Europa neu denken II -  - E-Book

Europa neu denken II E-Book

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Beschreibung

Bei der Auftaktveranstaltung von "Europa neu denken" 2012 in Triest wurde das Verhältnis von Region, Innovation und Kulturalität diskutiert. 2013 lag der Fokus auf der wichtigen Rolle, die die regionale Ausdehnung für die europäischen Heraus­forderungen im Bereich Kultur und Soziales spielen kann. 2014 ist jenes Jahr, das den Beginn der neuen adria­tisch-ionischen Makro-Region darstellt, um die Debatte in einem größeren Kontext weiterzuentwickeln. Der spezifische Kulturraum der Adria wird ausgeleuchtet, seine historische Widersprüchlichkeit, seine Biosphäre sowie sein überreiches kulturelles Angebot. Die aktuelle Debatte in der EU wird von ökonomischen Überlegungen und Krisenmanagement dominiert und nicht von grundlegenden Analysen des heutigen Europa. Europa braucht eine Rück-Entwicklung seiner jetzigen aktuellen Kultur, um erfolgreich zu sein. Die Idee und Konzeption des gleichnamigen Symposions im Oktober 2014 in Piran/Slowenien hat Michael Fischer noch selbst vorgenommen. Es war die letzte Programmkonzeption vor seinem Tod. Beiträge u.a. von: Giorgio Brianese (Venedig) Sergio Dolce (Triest) Marko Dinic (Salzburg) Ingrid Hentschel (Hannover) Franco Juri (Piran) Mirt Komel (Ljubljana) Henning Ottmann (München) Claudio Magris (Triest) Giulio Mellinato (Mailand) Uwe Rada (Berlin) Philipp Ther (Wien) Friederike Wißmann (Wien/Berlin)

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EUROPA NEU DENKEN II

Mentalitätsgeschichte der Adria –Neugierde und Konflikt als Betriebsgeheimnis

Michael Fischer(†)Johannes Hahn (Hg.)

MICHAEL FISCHER(†)JOHANNES HAHN HG.

EUROPANEU DENKEN II

Mentalitätsgeschichte der Adria –Neugierde und Konflikt als Betriebsgeheimnis

Dank für die Unterstützungzur Durchführung des Projekts:

Impressum

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

© 2015 Verlag Anton Pustet

5020 Salzburg, Bergstraße 12

Sämtliche Rechte vorbehalten.

Titelbild: Shutterstock.com, ©Yamagiwa 2015Grafik, Satz und Produktion: Tanja KühnelLektorat: Dorothea ForsterÜbersetzung aus dem Italienischen soweitnicht anders angeführt: KERN Austria GmbH

ISBN 978-3-7025-8019-3

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20   19    18    17   16     15

www.pustet.at

Inhaltsverzeichnis

Die Idee von Europa

Dank

Michael Fischer (†)/Johannes Hahn: Kreative Regionen – Europas Stärke

Johannes Hahn:Herausforderungen der Adriatisch-Ionischen Region

1. Das Land

Hedwig Kainberger:Den Gusto auf Vielschichtiges wecken. Eine slowenische Nachspeise regt an zum Nachdenken über Politik und Kultur an der Adria

Uwe Rada:Wunder der Adria

Marko Dinic:Das falsch gesattelte Pferd. Über die nationalistische Kulturpolitik auf dem Balkan und andere Volkskrankheiten anhand des Beispiels von Serbien. Ein Plädoyer

Hans Richard Brittnacher:»Der Rhythmus hat immer recht.« D’Annunzio verhängt den Ausnahmezustand in Fiume

2. Das Meer als Kulturraum

Claudio Magris:Il mio mare/Mein Meer

Giorgio Brianese:L’uomo che sogna e il mare. Carlo Michelstaedter e la verità dell’esistenza/Der Mann, der träumt, und das Meer: Carlo Michelstaedter und die Wahrheit der Existenz

Martina Vocci:Il mare di Fulvio Tomizza. Per un’etica di confine nel paesaggio dei romanzi di Fulvio Tomizza/Das Meer Fulvio Tomizzas. Für eine Grenzethik in der Landschaft der Romane von Fulvio Tomizza

Mirt Komel:The MediteReal: Signifying the Mediterranean Sea, Ancient Greek Plurality and the Regionality of the European land

Stefan Schmidl:Klangpolitik einer spezifischen Meereslandschaft. Über musikalische Vorstellungen der Adria

3. Das Meer als Naturraum

Marino Vocci:Adriatico, un mare tra pietre, boschi, pascoli e acqua/Das adriatische Meer, ein Meer zwischen Steinen, Wäldern, Wiesen und Wasser

Flavio Bonin:L’importanza del sale e il suo uso/Die Bedeutung des Salzes und seine Verwendung

Sergio Dolce:Saline dell’Alto Adriatico: fauna mediterranea e migratori del Grande Nord/Die Salinen der Oberen Adria: Mediterrane Fauna und Zugvögel aus dem hohen Norden

Federico Grim:L’evoluzione della pesca al cambiar dei confini e dei mercati/Die Entwicklung der Fischerei unter den Bedingungen sich ändernder Grenzen und Märkte

4. Kunst als Verantwortung

Friederike Wißmann:Luigi Nonos Il canto sospeso als Zeugnis »bewusster Verantwortung gegenüber dem Leben«

Robert Wißmann:Neue Theater-Formate als Konfliktlöser?

Philipp Ther:»… Sie haben allen Slawen Ehre gebracht« – Die Rolle des Tschechischen Nationaltheaters beim Aufbau des Musiktheaters im oberen Adriaraum

5. Grenzenlos

Henning Ottmann:»Mediterranes Denken«

Ingrid Hentschel:Kein Flüchtling – »Dionysos erobert das Meer«

Franco Juri:Quel mare che rifiuta i confini/Jenes Meer, das Grenzen ablehnt

Giulio Mellinato:The Adriatic Sea »continentalization« before the First World War

Claudia B. Wöhle:Wirtschaftliche Herausforderungen der Makroregion Adria–Ionisches Meer

Autor/innenverzeichnis

Die Idee von Europa

Der vorliegende Band ist der erste, den wir ohne Michael Fischer herausgeben müssen, auch wenn sein Name auf dem Cover steht. Dieser Band und die Symposienreihe Europa neu denken sind zwei seiner intellektuellen Vermächtnisse.

Gemeinsam mit Johannes Hahn, dem ich für vieles an dieser Stelle ganz besonders danke, möchte ich sein europäisches Projekt weitertragen. Nach bestem Wissen und Gewissen und mit der Kraft, die mein Mann mir und uns gelassen hat und die hoffentlich dabei hilft, es so zu tun, dass er stolz sein würde.

Es war ihm immer bewusst, dass kein Theaterstück, keine Oper oder kein Symposion Europa oder die Welt verändern kann. Aber, und das war ihm sehr wichtig, all diese Dinge konnten, wenn sie gut gemacht wurden, die Idee von Europa sichtbar machen. Und er wollte und konnte dazu beitragen.

Mit großem Engagement und unglaublicher Kennerschaft führte er Menschen zusammen, ließ Visionen aufblitzen und spannende Bücher entstehen.

Vielleicht ist es bezeichnend, dass die letzte Wahl, an der er vor seinem Tod teilnahm, die Europawahl war. Er war ein begeisterter Europäer und sein Engagement, vor allem in den letzten zehn Jahren, galt der »Erzählung« der faszinierenden Möglichkeiten eines Europas der Vielfalt.

»... das Inbild der Liebe und der gemeinsamen Existenz, deren Verlust das Leben verstümmelt hat und die weiterhin präsent ist in den Dingen und Stunden«, schreibt Claudio Magris in seinem Nachwort zu Wassergrün, dem Buch seiner verstorbenen Frau Marisa Madieri. Ich darf aufgrund der Freundschaft zwischen Claudio Magris, meinem Mann und mir diese Zeilen »ausborgen«, um so mein Gefühl zu beschreiben. Und wenn die geliebten Menschen, die wir verloren haben, präsent bleiben, dann ist der Weg, den wir versuchen, wohl der richtige. Die Trauer über seinen Tod überwiegt, aber die Möglichkeit, seine Intellektualität lebendig zu halten, ist vielleicht ein Sonnenstrahl in die Zukunft.

Mein Mann hat immer weiter gedacht, immer neu gedacht und das soll unser »Maßstab« und Auftrag sein.

Ilse Fischer

Jänner 2015

Dank

Mein besonderer Dank gilt Dr. Andreas Kaufmann (ACM Projektentwicklung) für die Unterstützung vieler kultureller Projekte meines Mannes und auch dafür, dass er diese jetzt in einer wunderbaren Form der Freundschaft, die kein Tod beendet, weiterführt.

