Europa neu denken -  - E-Book

Europa neu denken E-Book

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Beschreibung

Europa neu zu denken setzt die Beantwortung der Frage voraus, welches Europa wir eigentlich wollen. Die Zukunft ist nicht etwas, das sich ohne unser Zutun quasi von selbst ereignet. Sie ist vielmehr etwas, das erst durch unser eigenes Mitwirken, durch unser Wissen und Nichtwissen, unsere Hoffnungen und Befürchtungen Gestalt annehmen kann. Die einzelnen Beiträge sind überarbeitete Fassungen zweier Tagungen, die in Triest stattfanden. Drei Problembereiche werden diskutiert: Das Laboratorium Europa, Europäische Künste, Erzählungen, Sprachen sowie Europäische Lebenswelt und Raum. Dabei spielt die Dialektik von Herkunft und Zukunft sowie die Kreativität von Widersprüchen und Synergien eine große Rolle. Mit Beiträgen von Henning Ottmann, Helga Rabl-Stadler, Hedwig Kainberger, Rut Bernardi, Claudio Magris, Volker Gerhardt, Christiane Feuerstein, Blanka Stipetic u.v.m.

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EUROPA NEU DENKEN

Regionen als Ressource

Michael FischerJohannes Hahn (Hg.)

Dank für die Unterstützungzur Durchführung des Projekts:

Impressum

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

© 2014 Verlag Anton Pustet5020 Salzburg, Bergstraße 12Sämtliche Rechte vorbehalten.

Grafik, Satz und Produktion: Tanja KühnelLektorat: Dorothea Forster

ISBN 978-3-7025-8018-6

www.pustet.at

Inhaltsverzeichnis

Vorwort

EinleitungMichael Fischer: Kultur und ZivilisationEinleitung zu den Triestiner Symposien

1. Laboratorium Europa

Johannes Hahn: Europa der Regionen

Michael Fischer: Europa als Heimat?

Henning Ottmann: Die Dialektik von Tradition und Innovation

Michael Fleischhacker: Das Europäische an Europa ist nicht das Finanzielle

Volker Gerhardt: Selbstkritik als historische Chance Europas

Goran Vojnović: Osamljeni Evropejci (Lonely Europeans)

Gerhard Katschnig: Aktuelle Kooperationen im Alpe-Adria-Raum

Stefan Storr: Politische Mitbestimmung in den Regionen

Franz Merli: Innere Sicherheit als eine europäische Aufgabe mit Blick auf den Alpe-Adria-Raum: Slowenien – Kroatien – Italien – Österreich

Johannes Hahn: Kreative Regionen – Europas Stärke

2. Künste, Erzählungen, Sprachen

Helga Rabl-Stadler: Festspiele als Antwort auf den Ersten Weltkrieg: »Jedermann« als ein Friedensprojekt

Hedwig Kainberger: Armutszeugnisse der Kulturpolitik

Robert Lexer: Wie wichtig ist der Bereich der Kultur wirklich für die EU?

Alessandro Gilleri: La Mitteleuropa – riferimento per la crescita sociale e politica dell’Estremo Oriente

Dubravka Vrgoč: Kultura kao identifikacijsko polazište u regionalnom okružju (Mogućnost teatra da prelazi granice?)

Michaela Strasser: Zoran Mušič – ein Künstler und Mitteleuropäer

Peter J. Weber: Mehrsprachige Regionen Europas – ambivalente Zivilisationsagenturen

Rut Bernardi: I Ladins dla Dolomites – Die Dolomitenladiner

Reinhard Kacianka: Kulturelle Vielfalt als gelebte Multitude

Marino Vocci: La cucina di una terra plurale e dai confini mobili, tra mare e Carso e tra Mediterraneo ed Europa di Mezzo

Christine Perisutti: Alltägliches in der Ecke der drei Länder Italien – Österreich – Slowenien

Primus-Heinz Kucher: Verfehlte Begegnungen – ungehobene Potentiale – Grenzüber-Kulturen: Intellektuelle und literarische Konstellationen in und rund um Triest

Claudio Magris: In der Bisiacaria

Silvana Paletti: Na mala racjun/Bescheidene Bitte Resia – Die Stimme eines Tales

Ilia und Giorgio Primus: La tradizione musicale e il carnevale di Timau

3. Lebenswelt und Raum

Dafne Berc: Creative City: Between Grassroots Initiatives and Formal Policies

Christiane Feuerstein: Glokalisierung: Raumorganisation und Bildproduktion

Blanka Stipetić: Energiefeld Störungszone

Cristina Benussi: Frontiere in movimento. Una regione emblematica

Patrizia Vascotto: Melting pot Italian style

Helena Peričić: Letterature „minori“, identità culturale e globalizzazione

Stefan M. Schmidl: Sozialer Motor – Urbane Musik als Wirtschafts- und Identitätsmedium

Martina Vocci: Adriatico, una storia scritta sull’acqua

4. Autorinnen und Autoren

Vorwort

Nach der Katastrophe der beiden Weltkriege, nach Menschenvernichtung und dem Zerfall Europas durch Hunger und Hass lebten die Nationalstaaten weitgehend von Freund- und Feindbildern. Deren Relativierung war ein mühsamer Weg der kleinen Schritte, bis das vereinte Europa auf unserem Kontinent zur größten Vision des 20. Jahrhunderts wurde. Bedingt durch das Grundbedürfnis nach Nahrung standen ökonomische Überlegungen an erster Stelle. In der Folge lieferten die Menschenrechte die Plattform für die ethischen und rechtlichen Grundregeln. Mit ihrer Hilfe gelang es, Barrieren zu überwinden und langsam ein Verständnis für die Kreativität kultureller Unterschiede zu wecken. Gerard Mortier mahnte anlässlich einer Tagung über die Zukunft der Salzburger Festspiele (2012): »Alle großen Kunstströmungen sind immer europäisch gewesen und nie nationalstaatlich, geschweige denn nationalistisch!«

In einer Zeit, in der die Idee und Identität Europas wieder heftig diskutiert wird, müssen wir an die Konzepte anknüpfen, die es ermöglichen, Europa neu zu denken, um auf dieser Grundlage Europa weiterbauen zu können. Neu bedeutet stets, die Dialektik von Herkunft und Zukunft zu bedenken sowie die Kreativität von Widersprüchen und Synergien. Die erste Tagung zu diesem Thema fand unter dem Titel Region, Innovation und Kulturalität vom 31. Mai bis 2. Juni 2012 im Palazzo della Regione Autonoma Friuli Venezia Giulia (Salone di Rappresentanza) auf der Piazza Unità d’Italia in Triest statt. Die zweite Tagung, Europa neu denken, hatte den Untertitel Regionen als Zivilisationsagenturen und wurde vom 23. bis 26. Mai 2013 im Palazzo Gopcevich (Sala Bobi Bazlen) in Triest abgehalten.

Leider können wir in dem vorliegenden Band nicht alle Beiträge berücksichtigen und schon gar nicht die spannenden Diskussionen und die ganz besondere Atmosphäre dieser beiden Tagungen wiedergeben. Die Lesung des mittlerweile über hundertjährigen slowenisch-triestinischen Schriftstellers Boris Pahor war solch ein besonderes Erlebnis. Pahor, dem erst im hohen Alter die ihm zustehende Würdigung zuteil wurde, verkörpert in Persönlichkeit und Werk die Geschichte der multikulturellen und faszinierenden Stadt Triest mit ihrer spezifischen Intellektualität und ihren historischen und ethnischen Brüchen. Besonders spannend war auch die Podiumsdiskussion mit Claudio Magris, diesem Vollbluteuropäer, der ebenso den Geist der Stadt Triest in sich trägt.

Zu den Tagungen waren ausgewählte Studentinnen und Studenten der Universitäten Graz, Klagenfurt, Laibach, Salzburg, Triest und Wien eingeladen. Die Konferenzsprachen waren Deutsch, Italienisch, Slowenisch, Kroatisch und Englisch. Für das wissenschaftliche Programm war Michael Fischer zuständig, unterstützt von Ingeborg Schrems (beide Schwerpunkt Wissenschaft und Kunst, Universität Salzburg/Universität Mozarteum, Salzburg), die Gesamtorganisation und Koordination war Ilse Fischer (Kulturdesign & Unternehmenskultur, Salzburg) anvertraut.

Wir danken den Unterstützern des Projekts, vorweg Raiffeisen und ACM-Projektentwicklungs GmbH, sowie für die Kooperationen der Europäischen Kommission für Regionalpolitik der Regione Autonoma Friuli Venezia Giulia (beiden vor allem für die Bereitstellung der Simultanübersetzung) und der Commune di Trieste.

M. F. u. J. H.

Einleitung

Kultur und ZivilisationEinleitung zu den Triestiner Symposien

Michael Fischer

Welches Europa wollen wir?

Europa neu denken beinhaltet die Frage: Welches Europa wollen wir? Die Zukunft ist nicht etwas, das sich ohne unser Zutun ereignet. Sie ist vielmehr etwas, das unter den gegenwärtigen Rahmenbedingungen durch unser eigenes Mitwirken, durch unser Wissen und Nichtwissen, unser Können sowie unsere Hoffnungen und Befürchtungen erst entstehen wird. Kollektive Zukunftsentwürfe sind nicht nur entscheidender Bestandteil erlebter Gegenwart, sondern sie stecken auch den Aktionsrahmen für Mut und Wagnis ab. Im Sinne der Self-Fulfilling-Dynamik ist es alles andere als gleichgültig, welches Bild wir uns von der Zukunft machen, da uns dieses Bild erheblich festlegt.

Dialektik von Zukunft und Herkunft

Ein zentraler Appell der EU lautet »Entschlossenheit zur Zukunft«1. Das bedeutet, dass politisch, wirtschaftlich, künstlerisch und intellektuell die Zukunfts-Kultur bewusst gestaltet werden soll. Neben den treibenden Motoren Politik und Wirtschaft (mit der sozialen Frage im Zentrum) hat die EU als weiteres integrationsförderndes Vehikel die Kultur entdeckt, und zwar als wesentliche Metaebene der Politik. Empirische Ergebnisse der Jugendkulturforschung2 belegen, dass junge Menschen die Zukunft als den Sinn der Gegenwart sehen. Darum ist ein positiver und offener Denk- und Erwartungshorizont so wichtig. Gleichzeitig gilt: Nichts ist vergänglicher als die Zukunft. Daher muss sie ständig neu gedeutet werden.

