Ethik des Notstandes - Lukas Ohly - E-Book

Ethik des Notstandes E-Book

Lukas Ohly

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Beschreibung

Die Legitimität von Notstandsmaßnahmen beruht auf einem eigentümlichen Zirkelschluss: Mit ihm berechtigt sich eine Regierung zu Sonderbefugnissen, die sie damit schon besitzen müsste, um sich auf sie zu berufen. Wie sollen evangelische Christen damit umgehen? Es stellt sich heraus, dass in der reformatorischen Tradition Politik immer und wesensmäßig auf einen Notstand bezogen ist. Ohne Notstand keinen Staat! Politik wird so auf die ordnungspolitische Dimension reduziert. Dieses Buch skizziert demgegenüber eine politische Theorie, die eine christliche und bürgerliche Autonomie vor staatlichen Übergriffen wahrt. Dazu werden theologische Phänomene vorgestellt, die in Balance zueinander stehen müssen, damit Politik auch in Krisenzeiten gerecht gestaltet werden kann.

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Lukas Ohly

Ethik des Notstandes

Theologische Hintergründe

Umschlagabbildung: iStock.com/Stock-Illustration-ID:669585174 (JuliarStudio); Stock-Illustration-ID:1174820504 (anuwat meereewee)

 

DOI: https://doi.org/10.24053/9783893086689

 

© 2022 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG

Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen

 

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetztes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

 

Alle Informationen in diesem Buch wurden mit großer Sorgfalt erstellt. Fehler können dennoch nicht völlig ausgeschlossen werden. Weder Verlag noch Autor:innen oder Herausgeber:innen übernehmen deshalb eine Gewährleistung für die Korrektheit des Inhaltes und haften nicht für fehlerhafte Angaben und deren Folgen. Diese Publikation enthält gegebenenfalls Links zu externen Inhalten Dritter, auf die weder Verlag noch Autor:innen oder Herausgeber:innen Einfluss haben. Für die Inhalte der verlinkten Seiten sind stets die jeweiligen Anbieter oder Betreibenden der Seiten verantwortlich.

 

Internet: www.narr.deeMail: [email protected]

 

ISSN 2626-0697

ISBN 978-3-89308-468-5 (Print)

ISBN 978-3-89308-019-9 (ePub)

Inhalt

Für Claudia1 Corona2 Notstand3 Gesellschaft4 Experten5 Kirche6 Martin Luther7 Staatsaufgabe8 Notstandsdemokratie9 Impfgegner10 Corona-Demonstranten11 Das Gute12 Fiktion13 Giorgio Agamben14 Theologische Entgiftung15 Widerfahrnisse16 Tatsächlichkeit17 Anwesenheit18 Anerkennung19 Heiliger Geist20 Trinität21 Balance22 Freihändigkeit23 Regellosigkeit24 Selbstentschuldigung25 Veräußerlichkeit26 Selbstverleugnung27 Geschichtslosigkeit28 Normalzustand29 Epidemische Lage30 Protest-Gruppen31 Impfpflicht32 Triage33 SchlussLiteraturverzeichnisLinks

