"Eugens Steppe" - Christian Behrens - E-Book

"Eugens Steppe" E-Book

Christian Behrens

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Beschreibung

"Ich rede von diesen beschissenen Versuchungen überall in diesem Deutschland, von den Dingen, die dir dein Hirn verkleben … du wirst nachgeben und das macht mich so wütend! Du wirst den Verlockungen erliegen und glauben du hättest hier eine Heimat gefunden. Geh' zurück, geh' in dein wahres Leben." Wo endet Migration und wo beginnt Heimat? Eugen Schreiber kommt aus Kasachstan nach Deutschland, um hier seinen Traum von einem besseren Leben zu verwirklichen. Doch trotz eines deutschen Passes, ist der junge Russlanddeutsche ein Fremder in diesem Land. Als Unterqualifiziertem bleiben ihm nur schlecht bezahlte Helferjobs. Weil er in Kasachstan Umgang mit Pferden hatte, stellt ihn ein Schmied als Helfer ein. Mit seinem Chef arbeitet Eugen in den verschiedenen Reitställen und lernt die Lebenswelt der unterschiedlichsten Menschen und ihrer Pferde kennen, eine absurde Gegenwelt zum Wohnheim, in dem Eugen lebt. Dort erfährt er das Gefühl der Isolation, da er sich weder als Asylant empfindet, noch wirkliche Anknüpfungspunkte in seiner neuen deutschen Heimat findet. Eugen steigert sich zunehmend in den Glauben hinein, dass nur der materielle Erfolg seine seelische Zufriedenheit herbeiführen kann, ihn hier endlich heimisch werden lässt. In Tagträumen - Starrungen - erinnert sich Eugen an die ihm vertraute Welt in Kasachstan, zu der auch die Frau seines Bruders gehört. Eine Seelenverwandte, ein uneingelöstes Versprechen … schmerzende Erinnerungen aus einer archaischen Welt. Als Eugen feststellt, dass er durch die harte körperliche Arbeit seine Wünsche nicht erfüllen kann, beschließt er, seinen erfolgreichen Cousin Arthur und dessen Frau Irina zu besuchen. Eine Entscheidung, die ihn erkennen lassen wird, wozu er wirklich fähig ist.

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Seitenzahl: 200

Veröffentlichungsjahr: 2012

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Eugens Steppe

Eine moderne Parabel

Roman

Jan Christian Behrens

Copyright © 2024 by Christian Behrens

Sofiedalvej 6

DK-6360 Tinglev

E-Mail: [email protected]

All rights reserved.

No part of this book may be reproduced in any form or by any electronic or mechanical means, including information storage and retrieval systems, without written permission from the author, except for the use of brief quotations in a book review.

Inhalt

Einstieg

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Ausstieg

Einstieg

Kolja drückt mir seine Hand auf die Schulter. Ich mag diese gespielte Zärtlichkeit nicht, sie macht mir sogar Angst. Aber jetzt, hier in dem Stehcafé, unter all diesen schwachen Nachgebern, fühle ich durch diese Hand etwas Kräftiges, Familiäres, etwas von meinem Stamm, das mich satt in der Höhle schlafen lässt, während draußen der Sturm tobt. Beinahe hätte ich meine Wange auf Koljas grobe Hand gelegt, doch ich kann mich mittlerweile beherrschen.

An dieser Stelle möchte ich, Eugen Schreiber, darauf hinweisen, dass wir zu keinem Zeitpunkt ein freundschaftliches Verhältnis hatten. Im Gegenteil: Koljas oberflächliches Lächeln und seine brüderlichen Berührungen lassen keinen Zweifel daran, dass ich nur ein notwendiges Übel bin.

Wir geben uns die Hände. Meine Hand bemüht sich kräftig, seiner etwas Bemerkenswertes entgegen zu drücken. „Der Wagen steht bei den Taxis!“ Kolja macht eine auffordernde Kopfbewegung.

Am Taxistand erwartet uns schon ungeduldig einer von diesen 'Wartepfeifen', die das Abhängen zum Beruf kultivieren. Als er sich sicher ist, dass wir zu dem Wagen auf seinem Platz gehören, baut er sich vor Kolja auf und droht mit Anzeige, Polizei und überhaupt, wie er dazu käme ... Ich setze mich gleich in den Wagen.