Dem Appell an die Zukunfts-Kultur korrespondiert in den EU-Dokumenten ein Appell an die Herkunftskultur, vor allem an das kulturelle Erbe. Die historische Kultur Europas wird als einheitsstiftendes Regulativ gesehen, das Vielfalt in der Einheit gewährleisten soll, sie gilt als einmalige Ressource, die zahllose Möglichkeiten bietet. Das europäische Bewusstsein gründet in kulturellen Beständen, mit denen die Europäer in selbstverständlicher Vertrautheit umgehen. Das sind Musikwerke, Bilder und Bauwerke, Dichter und Denker, die Welt des Glaubens und der Wissenschaft.

Zivilisation und Kultur

Zivilisation und Kultur stehen in einem korrespondierenden Verhältnis. Civilis bedeutet regelförmig. Zivilisiertes Leben setzt die Institutionalisierung von Erwartungshaltungen voraus: Normierungsprozesse3! Kultur hingegen konstituiert die Differenz von Lebensformen. Hier helfen uns Lernprozesse als angemessene Reaktion. Kultur bedeutet Bildung und eben einen Kanon, bestehend aus dem gemeinsamen Erbe von Ideen, Werten und Kunstwerken.

Seit dem sogenannten Mexiko-Theorem der UNESCO 1982 (Kultur als Befähigung für ein sinnvolles Leben) bemühte sich die EU um eine Umsetzung dieser Perspektive. Die Intention war und ist es, Werte als faktisch festgelegte Kulturinhalte zu begreifen und im Politik-, Bildungsund Wirtschaftsprozess zu implementieren. Dies geschah in mehreren Schritten: Kulturverträglichkeitsklausel des Maastrichter Vertrags der EU von 1992 (Art. 128), Lissabon und Nizza 2000 sowie Erneuerung der Lissaboner Ziele 2005 etc. bis hin zur Strategie Europa 2020 mit ihrer Förderung der Kultur- und Kreativwirtschaft.

Gegenwärtig hat sich der Kulturbegriff auf eine vage Gesamtheit aus Bräuchen und Sitten, Sprache, Glaube, Kleidung, Technik ausgedehnt. Die Kochkunst gehört genauso dazu wie die Discoparty, Haute Couture und Fußball genauso wie die Salzburger Festspiele. Das World Wide Web erweist sich dabei als ein potentiell unendliches Gewebe menschlichen Wissens und menschlicher Banalitäten. Heute gibt es nicht nur eine Wirklichkeit, sondern viele Wirklichkeitsauffassungen, die oft widersprüchlich sind und miteinander konkurrieren. Alle sind das Ergebnis von Kommunikationsprozessen und kein Widerschein ewiger, objektiver Wahrheit.4

Die Kultur kennt keine Hierarchien und Begrenzungen mehr. Der Kulturpessimismus, etwa in Mario Vargas Llosas jüngst erschienenem Buch Alles Boulevard5, hat keine erkenntnisfördernde Kraft: Wer seine Kultur verliert, verliert sich selbst!, so der Untertitel, und er ist eine mehr als triviale Behauptung.6 Muss man aber deswegen eine Verfallsgeschichte des Geistes schreiben? Gewiss: Es werden kaum noch Gedichte gelesen und statt Dantes Die Göttliche Komödie wirklich einmal zu lesen, erfreut sich die Literaturkritik an Dan Browns Dante-Thriller. Empirisch gesehen hatte 1968 tiefgreifende Folgen: Die Literatur wurde nicht nur für ideologische Zwecke instrumentiert, sondern die Literatur wurde durch Theorie ersetzt. Und dieses Theoriewollen ersetzt häufig die konkrete und durchdachte Auseinandersetzung mit dem Kunstprozess.

Andererseits vollendet sich, was Guy Debord und die Situationisten als eine Gesellschaft des Spektakels7 voraussahen. Zu ihr gehört wesentlich die Definition der Zuschauer, für die das gesamte öffentliche Leben zum Schauspiel wird. Alles wird zur Performance, weil der Inszenierungscharakter der Tätigkeit so wichtig geworden ist.

Event und Erlebnis

Performance, Event und Erlebnis konstituieren neue Formen von Gemeinschaft. Traditionelle Gemeinschaften haben immer historischkulturelle Ursprünge: Sprache, gemeinsame Werte und ästhetische Vorstellungen (wie Glaube und Ritual), eine gemeinsame politische Geschichte und eine gemeinsame Erziehung. Solche Gemeinschaften grenzen sich von fremden mit unterschiedlicher Vergangenheit ab und sie funktionieren nur unter bestimmten Bedingungen. Die gegenwärtige Kultur hingegen schafft Gemeinschaften jenseits gemeinsamer Vergangenheit, bedingungslose Gemeinschaften eines neuen Typs.8

Ob Festspiele, Popkonzerte oder Kinoerlebnisse: Die Ereignisse schaffen Gemeinsamkeit unter denen, die daran teilnehmen. Die Mitglieder solcher temporären Gemeinschaften kennen einander nicht, sie finden sich zufällig zusammen, haben keine gemeinsame Identität und Vorgeschichte. Dennoch bilden sie situative Gemeinschaften aus unmittelbaren, inszenierten Erlebnissen.9 Auch diese Gemeinschaften bewirken ein Management von Komplexität, sind Publikumsgeschichten mit je eigenen Wertediskussionen und gerade darin liegt ihr gewaltiges Modernisierungspotential.

Öffentlichkeit wird heute unter ganz anderen Bedingungen geschaffen: nämlich durch das Publikum selbst, in unterschiedlichen Foren und Netzwerken. Niemand kann die Welt neu erfinden, aber man kann sie immer wieder neu interpretieren. Derartige Gemeinschaften bieten die Möglichkeit zur Selbstreflexion (und zur Reflexion des unmittelbaren situativen Kontextes), zu Identitätsbildung und Emotionsscanning. Dies können die anderen Medien nicht im selben Maß bieten. Ja mehr noch: Diese spontanen Lebensgemeinschaften liefern Innovationsprozesse für die Gesellschaft, sie inszenieren Bedeutungen und sorgen für kulturelle Evolution. So entstehen Trends, Deutungen, Kritiken und Leitbilder.

Zivilisierung der Kulturbarbaren

Stets war Europa ein Ort der Widersprüche, Auseinandersetzungen und Kämpfe. Bis 1945 war es eine der kriegerischsten, brutalsten und blutigsten Regionen der Welt: Kreuzzüge, Religionskriege, Imperialismen, Kolonien, Napoleonische Kriege, Sezessionskriege, Erster und Zweiter Weltkrieg etc. Auch das waren Entwicklungsstufen, die wichtig wurden, bei denen man sich nicht auf die kulturellen Unterschiede konzentriert hat, sondern auf die Konstanz menschlicher Bedürfnisse und Probleme.

Aus den blutigen Kämpfen um regionale, kulturelle, religiöse und politische Autonomie zogen die französischen Aufklärer, die englischen Zivilisationstheoretiker und die deutschen Humanisten des 18. Jahrhunderts Folgerungen, die heute noch beispielhaft sind: nämlich die Zivilisation der »Kulturbarbaren«. Funktionale Instrumente solcher Zivilisation waren Diderots Enzyklopädie (Wissen als Humanitätsgenerator), die Kant’sche Philosophie (vorweg ihre Begründung der Moral), die Amerikanische Verfassung (mit ihrer Rechtsstaat-Maxime) und die Menschenrechtsdeklaration der Französischen Revolution (als Institutionalisierungsprozess von Humanität).

Phänomen Europa

Europa hat aufgrund dieser Errungenschaften im 20. Jahrhundert ein außerordentliches Experiment gewagt: Es galt Feindschaften zu beenden und Einheit zwischen den unterschiedlichen Beteiligten zu schaffen: den mannigfaltigen Sprachen, den Traditionen, den verschiedenen Religionen und Kulturen, den vielfältigen Sitten.

Die Grundlagen bildeten materielle Schwierigkeiten: Es galt, den Hunger zu besiegen. Das neue Europa formierte sich nicht auf einer kulturellen Basis, sondern durch seine prekäre Bedürfnislage. Praktische Aufklärung beruht auf der Einsicht, dass nur Menschen, die eine Wohnung, einen sicheren Arbeitsplatz und damit eine materielle Zukunft haben, zu Bürgern werden, die sich Demokratie aneignen und sie lebendig gestalten wollen. Daraus formte sich dann auch der kulturelle Gestaltungsauftrag. So ist Europa im Namen der Werte Freiheit, demokratische Organisation, Toleranz, Ablehnung von Rassismus und Fremdenfeindlichkeit als vereintes Europa neu gestaltet worden.

Kultur: Differenz oder Integration?

Bereits vor über zwei Jahrzehnten hieß es im Neuen Kulturkonzept der Gemeinschaft: »Die Maßnahmen sollen zum einen zur Entfaltung regionaler ›kultureller Identitäten‹ beitragen, zum anderen den Europäern verstärkt das Gefühl vermitteln, dass sie trotz aller Unterschiede ein ›gemeinsames kulturelles Erbe und gemeinsame demokratische und humanistische Werte‹ teilen.«10 Diese Behauptung wirft bis heute Fragen auf und bietet eine Plattform für den Streit der Meinungen.

1. Ist die europäische Dimension der Kultur darin zu sehen, dass Kultur ein Differenzierungsmechanismus ist, der die ökonomisch nicht mehr sinnvoll erscheinende und in einem globalen Kontext kaum haltbare Desintegration Europas für den Raum der individuellen (regionalen) Lebensweise dennoch erhalten soll? Das Problem einer Kulturpolitik, die sich so definiert, besteht darin, dass sie dort, wo ökonomisch immer mehr Einheit herrschen soll, kulturelle Vielfalt erhalten will.

2. Wenn die Kultur ein europäischer Integrationsfaktor ist, der regionale und soziale Identität vermitteln soll, dann ist die Kulturpolitik eine Funktion der Ökonomie. Integration ist leicht möglich, wenn es um den wirtschaftlichen Austausch geht, aber bei symbolischen und ideellen Produkten ist es schwieriger, diese effektiv in Handlungsoptionen umzusetzen. Europäische Kulturpolitik kann daher kein europäisches Identitätsbewusstsein stiften, sondern sie kann solches nur kulturell repräsentieren.11 Auf die Frage, wie dies geschehen soll, gibt das Konzept der Kultur- und Kreativwirtschaft, das die EU im Programm Europa 2020 verankert hat, Antworten. Damit soll ein »intelligentes, nachhaltiges und integratives« Wachstum in Regionen und Städten ermöglicht werden.12 Regionen und sich überschneidende Grenzgebiete mit ihrem kulturellen Erbe sind heute hochwertige Marken, um sich in der internationalen Konkurrenz positionieren zu können. Nicht mehr die Abgrenzung regionaler Identität steht im Vordergrund, sondern gemeinsame Überlegungen für eine offene Zukunft. Die ausdrückliche Berücksichtigung der Kreativität im Programm Europa 2020 soll gemäß EU-Leitlinien in nicht forschungsbasierten Innovationen geschehen. Kultur wird, wie Hedwig Kainberger formuliert, als »Türöffner für die europäischen Regionen« fungieren.