Danken möchte ich auch Mag. Ingeborg Schrems, der langjährigen persönlichen Referentin meines Mannes, die von Beginn an bei allen Kulturprojekten mitgewirkt hat. Dass sie mir jetzt und auch in Zukunft zur Seite stehen wird, ist eine große Hilfe, kennt sie doch die Denkweise meines Mannes so gut wie nicht viele.

Ilse Fischer

Jänner 2015

Kreative Regionen – Europas Stärke

Michael Fischer (†)Johannes Hahn

Bei der Auftaktveranstaltung von Europa neu denken 2012 in Triest haben wir die Beziehung zwischen Regionen und Innovation beziehungsweise Kulturalität diskutiert. Das einstimmige Fazit zeigte, dass grenzübergreifender Regionalismus der Weg zu einem erfolgreichen Europa ist.

2013, im Jahr von Kroatiens Beitritt, lag der Fokus auf der wichtigen Rolle, die die regionale Ausdehnung für die europäischen Herausforderungen im Bereich Kultur und Soziales spielen kann.

2014 ist jenes Jahr, das den Beginn der neuen Adriatisch-Ionischen Makroregion darstellt, um die Debatte in einem größeren Kontext weiterzuentwickeln und fortzuführen. Im Symposion Mentalitätsgeschichte der Adria. Neugierde und Konflikt als Betriebsgeheimnis (17.–19. Oktober 2014 in Piran/Slowenien) wird der spezifische Kulturraum der Adria ausgeleuchtet, seine historische Widersprüchlichkeit, seine Biosphäre sowie sein überreiches kulturelles Angebot.

Die aktuelle Debatte in der EU wird von ökonomischen Überlegungen und Krisenmanagement dominiert und nicht von grundlegenden Analysen des heutigen Europa, das wir für unverzichtbar halten. Europa, das in der Vergangenheit so viel getan hat, um die Gesellschaft voranzutreiben, braucht eine Rück-Entwicklung seiner jetzigen Kultur, um erfolgreich zu sein.

Eine konstante Erforschung von Europas außergewöhnlicher Vielfalt ist und bleibt auch Kern der heutigen Herausforderungen. Die Sichtweise, dass die, die anders oder fremd sind, von der Gesellschaft ausgeschlossen werden müssen, ist immer noch präsent und kann sehr schnell gefährlich werden: Rassismus, Nationalismus und religiöse Unterdrückung können Folgen davon sein.

Europas Grundfeste von Demokratie, Freiheit und Menschenrechten und sein Einsatz für das Wohlergehen jedes Individuums bergen stets neue Herausforderungen. Sein Einsatz für die »Einheit der Vielfalt« benötigt eine neue Interpretation auf regionalem Niveau. Regionen – und im Speziellen grenzüberschreitende Regionen – können den engen Einschränkungen der heutigen Politik entfliehen, um die Identität und die Hoffnung bzw. Sehnsucht ihrer Völker neu zu erdenken. Auf regionalem Niveau erkennen Gemeinschaften den klaren Wert von grenzübergreifenden Ko-Operationen, wie die große Anzahl von EU-finanzierten Aktionen zeigt.

Es ist auch interessant zu bemerken, dass gerade dann, wenn die Europaskepsis in Europa zu steigen scheint, es eine Welle von Enthusiasmus für die Idee gibt, mehr starke regionale Identitäten – wie zum Beispiel durch die neuen Makroregionen – zu gestalten.

Wir wollen erforschen, wie sich der Geist dieses tiefgründigeren Europas nutzbar machen lässt, das den Wert der Verschiedenheit erkennt und die Regionen als Herz der europäischen Kultur und Gesellschaft begreift.

Jänner 2014

Herausforderungen der Adriatisch-Ionischen Region1

Johannes Hahn

Sehr geehrte Damen und Herren,liebe Freunde, liebe Ilse!

Beim heurigen Symposion gibt es einen großen Abwesenden, den, der uns im wahrsten Sinne hierhergelockt hat, der intellektuell alles für uns zubereitet hat und der uns jetzt vielleicht über die Schulter schaut, Michael Fischer. Seine Ilse führt tapfer die Arbeit in der ihr eigenen Effizienz, Gewissenhaftigkeit und Leidenschaft fort.

Ilse, du bist eine großartige Frau und Michael wäre stolz auf dich gewesen und das Wunderbare und Schöne ist, er war es schon immer. Es bedurfte nicht seines Ablebens, um hinterher daraufzukommen, was man an dem anderen hat. Das habt ihr vorher gewusst und das macht es jetzt zugegebenermaßen umso schwieriger. Aber eure Liebe ist auch eine Liebe, die für viele andere ein wunderbares Vorbild ist.

Ilse und ich haben – auch im Einvernehmen mit Michael – die Veranstaltung, die jetzt schon zum dritten Mal stattfindet und deren Abhaltung ursprünglich im Mai vorgesehen war, auf den Oktober verlegt in der Hoffnung, dass Michael dann wieder fit sein wird, um sie wie gewohnt zu moderieren. Leider war dies dann nicht möglich. Umso wichtiger ist es daher, dass wir das Erbe – die »Legacy« – von Michael Fischer nicht nur bewahren, sondern auch weiterentwickeln.

Michael Fischer war nicht nur ein guter Freund, sondern für mich eine außergewöhnliche intellektuelle Persönlichkeit, von denen wir in Österreich – und vermutlich auch in ganz Europa – nicht viele haben. Und wenn auch dieser Stern physisch erloschen ist, so leuchtet er intellektuell umso heller.

Die ganze Veranstaltung ist ja noch inhaltlich von ihm vorbereitet worden und ich glaube, wir werden viele Gelegenheiten haben, über die große Bandbreite von Themen, die er für diese Veranstaltung vorbereitet hat, zu diskutieren und zu reflektieren. Ich habe Michael als einen kennengelernt, der immer nach vorne geblickt hat, und ich glaube, er würde auch von uns hier erwarten, dass wir sein »Staffelholz« in die Hand nehmen und weitertragen.

Michael hat den Anspruch gehabt, dass sich Intellektuelle, Künstler und Kulturschaffende in den öffentlichen Diskurs einbringen, und zwar immer auch mit dem Ziel, dass daraus ein Ergebnis entsteht. Für ihn stand an oberster Stelle nicht nur der Diskurs um des Diskurses willen – das kann natürlich auch eine Bereicherung sein –, sondern der Diskurs mit dem Ziel, Dinge weiterzuentwickeln bzw. weiterzutreiben. Das ist der Auftrag an uns und an seine Kolleginnen und Kollegen. Er war Mentor eines kritischen Diskurses über Europa aus dem Blickwinkel der Regionen und ihrer Bedeutung.

Ich bin daher stolz, dass wir hier auch schon eine Publikation vorliegen haben, die die Ergebnisse der ersten beiden Symposien zusammenfasst und darstellt. Und ich kann Ihnen heute schon ankündigen, es wird mit dieser Veranstaltungsreihe weitergehen. Ich werde zwar jetzt in einer Woche als Regionalkommissar aufhören, aber dann unmittelbar als Kommissar für Nachbarschaftspolitik und Erweiterungsverhandlungen fortsetzen. Die Adria, das Zusammenleben der Kulturen, das Überwinden von Spannungen, von Problemen, die wir gerade hier in der Region sehen, ist etwas südlicher heftiger und stärker ausgeprägt.

Ich bin zutiefst überzeugt, dass wir die Gründungsidee der Europäischen Union, wie sie Jean Monnet einmal formuliert hat, nämlich dass durch ein enges Zusammenwirken der Menschen über politische Grenzen hinaus tatsächlich in der Folge die Grenzen nicht nur politisch, sondern auch in den Köpfen fallen werden, auch in dieser Region verwirklichen werden können. Und das habe ich auch immer als eines der großen Themen und Leitmotive von Michael gesehen – es sollte und muss uns eine Verpflichtung sein.

Nachdem diese Veranstaltung nun schon zum dritten Mal stattfindet und sich somit zu einer Tradition entwickelt hat, wäre es vermutlich auch sinnvoll, sie mit einem einprägsamen Begriff zu verbinden. Daher würde ich vorschlagen, dass wir in Zukunft dieses Zusammentreffen einfach »Michael-Fischer-Symposion« nennen. Aber das hängt in erster Linie von dir ab, Ilse. Du hast die Verpflichtung, dich als »Fischerin« darum zu kümmern, dass wir in den nächsten Jahren noch viele Fischersymposien erleben. Ich werde meinen Beitrag dazu leisten.

Michael hat gerade diese Veranstaltung sehr geprägt, uns aber auch unglaublich Wertvolles hinterlassen, nämlich einen Auftrag, wie wir einen Beitrag dazu leisten können, die zwischenmenschlichen Spannungen zu überwinden, die diese Region nach wie vor prägen, und gleichzeitig eine Perspektive aufzuzeigen.