Kolja kenne ich noch nicht sehr lange, aber vom Typ her ist er eher ruhig, jedoch völlig unberechenbar. Kolja geht provozierend langsam um seinen Wagen und sucht die wütenden Augen des Kläffers. Dabei öffnet er scheinbar nebensächlich seine Jacke, unter der kurz eine Automatikpistole zum Vorschein kommt. Er setzt sich genervt zu mir in den Wagen und startet den Motor. Bis wir auf die Hauptstraße einbiegen, sehe ich noch, wie sich der Taxipenner erschrocken auf seinen Lammfellsitz fallen lässt.

Da es bisher in solchen Situationen zu keinerlei Konsequenzen für uns kam, wich meine anfängliche Angst einem angenehmen Gefühl der Bequemlichkeit. In Koljas Nähe fühle ich mich trügerisch sicher. Mir ist durchaus klar, dass seine Entgleisungen sich auch gegen mich richten könnten. Wir biegen auf die Hauptstraße ein.

Durch die verschmierten Autofenster überdenke ich, was sich bald abspielen wird. Es ist mir in seiner ganzen Auswirkung bewusst und äußert sich danach jedes Mal von Neuem in denselben Symptomen: Schlaflosigkeit, das erschreckende Spiegelbild am Morgen, mit der ungläubigen Miene, sich erkannt zu haben.

Das Wort 'abspielen' wähle ich übrigens aus dem Grunde, da es sich dabei um eine filmreife Szene handeln wird. Nur die Darsteller werden improvisieren. Wir haben gar kein richtiges Drehbuch, eher eine vorgegebene Rahmenhandlung, in der wir frei agieren können. Kolja ist dabei sehr wichtig, denn er hat als Regisseur und Hauptdarsteller das gewisse Einfühlungsvermögen, wann man eine Szene schneller machen muss, oder wann in einem Dialog eine Pause gesetzt wird. Jedenfalls hat er unter seinem fein rasierten Kinn eine bläuliche Tätowierung auf dem Hals, so eine primitive Erinnerung an den Knast. Kolja trägt immer noble Klamotten, aber diese Tätowierung mit ihrer dilettantischen Machart verstärkt nur seine Gefährlichkeit.

Was mich angeht, so bin ich von seiner Hemmungslosigkeit fasziniert. Nicht der kindliche Drang, ihm gefallen zu wollen, hält mich bei ihm (oder etwa das billige Abkupfern seiner Methoden), sondern mir war schnell klar, dass Kolja in dieser Gesellschaft ein natürliches Phänomen darstellt, ein nicht erklärbares Naturschauspiel, dem die Zivilisation nichts weiter entgegenzusetzen hat, als ein hilflos staunendes Beobachten. Wie er diese hilflose Ohnmacht erzeugt und was sie in mir hinterlässt, ist der Grund für meine treue Gefolgschaft.

Der heutige Fall, wegen dessen wir uns getroffen haben, behandelt einen russischen Bauingenieur, der, aufgrund einer fehlenden Zulassungs-voraussetzung, seiner Arbeit hier nicht mehr nachgehen darf und aus Mangel an finanziellen Reserven beträchtliche Verbindlichkeiten bei Koljas Auftraggebern hat.

Ich bin mir nicht ganz sicher, was ich von Koljas Einführung halten soll. Im ersten Moment hört es sich nach einer einfachen, moralisch unverfänglichen Situation an, mit der ich mich anfreunden könnte: klare Grenzen, in denen man das Wort sucht, ohne aufzugeben, wo alles kultiviert und harmonisch verläuft. Jedoch liegt die Unwägbarkeit in den Möglichkeiten, wie die Natur sich ihre Bahn brechen wird, ehe sie uns aufklärt.

Wir biegen in eine Hochhaussiedlung ein. Auf einer Hauswand steht 'QUADRATISCH, PRAKTISCH, WUT!!!!' gesprayt. Mehrere Typen stehen um ein Auto herum, dessen Türen offen sind. Der Homeboy im Wagen beschallt mit tiefen Bässen die Nachbarschaft, fuchtelt mit einem Butterfly herum; die anderen rauchen linkisch, rotzen nach jedem Wort vor sich auf den Boden.