Kultur- und Kreativwirtschaft

Veronika Ratzenböck erläutert in ihrer Studie Der Kreativ-Motor für regionale Entwicklung13: Das Programm »Regionalpolitik als Beitrag zum intelligenten Wachstum im Rahmen der Strategie Europa 2020« fordert dazu auf, die Funktion der Kultur- und Kreativwirtschaft zur Stärkung des kreativen und innovativen Potenzials und der Schaffung von mehr sozialem Zusammenhalt in den europäischen Regionen vollständig anzuerkennen. Dazu müssen die Regionen die komplexen Verbindungen zwischen traditionellen Kulturgütern (Kulturerbe, dynamische kulturelle Einrichtungen und Dienstleistungen) und die Entwicklung von kreativen Projekten im Bereich grenzüberschreitender (interkultureller) Aktivitäten fördern. Ebenso Investitionen in Bildung, Qualifikation und die Mobilisierung von Kreativität.

Eine effiziente Regionalpolitik – so Ratzenböck – kann diese Ziele nur erreichen, wenn sie Kultur und Kreativwirtschaft sowie ihre Spillover-Effekte auf andere Branchen berücksichtigt und fördert. Um die Voraussetzungen dafür zu verbessern, müssen Kunst, Kultur und Kreativwirtschaft künftig besser in die europäischen Leitlinien und Zielsetzungen sowie in die regionalen operationellen Programme integriert werden.14 So entsteht eine transformative Kraft, die zu besser funktionierenden Gemeinschaften beitragen kann. Selbstrealisierung als schöpferische Individualität repräsentiert so die reale Gegenwart von Sinn.

Europa neu denken I

Bei der ersten Tagung von Europa neu denken (2012) waren Region, Innovation und Kulturalität die zentralen Stichworte. Folgende Gesichtspunkte wurden deutlich: 1. Regionale Kulturen profitieren stark von ihrer Offenheit, ihrem Mut, Traditionen neu zu definieren und mit dieser Definition auch Neues zuzulassen. 2. Regionen werden von den Menschen als Emotionsdienstleistungen begriffen, als Betätigungsfeld ihrer ästhetischen Selbstinszenierung und Repräsentation. 3. Die Regionen brauchen eine kooperative Sozialtechnik und Politik, deren Standbeine kulturelles Erbe, immaterielle Werte und ästhetische Attraktivität sind. 4. Am erfolgreichsten sind Regionen, wenn sie sich selbst als vielschichtige Erzählungen darstellen. Denn letzten Endes entscheidet die emotionale Reichweite, also die sanften Faktoren. So gelingt es auch, Regionen als visuelle und verbale Codierungen darzustellen. 5. Regionen sind Marken in einem konkreten wirtschaftlichen Sinn, für die stetige Betreuung und Neuinterpretation notwendig sind. 6. Regionalismus ist ein offenes und zukunftsweisendes europäisches Erfolgsrezept. Kreative Regionen sind Europas Stärke.

Europa neu denken II

Die Veranstaltung Europa neu denken II (2013) stand unter dem Anspruch, die europäischen Regionen als wesentliche Zivilisationsagenturen darzustellen. Die Tagung war in folgende Module eingeteilt:

1. Aktuelle Probleme des Regionalismus, 2. Das moralische und politische Engagement der Kunst, 3. Lebenswelt und Raum, 4. Laboratorium Europa. Für die vorliegende Veröffentlichung wurden die Beiträge beider Veranstaltungen in drei Kapitel gegliedert, nämlich 1. Laboratorium Europa, 2. Künste, Erzählungen, Sprachen, 3. Lebenswelt und Raum.

Deutlich macht die Lektüre unter anderem Folgendes: Wir verwenden häufig – ohne weiter nachzudenken – die Begriffe Mensch und Menschheit. Doch zwischen den Menschen und dem großen Ganzen (dem Geist, der Geschichte der Europäischen Union etc.) gibt es noch einen anderen Bereich, in dem die Menschen in ihrer Vielfalt konkret da sind. Menschen, die sich voneinander unterscheiden, unterschiedliche Interessen verfolgen und durch ihr Handeln die kulturelle und politische Wirklichkeit hervorbringen. Dieser Bereich der Pluralität, der Verschiedenheiten, der effektiv gelebten Differenz der Einzelnen verschwindet allzu leicht in den kollektivistischen (politischen, religiösen, bürokratischen) Konzepten.

Wesentlich ist es aber zu lernen, dass wir von Menschen umgeben sind, die anders sind: die wir nicht oder nicht gut verstehen, die wir lieben, hassen, die uns gleichgültig oder rätselhaft sind, von denen uns ein Abgrund trennt oder nicht. Es ist notwendig, sich diese Fülle von Bezugsmöglichkeiten vor Augen zu halten. Wir müssen nicht nur mit Unterschieden leben, sondern diese auch denken und bedenken lernen. Das heißt gleichzeitig, dass wir uns positiv von der Verschiedenheit der Menschen herausfordern lassen und die Probleme und Chancen kreativ aufnehmen, die sich daraus für unser Zusammenleben ergeben.

Daher ist heute für die Menschen nicht nur die Sehnsucht nach Vertrautheit entscheidend, nach romantischen Naturerlebnissen oder glitzernder Eventisierung, sondern es wächst der Wunsch nach Wissen und Bildung in einem durchaus konventionellen Sinn: als kulturelle Aneignung und Kompetenz. Dies wird in vielfältigen Bereichen wie der Kunst, den Sprachformen, der Musik und ihrer Ausdruckskraft oder in unserem alltäglichen Lebensstil deutlich. Die Menschen wollen mit ihrem Interesse die Zeit sammeln und nicht bloß vertreiben, den Augenblick dicht füllen und nicht austauschbar vorübergehen lassen.

Wir hoffen, dass uns ein interessantes Lesebuch gelungen ist, in dem jeder einzelne Beitrag ein bedenkenswertes Problem aufgreift.

Endnoten

1 Seit dem Maastrichter Vertrag 1992.

2 Vgl. Albert, Mathias / Hurrelmann, Klaus / Quenzel, Gudrun, 16. Shell Jugendstudie. Jugend 2010, Frankfurt am Main 2010.

3 Vgl. Luhmann, Niklas, Rechtssoziologie [1972], 4. Aufl., Wiesbaden 2008.

4 Vgl. Wazlawick, Paul, Vom Unsinn des Sinns oder vom Sinn des Unsinns. Vorträge im Wiener Rathaus am 17. Mai 1989 und am 5. November 1991, Wien 1992, sowie Schmidt, Siegfried J. (Hg.), Der Diskurs des Radikalen Konstruktivismus, Frankfurt am Main 1987.

5 Vargas Llosa, Mario, Alles Boulevard. Wer seine Kultur verliert, verliert sich selbst, Berlin 2013.

6 Der spanische Titel heißt eigentlich Die Zivilisation des Spektakels (La civilizatión del espectáculo)!

7 Debord, Guy, Die Gesellschaft des Spektakels, Berlin 1996.

8 Vgl. Groys, Boris, »Warum Museen?«, in: Lettre international, Europäische Kulturzeitschrift, Nr. 100 (2013), 140f.

9 Vgl. Schulze, Gerhard, Erlebnis-Gesellschaft. Kultursoziologie der Gegenwart, 8. Aufl., Studienausgabe, Frankfurt am Main–New York 2000.

10 Vgl. Vorsitzender des Kulturausschusses: Satorius, Joachim, »0,00016 % für Kultur. Ein Tatsachenbericht aus Brüssel«, in: Lettre International, Europäische Kulturzeitschrift, Nr. 16 (1992), 4–6.

11 Hermann Lübbe erläutert treffend: Jeder übereifrige Regionalist würde sich wundern, wie wenig von der Architektur seiner Heimatstadt übrig bleibt, wenn man alles entfernen würde, was darin an Stilelementen grosso modo sich als gemeineuropäisch wiederfinden lässt. Jedes Gesangbuch, ja nahezu jedes bessere Kochbuch, erweist sich als gemeineuropäisch durchkultiviert. Dass Europa über seine traditionellen Gehalte kulturell erfahrbar ist, setzt Bildung voraus. Das ist nun mal so. Die Massen, die Tag für Tag vor der Akropolis in Athen oder vor dem Louvre in Paris stehen, huldigen dem europäischen Geist. Dieser ist – unabhängig von sonstigen Reisemotiven – der Stolz gegenüber den Zeugnissen der uns europäisch verbindenden Wirkung. Vgl. Lübbe, Hermann, Abschied vom Superstaat. Vereinigte Staaten von Europa wird es nicht geben, Berlin 1994 sowie ders., Politik nach der Aufklärung. Philosophische Aufsätze, München 2001.

12Strategie Europa 2020: Vgl. das Förderungsprogramm für die »Kultur- und Kreativwirtschaft« [KKW] 2014, das maßgebende Stichwort lautet kreatives Europa, die Dotation beträgt 1,8 Milliarden Euro.

13 Ratzenböck, Veronika / Kopf, Xenia / Lungstraß, Anja, Der Kreativ-Motor für regionale Entwicklung. Kunst- und Kulturprojekte und die EU-Strukturförderung in Österreich, hg. von österreichische kulturdokumentation. internationales archiv für kulturanalysen, Wien 2011.

14http://www.kulturdokumentation.org/index.html (09.07.2013).

1. Laboratorium Europa

Europa der Regionen1

Johannes Hahn

Ich möchte mich zuerst bei der Regierung Friaul-Julisch Venetien bedanken, dass Sie unsere Idee aufgegriffen haben, uns mit der Frage Europa intensiver zu beschäftigen. Vor über einem Jahr bin ich mit meinen Freunden Michael und Ilse Fischer zusammengesessen und habe, inspiriert von meiner Zuständigkeit als Regionalkommissar, gesagt, wir müssen etwas unternehmen und uns mit der Frage Europa stärker auseinandersetzen. Wie bereits der Herr Minister erwähnt hat, ist Europa mehr als nur die Bewältigung einer wirtschaftlichen Krise oder des Findens von Gemeinsamkeiten im Finanz- und Steuerbereich.