Das sonnige und kulturell vielfältige Piran eignet sich wie kein anderer Ort für ein Michael-Fischer-Symposion. Es befindet sich in einer uralten Kulturregion. In der Geschichte dieser Region spielten die Römer und später die Venezianer eine bedeutende Rolle. Uns allen hier ist der Aufstieg der Republik Venedig zu einer Seeschifffahrts- und Handelsmacht ein Begriff und ihr Einfluss war von prägender Bedeutung für die Entwicklung der Städte Istriens. Das kulturelle Erbe der Region wurde später von den aufstrebenden Strömungen des Humanismus und der Renaissance erweitert, in dessen Folge Piran auch bedeutende Künstler wie den Komponisten Guiseppe Tartini hervorbrachte.

Wie aus der Geschichte leicht erkennbar, hat sich an der Küste immer ein reges Treiben abgespielt. Jedoch nicht nur die kulturelle Vielfalt, sondern auch die jüngere, schwierige Geschichte dieser Region und der schnelle Wandel der Zeit haben ihre Spuren hinterlassen.

Die Arbeitsplatzsituation an den Küsten ist hierfür ein gutes Beispiel. Vor allem die durch den Wettbewerb veränderten Fischereimethoden setzen der Region zu. Fisch wird vielfach nicht mehr an der Küste verarbeitet, sondern direkt auf dem Schiff. Durch diese Entwicklung stehen die Wirtschaft sowie die Arbeitsplatzsituation der Küstenregion vor einer großen Herausforderung. Dies ist nur ein Beispiel von vielen und bestätigt, dass sich jede Region immer wieder aufs Neue erfinden muss.

Die wichtige Frage, die sich nun ergibt, ist, wie dieser Wandel unter dem Dach der Europäischen Union ermöglicht und in der Folge erleichtert werden kann. Die Strategie der Makroregionen, um Aufgaben gemeinsam zu meistern, bietet hier einen neuen Ansatz. Es ist nur logisch, dass sich die Mitgliedstaaten gemeinsamer geografischer Regionen zusammenschließen, um von einer erstarkten Zusammenarbeit wirtschaftlich, sozial und territorial zu profitieren. Die adriatisch-ionische ist hier keine Ausnahme. Doch dies ist nicht der einzige Grund eines stärkeren Zusammenschlusses. Europa hat vielmehr gegenüber Südosteuropa auch eine moralische Verpflichtung, der Genüge getan werden muss. Es ist wichtig, nicht aus den Augen zu verlieren, dass der Einigungsprozess Europas ein stetiger Prozess und noch nicht abgeschlossen ist.

Die Strategie für den Donauraum leistet mit ihren ungefähr 500 Projekten, die EU-Mitgliedstaaten wie auch Nicht-Mitgliedstaaten einbeziehen, einen wertvollen Beitrag. Die erfolgreiche Zusammenarbeit des Donauraums kann daher Vorbild und Ansporn für andere Regionen sein.

Die Adriatisch-Ionische Makroregion soll vor allem die vier Mitgliedstaaten Kroatien, Griechenland, Italien und Slowenien umschließen. Jedoch sollen auch Nicht-EU-Mitgliedstaaten wie Albanien, Bosnien Herzegowina, Montenegro und Serbien Teil der Makroregion sein.

Um diesen Zusammenschluss offiziell zu ermöglichen, soll die Errichtung der Adriatisch-Ionischen Makroregion von den Staats- und Regierungschefs in Brüssel beschlossen werden. Da einige Beziehungen dieser Staaten vorbelastet sind, hat die Makroregion noch viel weitergreifende Auswirkungen. Als positiver Nebeneffekt bietet sich die Möglichkeit, bilaterale Konflikte in einem multilateralen Setting gesichtswahrend zu lösen sowie darauf aufbauend auf eine gemeinsame Zukunft zu blicken.

Ziel der Adriatisch-Ionischen Makroregion muss es sein, das Wirtschaftswachstum anzutreiben und in Folge Stabilität und sozialen Wohlstand zu fördern. Dies soll durch einen Zuwachs an Attraktivität, Wettbewerbsfähigkeit und Konnektivität realisiert werden. Auch der Schutz der Wasser-, Küsten- und Inlandsökosysteme ist ein wichtiger Inhalt makroregionaler Strategie.

Die größte Chance dieser Initiative jedoch ist, die Defizite der Vergangenheit wieder aufzuholen. Daher bietet die Makroregion auch Möglichkeiten, verstärkt Brücken zwischen den Menschen und ihren verschiedenen Kulturen zu schlagen und diesen ein Gefühl zu vermitteln, Teil eines größeren Gebietes beziehungsweise eines größeren Ganzen zu sein. Daher ist auch eine erfolgreiche EU-Integration ein weiteres Hauptaugenmerk der Makroregion.

Es steht außer Frage, dass die Realisierung für diese Initiative kein leichtes Unterfangen ist und einen immensen Kraftaufwand fordert. Doch die Kraft könnte eben aus dem oft angesprochenen reichen kulturellen Erbe der Region geschöpft werden, das alle teilnehmenden Staaten verbindet.

In diesem Sinne müssen die Menschen der Regionen daran erinnert werden, dass die makroregionalen Strategien keine abgehobene Spielwiese der politischen Eliten darstellen, sondern die verschiedenen Akteure der Gesellschaft einbinden sollen. Damit ist die Integration der Städte, der Sozial-partner wie auch der Universitäten in dieser Makroregion gemeint. Dabei sollte die Agenda auch nicht aufgeblasen werden, um die vorhandene Verwaltungskapazität nicht zu überfordern.

Die inhaltlichen Schwerpunkte der Adriatisch-Ionischen Makroregion sind Blue Growth, Verkehr und Energie, Erhaltung der Umwelt und ein zukunftsfähiger Tourismus. Unter »Blue Growth« wird das nachhaltige Wachstum aller mit dem Wasser, das heißt, mit dem Mittelmeer in Verbindung stehenden Wirtschaftsaktivitäten gemeint. Die »blaue« Wirtschaft ist ein ertragreiches Feld und benötigt eine weitreichende, grenzüberschreitende Zusammenarbeit. Die verbesserte Konnektivität der Region ist ausschlaggebend für Transport und effektiveres Energiemanagement. Liquid Natural Gas (LNG) Terminals sind hierfür ein passendes Beispiel. Ob Koper, Triest oder woanders ist nebensächlich, wichtig ist die effektive und für alle Seiten vorteilhafte Nutzung innerhalb der Europäischen Union, also der angesprochenen großen Gemeinschaft.

Die adriatisch-ionische Umwelt ist grundlegend für das soziale und wirtschaftliche Wohlbefinden der Region. Regionale Zusammenarbeit soll zu einer verbesserten Abfallverwaltung führen und dadurch die beeindruckenden Küsten und Gewässer schützen. Des Weiteren soll an der Diversifizierung des regionalen Tourismus, innovativen und qualitätsorientierten Herangehensweisen und der Herausforderung der Saisonbedingtheit gearbeitet werden.

Bei all diesen Themen spielen Innovation, Klein- und Mittelbetriebe, Bekämpfung und Anpassung an den Klimawandel sowie Katastrophen-Prävention eine entscheidende Rolle. Daher muss verstärkt aufgezeigt werden, dass der Schlüssel für den Erfolg dieser Region die Kooperation und Kooperationsbereitschaft sind und auch zukünftig sein werden.

Finanzielle Impulse wird ein grenzüberschreitendes Programm für die adriatisch-ionische Region bieten, das allerdings durch die einzelstaatlichen Förderungen für die Mitgliedstaaten dieser Region komplementiert werden muss. Circa 50 Mrd. Euro stehen der Adriatisch-Ionischen Makroregion für sieben Jahre zur Verfügung. Diese finanziellen Impulse dürfen keinesfalls als Garant für einen Erfolg der Region gelten, denn dieser hängt maßgeblich vom Engagement der jeweiligen teilnehmenden Staaten und Regionen ab.

Das ist nur ein kurzer Abriss der vielfältigen Möglichkeiten, die es für diese Region mit beiden Händen zu ergreifen gilt. Wir sitzen alle im gleichen Boot und sollten darauf bedacht sein, in die gleiche Richtung zu steuern. Ich freue mich auf die weitere Zusammenarbeit.

Endnoten

1 Einleitungsrede am 17. Oktober 2014, Symposion Europa neu denken. Mentalitätsgeschichte der Adria – Neugierde und Konflikt als Betriebsgeheimnis in Piran/Slowenien.

1. Das Land

Den Gusto auf Vielschichtiges wecken.

Eine slowenische Nachspeise regt an zum Nachdenken über Politik und Kultur an der Adria1

Hedwig Kainberger

Die Köstlichkeit namens Gibanica hat viele Schichten. Ihre Ingredienzien Mohn, Nüsse, Äpfel und helle Creme passen auf vielerlei mitteleuropäische Mehlspeisen, doch in der Schichtung von vier Füllungen zwischen Teigblättern kommt sie aus einer Region im Nordosten Sloweniens. Als Prekmurska Gibanica wird sie vielerorts in Slowenien, auch an der Adria, gerne schnabuliert.