Die Hausnummer neun zu finden, ist schwierig. Alle Lampenkästen mit den aufgeklebten Hausnummern sind runtergerissen worden.

Mein eigentliches Interesse gilt mehr dem gegenüberliegenden Waldstück. Die Häuserblocks grenzen direkt daran an, sodass der Eindruck entsteht, hier wird der Zivilisation Einhalt geboten und die Wildnis hier beginnt. Mich überfällt eine feuchtwarme Automüdigkeit und der Wald lockt meine Sinne. „Wir sind da!“ Koljas Stimme klingt erleichtert. Wir schälen uns aus unseren Sitzen, gehen zum Hauseingang. Eigentlich suche ich den Namen des 'Kunden' nicht wirklich.

Den glutenden Horizont vor Augen, umfängt mich die Dunkelheit hinterrücks. Mein Blick schweift wieder zum Wald. Bäume wiegen sich im Wind. Ich nehme noch einen Luftzug, bevor Kolja mich in den Eingang zieht. Wie warm hier die Winter sind! Die Tür drückt sich stotternd zwischen mich und meinen Wald.

Im Inneren des Hauses beängstigendes Gekreische und Stöhnen, dazu Musikfetzen, Licht an – aus, Hundegebell, kein Mensch da. Es riecht nach Pisse, Farbfratzen an den Wänden, ein Knall, Glas splittert, Gelächter. Wir stehen vor der Tür. Ein leichtes Schwindelgefühl, ich stütze mich an der Wand ab. Kolja bedeutet mir zu klingeln. Er bezieht Deckung an der Wand. Mir wird übel.

Die Tür wird geöffnet und zum Vorschein kommt ein feines, freundliches Gesicht. „Ja bitte?“ „Sind sie der Ingenieur?“, frage ich stockend. Es bejaht und nickt.

Kolja drückt mich zur Seite und tritt mit voller Kraft gegen die Tür. Augenblicklich platzen die Lippen des Arztes, sein Nasenbein bricht, da die Türkante direkt in sein Gesicht schlägt. Durch die Wucht wird er nach hinten geschleudert, wo er nach zwei Schritten die Balance verliert und auf die Mülltonne fällt. Kolja bringt sich in Stimmung. Seine pulsierenden Halsadern hauchen der Tätowierung jetzt Leben ein. „Pass auf, alter Mann, ich frage dich nur ein Mal: Wo ist das Geld?“ Koljas Stimme ist ruhig. Seine Professionalität beeindruckt mich immer wieder. Der Ingenieur röchelt irgendetwas; Blut läuft ihm in den Rachen.

Ein kleines Mädchen steht in der Tür und beobachtet mit versteinerter Miene die Szene. Die Tochter des Blutenden. Kolja steht mit einem Fuß auf dem Hals des Vaters und dreht sich dann zu mir um: „Kümmere dich darum!“

Jetzt trete ich über die Schwelle - in den inneren Kreis. Ungewollt und doch mit Absicht. Erliege dem unwiderstehlichen Duft, der aus dieser Wohnung strömt und mich aus den friedlichen Tiefen meines Waldes lockt, mich bis aufs Blut reizt, mich durch das Treppenhaus jagt und mich meiner Erlösung entgegen stürmen lässt. Meine Hände verschließen die Tür.

Der Vater hebt den blutenden Kopf und deutet mit der Hand auf seine Tochter. Ihre Hand liegt jetzt in meiner und wir sind in ihrem Zimmer.

Ein Raum, scheinbar luftleer, alle Gesetze außer Kraft. Tatsächlich existiert nur dieser Raum; schon der Rest der Wohnung ist nicht mehr real und verlässt uns. Die Schreie des Vaters, ihres Schreckens durch die Entfernung beraubt, verklingen weit hinter uns.

Sie setzt sich auf das Bett, starrt in den kleinen Fernseher. Ich sitze neben ihr, streiche ihr die stumpfen Haare nach hinten und spüre des Vaters Hilflosigkeit. Sein sinnloses Aufbäumen gegen mein sanftes Kosen ihrer Wangen. Sie beginnt zu schluchzen.