Hierfür bietet sich immer wieder ein Zitat von Jean Monnet an: »Wenn ich es noch einmal zu tun hätte, würde ich mit der Kultur beginnen.« Das ist einerseits ein interessanter Hinweis. Andererseits ist diese Exklusivität jedoch nicht zielführend. Die entscheidende Frage ist vielmehr: Wie können wir die verschiedenen Elemente, die letztlich unser Leben ausmachen, zusammenführen?

Es ist mir ein Anliegen, meinem Freund Michael Fischer ganz besonders zu danken, dass er diese Idee gemeinsam mit seinem Team aufgegriffen hat. Durch die hohe Bereitschaft der hiesigen Regierung unter Präsident Renzo Tondo ist es gelungen, diese Veranstaltung in einem nicht nur spektakulären, sondern geschichtsträchtigen und für unser Thema passenden Ort, nämlich Triest, anzusiedeln, um darüber zu diskutieren, wie wir die europäische Vielfalt bewahren können, die letztlich die Stärke Europas ausmacht.

Im globalen Kontext, gemessen an seiner Einwohnerzahl, war Europa immer schon klein. Nicht nur heute, sondern auch in den Jahrhunderten und Jahrtausenden davor. Mit unseren 500 Millionen Einwohnern stellen wir sieben Prozent der Weltbevölkerung und sind dennoch wirtschaftlich der relevanteste Player weltweit.

Aber mein Ziel ist immer, dass wir Europa nicht nur neu denken, sondern in irgendeiner Form Aktivitäten auslösen.

Natürlich sollten die Erkenntnisse, der Spirit, der von hier hoffentlich nach zwei Tagen ausgeht, schneeballartig eine Verbreitung finden. Letztlich ist es spannend, dass grenzüberschreitende Kooperationen meistens mit kulturellen Aktivitäten beginnen, die offensichtlich eine Türöffnerfunktion haben. Es scheint, dass es Menschen sehr stark beschäftigt, wenn sie mit anderen etwas tun wollen, nämlich kulturelle Gemeinsamkeiten oder Unterschiede zu identifizieren, um daraus wieder einen Mehrwert zu generieren. Diese Möglichkeit hier in Triest sollte einfach genutzt werden, um Grenzen im Rahmen grenzüberschreitender Zusammenarbeit abzubauen.

Es geht also darum, Grenzen zu respektieren. Wir respektieren ja auch Grenzen im privaten Zusammenleben, aber gleichzeitig haben wir ein Interesse, in geeigneter Form diese Grenzen zu überwinden und daraus einen Mehrwert für uns zu schaffen. Das wäre meine Zielsetzung, dass wir aus den sehr intensiven Erfahrungen, die in dieser Ecke Europas in vielen Jahrzehnten gewonnen wurden, auch Hinweise daraus schöpfen können, wie wir diese Form der Zusammenarbeit in andere Bereiche Europas tragen können und wie wir daraus letztlich auch einen Mehrwert für Europa insgesamt schaffen können. Manchmal habe ich die Sorge, und die begleitet mich als Regionalkommissar ganz intensiv, weil ich viel in Europa unterwegs bin, dass es nicht nur eine Art von Renationalisierung, sondern eine Art von Partikularismusdenken gibt, das natürlich für ein gemeinsames Europa schädlich wäre.

Das wirklich Spannende ist, dass sich mittlerweile Europa, das ich eigentlich als Aggregatzustand betrachten würde, relativ mit der politischen Union deckt. Hier haben wir noch Arrondierungsmaßnahmen vorzunehmen. Im Prinzip kann man jedoch sagen, dass das, was wir gemeinhin unter Europa verstehen, sich in einem sehr hohen Maße mit dem deckt, was sich institutionell vorfindet. Insofern macht es wieder Sinn, diesen Gedanken Europa, dieses Verständnis von Europa, diese Art Aggregatzustand in institutionelle Überlegungen zu transformieren. Institutionen würden aber hohl bleiben, wenn ich nicht sozusagen eine Botschaft hätte, die aus dieser Institution hervorgeht oder umgekehrt diese Institution speist.

Ich denke, das werden spannende Fragestellungen. Was können wir mit der Vielfalt an Aktivitäten beitragen, um ein größeres gemeinsames Europa nicht nur zu denken, sondern auch zu praktizieren? Ein Aspekt ist diesbezüglich ganz wichtig, nämlich der Gedanke der Subsidiarität. Subsidiarität heißt nichts anderes, als dass nur jene Dinge, die aufgrund notwendiger Koordination und Kooperation einer höheren Ebene bedürfen, auf diese Ebene übertragen werden sollen. Diese Diskussion muss geführt werden.

Wir sprechen jetzt sehr oft, durchaus mit Recht, von europäischer Integration. Aber europäische Integration in meinem Verständnis, und ich darf Ihnen sagen, im Verständnis praktisch aller meiner Kollegen, ist nicht immer eine Einbahnstraße, nicht immer nur die Abgabe von Kompetenzen nach Brüssel, um es bildhaft zu sagen. Sondern europäische Integration heißt auch, die Spielregeln simpel zu definieren, nach denen das Zusammenleben in Europa geordnet oder weiterentwickelt werden soll. Das soll nicht heißen, dass wir eine Unordnung hätten, aber weiterentwickeln heißt ganz einfach, dass wir feststellen, was auf der Ebene einer Stadt, eines Dorfes geregelt werden kann. Wozu brauche ich eine Provinz, eine Region, wozu brauche ich überhaupt so viele Ebenen? Auch diese Diskussion ist, glaube ich, legitim und das bedarf letztlich der Kooperation und der Koordination auf europäischer Ebene. Dies zu denken ist es wert.

Ich habe ein letztes großes Anliegen und deshalb freue ich mich auf die vielen Gespräche, die sich hoffentlich jenseits des offiziellen Programmablaufes ergeben werden. Ich verhehle nicht, dass mir die Stimme der Intellektuellen in Europa zu leise ist. Wir erleben, dass die Meinungsbildung jenseits des Atlantiks auch sehr stark nach Europa getragen wird. Es wird uns ständig erklärt, was wir zu tun haben. Ich frage mich, wo sind die intellektuellen Stimmen Europas? Woran liegt es, dass es die intellektuellen Stimmen Europas nicht gibt? Wir können für jedes Land Denkerinnen und Denker aufzählen, aber es findet sich offensichtlich keine Möglichkeit, dass es hier zu einer starken intellektuellen Stimme Europas kommt.

Wir sind sehr stolz auf unsere Sprachenvielfalt. Es wurde bereits angesprochen, dass das eine absolute Stärke Europas neben der sonstigen Vielfalt ist. Dieser Wettbewerb ist über die Jahrhunderte grosso modo betrachtet etwas Gesundes.

Umgekehrt ist durch eine gemeinsame Sprache, die wir durch das Lateinische vor 2000 Jahren ja hatten, die Wirkungsmacht lateinischer Denker bis heute gegeben. Diese Dimension fehlt uns möglicherweise heute, und das ist unter Umständen mitverantwortlich für das Nichtvorhandensein dieser intellektuellen Stimme Europas. Es ist müßig, darüber zu räsonieren, aber mein Ansatz ist es zu hinterfragen, was können wir dazu beitragen, was können Sie dazu beitragen, welche Ideen haben wir, um letztlich sicherzustellen, dass es auf der Ebene des Geisteslebens, des Nachdenkens zu Erkenntnissen kommt, die dann auch europaweit diskutiert werden. Denn das brauchen wir unbedingt zur Ergänzung unseres Lebens. Genauso wie wir das auf regionaler und nationaler Ebene haben und brauchen, so brauchen wir das auch auf europäischer Ebene. Wenn diese Idee von dieser Veranstaltung in Triest ausstrahlen könnte, dann hätten wir schon ungeheuer viel erreicht.

Denker und Nachdenker sind unabdingbar für die Weiterentwicklung. Ich glaube, es war Friedrich Hebbel, der schon einmal formuliert hat: »Dies Österreich ist eine kleine Welt, in der die große ihre Probe hält.« Ich meine, hier könnte von Triest etwas ausgehen, was sich letztlich stimulierend auf andere Bereiche Europas auswirken kann und letztlich auch Einfluss auf unser Denken und Handeln hat.

Endnote

1 Rede von EU Kommissar Dr. Johannes Hahn zur Eröffnung von „Europa neu denken. Region, Innovation und Kulturalität“ am 1. Juni 2012 im Palazzo della Regione Autonoma Friuli Venezia Giulia, Salone di Rappresentanza, Piazza Unità d’Italia 1, Triest.

Europa als Heimat?

Michael Fischer

60 Jahre lang wuchs Europa zusammen – von Portugal bis Polen. 60 Jahre lang war die Europäische Union Garant für Frieden und Wohlstand. Aber das Wir-Gefühl fehlt, das 27 Staaten in eine Schicksalsgemeinschaft verwandelt, wie die Euro-Krise zeigt. Hängt wirklich alles am Euro, den bloß 17 Mitgliedstaaten als Währung haben?

Bisher hat die Union all ihre Herausforderungen gemeistert, oft allein durch die Dichte ihres politischen und kulturellen Netzwerkes und aufgrund des gemeinsamen kulturellen Erbes. Aber wird dies auch morgen der Fall sein? Ich wundere mich oft, wie depressiv wir Europäer trotz dieser enormen Erfolgsgeschichte sind. Sind es wirklich bloß idealistische Assoziationen, an Europa als kulturelle Gemeinschaft zu glauben, weil es seine Existenz und Essenz mit den grundlegenden Menschenrechten rechtfertigt, mit Menschenwürde und der Ablehnung aller religiösen und politischen Fanatismen? Was wäre denn die leb- und realisierbare Alternative?

Die Anatomie der Krise (wie das Schauspielprogramm der Wiener Festwochen 2012 lautet) zeigt ein anderes Bild: eine Wirtschafts- und Finanzgemeinschaft, eine Gemeinschaft der Aktiengesellschaften. Als kulturelle Gemeinschaft erscheint die Europäische Union nur insoweit, als dies zur Belebung von Bankgeschäften, zur Prosperität der Telekommunikationskonzerne, zur Wettbewerbsfähigkeit der europäischen Ölindustrie beiträgt. Umgekehrt wollen wir kulturelle und soziale Herkunftsbestände bewusst oder unbewusst vor der Gefahr schützen, dass sie sich im unüberschaubaren Wandel restlos auflösen: eine Kompensationsstrategie gegen die Angst der Fragmentierung und Zersetzung des Ich.