Diese Gibanica aus einem österreichisch-ungarisch-kroatisch-slowenischen Grenzgebiet zeigt, wie Alltagskultur abseits vom Gezerre um Grenzen, Sprachen und von anderen Ausbrüchen des Nationalismus bestehen kann, wie das Vielschichtige zu bleiben vermag, während Politiker Kriege führen sowie Menschen um- und aussiedeln, um ethnische, sprachliche und staatliche Eindeutigkeit zu erreichen. Und noch etwas Wundersames vermag so ein geschmackvolles Dessert: Wer die Gibanica kostet und wem sie schmeckt, der beginnt zu fragen: Woher kommt sie? Wie leben die Menschen dort? Was ist ähnlich, was ist anders als bei uns?

Was vermögen Kunst und Kultur neben, abseits oder mit staatlicher Politik? Wie können Kunst und Kultur die europäische Integration beeinflussen? Oder gar: Wie haben Kunst und Kultur längst – seit Jahrhunderten – das Zusammenleben von Europäern verschiedener Nationalitäten stimuliert, ohne dass sich Politiker in Brüssel oder Staats- und Regierungschefs bei Gipfeltreffen ihrer angenommen hätten?

Diesen Fragen gehen Wissenschafter, Künstler, Schriftsteller und Studenten seit nunmehr drei Jahren beim Symposium Europa neu denken nach. 2012 und 2013 fanden diese Zusammenkünfte in Triest und 2014 in Piran statt. Initiative, Konzept und Programm der ersten drei Symposien Europa neu denken sind Michael Fischer zu verdanken. Er ist am 1. Juni 2014 gestorben. Doch hinterlässt er etwas, was für ein Erbe ungewöhnlich ist: Es ist nicht abgeschlossen und zu Ende, sondern es ist eine Gedankenwelt, wie sie unter anderem in diesem Buch angerissen wird, die zum Fortführen, zum Weiterbauen und zum Weitersagen stimuliert. Die Schirmherrschaft für Europa neu denken hat EU-Kommissar Johannes Hahn übernommen.

Wo fanden die ersten drei Symposien statt? Wer in Kategorien von EU-Mitgliedschaft – also Nationalstaaten – denkt, wird für die ersten beiden Male Italien, für das dritte Mal Slowenien nennen. Wer allerdings zudem für Dimensionen von Geschichte, Literatur, Vielsprachigkeit, ja, auch von Wein oder Desserts aufnahmebereit ist, dem fällt eine exakt geografisch begrenzte und nationalstaatliche Zuordnung schwer.

Ein Beispiel für die Vielschichtigkeit in dieser großen Region ist Piran: Die Hafenstadt gehört seit 1954 zu Slowenien; obwohl danach viele Italienischsprachige nach Triest ausgewandert sind, ist Italienisch hier zweite Amtssprache. Von der Piraner Georgskirche sieht man im Norden nach Italien sowie bei gutem Wetter bis Österreich und im Süden nach Kroatien.

Allerdings sind die Turmglocken der Georgskirche seit Jahrzehnten stumm. Zwei klangbereite Glocken stehen zur Verfügung, doch es fehlt das Geld, sie im Campanile aufzuhängen, auf dass ihr Klang hörbar würde, der den Slowenen, Kroaten und Italienern wie den einst hier vertretenen Österreichern gleichermaßen vertraut ist. Ist das ein Sinnbild dafür, wie sehr es in dieser Region, ja, in Europa, an einem Klang fehlt, an etwas, das von der EU-Politik längst noch nicht erfasst ist?

Apropos Region: Auch dies ist in der EU ein normierter Begriff geworden. Nuts nennt man diese räumlichen Bezugseinheiten in der EU-Sprache, das kommt vom Französischen Nomenclature des unités territoriales statistiques. Was nicht als Nuts 1, Nuts 2 oder Nuts 3 einzuordnen ist, gilt in der EU-Politik nicht als Region, kann folglich nicht gefördert oder sonstwie von der EU-Politik erfasst werden.

Doch auch gegen diese strikt begrenzende Nomenklatur sperrt sich die Gegend um Triest, Piran und weit darüber hinaus. Die Definition der Nuts ist für die hiesige Lebensrealität zu hart, aber auch zu klein und zu eng. Und da ist in den Vorjahren etwas in Bewegung gekommen: die Makroregion. Angeregt von der Idee der verstärkten Zusammenarbeit mehrerer Mitgliedstaaten wurden ab 2009 Makroregionen formiert – größer als ein Mitgliedstaat, kleiner als die EU, zudem eigentlich auf das jetzige Gebiet der EU konzentriert, doch mit der Möglichkeit, Nachbarländer einzubinden. So enthält die Politik für Makroregionen Komponenten der klassischen EU-Regionalpolitik ebenso wie der verstärkten Zusammenarbeit, auch der Beitrittspolitik und der Nachbarschaftspolitik.

2009 wurde mit dem Ostseeraum die erste Makroregion gebildet. Dem folgte 2011 eine ähnliche Mehr-Länder-Strategie für den Donauraum. In einer solchen Makroregion setzen die beteiligten Länder miteinander Ziele und arbeiten zusammen. Diese von der EU-Kommission begleiteten Strategien setzen dort an, wo es für alle dringlich wie nützlich ist: Umweltverschmutzung, Verkehrsverbindungen, Energieversorgung.

Wieder neue EU-Aufgaben? Schon wieder neue Kompetenzen für den »Moloch Brüssel«? Ist nicht die EU sowieso zu teuer, zu bürokratisch, zu reguliert? Um dieser prinzipiellen Kritik an der EU entgegenzuwirken, gibt die EU-Kommission den neuen Makroregionen drei Grundsätze mit auf den Weg – gleichsam drei Anti-Versprechen: kein zusätzliches Geld, keine neue Institutionen, keine neuen EU-Gesetze.

Ein Movens für das Symposium in Piran war die von der EU-Kommission im Sommer 2014 vorgelegte Strategie für die Regionen an Adria und Ionischem Meer. Es ist dies die dritte Makroregion der EU sowie die erste, in der Nachbarländer nicht nur informativ eingeladen, sondern unmittelbar eingebunden werden. In die Makroregion Adria und Ionisches Meer sind neben den EU-Mitgliedern Kroatien, Griechenland, Italien und Slowenien auch die bereits verhandelnden Kandidaten Serbien und Montenegro, das noch nicht verhandelnde Kandidatenland Albanien sowie Bosnien und Herzegowina eingebunden.

So neu diese Idee der makroregionalen Politik ist und so neu auch ist, dass die dritte Makroregion bereits eventuelle EU-Beitritte aufbereitet, so alt ist dabei eine Konstante der EU-Politik. Oberste Ziele sind einzig wirtschaftliche: Schaffung von Arbeitsplätzen und Belebung des Wirtschaftswachstums. Das ist gut und richtig, immerhin erleichtert materieller Wohlstand das alltägliche Leben und kann – als Gegenmittel zu Armut und Hunger – ein wichtiger Friedensstifter sein.

Doch sollte tatsächlich die Wirtschafts- und Wachstumspolitik die höchste oder gar einzige Staatsaufgabe in der EU sein? Nein, daher ist das Ziel des dreisprachigen Symposiums in Piran, zum Primat der Wirtschaftspolitik ein Gegengewicht zu setzen. Was ist »mittelmeerisches Denken«? Was liegt hinter oder unter den Klischees der Adria als riesiges Bade-, Spaß- und Feriengebiet? Was wird in hiesigen Romanen erzählt? Wovon berichten literarische Grenzgänger zwischen italienischer und slowenischer Kultur wie Fulvio Tomizza? Wie wurde einst aus dem Meer Salz gewonnen? Welche besonderen Tiere, welche Pflanzen leben hier? Und gar, so der Untertitel des Piraner Symposiums: Was enthält eine »Mentalitätsgeschichte der Adria«?

Man könnte glauben, die über Jahrzehnte größte Aufgabe der EU ist die 2004 gelungene Osterweiterung um einige Länder des ehemaligen sowjetischen Ostblocks. Denn mit dieser Ausdehnung der EU könnte die große Trennung dieses Kontinents im 20. Jahrhundert – der Eiserne Vorhang – überwunden werden. Wer jedoch beginnt, über das nachzudenken, was jetzt »Makroregion der Adria und des ionischen Meeres« heißt, der wird hier auf relativ kleinem Raum ebenso die riesigen existenziellen Konflikte Europas erkennen: Ostkirche wie Westkirche, Christentum wie Islam, Slawisches, Romanisches wie Deutsches, Nationalismus und ethnische Säuberung, Demokratie wie Kommunismus. Hier ist aber auch ein außergewöhnlicher Reichtum an Handel, Wissen, Geist und Kultur zu entdecken, der europaweit ausgestrahlt hat.