Für Claudia

1Corona

Als ich begonnen habe, dieses Manuskript zu schreiben, sind in Deutschland bereits über 100.000 Menschen mit oder durch die Infektion mit dem Corona-Virus SARS-CoV-2 gestorben. Innerhalb von knapp zwei Jahren sind damit Todeszahlen in Höhe der Einwohnerzahl einer Großstadt zu verzeichnen gewesen. Im weltweiten Vergleich hat die Corona-Pandemie in Deutschland weniger stark gewütet als anderswo in der Welt. Die USA, die viermal so viele Einwohner haben als Deutschland, haben mehr als achtmal so viele Corona-Tote registriert. Weltweit sind 5,5 Millionen Menschen an der Corona-Erkrankung Covid-19 gestorben. Der Anteil Gestorbener gemessen an der Weltbevölkerung liegt etwa sechsmal höher als in Deutschland. Dieser deutliche Unterschied hat natürlich mit der vergleichsweisen guten medizinischen Versorgungslage in Deutschland zu tun, wird aber auch den effektiveren politischen Maßnahmen in Deutschland zugeschrieben. Selbst die reichste Nation der Welt, die USA, hat deshalb bis heute deutlich mehr Corona-Tote zu verzeichnen gehabt als Deutschland. Frühzeitig hatten die Bundes- und die Landesregierungen das Land zeitweise in einen Lockdown versetzt, so dass Betriebe, Kaufhäuser, Bildungseinrichtungen und Kindertagesstätten schließen mussten. Es wurden Maskenpflicht sowie strenge Kontaktbeschränkungen verordnet. Ein Infektionsschutzgesetz wurde verabschiedet und im Laufe der Krise an die Situation angepasst, mit dem bundesweit einheitliche Regelungen gewährleistet werden sollten. Selbst nach den Lockerungen wurde lange Zeit die Schule im Online- oder Wechselunterricht mit jeweils nur einem Teil einer Schulklasse organisiert. Mit einer aufwändigen Impfkampagne wurden 75 Prozent der bundesdeutschen Bevölkerung innerhalb eines Jahres zweimal geimpft, über die Hälfte sogar dreimal. Die Impfprioritäten orientierten sich dabei primär an den „vulnerablen Gruppen“, an den ältesten Bevölkerungsgruppen und Menschen mit einem erhöhten Erkrankungsrisiko. Die Teilnahme an öffentlichen Veranstaltungen ist an Bedingungen geknüpft worden, nämlich an die „G“-Regeln, entweder von der Krankheit genesen, geimpft oder von einem öffentlichen Zentrum negativgetestet worden zu sein. Dabei haben sich die Zugangsbedingungen für ungeimpfte Personen verschärft, da zunehmend 2G-Regeln nach Landesverordnung zugrunde gelegt wurden, also nur geimpfte und genesene Personen zu Veranstaltungen, in Cafés und Läden zugelassen worden sind. Bestimmte Berufsgruppen unterstehen einer Impflicht. Diskutiert wurde zwischenzeitlich eine allgemeine Impfpflicht.

2Notstand

Haben diese politischen Maßnahmen einen Notstand abgewendet? Oder belegen sie, dass sich ein Land im Notstand befindet? Sind sie also durch einen drohenden oder bereits bestehenden Notstand in Geltung gesetzt worden? Der Unterschied ist ethisch durchaus relevant. Befindet sich ein Land bereits in einem Notstand, dann lassen sich unter Umständen nicht mehr alle institutionellen Gegebenheiten gewährleisten. Es muss dann gegebenenfalls „improvisiert“ werden, ohne die rechtlich vorgeschriebenen Verfahren durchgängig zu beachten und ohne alle gültigen Gesetze zu bewahren. Auch bestimmte gesellschaftlich akzeptierte Werte können dann ihre zeitweilige Überzeugungskraft verlieren. Das trifft etwa auf die Frage zu, mit welcher Priorität bestimmte Patienten in der Behandlung anderen vorgezogen werden, wenn lebenserhaltende Instrumente nicht in ausreichender Zahl vorhanden sind (das Problem der sogenannten Triage). – Eine solche Einschätzung unterstellt, dass das verfassungsmäßige Recht für Notstände nicht ausreichend ist und dass der Staat außerrechtlicher Maßnahmen bedarf. Tatsächlich sind seit Ausbruch der Corona-Krise Grundrechte eingeschränkt worden, um das Grundrecht auf Leben weitestgehend zu sichern. Vor allem das Recht auf Freizügigkeit und das Versammlungsrecht sind dafür beschnitten worden. Auch die politischen Verfahren sind umgeleitet worden: Die meisten Maßnahmen wurden in regelmäßigen Bund-Länder-Konferenzen vereinbart, für die es jedoch kein verfassungsmäßiges Mandat gibt.