Die Frage, die sich viele Menschen stellen, ist, ob der vertraute Raum – Heimat, Ort, Region –, diese hochemotionalen Sinnkonstrukte, wirklich von der Auflösung bedroht sind: Sei es nun kulturell, strukturell oder sozioökonomisch. Flughäfen, Einkaufszentren, Supermärkte, Freizeitparks, Hotelketten, Bahnhöfe, »Gated Communities«: Das Leben verlagert sich von Dörfern und Kleinstädten in die Einkaufszentren auf der Wiese, Kästen ohne Eigenschaften, »Nicht-Orte« (so der Pariser Anthropologe Marc Augé), die das Leben aus den gewachsenen Strukturen saugen: Abwanderung, Überalterung. Lemmingszüge durch die Wüsten der Arbeitslosigkeit. »Nicht-Orte«, die immer mehr Menschen zu vereinzelten, nicht bloß ökonomisch zu »asozialen« Benutzern machen: »sich selbst und einander fremd«, verbunden bloß »in der ängstlichen Erfahrung isolierter, leerer Existenz«. Orte, die uns Aufbrüche ohne Ankünfte zumuten, gleichsam Nietzsches Finale ins Nichts.

Phänomene, die man nicht sehr präzis unter verschiedenen Begriffen wie »Rechtsradikalismus«, »Modernisierungsververlierer«, »Empörungsbewegung«, »Wutbürgertum«, »Verwahrlosungskohorte« oder anderen Etikettierungen und Stigmatisierungen bündelt, versteht nicht, wer nicht sieht, welches Motiv die im Einzelnen sehr heterogenen Gruppierungen verklammert: soziale Angst und gleichzeitig soziale Nahebedürfnisse sowie der verzweifelte Versuch, ökonomische Sicherheit im gegliederten begrenzten Raum zu behaupten.

Auf die Forderung nach Kulturalität, Öffnung und universeller Verantwortung durch die Menschenrechte antworten zukunftsverunsicherte Menschen mit der Wiedererrichtung von Grenzen und Tabus. Dies ist ein rapid ansteigendes, gesamteuropäisches Problem: Wenn wir auf die Stichworte der Wertewandelforschung schauen, die auf Globalisierung, Beschleunigung, Virtualisierung reagieren, so bündeln sie genau jene Emotionen, die im Begriff Heimat enthalten sind: »Cocooning«, Geborgenheitsästhetik, Biotope der Vertrautheit, Sehnsucht nach authentischen Eindeutigkeiten und einer intakten Lebensatmosphäre. Gemäß einer vom SPIEGEL in Auftrag gegebenen Studie vom März 2012 gilt das für knapp 80 Prozent der Bevölkerung der Bundesrepublik Deutschland. Die Zahl dürfte zumindest auf Österreich analog übertragbar sein, vielleicht auch auf Slowenien. Überwältigend ist die Zustimmung zur Heimat als regionale Identität in Friaul-Venetien mit seinen spezifisch grenzüberschreitenden Identitätsformen.

Die Rückbesinnung auf Heimat und Herkunft als geografischen Raum wird freilich dort für Europa politisch prekär, wo sie direkt oder indirekt auffordert, die Welt der großen Politik und der großen Strukturen zu verlassen. Small is beautiful statt Europa als Einheit. Dies birgt Gefahren für eine offene Zivilgesellschaft, die darauf angewiesen ist, dass ihre Mitglieder sich internationalisieren und globalisieren, sich der Weltgesellschaft öffnen. Also: Heimat sowohl als Präsentation kultureller Identität wie auch als Ort der Innovation und Aufklärung. Denn so gesehen hat Europa, wie bereits gesagt, »so viel Herkunft, dass seine Zukunft nicht zu verhindern ist«.

Die Zivilisationstheoretiker der Aufklärung haben bereits über solche Zusammenhänge nachgedacht und praktische Konzepte entwickelt. Eine innovative Theorie der Heimat hat der Zürcher Pädagoge und Aufklärer Johann Heinrich Pestalozzi formuliert. Er machte deutlich, dass das Besondere unserer Herkunft nicht ein trennender, separierender Faktor ist, sondern der Brennpunkt für eine künftige, offene und tolerante »Völkerverbindung«, wie es damals hieß. Und bei dieser Verbindung dachte er natürlich an ein symbolisches (idealistisches) Kapital und nicht an ein finanzielles.

Freilich, die Geschichte des vergangenen Jahrhunderts hat dem Heimatbegriff seine Unschuld genommen. Durch die totale Enthumanisierung alles Menschlichen im Namen einer »besseren, rassenreinen Heimat«. Der katastrophalen Pervertierung durch Faschismus und Nationalsozialismus folgte nach 1945 die weitgehende Verdrängung. Aber stets haben namhafte Philosophen die Unverzichtbarkeit des Heimatbegriffs hervorgehoben. Ernst Bloch etwa notiert am Ende seines Werkes Das Prinzip Hoffnung: Bei jedem Menschen gibt es etwas, »das allen in die Kindheit scheint und worin noch niemand war: Heimat«. Stets sind wir gezwungen, so Sigmund Freud, den Blick auf den »Eingang zur alten Heimat des Menschenkindes« zu richten. Doch hat diese sentimentale (postromantische) Utopie noch eine Bedeutung?

Heimat ist zunächst eine raum-zeitliche Gegebenheit für jeden Menschen, in die er hineingeboren oder hineingekommen ist und in der er wohnt. Darüber hinaus ist Heimat das Ganze der an die engere Umgebung angelagerten weiteren »Lebenskreise« und ihrer »Horizonte« (Pestalozzi): die Landschaft, das Land, der sprachliche Großraum, dann Europa, schließlich die »Welt«. Heimatbewusstsein setzt das »Andere« voraus und daher auch Toleranz. Automatisch ist es auch immer eine Form des Weltbewusstseins. Dadurch verliert der Heimatbegriff seine bloß geografische Komponente und seine existentielle Bedeutung wird deutlich. Heimat ist ein Komplex, den es für jeden Menschen aktiv zu schaffen gilt, eine Beziehung, die eine stetige geistige Anstrengung voraussetzt.

Die hohe Bewertung der eigenen Heimat ist freilich nur unter der Bedingung sinnvoll und zulässig, dass man auch für die Heimat anderer eintritt. Das Recht auf Heimat, das als kategorischer Imperativ für alle Menschen gilt, hat elementar diesen Bedeutungskern. Die Sorge für die Heimat und das Heimatbewusstsein anderer, der nachfolgenden Generationen oder anderer Völker, ist die notwendige Konsequenz und Grenze des Bewusstseins der eigenen Heimat und der Sorge um sie. Daher ist es notwendig, gegen jede Art von regionalem Partikularismus aufzutreten (Johannes Hahn).

Die genannten Perspektiven sind kein verbohrter Traditionalismus, sondern ein evidentes Problem kraft der Einsicht, dass unter den Lebensbedingungen und Krisenerscheinungen unserer Gegenwartszivilisation Herkunftsprägungen und Traditionen ein knappes Gut sind, mit dem wir im Interesse unserer und künftiger Generationen behutsam umzugehen haben. Sie bieten ein wesentliches Zivilisationselement des 21. Jahrhunderts. Längstens liefern Landschafts-, Umwelt- und Naturschutz, Altstadterhaltung und Denkmalschutz positive Beispiele. Aber wir sind jetzt dabei – wie die Tagung zeigt – auch unsere Einstellungen zu Sprache und Alltagskultur, Festlichkeiten und Theater zu verändern. Herkunft öffnet die Zukunft für das Neue, heißt es. Und in der Tat ist das Neue mit all seinen Herausforderungen die Voraussetzung dafür, dass Tradition fortgeschrieben werden kann. (Hegel spricht zurecht »von der historischen Kategorie des Neuen«.)

Der Esstisch war stets ein großes Symbol intakter Gemeinschaftlichkeit, ja die gemeinsame Tafel ist die Keimzelle der Zivilisation. Dort begannen die Erzählungen von Menschen über Menschen, über ihre Leistungen und Fehlschläge, ihre Kämpfe mit den Göttern und den Triumph der Liebe. Durch Erzählungen, durch narrative Intelligenz lassen wir uns positiv herausfordern von der Verschiedenheit der Menschen und ihrer Räume, in denen sie leben, sowie von den Chancen, die sich daraus für unser Zusammenleben ergeben.

Veronika Ratzenböck zeigt dies deutlich, wenn sie sagt: »Das Unerwartete und Überraschende der Kultur ist das ›Kapital‹ Europas.« Wirtschaftlich wichtig sind neben Kreativität, Innovation und Unternehmergeist auch die sogenannten weichen Faktoren wie z.B. Lebensqualität, Wohlbefinden und kulturelle Vielfalt. Dies ist auch der Grund, bei der Neukonzeption der EU-Regionalpolitik Kultur in der Politik der lokalen und regionalen Entwicklung stärker und durchgängig zu berücksichtigen.

Verantwortungsvolle Politik darf weder den Menschen in seiner Individualität ignorieren noch die ökonomischen und kulturellen Räume, in denen er sich bewegt. Ansonsten werden wir uns immer häufiger fragen müssen, wohin wir gehen, weil wir immer weniger wissen, wo und wer wir sind.

Literaturliste

Assmann, Aleida / Friese, Heidrun (Hg.), Identitäten, Frankfurt am Main 1998 (= Erinnerungen, Geschichte, Identität, 3).

Augé, Marc, Orte und Nicht-Orte. Vorüberlegungen zu einer Ethnologie der Einsamkeit, 2. Aufl., Frankfurt am Main 1994.

Bauman, Zygmunt, Soziologie zwischen Postmoderne und Ethik, Stuttgart 2002.

Bickle, Peter, Heimat. A critical theory of the German idea of homeland, Rochester–New York u.a. 2004.

Bloch, Ernst, Das Prinzip Hoffnung, Bd. 5 d. Gesamtausgabe in 16 Bänden, Frankfurt am Main 1985.

Boa, Elizabeth / Palfreyman, Rachel (Eds.), Heimat. A german dream. Regional loyalties and national identity in German culture, 1890–1990, Oxford 2000.

Cacciari, Massimo, Wohnen. Denken. Die Frage nach dem Ort, Klagenfurt–Wien 2002.