Wer also Europa verstehen will, muss die Region um Adria und ionisches Meer verstehen. Und wer in Europa dauerhaften Frieden will, muss sich dieser Region und ihrer Vielschichtigkeit annehmen, und zwar nicht nur ihres wirtschaftlichen Aufschwungs, sondern auch ihrer Wissenschaft, ihrer Kunst, ihrer Kultur. Dafür steht das Symposium Europa neu denken.

Endnote

1 Eine Kurzversion dieses Textes erschien in den Salzburger Nachrichten am 20. Oktober 2014, 7.

Wunder der Adria

Uwe Rada

Vorneweg möchte ich anmerken, dass ich hier zu Ihnen nicht als Wissenschaftler und Forscher schreibe, sondern als Autor, also als Reisender und Beobachtender. Ganz so, wie es einmal Claudio Magris formuliert hat: »Reisen ist eine Musil’sche Erfahrung, eher dem Bewusstsein für die Möglichkeiten überantwortet als dem Realitätsprinzip.«1 Und: »Reisen heißt, die Rechnung mit der Realität zu machen, doch auch mit ihren Alternativen, ihren Lücken; mit der großen Geschichte und mit einer anderen Geschichte.«2

Meine kleine Thesensammlung unter dem Titel Wunder der Adria ist so ein Versuch, die Realität am Möglichen zu messen und umgekehrt. Sie ist sowohl eine Essenz aus dem Buch Die Adria. Die Wiederentdeckung eines Sehnsuchtsortes, das im September bei Pantheon3 erschienen ist, als auch einer Reise, die mich 2012 rund um die Adria geführt hat.

Obwohl ich zuvor unzählige Male an diesem Meer war und seitdem immer auch wieder gewesen bin, war diese Umrundung jene Erfahrung, die es mir ermöglichte, auf die Realität zu schauen und sie gleichzeitig zu vergleichen: mit anderen Realitäten, mit anderen Identitäten, mit anderen Möglichkeiten. Die Umrundung erfolgte übrigens gegen den Uhrzeigersinn, über Caorle, wo ich als Zweijähriger zum ersten Mal dem Meer begegnet bin, und die Stadt Adria an der Po-Mündung, hinunter nach Bari und Otranto, dann mit dem Schiff zur Gegenküste, über Igoumenitsa nach Saranda, Vlora und Durrës und schließlich die Jadranska Magistrala über Montenegro, Neum, Kroatien und Slowenien zurück nach Caorle.

Es war im Grunde eine spontane Entscheidung, aus dem Bauch heraus: Erst später ist mir klar geworden, dass das auch die Richtung der Strömung ist, mit Hilfe derer schon in der Antike die Griechen die Adria besiedelt haben und die Handelsschiffe aus Adria, der Stadt also, die dem Meer den Namen gegeben hat, zurück ins Ionische Meer segelten.

Der Teutonengrill ist Geschichte

Lassen Sie mich mit dem ersten Stichwort beginnen, das auch zu diesen Wundern an der Adria gehört, denn mein Titel meint den Plural. Es ist das Image, das die Adria hat. Dass es inzwischen weitgehend überwunden ist, gehört zu den Wundern, von denen ich spreche.

Als ich 1965 mit meinen Eltern das erste Mal am Meer war, wusste ich noch nichts von Pier Paolo Pasolini. Sechs Jahre vor meiner Ankunft an der Adria war der gebürtige Römer, der im Friaul aufwuchs, bereits genervt. Caorle sei mittlerweile »der Strand von Wien, München und Ulm«4, gruselte sich Pasolini, der im Auftrag der Illustrierten Successo 1959 die italienischen Küsten bereist hatte. Dabei war er auch in das einst verschlafene Fischerdorf gekommen, das nun den Deutschen gehörte: »Auf drei-, viertausend Einwohner und ein-, zweitausend Sommerfrischler aus Venetien kommen achttausend Deutsche«5, notierte Pasolini in seiner Reportage Die lange Straße aus Sand – und trauerte den Zeiten hinterher, als Caorle noch ein Geheimtipp war. »Ich schwöre, es war einer der schönsten Orte der Welt. Es gab keine Brücken, die Kanäle und Lagunen überquerte man auf sehr langsamen Flößen. Keiner kannte es.«6

Caorle wurde bald zum »Hausmeisterstrand« und Rimini zum Inbegriff des »Teutonengrills«. Auch dort trug ein italienischer Filmregisseur Trauer:

»Was ich hier sehe, ist ein Rimini, das nicht mehr aufhört. Früher gab es rund um die Stadt viele Kilometer Dunkelheit, die Küstenbahn, eine holprige Straße. Man sah nur die gespensterhaften Umrisse von faschistischer Architektur: die Gebäude der Ferienkolonie am Meer. Im Winter, wenn man mit dem Rad nach Rivabella fuhr, hörte man den Wind durch die Fenster dieser Gebäude pfeifen, weil man die Fensterläden abgenommen hatte, um daraus Brennholz zu machen. Jetzt ist die Dunkelheit verschwunden.«7

So beklagte Federico Fellini, der in Rimini geboren wurde, den Verlust seiner Heimatstadt und ihrer kulturellen Identität. Ähnlich wie Pasolini trauerte Fellini der Alltagskultur der kleinen Leute, der bäuerlichen und dörflichen Bevölkerung und der Fischer, hinterher, die nun der Urlaubskultur anderer kleiner, aber eben zahlungskräftigerer kleiner Leute gewichen war. »Teutonengrill«, das ist nicht nur ein Synonym dafür, dass die Adria zum Massenmeer geworden ist, zum Urlaubsziel des deutschen und österreichischen Wirtschaftswunders, das an den Küsten der Adria dolce vita kennenlernte und dolce far niente. Es ist auch der Begriff einer Entfremdung, der invasione tedesca.

Wie viele Images hat auch das der Adria als Teutonengrill ein hartnäckiges Nachleben. Anders als das Mittelmeer mit seinem Jetset rümpft man immer noch die Nase, wenn man Adria hört, dabei ist der Teutonengrill in Rimini längst Geschichte. Inzwischen sind es junge Russen, die dort Party machen, während die Kulturtouristen auf den Spuren der römischen Geschichte oder der romagnolischen Küche wandeln. Indem sich Rimini vom Strand ab- und seinem Hinterland zuwendet, wird aus dem Urlaubsziel eine Region. Und, ganz nebenbei, die alte Trennlinie überwunden, über die schon Fellini räsoniert hatte. Gehörte Rimini Marina Centro schon damals den Touristen, war Rimini Centro Storico, die Altstadt, ganz in der Hand der Riminese. Heute ist beides gemischt. Die Touristen gehören zum Bild der Altstadt, während es die Riminese vor allem sonntags und außerhalb der Saison, zur Passegiata an den Strand und an die Mole zieht. Ein kleines adriatisches Wunder, über das sich der Regisseur sicher gefreut hätte.

Albanien entdeckt die Adria

»Der Traum vom Meer als Ausgangstor zum Kennenlernen des Unendlichen kollidiert mit der Wirklichkeit eines Meeres, in dem man ertrinkt, und zerbricht daran.«8 Dieser Satz stammt von Fatos Lubonja, einem der wenigen Intellektuellen und Schriftsteller Albaniens, die auch im Westen bekannt sind. Lubonja erinnert an eine Tragödie von 1997, bei der 81 Menschen den Tod fanden. Ein Schiff der italienischen Marine hatte das albanische Flüchtlingsschiff gerammt, kurz danach war es gesunken. Seitdem ist in Albanien von der Adria als einem »Meer der Tränen« die Rede. Aber nicht nur während der Unruhen 1997 war die Straße von Otranto eine Flüchtlingsroute, sondern auch schon 1991, nach dem Ende der kommunistischen Herrschaft. Nicht nur Wunder gehören zur Adria, sondern auch Tragödien und Katastrophen.

Zum Image der Adria gehört also auch das Meer des Eisernen Vorhangs; wenn man so will, ist die Festung Europa seine Fortsetzung. Nirgendwo war dieser Vorhang so dicht zugezogen wie in Albanien. 750 000 Bunker hat Albaniens Diktator Enver Hoxha zwischen 1973 und 1984 bauen lassen, je einen für vier Bewohner des Landes. Viele von ihnen bewachten die albanische Küste. Das Meer war plötzlich umkämpftes Gebiet, Verteidigungsland, wer sich an die Küste begab, machte sich verdächtig. So zog sich also das kommunistische Albanien wieder in die Berge zurück, dorthin, wo schon im 15. Jahrhundert Gjergi Kastrioti alias Skanderbeg gegen die Türken gekämpft hatte.