Die Einschätzung zur Effektivität der verfassungsmäßigen Abläufe ist anders, wenn sich das Land noch nicht im Notstand befindet und die politischen Institutionen aus ihrer rechtlich-politischen Stabilität heraus agieren, um ihn zu vermeiden. Im letzteren Fall wird dem rechtlichen Status quo zugetraut, alle Instrumente zur Eindämmung eines Notstandes zu besitzen. Es werden dann keine Rechte beschnitten, und die politischen Verfahren funktionieren rechtlich ordnungsgemäß. In dieser Einschätzung steht der Notstand am Rand der politischen Normalität. Krisenmanagement ist dann ein typischer Teil politischen Handelns und effektiv genug, um einen Notstand gar nicht erst ausbrechen zu lassen.

Es gibt aber einen heiklen Zwischenbereich zwischen diesen beiden Verständnissen. Er besteht darin, dass der Notstand noch nicht ausgebrochen ist, aber so sehr die gesellschaftliche Stabilität bedroht, dass sich die Regierung oder das Parlament zu einem Notstandsrecht entscheidet. Hier kommt die Akklamation des Notstandsrechts dem faktischen Notstand zuvor. Der Notstand wird zur politischen Situation erklärt, und mit ihm werden Beschneidungen von Rechten und Verkürzungen von Verfahren gerechtfertigt. Argumentiert wird einerseits aus der Sicherheitszone der Verfassungsmäßigkeit heraus, andererseits jedoch so, dass der Notstand die Rechtslage okkupiert und verändert. In diesem Zwischenbereich ist nicht mehr entscheidbar, ob sich die Gesellschaft noch vor dem Notstand befindet oder schon in ihm. Denn allein dass mit dem drohenden Notstand wesentliche Veränderungen legitimiert werden, erzeugt er schon jetzt eine eigene politische Wirklichkeit. Der Notstand soll abgewehrt werden, indem zugleich der Notstand das geltende Recht „abwehrt“ oder zumindest relativiert.

3Gesellschaft

Nach Auffassung einer Minderheit der deutschen Bevölkerung haben sich die politischen Machthaber die Corona-Krise nur ausgedacht, um die Freiheitsrechte ihrer Bürger zu beschränken und die Macht an sich zu reißen. Man mag diese Auffassungen mit „Fakten-Checks“ als „Verschwörungstheorien“ überführen. Zugleich jedoch zeigen sich damit zwei auffällige Trends: Zum einen wird die Frage des Notstandes zu einer Interpretationsangelegenheit. Zum anderen zeichnet den Notstand gerade aus, dass Fakten geschaffen werden. Beide Trends vertragen sich nur, wenn es eine maßgebliche Instanz gibt, die Fakten schafft, indem sie die Deutungshoheit hat. Aber wer die Deutungshoheit hat, ist wieder abhängig von Interpretation. Die Frage des Notstandes ist damit nicht mehr nur eine politische, sondern eine gesellschaftliche. Ob ein Notstand vorliegt, lässt sich nicht nur am politischen Verfahren ablesen, sondern auch daran, wie Staatsbürger miteinander und mit der politischen Führung interagieren.

Die Philosophin Judith Butler hat am Gewaltbegriff demonstriert, dass Gewalt bereits damit beginnt, dass die herrschende Gruppierung den Gewaltbegriff definiert.1 Butler zeigt, dass Gewalt gegen bestimmte soziale Gruppen damit legitimiert wird, dass diese Gruppen als gewalttätig stilisiert werden. Flüchtlinge gelten dann als Aggressoren, gegen die sich eine Gesellschaft wehren muss.2 Stille Proteste werden als Nötigungen interpretiert.

Dieser Mechanismus, dass die Mächtigen oder gesellschaftlich einflussreiche Gruppierungen auch über die Sprache entscheiden, lässt sich auch auf den Begriff des Notstandes übertragen. Faktisch haben die „Verschwörungstheoretiker“ insoweit recht, dass der Notstand festgestellt werden muss. Ein Notstand ist keine natürliche Tatsache, sondern ein soziales Konstrukt. Selbst wenn eine Pandemie grassiert und Millionen von Menschen in den Tod reißt, ist dieses Unglück erst dann ein Notstand, wenn er festgestellt wird. Die chinesische Regierung hatte in den ersten Wochen der Corona-Krise noch versucht, den Notstand dadurch zu verhindern, dass sie die warnenden Ärzte zum Schweigen brachte. Ein Unglück ist ein Schicksal. Ein Notstand dagegen setzt politische und moralische Rechtfertigungsinstrumente für menschliches Antwortverhalten in Stellung.