Cremer, Will / Klein, Ansgar (Hg.), Heimat. Analysen, Themen, Perspektiven, Bonn 1990.

Dürrmann, Peter, Heimat und Identität. Der moderne Mensch auf der Suche nach Geborgenheit, Tübingen–Zürich–Paris 1994.

Gerschmann, Karl-Heinz, Johannes Hofers Dissertation ›De Nostalgia‹ von 1688, in: Archiv für Begriffsgeschichte 19 (1975), 83–88.

Grün, Anselm, Wo ich zu Hause bin. Von der Sehnsucht nach Heimat, Freiburg im Breisgau 2011.

Khakpour, Toumaj, Das Comeback eines Mythos, in: Der Standard-online, 4. November 2011 (http://dastandard.at/1319181992001/Heimatbegriff-in-Parteiprogrammen-Das-Comeback-eines-Mythos).

Köstlin, Konrad, Heimat geht durch den Magen. Oder: Das Maultaschensyndrom. Soul-Food in der Moderne, in: Beiträge zur Volkskunde in Baden-Württemberg 4 (1991), 147–164.

Krokow, Christian Graf von, Heimat. Erfahrungen mit einem deutschen Thema, München 1992.

Pestalozzi, Johann Heinrich, Abendstunde eines Einsiedlers (1779/80), in: Sämtliche Werke, Kritische Ausgabe, Berlin–Leipzig 1927ff., Bd. 1, 1927.

Ratzenböck, Veronika u.a., Der Kreativ-Motor für regionale Entwicklung. Kunst- und Kulturprojekte und die EU-Struktur-förderung in Österreich, Wien 2011.

Schlink, Bernhard, Heimat als Utopie, Frankfurt am Main 2000.

Schmitt-Roschmann, Verena, Heimat. Neuentdeckung eines verpönten Gefühls, Gütersloh 2010.

Schnoy, Sebastian, Heimat ist, was man vermisst. Eine vergnügliche Suche nach dem deutschen Zuhause, Reinbek bei Hamburg 2010.

Schorlemmer, Friedrich, Wohl dem, der Heimat hat, Berlin 2010.

Seifert, Manfred, Zwischen Emotion und Kalkül. Heimat als Argument im Prozess der Moderne, Leipzig 2010.

Spranger, Eduard, Pestalozzis Denkformen, 2. Aufl., Heidelberg 1959, 35ff. und 49ff.

Waffender, Corinna, Heimat, Tübingen 2010.

»Was ist Heimat? Eine Spurensuche in Deutschland«, in: Der Spiegel 15 (2012), 60–71.

Die Dialektik von Tradition und Innovation

Henning Ottmann

Die Moderne ist ein Zeitalter, das Traditionen nicht freundlich gesinnt ist. Zumindest meinen manche, dass dies so sei. Als modern gilt das, was noch kommt: die Zukunft. Und als modern gilt, was jetzt neu ist, was anders ist, als es früher war. Sehr beliebt sind Wortkombinationen mit der Vorsilbe »post«: »post-metaphysisch«, »post-national«, »post-traditional«, »post-konventionell« und wie diese Wortkombinationen alle heißen. Die kleine, unscheinbare Vorsilbe »post« enthält eine ganze Geschichtsphilosophie. Sie soll nämlich besagen, das, was da als »post-metaphysisch«, »post-national«, »post-traditional« bezeichnet wird, das ist auf der Höhe der Zeit. Das ist zeitgemäß. Wer noch an der anderen Seite der Wortkombination festhält, also an »metaphysisch«, »national«, »traditional«, der ist nicht auf der Höhe der Zeit. Er ist ein bedauernswertes Opfer historischer Zurückgebliebenheit, ein Fußkranker des Weltgeistes, an dem die moderne Karawane längst vorbeigezogen ist.

Ja, wenn die Sache mit der Moderne so einfach wäre! Wenn sie sich so säuberlich in zeitgemäß und überholt sortieren ließe! In Wahrheit sind die beliebten Wortbildungen mit der Vorsilbe »post« nichts anderes als Versuche, sich geschichtlich ins Recht zu setzen. Sie dienen dazu, sich diskursive Vorteile zu verschaffen. Vorausgesetzt wird dabei immer eine, wie ich meine, halbierte Moderne. Die Moderne wird von einer und nur einer ihrer Seiten aufgenommen: ihrer progressistischen, ihrer futuristischen. Verschwiegen wird, dass sie ebenso ihre beharrenden Elemente besitzt. Schon als die moderne Spaltung von progressiv und konservativ in die Welt trat, also in der Zeit der Französischen Revolution, schon da war zu sehen, dass der Konservatismus nicht weniger modern ist als der Progressismus. Er ist eine Antwort auf den Progressismus und er ist eine Antwort, auf die nicht verzichtet werden kann, wenn man die Moderne nicht nur zur Hälfte, sondern als Ganzes erfassen will.

Zur Moderne gehören die Prozesse der Befreiung von traditionellen Bindungen. Zu ihr gehören aber ebenso die bewahrenden Kräfte, die den Prozessen der Loslösung Grenzen setzen und sie davor bewahren, die Ursprünge zu vergessen, aus denen die moderne Freiheit stammt. Diese sind vielfältiger Art. Sie reichen vom griechischen und römischen Erbe unserer Kultur bis zur Erbschaft des Christentums. Das Christentum, heißt es bei Jürgen Habermas,

»ist für das normative Selbstverständnis der Moderne nicht nur eine Vorläufergestalt oder ein Katalysator gewesen. Der egalitäre Universalismus, aus dem die Idee von Freiheit und solidarischem Zusammenleben, von autonomer Lebensführung und Emanzipation, von individueller Gewissensmoral, Menschenrechten und Demokratie entsprungen ist, ist unmittelbar ein Erbe der jüdischen Gerechtigkeits- und der christlichen Liebesethik«.1

Wie wir unser Leben verstehen und wie wir es in Zukunft verstehen wollen, das hängt von unserem Verständnis der Vergangenheit ab. Odo Marquard hat es wie immer bündig formuliert: »Zukunft braucht Herkunft.«2 Der Blick nach vorn bedarf des Blicks zurück, und erst der Blick in beide Richtungen lässt verstehen, was unsere Zeit, was die Moderne ist.

Modern ist, dass die Moral universal und reflexiv wird. Modern ist, dass das Recht zum Recht des Menschen wird. Recht und Moral in ihrer Universalität sind Errungenschaften der Moderne. Diese gilt es, »modernitätskonservativ« zu bewahren. Die große Frage ist nur, auf welche Weise dies geschehen kann. Es kann nicht geschehen, wenn man die Moderne nur von einer ihrer Seiten aufgreift. Ich gebe drei Beispiele dafür:

Beispiel Nr. 1: Modern ist die Beschleunigung des kulturellen Wandels. »Erfahrungsraum« und »Erwartungshorizont« treten, so Koselleck, auseinander.3 Während früher das Alter mit Weisheit gleichgesetzt wurde, versteht der Großvater den Enkel heute nicht mehr. Kopfschüttelnd steht er neben ihm, wenn dieser am PC sitzt und dort seine mysteriösen Dinge treibt. Die Veraltungsgeschwindigkeit kultureller Phänomene nimmt ständig zu. Aber was geschieht, wenn solche Prozesse der Beschleunigung auftreten? Sie rufen als Reaktion das Bedürfnis hervor, eine Welt wiederzufinden, die einem vertraut gewesen ist, eine Welt, in der man wieder zuhause sein kann. Aus diesem Grunde boomen die Flohmärkte und die Museen. Aus diesem Grunde wird heute auch noch die letzte Fassade renoviert. Das ist erfreulich. Je schneller das Tempo des kulturellen Wandels wird, umso größer wird der Bedarf an Historisierung. Je schneller uns immer Neues begegnet, umso schneller wird es auch zum Alten. Kunstwerke wandern immer zügiger ins Museum, manches Mal schon unmittelbar, nachdem sie produziert worden sind. Vom Atelier direkt ins Museum, das ist eine bisher unerhörte Veraltungsgeschwindigkeit. Aus jungen Wilden werden unversehens zahme Alte. Für Künstler der Avantgarde ein schmerzhafter Prozess. Da der Reichtum an neuen Einfällen begrenzt ist, kehrt auch immer schneller irgendetwas wieder. Man kann nun auch getrost auf der Stelle treten und man findet sich nach einiger Zeit unversehens in der Avantgarde vor.

Beispiel Nr. 2: Modern ist das Schwinden der räumlichen Distanzen. Der neue Welthandel der Devisen- und Kapitalmärkte, der rund um die Uhr in Echtzeit getätigt wird, die neuen Kommunikationstechniken, sie lassen die Räume und die zeitlichen Abstände schwinden. War es bisher den Heiligen vorbehalten, an zwei Orten gleichzeitig erscheinen zu können, so ist der moderne Mensch zur gleichen Zeit hier und dort. Medial ist er sogar allerorten, allgegenwärtig in seltsamer Omnipräsenz. Dabei sitzt er, wenn ihm die Welt medial begegnet, vermutlich in einem Sessel, an einem ganz bestimmten Fleck. Wie versteht der moderne Mensch die Welt? Ist sie ihm ein Fernsehbild? Eine Nachricht im Netz? Sieht er sie als eine Art Hotel? Als touristischen Aufenthaltsort? Wo ist sein Wohnort, sein Standort? Beides, Wohnort und Standort, sind Begriffe, die das griechische Wort ethos einmal bezeichnet hat, und ich frage mich immer, wenn Wirtschaftsführer vom Standort reden, ob sie sich an die alte Bedeutung noch erinnern.

Modern ist eine so nie gekannte Entortung des Lebens. Aber auch in diesem Fall gibt es Bewegung und Gegenbewegung. Je mehr wir virtuell (oder auch realiter) allerorten sind, umso mehr wollen wir wissen, wo wir eigentlich zuhause sind. Ort ist nicht gleich Ort, wie es uns manche Theoretiker der Globalisierung weismachen wollen. Ein Hotel ist kein Zuhause, eine Ferienwohnung keine Bleibe fürs Leben. Man kann heute jeden Winkel der Welt bereisen. In der virtuellen Welt können wir herumschweifen als neue Nomaden. Virtuell oder zeitweilig ist das Leben global, gelebt wird es immer lokal.