Und diese Berge haben es in sich. Mit einer mittleren Höhe von 700 Metern über Normal Null ist Albanien das am höchsten gelegene Land Europas. Und weil die Geografie, wie Lubonja einmal sagte, die »hartnäckigste Sache der Welt«9 sei, wurde aus Albanien, in dem die maritime Kultur wie auch die Bergkultur zuhause waren und das bei seiner ersten Unabhängigkeit 1912 mit Vlora eine Adriastadt zu seiner Hauptstadt erkor, wieder eine reine Bergkultur.

Doch inzwischen wird das Maritime wiederentdeckt. Überall an der Küste herrscht Bauboom, in den Ferien sind die Strände voll, Bunker werden zu Appartements umgebaut, ein gemeinsames Illyrian Coastal Exploration Program mit Montenegro und Kroatien soll die Hinterlassenschaften der illyrischen Geschichte zutage fördern.

Für die aus Albanien stammende Schriftstellerin Lindita Arapi ist die Adria inzwischen auch ein Versprechen:

»Die Verbindung zu Europa durch dieses Meer ist eine Sehnsucht in diesem Land. Es war eine Trennung. Es war uns bewusst, dahinter ist Europa, und wir gehören nicht dazu. Aber es ist auch vielsagend, dass, als die Wende kam, die ersten Versuche, nach Europa zu kommen, über dieses Meer führten.«10

Die Tränen sind verflossen, nun schaut man auch mit Optimismus aufs Meer und damit auch auf die Gegenküste. Eine grenzüberschreitende Region bringt Albanien derzeit eher mit Italien hervor als mit Griechenland.

Die Brücke von Otranto

Auch in Apulien, das sich 1991 gegen die Flüchtlinge abgeschottet hat, blickt man wieder auf die Gegenküste. Ein Beispiel dafür ist Biancamaria Bruno. 2011 hatte die Chefredakteurin der Zeitschrift Lettera Internazionale ein Heft über die Adria als »Schnittstelle Europas« herausgegeben. Sie selbst war nach Tirana gereist – und überrascht von einem Land im Aufbruch. »Von seiner Kultur her«, schrieb sie in ihrem Beitrag, »ist Albanien so europäisch wie die Baltischen Staaten oder Slowenien.«11

Auch deshalb halten viele Autoren in Brunos Adriaheft den Ost-West-Gegensatz für nicht mehr ganz so entscheidend, wenn es darum geht, die Disparitäten der Adria-Region zu beschreiben. Viel bedeutender sei inzwischen der Nord-Süd-Gegensatz, meint etwa Onofrio Romano. »Apulien und Albanien haben trotz unterschiedlicher Traditionen und Geschichte vieles gemeinsam«, ist der Bareser Politologe überzeugt.

»Beide Gesellschaften wurden von den Zentren der Macht an den Rand gedrängt. Also haben die Bewohner der unteren Adria gelernt, das Beste daraus zu machen. Sie wissen, wie man beim zuständigen Mitarbeiter im Amt Aufschub bekommt und wie man Netzwerke bildet, um seine Interessen durchzusetzen.«12

Diese informelle Kultur des Durchwurschtelns, die Apulien und Albanien verbinde, nennt Romano eine »Anthropologie der Abwesenheit«13.

Die herkömmlichen Entwicklungsstrategien aus Brüssel, meint der Politologe, seien in Apulien und Albanien gescheitert. Selbst aus der Perspektive von Rom sind Bari und Vlora Städte des Südens, Afrika schon näher als Mitteleuropa. Von Brüssel seien also keine Wunder zu erwarten. Statt weiter auf Hilfe von oben zu hoffen, müsse man an der unteren Adria die Zukunft selbst in die Hand nehmen.

Das ist eine neue Definition der Region Apulien–Albanien: die Straße von Otranto nicht als »Meer der Tränen«, sondern als kulturelle Brücke, als Verbindung zweier Adriaregionen des Südens, die gar keine andere Wahl haben, als aus der Not eine Tugend zu machen.

Istrien als Vorbild

Gibt es ein Maß, mit dem grenzüberschreitende oder auch regionale Beziehungen, gar die Dynamik der Regionalisierung gemessen werden können? Wie kann man die Blickrichtungen kartieren, die vom Eigenen wegführen zum Anderen. Ist es Furcht oder Neugier, die die Menschen in bestimmten Städten und Regionen auf die Menschen in anderen Städten und Regionen blicken lässt. Und was entsteht, wenn sich diese Blicke kreuzen? Konflikt oder Zusammenarbeit? Welche Faktoren spielen da hinein?

Es ist wichtig, sich vor Augen zu führen, dass die Adria nicht erst im 20. Jahrhundert, sondern schon in der Antike ein Meer der Flüchtlinge war. Der Nukleus des heutigen Split entstand, als die romanischsprachige Bevölkerung von Salona vor den Slawen und Avaren in die leeren Mauern des Diokletianspalastes floh. Auf den Felsen von Ragusa zog sich die romanischsprachige Bevölkerung ebenfalls auf der Flucht vor den Slawen zurück. Venedig wurde von Flüchtlingen der Lagune abgerungen und in venezianischen Zeiten war Rovigno/Rovinj in Istrien eine Stadt, die immer wieder Flüchtlinge aufgenommen hat, wie der serbische Schriftsteller Milo Dor berichtete:

»Auf dem alten Stadttor von Rovinj konnte man die Inschrift ›Il riposo dei deserti‹ lesen, was soviel wie ›Die Zuflucht der Verfolgten, Einsamen und Verlorenen‹ bedeuten sollte. Im Laufe der Geschichte hatte es immer Verfolgte, Einsame und Verlorene gegeben, denen hier in der auf einer Landzunge eng gebauten istrischen Stadt großzügig Asyl gewährt wurde. An dieses Tor klopften all jene, die vor verschiedenen Eroberern oder vor der Pest geflohen waren.«14

Im Grunde ist das bis heute so geblieben. Als Jugoslawien in den blutigen Kriegen der 1990er-Jahre zerfiel, kamen Flüchtlinge aus Bosnien, der Herzegowina, aus Serbien und der kroatischen Krajina nach Istrien, wo sie, der Tradition der Halbinsel folgend, das friedliche Zusammenleben dem Hass aufeinander vorzogen. So schreibt Istrien die Flüchtlingsgeschichte der Adria fort, die mit der Besiedlung des Diokletianspalastes in Split, des Felsens von Ragusa und der Lagune von Venedig begonnen hatte.

Und auch zu Titos Zeiten war die Halbinsel etwas ganz Besonderes, wie ich zahlreichen Interviews entnehmen konnte, die ich im Mai während eines Stipendium-Aufenthalts in Pazin führte. Stellvertretend für viele Istrier sagt etwa Willam Negri, der einer alteingesessenen italienischen Familie aus Labin/Albona entstammt: »Du kannst hier der sein, der du bist. Keiner fragt dich, woher du kommst, welche Nationalität du hast, ob du Italiener bist, Bosnier oder Serbe.«

William Negri sagt, dass das schon zu jugoslawischen Zeiten so gewesen sei. Es sei für ihn geradezu ein Schock gewesen, als er 1985 zur jugoslawischen Volksarmee eingezogen wurde.

»Ich war in Mostar stationiert, erst da habe ich erlebt, was in Jugoslawien los war. Da bin ich zum ersten Mal dem Nationalismus begegnet. Entweder sind sich Serben und Kroaten aus dem Weg gegangen, oder sie haben sich beschimpft. Und jeder wurde gefragt: Woher kommst du? Auch mich haben sie gefragt. Als ich gesagt habe, ich komme aus Istrien, haben sie gelacht und mir auf die Schulter geklopft. Ich war harmlos, irgendwie nicht geeignet für ihren Nationalismus.«15

Wenn es unter den Rekruten Streit gab, sagt Negri, habe er immer vermittelt. »Heute würde ich sagen, ich war in Jugoslawien bei der Armee so eine Art Blauhelmsoldat.«16

Die regionale Identität, das habe ich in den fünf Wochen in Istrien gelernt, ist dort stärker als die nationale. Man ist in Rovinj oder Piran kroatischer, slowenischer, bosnischer, serbischer oder italienischer Istrier und nicht – und dieser Unterschied hat Leben gerettet – istrischer Kroate, Slowene, Bosniake, Serbe oder Italiener. Im Vielvölkerland Bosnien dagegen, diesem anderen Jugoslawien en miniature, war die nationale Identität immer stärker als die regionale. Das kosmopolitische Istrien ist die grenzüberschreitende und kulturelle Begegnungszone der Adria. Diese Besonderheit ist ein Wunder. Und Istrien ist, als adriatische Referenzregion, vielleicht die Blaupause für weitere Wunder. Vielleicht entstehen ja noch andere grenzüberschreitende regionale Identitäten.

Grenzgänger und Grenzschützer

Doch das wird Zeit brauchen, denn in vielen anderen Regionen an der Adria geben nicht die Grenzgänger den Ton an, sondern die Grenzschützer.