Nur wir zwei, auserwählt, in unserem Raum, losgelöst vom Menschsein. Wir verabschieden uns zu Horizonten, die uns wirkliche Freiheit versprechen. Geistesabwesend, den Fernseher nicht aus ihrem Blick verlierend, dreht sie sich leise wimmernd zur Seite. Unter ihrer Schlafanzughose erblicke ich kurz ihre Schenkel… Elfenbein! Wie wahr hier dieses Wort ist! Meine Hände drücke ich gegen ihre Ohren. Ihr Vater muss viel erleiden. Meine Hände streicheln ihre Zartheit und ich schließe ruhig die Augen.

Hiermit beschließe ich,

kraft der mir übertragenen Verantwortung für diesen Raum,

mein Recht wahrzunehmen, alle Gesetze aufzuheben.

Des Weiteren sind den Trieben und Instinkten eine

Generalamnestie zu gewähren. Um dies durchzusetzen, ist

Gewalt unbedingt anzuwenden und straffrei zu ahnden.

Da wir uns in einem Ausnahmezustand befinden,

ist das oben Genannte gerechtfertigt, um dem Chaos ein

Ende zu setzen.

Sie sitzt auf meinem Schoß. Das Streicheln scheint sie beruhigt zu haben, ihr Wimmern hat aufgehört. Während ich ihren Duft einatme, legt sie ihre kleinen Arme um meinen Hals.

So viel Liebe! So viel Glück, nur für uns zwei! Meine Augen schwanken, taumeln umher, doch bevor ich sie schließe, fallen sie auf ein Poster an der Wand. Ein kleines, weißes Lämmchen, das auf einer satten Frühlingswiese steht.

Ich betrachte es sehr lange, bis nach und nach seine Konturen verschwimmen und ich nur noch die Augen erkenne. Schwarze Augen, tiefe, schwarze Knopfaugen, die mich anstarren, fixieren, die mich durchbohren. Sie dringen ein in meinen Raum, in mein mühsam aufgebautes Reich und zerschmettern alles mit einem Schlag. Ich bin wie gelähmt. Kann mich nicht mehr abwenden. Da hebt es plötzlich den Kopf und spricht zu mir:

„Siehe, für mich war es nur ein Augenblick,

der dich im Innersten erschüttert hat und du

erkennst wohl, dass ich stärker bin, denn du

bist nur ein schwacher Herrscher, mit einem

kleinen Reich. Unser Kampf war kurz, deshalb

bin ich voller Gnade und überlasse dich nicht

der entfesselten Urgewalt, die jene zerschlägt,

welche sich vorher an ihrer Macht berauschten

und sich meiner Blicke widersetzten. So stelle

ich dich jetzt unter meinen schützenden Schild,

du stehst in meiner Schuld, ob du willst oder

nicht. Bedenke diese Worte wohl!“

Meine Hand streichelt das Mädchen wohl schon eine ganze Weile. Ihr Körper hängt müde an meiner Brust. Das Warten hat sie viel Kraft gekostet.

Durch die Dunkelheit des Zimmers sehe ich hinüber zu dem Fenster, starre auf die weit entfernten Lichtpunkte, die schwach im Nachthimmel flackern. Diese beängstigende Höhe raubt mir den Atem. Lautlosigkeit. Mein rauschender Blutstrom verlangt nach einer Zigarette. Das Mädchen setze ich neben mir auf das Bett. Ihre Augen wenden sich überrascht und fragend vom Fernseher ab. Im dunklen Zimmer, am geöffneten Fenster, sauge ich mit dem Rauch den milden Winterabend ein und vernehme entfernt, durch Luftmassen gefiltert, Irdisches. Stillstand, Ruhe, Nichts.

Die Tür fliegt auf, Kolja stürzt herein. Er sieht kurz auf uns und grinst. Er rät mir, ich sollte mich jetzt besser auch schnell verpissen.

„Ich kann dich nicht mitnehmen, muss noch einen Privatauftrag erledigen.“

Hoffentlich denkt er an meine Bezahlung. Es würde mich Überwindung kosten, ihn öfter darauf anzusprechen, aber ich brauche das Geld.

Im Wohnungsflur klebt überall Blut, die Kampfspuren an den Pressholzmöbeln weisen mir den Weg in die Küche. Hier liegt der Vater: Benommen, blutig, auf grauem Linoleum. Den Kopf an die Wand gelehnt, scheint er Kolja nichts entgegen gesetzt zu haben.