Wenn eine Regierung den Notstand ausruft, befindet sich bereits der Ausruf im Notstand. Denn er gilt als Rechtfertigungsgrund für seinen Ausruf. Er wird also einerseits geschaffen, indem er benannt wird. Andererseits wird die Deklaration des Notstandes durch ihn gerechtfertigt. Was Udo di Fabio etwas harmlos als „Präventionsparadox“3 beschreibt, beruht eigentlich auf einer logisch zirkulären Struktur im Ausruf des Notstandes, die eine Regierung zu Maßnahmen berechtigt, weil die Regierung oder die Mehrheit des Parlaments feststellt, dass sie dazu berechtigt ist. Hitlers juristischer Chefideologe Carl Schmitt sprach von einem Notwehrrecht, das seine Voraussetzungen selbst schafft.4 Diese zirkuläre Struktur ist brisant, weil sich mit ihr die Regierung einer Kontrolle entzieht, ob es den angeblichen Notstand wirklich gibt. Mit dem Notstandsargument kann sich eine Regierung aus willkürlichen Gründen in eine unangreifbare Position bringen. Carl Schmitt sah darin ein Kennzeichen staatlicher Souveränität, über den Ausnahmezustand entscheiden zu können.5

Die Corona-Krise in Deutschland hat glücklicherweise nicht zu dieser Willkürherrschaft geführt. Die deutschen Gerichte haben ihre Unabhängigkeit öfter unter Beweis gestellt, indem sie die Beschneidung von Rechten per Verordnungen für unwirksam erklärt haben.6 Allerdings ist diese zirkuläre Struktur politisch unausweichlich, wenn ein Notstand festgestellt werden muss. Er besteht, weil die Staatsgewalten sagen, dass er besteht. Mit dem Infektionsschutzgesetz haben Bundestag und Bundesrat allgemeine Kriterien für eine „epidemische Lage“ beschlossen. Die Maßnahmen zur Bekämpfung der Lage, die die Bundesregierung für wirksam gehalten hat, sind dabei während der Pandemie mehrfach im Gesetz geändert worden. Das Recht läuft den Notstandsmaßnahmen nach, denn ansonsten müsste der Notstand nicht ausgerufen werden. Konkret gezeigt hat sich diese Entwicklung daran, dass im vierzehntägigen Rhythmus neue Länderverordnungen in Kraft getreten sind. Diese waren in der Öffentlichkeit jeweils mit Spannung erwartet worden, weil man eben nicht sicher sein konnte, wie der Notstand von den Regierungen jeweils interpretiert worden ist.

Der Notstand ist also das Ergebnis einer Interpretation der Lage. Daher ist es nicht überraschend, wenn eine Opposition die herrschende Interpretation für unberechtigt hält. Auch die Opposition interpretiert die Lage. Und wenn die Regierung ihre Entscheidung mit einer Interpretation legitimiert, dann besteht logisch ein Patt in der Begründungsform der Situation zwischen Regierung und Opposition. Als Unterschied kann dann nur geltend gemacht werden, dass die Regierung die Regierung ist und damit einen Machtvorteil besitzt. Und das heißt nichts anderes, als dass die Entscheidung, ob ein Notstand herrscht, eine bloße Machtentscheidung ist. Mögen Notstandsbefugnisse mit dem Grundgesetz gerechtfertigt werden können, so heißt das nicht, dass der Notstand mit zur Ordnung gehört, die er außer Kraft setzt. Die zirkuläre Begründung des Notstandes kaschiert aber genau diesen Widerspruch. Und das heißt zugleich, dass die verfassungsrechtliche Ermöglichung des Notstandes den Zirkelschluss kaschiert.