Das Epirus ist, trotz der gemeinsamen Geschichte im Osmanischen Reich, keine grenzüberschreitende europäische Region. Stattdessen ist die Grenze zwischen Griechenland und Albanien auch eine mentale Grenze. Der Konflikt und das Ressentiment überwiegen die Neugier. Ähnliches, nur abgeschwächter, gilt für die Grenzregionen Albanien–Montenegro (trotz des gemeinsamen Shkodrasees) und Montenegro–Kroatien.

Mit dem EU-Beitritt Kroatiens ist eine weitere adriatische Grenze, der Neum-Korridor, noch mehr ins Blickfeld gerückt. Für die Touristen mag der bosnische Zipfel an der Adria, der Kroatien in zwei Hälften teilt, eine Skurrilität sein, in Kroatien lassen sich damit lokale Wahlen gewinnen. Nachdem eine Brücke über die Halbinsel Pelješac aufs kroatische Festland offenbar zu teuer ist, soll es nun eine Transit-Straße auf Stelzen richten. Die Symbolik wäre fatal und erinnert an das Westjordanland. Oben der Transit der EU-Bürger, unten die lokale, abgehängte Bevölkerung. Eine gemeinsame, grenzüberschreitende Region, gar eine regionale Identität, kann so nicht entstehen. Warum kann man da nicht an die Erfahrungen der kleinen Grenzverkehre, wie etwa zwischen Belarus und Polen, oder Polen und dem Kaliningrader Gebiet anknüpfen?

Manchmal müssen zwischen den Grenzziehungen an den Adriaküsten nicht einmal Staatsgrenzen liegen, wie das Beispiel des Po-Deltas zeigt. Eine grenzenlose und großartige Landschaft hat il fiume grande mit seinen Sedimenten im Nordwesten der Adria aufgeschüttet. Doch die beiden Regionen Italiens, zu denen das Delta gehört, das Veneto und die Emilia-Romagna, schaffen es nicht, die Region gemeinsam zu vermarkten. Stattdessen gibt es zwei Regionalparks mit zwei Verwaltungen, zwei Internetauftritten, zwei Tourismusvermarktern. Höchste Zeit also, dass die nationalen Regierungen und auch Brüssel die Vergabe von Geldern an gewisse Mindeststandards der Regionalisierung knüpfen. Regionale Egoismen sollen nicht dazugehören.

Kultur als Motor der Regionalisierung

Wie aber können diese regionalen Egoismen, wie können die harten Grenzen, die an der Adria immer noch existieren, überwunden werden? Das ist, wie andere Beispiele etwa von der deutsch-polnischen Grenze zeigen, nicht nur eine Frage der Politik, sondern auch der Kultur. Ich freue mich deshalb, dass in der neuen Strategie der EU für die Region Adria–Adriatisches Meer auf diese Rolle der Kultur ausdrücklich hingewiesen wird. Wir brauchen nicht nur eine blaue Wirtschaft, wir brauchen auch eine blaue Kultur. Denn wo grenzüberschreitende kulturelle Netzwerke, Festivals, Konzerte existieren, bekommt das je Eigene, das sich hinter den Grenzen versteckt, Konkurrenz. Als ich im Mai in Istrien war, gab es in Umag ein Konzert von Thompson. Die Nationalisten gehen an die Grenzen, um zu provisieren. Gleichzeitig fand in Umag, ebenso wie in Koper und Triest, eine weitere Auflage des Forum Tomizza statt. Die regionalen Initiativen gehen an die Grenzen, um darüber hinwegzuschauen und sich auszutauschen.

Deshalb darf die Peripherie auch nicht aus dem Blickfeld der Hauptstädte geraten. Die Frage, ob das Zusammenwachsen Europas eine Erfolgsgeschichte bleibt, wird auch an den Rändern entschieden. Diese Ränder brauchen deshalb Aufmerksamkeit und Entwicklungsperspektiven.

Wenn es etwa Ravenna gelänge, Europas Kulturhauptstadt 2019 zu werden, wäre das auch ein Brückenschlag zur Gegenküste. Das byzantinische Erbe als Brücke. Regionalisierung und kultureller Austausch brauchen und vermitteln Neugierde, während nationale Grenzen nach wie vor der Gegenstand von Konflikten sind.

Küste und Hinterland

Von der istrischen Identität habe ich bereits gesprochen. Wie aber konnte es zu einer solchen regionalen Identität, jenseits der Geschichte Istriens als Flüchtlingsort, kommen? Ein sehr berührender Hinweis ist für mich in Goran Vojnovićs wunderbarem Film Piran-Pirano enthalten. Es ist eben nicht nur ein Film über die Begegnung zweier Männer, aus denen der Krieg de facto Feinde gemacht hat. Der Film überwindet neben den Grenzen des italienischen und des slowenischen Narrativs auch noch eine andere, eine Mentalitätsgrenze. Ich meine den Gegensatz zwischen Küste und Hinterland, zwischen den von der maritimen Kultur und von grenzenlosem Handel geprägten kosmopolitischen Landstrichen und dem bäuerlichen Hinterland, von dem der kroatische Schriftsteller Predrag Matvejević einmal gesagt hat, es sei das »Andere« im Vergleich zur Küste:

»Andere Bräuche stellen sich ein, die Menschen singen andere Lieder […] In den Augen der Küstenbewohner sind sie mehr oder weniger eigentümlich und fremdartig.«17

Veljko, einer der beiden Helden in Piran-Pirano, kam als Befreier von Bosnien nach Piran. Gleich in der ersten Szene wird deutlich, in welchem Identitätskampf er steckt. Soll er dereinst in Piran begraben werden oder in Bosnien? Wo ist seine Heimat? Zur Metapher dieses Konflikts wird das Wasser. Veljko kann nicht schwimmen. Am Ende steigt er aber doch in die Adria.

Die Frage, die dahintersteht, ist die: Wann wird einer aus den Bergen zum Bewohner der Küste? Und wie schafft es die Küste, die Überheblichkeit gegenüber ihrem Hinterland zu überwinden? Auch hier ist das Stichwort wieder Regionalisierung. Die Küstenstädte müssen etwas abgeben. So finde ich es falsch, wenn in Istrien wieder darüber nachgedacht wird, die administrativen Funktionen von Pazin erneut an Pula zu geben.

Der Geschmack der Adria

Und noch etwas gibt es hier in Piran, das so etwas wie ein allgemeinadriatisches Erbe ist: Die Saline von Sečovlje, in der bis heute nach alter Tradition Salz gewonnen wird. Die hochwertigen Produkte, das wissen alle, kann man gleich hier in der Innenstadt im Venezianer-Haus kaufen. Das ist eine hübsche Ironie der Geschichte, denn einst hat Venedig Piran unterworfen, um einen Konkurrenten für das eigene Salzgeschäft auszuschalten.

Als ich vor einiger Zeit in Umag war, habe ich mich gefreut, dass dort, im kroatischen Istrien, inzwischen auch Salz aus Piran verkauft wird. Und ich habe mich gefragt, warum es nicht ein Netzwerk der adriatischen Salinen geben kann, das von Piran über Ulcinj und Mali Ston auf Pelješac bis nach Comacchio und Cervia reicht. Salz war einer der Rohstoffe, der viele Städte an der Adria reich gemacht hat. Salz war aber auch das Weiße Gold, das Venedig auf den Plan gerufen hat. Heute sind die Salinen eher das feuchte Gold, wie die Saline von Ulcinj zeigt, die nur nach internationalen Protesten vor einer Trockenlegung gerettet werden konnte. Sie ist auch ein wichtiger Rastplatz für Zugvögel und das letzte Feuchtgebiet an der montenegrinischen Adriaküste.

So war das Salz einst eine Erfolgsstory der adriatischen Ökonomie. Und die Salinen sind ein gesamtadriatisches Erbe, das nicht nur jeweils vor Ort gepflegt werden darf. Warum keine adriatische Route des Salzes, die aufmerksam und neugierig macht auf die Salzproduktion an der jeweiligen Gegenküste? Warum keine Vermarktung von Adria-Salz mit regionalen Wertschöpfungsketten? Die Adria schmeckt – auch wegen ihres Salzes.

Das Wunder von Adria

Zum Schluss möchte ich noch eine weitere Anregung geben, die eher mit der Adria als Großregion zu tun hat als mit kleinen, grenzüberschreitenden Regionen wie der Erfolgsgeschichte Istrien. Es geht um den Namen des Meeres.