Langsam taste ich mich in die Küche hinein, bleibe dann stehen. Nicht das viele Blut lässt mich zögern, es sind seine Augen. In der Brechung das Versagen, die Unfähigkeit zu beschützen. Durch die physische Unterlegenheit, der Liebe die Berechtigung genommen zu haben. Man muss der Wahrheit ins Gesicht sehen: Reden ist Silber, schlagen ist Gold!

Das Mädchen sitzt noch immer verstört vor dem Fernseher im Kinderzimmer. Leise, kaum hörbar, flüstere ich ihr zu, dass ich den Notarzt gerufen habe. Wohl mehr zu meiner eigenen Beruhigung. Beim Verlassen der Wohnung erkenne ich mich wieder, streife alles ab, lass es hinter mir, entferne mich, schnell, schneller.

Das Licht ist aus! Dunkelheit! Lichtfetzen quellen aus den Türspalten, halten mich fest, am Abgang, befreie mich, nicht stehen bleiben, die Treppe und der Abstieg in die Welt beginnt! Hastig gerannt, halb gesprungen. Unten empfängt man mich mit Gebrüll. Zwei Hunde springen, mein Körper an der Wand, Wegrutschen, Schmerzen im Knie. Raus, fort von den Hunden, die Tür schlägt zu.

Unmöglichkeit des Stehenbleibens. Schnell, zwei Steinplatten auf einmal, planloser Rückzug aus der Siedlung am Rande der Stadt. Flucht in die Zivilisation. Das Gehen wird zum Rennen.

Im Wald beruhigt der tiefe, nasse Boden meinen ängstlichen Bewegungsdrang und ich bemerke, wie wieder das Denken von mir Besitz ergreift. Durch das Dickicht kann ich die Lichter einer großen Straße erkennen. Über bemooste Autoreifen und alte Plastiktüten arbeite ich mich dorthin vor. Auf dem festen Boden angekommen, gehe ich ein Stück die Straße entlang.

Der Fußgängerweg ist gesäumt mit Werbeplakaten, auf denen eine Krankenschwester zu sehen ist, die irgend so einen Schokoriegelscheiss zwischen ihre Titten geklemmt hat. Ich gehe weiter.

Die U-Bahn fährt gerade davon. Warten. Lasse mich auf einem Plastiksitz nieder und betrachte den Boden. Der nächste Zug fährt ein. Ein milder Wind bläst mir die Haare ins Gesicht. Es ist spät. Im Wagen nur ein junges Pärchen, vertieft ins Liebesspiel. Ich setze mich in die Reihe dahinter. Im Glas spiegeln sich die Beiden und ich kann sie gut erkennen. Der Typ ist groß und muskulös, macht sich über das Mädchen her, schlägt die Zunge immer tiefer in den Hals. Sie presst ihren Unterleib wie eine in die Enge getriebene Wespe an den Oberschenkel. Seine Hand sucht das Naheliegendste unter dem Sweater. Beim Öffnen ihrer Augen blickt sie über seine Schulter hinweg auf mich und beginnt mich anzuglotzen, versucht ein Lächeln mit seiner Zunge im Hals, breitet langsam ihre Beine auseinander, die Schlampe.

Ich wende mich ab und gucke aus dem Fenster. An meinem Starren ziehen Lichter vorbei, reißen lange Wunden in die Dunkelheit. Ich sehe das kleine Mädchen auf dem Bett. Wartend starrt es in den Fernseher. Es wendet sich um. Es hilft beim Öffnen des Gürtels. Es zieht die Hose herunter. Es setzt sich auf den Schoß. Leises Wimmern. Der Fernseher ist aus. Er war immer aus. Sie hat ihrem Vater wohl sehr oft helfen müssen.

Morgen muss ich Kolja nach dem Geld fragen. Vielleicht hat er ja einen neuen Job für mich. Ich brauche die Kohle, ich brauche Kolja. Ich glaube, er war schon immer ein Teil von mir.