Beispiel Nr. 3: Die Moderne drängt zur Globalität. Sie drängt wirtschaftlich und politisch zur Großräumigkeit. Ein Prozess, der an Dynamik gewonnen hat, seit die Ost-West-Spaltung aufgehoben wurde und Demokratie und Kapitalismus alternativlos geworden sind. Die Globalisierungstheorien führen uns heute eine Welt vor, die immer enger zusammenwächst. Die Zivilisationen scheinen sich zu einer Weltzivilisation zu vereinheitlichen. Von New York bis Tokio dieselben amerikanischen Fernsehserien, von Berlin bis Peking eine Jugend, welche dieselben Jeans und Turnschuhe trägt. Aber je ähnlicher sich die Lebensformen werden, umso mehr wollen wir wissen, wer wir selber sind. Im bayerischen Bierzelt wird immer noch Blasmusik gespielt und nicht Sirtaki getanzt. Zudem haben die lokalen Kulturen die Eigenschaft, sich das Globale anzuverwandeln. Es ist dann doch nicht ganz dasselbe, je nach Erdteil und Kultur. Es entstehen seltsame Mischgebilde wie die »Weißwurst Hawai«4. Eine solche Mischung schmeckt nicht jedem, in diesem Fall sicher nicht jedem Münchner. Für ihn hat die Qualität der Weißwurst – ähnlich wie das Reinheitsgebot beim Bier – quasireligiösen Status. (Der Theologe Metz hat einmal bemerkt, die Bayern hätten ein irdisches Verhältnis zur Religion und ein religiöses zum Bier.) Wie dem auch sei, auf jede Angleichung folgt eine neue Differenzierung. Die moderne Welt wird sich einerseits immer ähnlicher, andererseits nehmen gewisse Unterschiede zu. Nie hatte die romantische Idee, dass jeder sein eigenes, sein authentisches Leben zu führen habe, mehr Anhänger als heute. Charles Taylor hat es in seinen letzten Büchern demonstriert.5

Nun kann es sein, dass sich Angleichung und Differenzierung nicht im harmlosen Bereich der Kulinarik abspielen. Es kann schon sein, dass sich der Gegensatz von eigener Lebensform und Weltzivilisation bis zum Konflikt steigert. Der Kommunitarist Benjamin Barber hat ihn als Konflikt von McWorld und Dschihad beschrieben.6 Die Moderne verunsichert und sie schwebt in der Gefahr, aus der Verunsicherung Fundamentalismen zu erzeugen, die das Gegenteil gelungener Modernität sind.

Wenn McWorld und Dschihad aufeinanderprallen, dann geraten zwei Fehlformen der Moderne miteinander in Konflikt. Es bekämpfen sich ein differenzblinder Ökonomismus und ein sich der Modernität verweigerndes Stammeswesen. Prima facie scheinen sie Welten voneinander entfernt zu sein, in Wahrheit sind sie feindliche Brüder, in falschem Modernismus und falschem Antimodernismus geeint. Sie untergraben die Moderne von beiden Seiten aus. Aber die Moderne ist weder vorbehaltlos zu bejahen noch ist sie pauschal zu verwerfen. Nur eine Balance von Modernitätskritik und Modernitätsaffirmation wird ihr gerecht.

Heute wird immer wieder der Ruf nach größeren politischen Einheiten laut: nach einem Weltstaat, einer Weltrepublik, einer globalen Demokratie. Manche meinen, dass sich nach Polis, Imperium und Nationalstaat ein neues Paradigma ankündige, die Wende zu einer transnationalen, einer großräumigen, ja einer die Welt umfassenden Demokratie. Einmal abgesehen davon, dass es sich hier um Wunschträume handelt, die nicht gerade selten auf sozialdemokratische Ursprünge zurückzuführen sind, auf Versuche, für New Labour einen Weg zwischen rechts und links zu finden, man übersieht, dass die politische Welt sich momentan nicht nur vergrößert, sondern ebenso Zug um Zug verkleinert. Es gibt nicht nur neue Großräume wie die EU, Amerika oder Asien. Es gibt auch eine immer kleinteiligere Zerbröselung der Einheiten. Imperien wie die Sowjetunion sind in einzelne Staaten zerfallen. Staaten stoßen auf ein neues Selbstbewusstsein der Regionen. Die Lebensformen vervielfältigen sich in eine postmoderne Vielfalt. Großräumigkeit und Kleinteiligkeit reichen sich die Hand. Auch da besitzt die Moderne keine Eindeutigkeit.

Ein heute wieder beliebtes Schlagwort der Antike ist der Kosmopolitismus, und manche fordern eine kosmopolitische Demokratie (Held, Beck).7 Die Moderne macht uns in der Tat alle zu Weltbürgern. Das Recht ist Recht des Menschen geworden, die Moral ist universal, wir lesen Weltliteratur und wir können uns für die entferntesten Winkel der Erde interessieren. Aber dieser Universalismus und Kosmopolitismus ist politisch nicht unschuldig. Bereits in der Antike war er der Schatten der Imperien. Heute kann er die Kehrseite eines sich globalisierenden Kapitalismus oder eines universalen Interventionismus sein. Die Rhetorik ist übrigens schon in der Antike genau dieselbe wie heute. Wenn Arrian das Reich des Alexander lobt oder Aristides Rom, dann begegnen die Schlagworte von heute: »Eintracht«, »Völkermischung«, »Gleichheit«, »Frieden«, »freier Verkehr« etc.8

Der Kosmopolitismus ist machtpolitisch missbrauchbar, und er wird vor allem dann ideologisch, wenn er suggeriert, dass wir zu jedem Menschen auf dieser Erde in derselben Beziehung stehen wie zu unseren Eltern, Kindern oder Landsleuten. Man preist heute gerne die Nähe zum Fernsten, und in der Tat sind wir jedem Menschen in allgemeiner Menschlichkeit verbunden. Es gibt eine allgemeine Pflicht zur Hilfe, über die übrigens im Lehrstück vom Barmherzigen Samariter das Wesentliche gesagt ist. Aber neben der Nähe zum Fernsten gibt es auch die Nähe zum Nahen, und diese Nähe zum Nahen kann man nicht im Namen des Universalismus und Kosmopolitismus überspringen. Wohin die einseitige Favorisierung von Universalismus und Kosmopolitismus führt, dafür bietet der berühmte Fire case des Philosophen Godwin ein schlagendes Beispiel.9 Godwin stellt sich die Frage, wen man aus einem brennenden Haus retten soll, den eigenen Vater oder Fénelon, den berühmten Verfasser der Télémaque. Godwin meint, dass Fénelon zu retten sei, weil dieser für das Glück der Menschheit bedeutsamer sei als der eigene Vater. Das ist Universalismus pur, hier noch gepaart mit Utilitarismus. Man sieht auf einen Blick, der Universalismus für sich genommen führt zu einer Welt, in der es nur noch Menschen, aber keine Väter und keine Söhne mehr gibt. Der Philosoph Albert Camus hatte sich für das gegenteilige Extrem ausgesprochen. Er sagte während des Algerienkrieges: »Ich glaube an die Gerechtigkeit. Aber bevor ich die Gerechtigkeit verteidige, werde ich meine Mutter verteidigen.«10

Godwin und Camus – beide zeigen Extrempositionen, die zu vermeiden sind. Eine ausgewogene Theorie der Moderne muss Emanzipation und Tradition, Herkunft und Zukunft miteinander vereinen können. Ein Modell dafür liefert die Philosophie Hegels. Sie bietet einen Ausgleich von Emanzipation und Tradition, ausgehend von der Annahme, dass die moderne Emanzipation von Voraussetzungen lebt, die sie selber nicht garantieren kann. Ernst-Wolfgang Böckenförde hat dies bekanntlich vom modernen Staat behauptet, dass er von Voraussetzungen lebe, die er selbst nicht garantieren könne. Bei Hegel gilt dies von der Moderne insgesamt.

Im § 209 (A) der Hegelschen Rechtsphilosophie heißt es: »Der Mensch gilt so, weil er Mensch ist, nicht weil er Jude, Katholik, Protestant, Deutscher, Italiener u.s.f. ist.«11 Die Französische und die Amerikanische Revolution haben den Menschen als Menschen befreit. Er wird seit dieser Zeit als frei und gleich anerkannt. Die Emanzipation hat den Menschen aus den Bindungen der Herkunft gelöst. Aber wenn diese Befreiung nicht blind werden soll für Herkunft und Differenz, dann muss sie auch bedeuten, dass es jedem von nun an freisteht zu sein, was er sein will: Jude, Katholik, Protestant, Deutscher, Italiener usf. Die Aufforderung, man solle nur noch Mensch sein, ist tendenziell totalitär. Sie reduziert den Menschen auf ein Abstraktum ohne Religion, Nation und Familie. Sie suggeriert, dass dies alles sei, was er als Mensch zu sein habe. In Wahrheit hat sie einen Menschen vor Augen, der nichts mehr sein Eigen nennt. Am Ende ständig wiederholter Prozesse reiner Loslösung kann Freiheit ja nur noch bedeuten, dass man nichts mehr zu verlieren hat. »Freedom’s just another word for nothing left to loose.«

Tradition und Herkunft können zur Folklore erstarren und borniert werden. Die Gefahr besteht. Aber wer heute von sich selber sagt, ich bin Katholik, Deutscher, Westfale, ja, was weiß ich, der verhält sich nicht anti-modern, sondern absolut modernitätskonform. Er nimmt nur wahr, was bei gelingender Emanzipation sein gutes Recht ist. Er muss nicht nur das sein, wozu ihn die Moderne machen will. Er darf auch das bleiben, was er schon ist. Erst das wäre gelungene Emanzipation.

Endnoten

1 Habermas, Jürgen, Zeit der Übergänge, Frankfurt am Main 2001, 174f.

2 Marquard, Odo, Zukunft braucht Herkunft, in: Ders., Philosophie des Stattdessen, Stuttgart 2000, 66–78.

3 Koselleck, Reinhart, ›Erfahrungsraum‹ und ›Erwartungshorizont‹ – zwei historische Kategorien, in: Patzig, Günther u.a. (Hg.), Logik, Ethik, Theorie der Geisteswissenschaften, Hamburg 1977, 191–208.

4 Beck, Ulrich, Was ist Globalisierung?, 2. Aufl., Frankfurt am Main 1997, 85ff.

5 Taylor, Charles, Quellen des Selbst, Frankfurt am Main 1995; ders., Ein säkulares Zeitalter, Frankfurt am Main 2009.

6 Barber, Benjamin, Jihad vs. McWorld, New York 1996.

7 Held, David, Democracy and the Global Order, Cambridge 1995; Archibugi, Daniele / Held, David (Hg.), Cosmopolitan Democracy, Cambridge 1985; Beck, Ulrich, Macht und Gegenmacht im globalen Zeitalter, Frankfurt am Main 2002.