Noch einmal zum Vergleich mit einer politischen Entscheidung im „Normalzustand“: Hier gehört die Machtentscheidung zum typischen Prozedere und verbleibt im Rahmen der politischen Ordnung. Regierung und Opposition mögen die Lage unterschiedlich einschätzen, etwa zur Portoerhöhung von Postsendungen. Aber gleichgültig, welche Interpretation sich durchsetzt, verbleibt die Entscheidung im Rahmen der politischen Ordnung. Wird aber eine Lage als Notstand eingeschätzt, so verändert sich die politische Ordnung. Und eine Regierung, die ihre Interpretation der Lage dazu geltend macht, benutzt den Rahmen der politischen Ordnung, um diese anzutasten. Die Deklaration des Notstandes gibt sich also die Legitimation über eine Ordnung, die sie zugleich teilweise außer Kraft setzt. Deshalb ist es zwar eine grobe Vereinfachung, wenn verschwörungstheoretisch suggeriert wird, die Gefahr für die Gesundheit der Bevölkerung würde nicht bestehen, wenn die Regierung den Notstand nicht erfunden hätte. Und doch bestätigt sich, wie bedeutsam Interpretationen für die Frage werden, ob ein Notstand besteht oder nicht. Es verwundert dann nicht, dass die Opposition Gegennarrative entwickelt, denn auf der Ebene der Narrative wird über den Notstand entschieden. Narrative bleiben aber abhängig vom Erzähler, sonst berichtet man Tatsachen. Darin besteht ihre Zirkularität.

4Experten

Ein weiteres Narrativ entwickeln Experten. Die Wissenschaft sichert ein Narrativ ab mit einer evidenzbasierten Nötigung: Hier wird nun nicht einfach ein Notstand erklärt oder wegerklärt, sondern die Situationseinschätzung mit Datenmaterial unterstützt. Während die herrschende Mehrheit und die Minderheiten um die Macht der Notstandsfeststellung streiten, hat die Wissenschaft über ihr Narrativ noch die Überzeugungskraft der vernünftigen Einsicht auf ihrer Seite. Das wissenschaftliche Narrativ wird seinerseits wissenschaftlich kontrolliert. Auch darin steckt eine Zirkularität, weil man die Geltung wissenschaftlicher Ansprüche bereits akzeptiert haben muss, um ihre Kontrolle von wissenschaftlichen Aussagen anzuerkennen. Zumindest aber hängt die Notstandsfeststellung nicht nur von Interpretationen von Sachlagen ab, sondern auch von der Interpretation wissenschaftlich erhobener Daten und Modelle. Und wenn sich beide Interpretationen entsprechen, obwohl sie durch verschiedene Verfahren zustande gekommen sind, erhöht sich die Plausibilität des wissenschaftlichen Narrativs.

