwortet er schlicht. Ich habe allerdings den Eindruck, als wäre er gerne geblieben. Ich muss mich irren, geht ja nicht anders. Außerdem sind Raik und Christian auch seine Freunde. Das habe ich heute deutlich gespürt. Die Beziehung zwischen den Männern hat sich in den letzten drei Jahren offensichtlich verändert. Ist tiefer geworden. Daher ist die Vorstellung, dass er die Feier seiner Freunde für ein paar langweilige Stunden mit mir eintauschen würde, fast lächerlich und ich verwerfe diesen Gedanken ganz schnell wieder.