8 Ottmann, Henning, Geschichte des politischen Denkens. Die Griechen, Bd.1/2, Stuttgart 2001, 260ff.; ders., Die Römer, Bd. 2/1, Stuttgart 2002, 298f.

9 Godwin, William, Enquiry Concerning Political Justice, Vol. II, London 1793, c.2.

10 Zit. nach Todd, Olivier, Albert Camus. Ein Leben, Reinbek 1999, 754.

11 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich, Werke, Bd. 7, Frankfurt am Main 1979, 360f.

Das Europäische an Europa ist nicht das Finanzielle1

Michael Fleischhacker

Wie lange es den Euro noch gibt, weiß niemand. Ob die EU sich von ihren Überdehnungssymptomen erholt, ist offen. Nur um Europa muss man sich nicht sorgen.

Europa neu denken lautet der Titel einer wissenschaftlichen Tagung, die an diesem Wochenende in Triest in vielerlei Varianten der Frage nachgeht, was Europa ausmacht und wie es seinen Bewohnern leichter fallen könnte, so etwas wie ein europäisches Heimatgefühl zu entwickeln. Sprache, Alltagskultur und Hochkultur, so viel lässt sich sagen, spielen dabei eine größere Rolle als die Zinsen, die man derzeit für griechische und spanische Kreditausfallversicherungen lukrieren kann.

Man muss nicht sehr tief in die europäische Herkunft eintauchen, um zu begreifen, dass Thilo Sarrazin mit seinem Buchtitel Europa braucht den Euro nicht die europäische Zukunft weit über den finanzpolitischen Horizont hinaus beschreibt. Man kann und muss Sarrazins These sogar zuspitzen: Nicht wenn der Euro scheitert, scheitert Europa. Europa scheitert, wenn die Behauptung, dass ein Scheitern des Euro Europa in Gefahr bringen könnte, ernst gemeint ist.

Günter Grass’ neuestes Gedicht Europas Schande ist handwerklich vermutlich der schlechteste lyrische Text, der in diesem Jahrhundert in einer renommierten deutschsprachigen Zeitung erschienen ist. Inhaltlich markiert er die endgültige Kapitulation eines Teils der antikapitalistischen Intellektuellen vor der von ihnen so lautstark beklagten Ökonomisierung aller Lebensbereiche. Da wird tatsächlich mit maximalem Pathos beklagt, dass ein Austritt Griechenlands aus dem Euro ein Verrat an der europäischen Herkunft wäre. So kann nur schreiben, wer nicht denkt oder wer denkt, dass das Europäische an Europa das Finanzielle ist.

Der andere Teil der antikapitalistischen Intellektuellen (man könnte auch schreiben: »der Intellektuellen«, aber es besteht immerhin die theoretische Möglichkeit, dass auf dem Kontinent auch liberale Intellektuelle ein unentdecktes, glückliches Leben führen) hat sich dazu entschlossen zu glauben, dass Europa das Bürokratische ist. Die Europäische Union in ihrer Gewordenheit wird zwar ob ihrer Demokratie- und Legitimationsdefizite kritisiert, gilt aber doch als Europa schlechthin. Würde die Union zerfallen, zerfiele in ihren Augen Europa. Auch das ist ein Verrat an der Idee, zu deren Verteidigung die weißen Buchstabenritter ausrücken.

Europa braucht weder den Euro noch die Europäische Union. Nicht daran, dass er das ausspricht, erkennt man den Anti-Europäer, sondern daran, dass er es bestreitet. Es gibt für diese Behauptung ausreichend faktische Evidenz: Wer würde bezweifeln, dass die Schweiz ein Teil Europas ist? Was sagt uns der Umstand, dass nur 17 von 27 Mitgliedern den Euro als Währung haben?

Kein vernünftiger Mensch wird hoffen, dass die europäische Währung kollabiert. Kein vernünftiger Mensch wird das Ende der Europäischen Union herbeisehnen. Aber es ist an der Zeit zu sehen, dass die Europäische Union dabei ist, neben ihrem finanziellen auch ihr symbolisches Kapital zu verspielen. Die lindernde Salbe der Kooperation, die wesentlichen Anteil daran hatte, dass die Wunden der Jahrhundertkatastrophe heilen konnten, hat sich durch unsachgemäße Lagerung zum zentralistischen Suchtmittel entwickelt. Die regelmäßig geführte Klage, es sei doch ganz im Gegenteil eine schreckliche Renationalisierung zu beobachten, die uns zurück an die Abgründe des Faschismus bringen könnte, geht an den Tatsachen vorbei: Wir erleben keine Renationalisierung, sondern einen nationalistisch inszenierten Kampf um die beste Position im zentralistischen Spiel.

Wie lange es den Euro noch gibt, kann keiner sagen, ob die Europäische Union ihre Überdehnungssymptome kurieren kann, wird man sehen. Ohne Schmerzen wird beides nicht zu haben sein. Finanzpolitisch ist das inzwischen allen klar. Dass auch die Wiedergewinnung einer politischen Perspektive für die Union nicht ohne gröbere Turbulenzen zu haben sein wird, hat die öffentliche Wahrnehmungsschwelle noch nicht überschritten.

Nur um Europa muss man sich keine Sorgen machen: Es hat so viel Herkunft, dass seine Zukunft nicht zu verhindern ist, nicht von der Union und nicht von ihrer gemeinsamen Währung.

Endnote

1 Als Leitartikel erschienen in der Samstag-Ausgabe von Die Presse am 1. Juni 2012, siehe: http://diepresse.com/home/meinung/kommentare/leitartikel/762609/print.do.

Selbstkritik als historische Chance Europas

Volker Gerhardt

Das Versagen der Europäer

Europa ist mit Abstand der kleinste Kontinent, und wenn es keine geschichtlichen Gründe gäbe, dem Archipel am westlichen Ende Asiens eine politische Sonderrolle zuzugestehen, hätte man einer Bereinigung des geografischen Vokabulars wenig entgegenzusetzen. Dann gäbe es mit Amerika, Asien, Afrika und Australien nur noch vier Kontinente und das alte Europa könnte mit dem Platz auf dem zerklüfteten Ausläufer der größten Landmasse der nördlichen Hemisphäre sehr zufrieden sein.

Manches spräche dafür, diese Rückbindung in die wahren Dimensionen der Geographie als eine Chance für den geopolitischen Status Europas anzusehen. Mit der Einordnung wäre zumindest die wissenschaftliche Domestikation vollzogen, der sich Europa zu fügen hätte, wenn ihm wirklich daran läge, nicht länger als koloniale und ideologische Bedrohung der Weltgemeinschaft angesehen zu werden.

Aus der Sicht der Anderen läge es nahe, einen verfehlten kontinentalen Nationalismus zu vermuten, wenn Europa sich gegen den Verlust seines angemaßten geografischen Sonderstatus wehren und sich seiner Integration in die Familie der erdgeschichtlich eigenständig gewordenen Kontinente widersetzen würde.

Um zu illustrieren, dass ich es hier nicht auf jenen leicht durchschaubaren altruistischen Perspektivenwechsel anlege, wie er vor noch gar nicht so langer Zeit mit dem Abschied vom »Eurozentrismus« versucht worden ist, erinnere ich an ein Wort des Historikers Stephen Toulmin, der – vornehmlich mit Blick auf das Wien der letzten Habsburger-Jahre – den zivilisatorischen Optimismus um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert anschaulich macht, um dann mit Blick auf das Geschehen des Ersten Weltkriegs festzustellen, dass in Europa plötzlich das »Dach« einstürzte.1

Die nachfolgenden Jahrzehnte, so kann man Toulmin ergänzen, haben dann mit den kommunistischen und faschistischen Totalitarismen sowie mit dem aus ihrem abwegigen Gegensatz erwachsenen Zweiten Weltkrieg dafür gesorgt, dass auch die Wände des Hauses in sich zusammenfielen und ein Teil des Fundaments herausgerissen wurde.

Das war der bislang folgenreichste weltpolitische Beitrag Europas, der nicht als beiläufiger Zufall abgetan werden kann. Man muss vielmehr der Tatsache ins Auge sehen, dass sich Europa teils in mutwilliger Abkehr von seinen eigenen Einsichten, teils in hybrider Fahrlässigkeit an den Rand eines Abgrunds gebracht hat, in den es leicht eine größere Zahl anderer Staaten in anderen Kontinenten hätte hinreißen können.

Gewiss: Europa hat in einer langen und wechselvollen Geschichte den weitaus größten Teil der zivilisatorischen Erwartungen aufgebaut, die uns heute immer noch bewegen.2 Aber eben diese Leistung ist es doch, die uns selber nötigt, in schonungsloser Selbstkritik vom Versagen der Europäer zu sprechen: dass sie die Menschenrechte in ihre Verfassungen geschrieben haben, aber den Widerspruch zu ihrer in den Weltkrieg führenden Kolonialpolitik gar nicht erkannten; dass sie den Krieg theoretisch ächteten, sich aber bis an die Zähne bewaffneten; dass sie die Menschheit in der Person eines jeden Einzelnen zu achten versprachen und dennoch das weltweit größte System der Ausbeutung von Menschen durch Menschen erfanden; und dass sie die erstmals in Europa proklamierte und praktizierte Gewaltenteilung augenblicklich vergaßen, als es darum ging, Eroberungskriege zu führen.3

Muss man nicht vermuten, dass die Europäer ihre eigenen Errungenschaften selbst nicht verstanden haben? Und wäre es im Interesse der Bewahrung der großen Ideen des Friedens, des Menschenrechts, des Rechtsstaats und der Demokratie nicht allemal besser, den Einfluss derer zu verringern, die dazu beigetragen haben, die basalen Ziele der politischen Kultur vor aller Welt in Misskredit zu bringen?

Also hätte Europa, wenn es denn endlich und dauerhaft einen Platz unter Gleichen finden und von seinesgleichen auch als gleich anerkannt und geachtet werden will, allen Grund, auf Sonderrollen, Sonderwege und auf eine geografisch gar nicht gerechtfertigte kontinentale Selbstauszeichnung zu verzichten.

Der exemplarische Rang der Vergewisserung der europäischen Geschichte

Der gut gemeinte Rat hat nur den kleinen Schönheitsfehler, dass er selbst erneut nach einer totalisierenden Lösung sucht und dabei vergisst, dass