KapitelEins

Seht ihn euch an! Ein Kerl wie ein Baum. Hoch gewachsen in vollem Saft. Der blonde Scheitel fällt ihm immer wieder über das blauäugige Gesicht. Seine trockenen Muskeln, bespannt mit feiner, ehrlicher Haut. Wie er sich bewegt! Die Natur ist edel und gut, aber davon weiß er nichts. Ein Sohn, ein Bruder, ein Freund, wie man ihn trefflicher wohl nirgends findet. Seht ihn euch nur genau an!

Eugens Entscheidungsfähigkeit hat durch die bunten Warenangebote stark gelitten. Es verwundert nicht, wenn er deshalb in der Mitte geht und sich den Schaufenstern beiderseits der Fußgängerzone aus sicherer Entfernung widmet. Es regnet einen warmen Winterregen, den er nicht wirklich bemerkt. Und so drängelt er sich nicht wie all die anderen an den Shops und Geschäften entlang, um der Natur aus dem Wege zu gehen.

Hier und da bleibt Eugen stehen und betrachtet von Weitem die Auslagen. Diese Fülle an nützlichen Dingen. Und wie schön sie sich anschauen lassen!

Er ist angekommen, in seiner neuen Welt, in der es alles für den Menschen gibt.

Sie schenkt ihm das gute Gefühl, die Wahl zu haben. Auswählen zu können, so willkürlich, wie ein Fürst es in seiner launischen Art tun würde. Des Ganzen kann er habhaft werden, zunächst natürlich nur mit dem Auge. Aber wenn er sich ranhält, fleißig arbeitet, ist alles möglich für einen kräftigen jungen Mann, sofern er den festen Willen hat, hart zu arbeiten, sich nicht schont und ein waches Auge hat für das Neue, denn man würde ja nie auslernen.

So hatte es ihm sein Vater eingebläut, der soviel von den urdeutschen Tugenden zu diktieren wusste, in den Weiten Zentralasiens...

Er stoppt vor einer der Fensterfronten. Mindestens zwanzig verschiedene Fernsehgeräte stehen dort zu einer Wand formiert, um die Bildqualität besser vergleichen zu können. Sie sind alle auf denselben Kanal eingestellt. Ein bärtiger Mann mit Turban und abgewetzten Sandalen feuert eine Panzerabwehrrakete auf ein Dorf. Dann sieht man das Dorf, wie gerade Schutt beseitigt wird. Neben geschichteten Steinhaufen und Kanistern liegen zwei Esel, von denen der eine wohl schon tot ist, der andere hängt noch vor seinem Karren. Eugen betrachtet die verschiedenen Bildschirme. Es laufen gerade Morgennachrichten.

Man muss schon zugeben, dass die Preise tatsächlich schnäppchenverdächtig sind. Die Entdeckung lässt vermuten, dass nicht nur hier, wo er sinnverloren im Regen steht, alles zu haben ist, sondern überall - und das auch noch richtig billig.

Das rot erleuchtete A auf schneeweißem Hintergrund hebt sich deutlich vom grauen Morgenhimmel ab. Bedrohlich sieht es aus. Mit seinen verregneten Augen meint Eugen, eine blutende Wunde zu erkennen. Er ist am Ziel seines morgendlichen Spazierganges.

In seinem tugendhaften Glauben, dass nicht die Arbeit zu ihm, sondern er zur Arbeit kommen müsse, sitzt er im sterilen Wartezimmer der Agentur für Arbeit mit anderen Gutgläubigen zusammen; alle in der Hoffnung, einen LKW mit Schweinehälften entladen zu dürfen oder Torfsäcke in einer Gärtnerei zu stapeln.