Mit erstaunlicher Mediensicherheit haben sich Immunologinnen, Virologen, Statistikerinnen und Mitglieder des Deutschen Ethikrats während der Corona-Krise in der Öffentlichkeit inszeniert. Geschickt haben sie ihre Szenarien der Auswirkungen der Pandemie laiengerecht einem breiten Publikum erklärt, indem sie regelmäßig Podcasts oder Erklärvideos hochgeladen haben. Damit konnten sie den Eindruck abwehren, dass es eine Macht des Wissens gäbe – analog zur Macht einer Regierung, einen Notstand auszurufen. Der Notstand wird wissenschaftlich nicht deshalb festgestellt, weil Wissenschaftlerinnen sagen, dass er besteht, sondern nur sofern dem Personenkreis, der sich auf allgemein zugänglichen Kanälen populärwissenschaftlich informiert, die Situationseinschätzung einleuchtet. Hier wird nicht einfach an die Vernunft appelliert – was tatsächlich zirkulär wäre, weil jemand bereits zugestimmt haben muss, sich von der Vernunft rufen zu lassen, um sich an sie zu binden. Vielmehr wird erhofft, dass die eigene Vernunft von selbst geweckt wird, wenn jemand die Informationen der Podcasts nachvollzieht. Wissenschaft rechnet mit der Selbstevidenz des rationalen Mitvollzugs. Das ist auch ein Zirkel, aber kein logischer Fehler, der immer schon voraussetzt, was er beweisen will. Vielmehr verweisen das bloße Mitdenken und Nachvollziehen von Argumenten auf den Prozess des Mitdenkens und Nachvollziehens, der in diesem Moment unhintergehbar ist, wo mitgedacht und nachvollzogen wird. Vernunft bildet sich von selbst im Denkvollzug. An die Vernunft zu appellieren kann also höchstens darin vernünftig sein, dass jemand diese Zirkularität anerkennen soll, die beim Denken unvermeidlich ist. Das würde bedeuten, dass sich jemand reflexiv an diese Zirkularität bindet, die er beim Denken einfach so vollzieht. Mit dieser Anerkennung hätte er dann eine moralische Entscheidung getroffen und damit mehr getan als nur gedacht. Das ist es, was man einen „hermeneutischen Zirkel“ nennt, der allgemein akzeptiert ist1 – natürlich nur, wenn man bereit ist, wissenschaftlichen Argumenten überhaupt zu folgen.

Deshalb ist das wissenschaftliche Narrativ so mächtig: Er beansprucht nämlich, nur wirkungsvoll zu werden in einem vernünftigen Denksubjekt. Seine Macht ist die eigene Macht der Vernunft in mir und keine fremdbestimmte Herrschaft von Experten.

Allerdings lässt auch die wissenschaftliche Interpretation viele Lücken. Zum wissenschaftlichen Diskurs gehört der Dissens. Wissenschaftlerinnen widersprechen sich und schätzen die Lage unterschiedlich ein. Wessen Argumenten soll ich folgen? Das Problem vertieft sich nämlich dadurch, dass ich wissenschaftliche Narrative zwar nacherzählen kann, aber da ich selbst kein Experte bin, kann ich nicht selbst mit wissenschaftlicher Evidenz neue Interpretationen erzählen. Ich bleibe also abhängig von den Informationen, die mir Experten aufbereiten. Diese Abhängigkeit kann ich wiederum als Macht der Experten interpretieren und ihre moralische Legitimität zurückweisen.

Bestärkt werde ich dabei sogar von den Entscheidungen der Regierung, die nicht alle Vorschläge der Wissenschaft umsetzt. Die Regierung macht es mir vor, dass wissenschaftliche Diagnosen und Prognosen nicht zwangsläufig schon in politische Maßnahmen überführt werden. Wenn doch die Regierung die Expertise unterläuft, kann ich sie auch skeptisch betrachten und muss sie nicht in mein Narrativ integrieren. Wissenschaft vermittelt insofern den Eindruck, zum ausbeutungsfähigen Instrument der Machtsteigerung der Regierung werden zu können, die die Expertenergebnisse nur selektiv aufnimmt und damit demonstriert, dass sie selbst nicht evidenzbasiert agiert, sondern machtstrategisch. Wenn also in Frage steht, ob die Lage ein Notstand ist, spitzt sich die Kontroverse darauf zu, wer die Macht hat, die Regierung oder die außerparlamentarische Opposition. (Denn eine parlamentarische Opposition würde ja noch das System anerkennen, aus dem die Regierung sich selbst legitimiert, um den Notstand auszurufen.) In dieser Kontroverse schmilzt die wissenschaftliche Nüchternheit dahin und wird von allen Kontrahenten für ihr politisches Interesse instrumentalisiert: In den Augen der Opposition befindet sich die Wissenschaft in der Gewalt der Politik, so dass man ihr nicht trauen kann. In den Augen der Regierung ist die Opposition eine Minderheit von esoterischen Spinnern, die selbst wissenschaftliche Evidenz nicht akzeptiert.