Neben ihm sitzt ein älterer Mann, in Anbetracht der Arbeitssituation aller Anwesenden ungefähr um die Fünfzig, der fast unmerklich hin und her wippt. Um es als Zittern zu bezeichnen, ist die Bewegung zu harmonisch. Überall sprießen graue Stoppeln aus seinem faltigen Gesicht, unter der Nase sind alle Haare nikotingelb. Auf seinen klebrigen Haaren liegt eine verschwitzte rot-weiße Baseballkappe mit der Aufschrift 'WIR SIND WIEDER MEISTER'. Die Augen starren auf den Tisch mit den abgegriffenen Autozeitschriften der letzten Monate. Nach einem kurzen Blick zu Eugen, stimmt der Mann mit näselndem Oberton einen monotonen Singsang an. Ein altes Klagelied der Familie. Dass die ihm sein Auto weggenommen haben, weil er die Raten nicht mehr zahlen konnte, das sei noch kein Problem gewesen. Aber er hätte auch seinen Job verloren und seine Frau würde ja nur halbtags Wäsche mangeln. Als sich deutlich abzeichnete, dass er keine feste Arbeit mehr finden würde, und seine Frau, dem Alltag selbstbewusst die Stirn bietend, ihn immer ohrenbetäubender fragte, wie es denn nun weiter ginge, hatte er eines Abends die Erleuchtung: Wichtig ist nicht die gemeisterte Zukunft, sondern die Wiederherstellung der Ruhe in der Gegenwart! Er habe bei seiner Frau für diese neue Erkenntnis geworben, massiv und schlagkräftig, bis zu ihrer Bewusstlosigkeit. Melancholisch fährt er fort, sie habe ihn dann zur Strafe nicht mehr rangelassen, aber das könne er gut verstehen, er sei ja auch der totale Looser. Der Mann verschränkt seine Arme hinter dem Kopf und gähnt. Plötzlich wuchtet er seinen kraftlosen Körper mit rudernden Armen nach vorne und steht auf. Müde lächelnd betrachtet er Eugen, blickt zu ihm herab und sagt, dass er vielleicht hätte mit ihr reden sollen, bevor sie abgehauen ist. Aber er glaube, Männer reden nicht soviel über Probleme, sie lösen sie einfach.

Als der Mann gegangen war, empfindet Eugen ein leichtes Unbehagen, als ob auch er jetzt aufstehen und dem Mann folgen müsse. Doch der ist kaum noch zu sehen, entfernt sich immer mehr. Der ungelüftete, feuchtwarme Raum mit den ruhig Hustenden schläfert ihn ein, lässt ihn kraftlos in seine Jacke sinken. Er ist außerstande, auch nur eine Bewegung zu tun, unfähig, dieser Lähmung zu entkommen.

Dabei bildet dieser Zustand die notwendige Vorstufe, um sich ganz dem Hinabgleiten hinzugeben, dem Abrutschen vom Trichterrand der Realität in den unentrinnbaren Sog der Erinnerung, die jetzt plötzlich stark an ihm zerrt. Er löst seine Finger, lässt alles los. Offenen Auges sieht er, wie sich sein Ich sanft davontragen lässt. Es ist kein Träumen, es ist ein Starren!

Ich erkenne meinen Bruder nicht wieder: angespannt, entschlossen, die Nase prüfend in die Luft haltend. Den Karabiner entsichernd, dreht er sich zu mir, mit dem Zeigefinger vor dem grinsenden Mund. Er glaubt, sie sind hier. Sicher wäre ich mir da nicht, aber wann bin ich mir schon sicher.

Auf dem Pferd vor Minuten noch gegen den schneidenden Wind gedöst, hat er jetzt ihre Witterung aufgeschnappt und ist wie elektrisiert. Mir ist nur kalt! Langsam rutscht er aus dem Sattel. Bein um Bein abwechselnd in der Schwebephase, arbeitet er sich geräuschlos durch den Schnee. Die letzten Meter bis zum Hügelkamm robbt er langsam hinauf. Hektisches Winken. Sie sind da! Ich binde die Zügel der Pferde zusammen, stapfe ihm nach. Auf dem Weg nach oben lade ich mein Gewehr durch. Der Pelzmantel ist zu groß, zu schwer, nicht meine Haut. Ich bin müde. Er hat seine Handschuhe ausgezogen, den Karabiner im Anschlag reißt mich seine Linke zu Boden.

Tatsächlich! Zwei ausgemergelte Wölfe, jämmerlich anzusehen. Sie sind es, die sich feige in unser Dorf geschlichen und eine Ziege gerissen haben. Ich rede es mir jedenfalls ein. Sie liegen unter einem Felsvorsprung, dicht zusammengekauert, geschwächt. Dieser Winter ist unbarmherzig wie die ganze Natur.