5Kirche

In der Corona-Krise hat sich die katholische Kirche weitgehend eine autonome Position zu den politischen Maßnahmen gegeben. Die Verordnung des ersten Lockdowns im März 2020, nach der Präsenzgottesdienste ausfallen mussten, kollidierte mit der kirchlichen Messpflicht. Die katholische Kirche hatte daher nach dem Lockdown als erste wieder Präsenzgottesdienste gefeiert und auch bei späteren Aufforderungen der Öffentlichkeit, an Weihnachten Präsenzgottesdienste ausfallen zu lassen, auf das Recht der freien Religionsausübung gepocht.1

Im Gegensatz dazu haben die Gliedkirchen der Evangelischen Kirche in Deutschland die staatlichen Verordnungen weitgehend ohne Protest umgesetzt. Elisabeth Gräb-Schmidt spricht gar von einem „vorauslaufenden Gehorsam“2. Die Kritik der evangelischen Kirche gegen staatliche Maßnahmen richtete sich hingegen vor allem auf bereits aufgehobene Beschränkungen. Demgegenüber war von einem Protest gegen das bestehende Besuchsverbot gegen Klinikinsassen und Heimbewohner weitgehend nichts zu hören, sogar wenn es den Seelsorgerinnen selbst verboten war, die Einrichtungen zu betreten.3 Ich erinnere mich an eine Pfarrerin, die mir gegenüber im Sommer 2021 bekannte, sie sei für die politischen Beschränkungen gewesen. Das ist deswegen merkwürdig, weil die politischen Beschränkungen seit März 2020 inhaltlich sehr unterschiedlich waren und sich auch widersprochen hatten. Nach den Lockerungen des ersten umfassenden Lockdowns wurden bis in den Herbst 2020 kaum neue Beschränkungen erlassen, obwohl Medizinerinnen und Statistikerinnen dazu aufgerufen hatten. Die Zufriedenheit der Pfarrkollegin schien sich wohl eher auf den Gesamteindruck zu beziehen, dass der Staat überhaupt die Ordnung regulierte.

Worauf beruhen diese Unterschiede zwischen der katholischen Reserviertheit und der evangelischen Nibelungentreue gegenüber den staatlichen Entscheidungen? Ich vermute, dass sie sich mit den unterschiedlichen Staatsverständnissen erklären lassen, die sich in der Tradition gebildet haben. Die katholische Weltkirche, die im Papst ein zentrales Oberhaupt hat, steht ihrem Wesen nach distanziert zu den Ordnungen einzelner Staaten. Sie ist überstaatlich organisiert. Dadurch kann sie in undemokratischen Staaten die Religionsfreiheit als Naturrecht einfordern und zugleich in freiheitlichen Staaten um bestimmte Privilegien gegenüber anderen Religionsgemeinschaften verhandeln. Sie organisiert sich als möglichst unabhängig von staatlichen Ordnungen.

Anders verhält es sich mit der evangelischen Kirche. Das ist schon an ihrer historischen Entstehung ablesbar. Die reformatorische Bewegung hat sich nur durch die Unterstützung von Fürstentümern behaupten können. Der Augsburger Religionsfrieden von 1555 band die Religionsfreiheit des evangelischen Glaubens an den Glauben des jeweiligen Fürsten. Noch bis zum Ende des Ersten Weltkriegs bestand das sogenannte „landesherrliche Kirchenregiment“, das dem jeweiligen politischen Oberhaupt auch einschneidende Befugnisse über die kirchlichen Ordnungen gewährte, aber auch umgekehrt die Kirche unter seinen Schutz stellte. Die Weimarer Verfassung hob zwar die Staatskirche auf, gewährte aber den Kirchen den Status der Körperschaft öffentlichen Rechts (Art. 137 Abs. 5 WRV) und damit eine dichte Anbindung an die staatliche Ordnung bei aller innerkirchlichen Selbstständigkeit (Art. 137 Abs. 3 WRV). Bis heute ist die evangelische Kirche regional organisiert und lehnt sich in Deutschland territorial locker an die Grenzen der Bundesländer an. Die Koordination von Kirche