Mein Bruder zeigt auf mich und dann auf den ersten Wolf. Mein Ziel! Glaubt er. Seines hatte er schon, als wir losgeritten sind, als er uns in diese lautlose Ödnis trieb, in dieses weiße horizontale Nichts, aus dem verknöcherte Steppengrashalme ragen, wie die letzten unbeugsamen Krieger des Sommers, treu unseren Weg umsäumend, bis hierhin, zum Ziel der Jagd. Für ihn Bestimmung und für mich Schicksal.

Ich blicke zurück, die Pferde haben sich mit ihrem Hinterteil gegen den Wind gestellt. Mein Bruder schmiegt sich zielend in den Schnee. Unschuldiger, weißer Schnee weich und kalt. Mein Gewehr liegt neben mir, noch habe ich mein Ziel nicht erfasst.

Ein Schuss! Kurzes Jaulen, ein Aufbäumen. Der hintere Wolf ist gefallen.

Mein Wolf ist nicht aufgeschreckt, hat keine Angst mehr, setzt sich schwankend, blickt in meine Richtung, stumpf, müde. Die Ungeduld des Bruders drängt. Entspannung, ich weiß, er läuft nicht mehr davon. Das Gewehr liegt noch neben mir. Ein Schuss! Kurzes Sacken, kein Aufbäumen. Mein Wolf ist erlöst.

So ein Bruder fackelt nicht lange, packt das Glück beim Schopfe. Schießen hätte ich sollen, ich sei ein erbärmlicher Jäger, wie ich nur eine Familie ernähren und beschützen wolle. Wenn der Wolf hier an meiner Stelle gewesen wäre, hätte der sich über soviel Dummheit gefreut und uns zerfleischt.

Seiner vielleicht, meiner nicht.

„Kennt sich hier jemand mit Pferden aus?“ Der Sachbearbeiter sieht fragend in die Runde. Schmunzeln unter den Anwesenden. Eugen rückt sich zurecht, fährt sich durch den Scheitel, wartet einen kurzen Moment. Wieso Pferde, denkt er, durch das Schmunzeln der Anderen leicht verärgert. Autos, Maschinen, Werkhallen, deshalb ist er hier, wieso auf einmal Pferde? Er hebt nachdenklich seinen Arm.

KapitelZwei

Schnell ging das mit dem Treffen.

Der Sachbearbeiter hatte ihm noch den Hinweis gegeben, dass er, wenn er es ernst meine mit der Arbeit, sofort dort anrufen solle, schließlich finge ja nur der frühe Vogel den Wurm. Verabredet haben sie sich an dem einzigen Platz in der Stadt, den Eugen bereits kennt. Er hatte sich gut vorbereitet: frische Sachen angezogen, sich restlos gesäubert, rasiert, ein bisschen Deo. Der erste Eindruck sagt alles.

Eugen will ihn auf jeden Fall Chef nennen, obwohl er sich am Telefon sehr jung angehört hat. So ein dienstbeflissenes „Chef“ macht gleich deutlich, dass er es ernst meint mit dem Job und keine Probleme bereitet. Den Zettel mit der Telefonnummer schiebt er in seine Jackentasche und verlässt das Einkaufscenter über die Rolltreppe zur U-Bahn. Im Eingangsbereich des Bahnhofs überlegt er, wie er die nächste halbe Stunde rumkriegen will, denn vor drei würde das nichts, hatte ihm der Chef gesagt.

Sein Hunger schickt ihn auf die Suche.

Die Bahnhofsbäckerei beeindruckt durch ihr Äußeres und wirkt mit der kathedralenähnlichen Schallkulisse der Vorhalle noch prachtvoller. Aufwendige Buntglasscheiben in geschliffenem Edelstahl eingefasst, daneben, durch unbehauenen Naturstein abgegrenzt, große Türflügel, mit Kupferblech beschlagen. Im Innenraum hängen antike, messingfarbene Lüster mit original italienischem Kristallglaseffekt. Alles sehr würdevoll.

Hinter der Theke mit den belegten Brötchen sitzt eine offensichtlich minderjährige Bedienung. Sie hat etwas von einer Madonna, jedenfalls ihre Haltung.

Auf einem Hocker sitzend, liest sie angestrengt in einem Frauenmagazin. Eugen setzt sich mit einem Kaffee an einen rustikal gehaltenen, schweren Holztisch.