Wer von Ihnen, meine Damen und Herren, kennt noch ein weiteres Meer, das einzig und allein nach einer Stadt benannt ist? Von der Adria spricht man in Venedig und im albanischen Vlora, im apulischen Bari und im montenegrinischen Bar. Mare Adriatico oder einfach nur l’Adriatico nennen die Italiener die Adria, Jadransko more oder Jadran die Slowenen, Kroaten, Bosnier und Montenegriner und Deti Adriatik die Albaner. Auch außerhalb des Adriaraums zieht niemand den Namen in Zweifel. A∂puamuчekoe Mope heißt es im Russischen, auf Spanisch Mar adriático und auf Türkisch Adryatik Denizi.

Andere Meere haben mehrere Namen. In seinem gelehrigen Buch über das Mittelmeer hat der britische Historiker David Abulafia daran erinnert, dass dieses Meer schon immer ein »Meer mit vielen Namen« war:

»Für die Römer war es ›unser Meer‹, für die Türken das ›Weiße Meer‹ (Akdeniz), für die Juden das ›Große Meer‹ (Yam gadol), für die Deutschen das ›Mittelmeer‹ und für die alten Ägypter das ›Große Grün‹.«18

Auch die Ostsee hat uns bis heute ein Palimpsest der Namen hinterlassen. Ostsee nämlich heißt sie nur in Deutschland. Aus der Warte von Lübeck und der Hanse war es das Meer, das in den Osten reichte. In Polen heißt es dagegen morze bałtyckie, hergeleitet vom antiken Mare Baltikum. Die Esten dagegen bezeichnen das Meer, auch das eine Frage der Perspektive, als Westmeer.

Schließlich das Schwarze Meer. Wo einst die Argonauten das Goldene Vlies raubten, war unter Venedig und Genua vom Mare Maggiore, dem Großen Meer, die Rede. Nach der türkischen Eroberung Anatoliens wurde dieser Begriff ins Türkische übersetzt: kara deniz. Doch kara heißt im Türkischen nicht nur groß, sondern auch trüb und finster. So wurde aus dem Großen Meer das Schwarze Meer, im Gegensatz zum Weißen Meer, Akdeniz, wie die Türken bis heute die Ägäis und das Mittelmeer nennen.

Welche Botschaft aber sendet die Adria aus? Als die Griechen im siebten und sechsten Jahrhundert vor Christus mit der Gründung von Epidamnos und Apollonia mit der Kolonisierung der Adria begannen und die Ostküste ihrer Magna Graecia einverleibten, war die Stadt Adria an der Po-Mündung ein florierender Handelsort. Bald exportierten die Veneter und Etrusker Getreide in die griechischen Kolonien, von dort kamen Öl, Wein und Keramik nach Oberitalien. Es war ein Austausch auf Augenhöhe, wie man heute im Nationalmuseum von Adria bestaunen kann – und mit der Zeit gaben die Griechen dem Meer den Namen Adriatike thalassa oder Adriatikos kolpos.

Dass das bis heute so ist, ist eines der großen Wunder, wenn nicht gar das größte an der Adria. Denn die Römer, die die Adria nicht mochten, wollten aus ihr das Mare Superum machen, im Gegensatz zu ihrem Meer, dem Mare Inferum, also dem Tyrrhenischen Meer. Und auch Venedig mochte die Adria nicht, obwohl sie doch von ihr profitierte. Auf einer Karte von Vincenzo Maria Coronelli aus dem Jahre 1688 lautet ihr Name Golfo di Venezia olim Adriaticum, also Golf von Venedig, vormals Adriatisches Meer.

Doch auch die Dogen konnten sich nicht durchsetzen. Die Namensgeschichte der Adria ist somit ein historisches Erbe, das die gesamte Geschichte dieses Meeres von der Kolonisierung in der Antike bis zur Gegenwart umspannt und an eine Stadt erinnert, die laut dem Archäologen Fabrizio Boscarato vom Museum in Adria schon immer weltoffen und multikulturell war.

Es ist mir allerdings bis heute ein Rätsel, warum die Stadt Adria nichts daraus macht. Liegt es daran, dass sie, nach der Bildung des Po-Deltas, nicht mehr am Meer liegt, sondern 15 Kilometer landeinwärts? Warum feiert sie sich nicht selbst und warum feiern wir nicht in Piran, in Ulcinj, in Vlora, in Bari, in Triest diese Stadt, die auch für die Eigenständigkeit des Meeres steht? Adria, das ist der Nukleus der adriatischen Identität.

Vielleicht wäre das ja eine Gelegenheit, in Brüssel anzuregen, einen Adriapreis auszuloben, der jedes Jahr in der Stadt Adria übergeben wird: für die beste grenzüberschreitende Initiative, für nachhaltige regionale Entwicklung, für die Bewahrung des kulturellen Erbes, für einen Dialog, in dem der Konflikt die Neugier nicht erstickt und die Neugier den Konflikt nicht unter den Teppich kehrt.

Endnoten

1 Claudio Magris, Ein Nilpferd in Lund, München 2009, 21.

2 Ebd.

3 Uwe Rada, Die Adria. Die Wiederentdeckung eines Sehnsuchtsortes, München 2014.

4 Pier Paolo Pasolini, Die lange Straße aus Sand, Hamburg 2009, 106.

5 Ebd.

6 Ebd.

7 Federico Fellini, Rimini, il mio paese, Rimini 2005, 63.

8 Zit. nach Rüdiger Schaper, »Die Tränen der Adria«, in: Tagesspiegel vom 19.10.2013. (http://www.tagesspiegel.de/kultur/lampedusa-albanien-und-das-meer-die-traenen-der-adria/8957804.html)

9 Zit. nach Uwe Rada: Die Adria, a.a.O.

10 Schaper, »Die Tränen der Adria«, a.a.O.

11 Biancamaria Bruno, »Welcome in Europe«, in: Lettera Internazionale 109 (2011), 53.

12 Onofrio Romano, »Un’ altra periferia è possibile«, in: Lettera internazionale 109 (2011), 54.

13 Ebd.

14 Milo Dor, Istrien. Land im Abseits, in: Johann Strutz, Europa erlesen: Istrien, Klagenfurt 1997, 16.

15 William Negri im Gespräch mit Uwe Rada im Mai 2014.

16 Ebd.

17 Predrag Matvejević, Der Mediterran, Zürich 1993, 99.

18 David Abulafia, Das Mittelmeer. Eine Biographie, Frankfurt am Main 2013, 17.

Das falsch gesattelte Pferd.

Über die nationalistische Kulturpolitik auf dem Balkan und andere Volkskrankheiten anhand des Beispiels von Serbien. Ein Plädoyer

Marko Dinic

I. Einleitung/Fazit

Dieser Essay ist Teil einer persönlichen Auseinandersetzung und somit auch Teil eines Anliegens, das seit mehreren Jahren mein Schaffen als Autor und Kulturarbeiter, aber auch mein politisches Denken geprägt hat. Die Ausrichtung meines Augenmerks auf die politische und kulturelle Landschaft der Balkanregion half mir, Entwicklungen in der EU, allen voran in Österreich und Deutschland, in Bereichen wie Kunst, Bildung, Politik, Infrastruktur usw., miteinander zu vergleichen und somit auch die institutionellen Hintergründe besser kennenzulernen. In meinen Augen – und da gehe ich mit der Meinung einiger EU-Politiker konform – kann es ohne den Balkan keine Zukunft für die EU geben, sowohl im wirtschaftlichen als auch im kulturellen Sinne. Wer heutzutage auf den Balkan schaut und die einschneidenden politischen Veränderungen der letzten Jahrzehnte in dieser Region beobachtet hat, sieht die eigene Vergangenheit, die großen wirtschaftlichen und moralischen Hürden der Völker, die seit mehreren Jahrzehnten isoliert am Fuße Europas ein trostloses Dasein fristen. Aber auch die Zukunft, die mit der Mitgliedschaft von Kroatien ein Stück weit näher scheint und Hoffnung macht, dass diese Brücke namens Balkan eines Tages Europa zu einem untrennbaren Ganzen vereinen und die scheinbar auf ewig verfeindeten Völker wieder versöhnen wird.

Doch ist es ein weiter Weg/Prozess bis dahin und neue/alte Gespenster ermächtigen sich wieder des alten Kontinents. Das Misstrauen. Die Angst. Die Armut. Die Arbeitslosigkeit. Die Schuld. Der Nationalismus. Wer hinüber zur Balkanregion schaut, sieht die Zukunft, doch niemand kann uns garantieren, dass diese Zukunft auch unseren Vorstellungen und Ansprüchen, unseren Wünschen und Träumen gerecht wird, die wir guten Gewissens den Politikern anvertraut haben, um nachts friedlich und frei schlafen zu können. Letztendlich obliegt es nicht nur der Politik, sich gegen den sichtbaren Rechtsruck in Europa zu stemmen. Diese Zukunft hat keiner vorausgesehen, und doch scheint sie näher denn je. Die Angst ist da. Der Initialfunke für das Dagegen fehlt jedoch. Aber wer in Richtung Balkan blickt, sieht nicht nur die Zukunft, er sieht auch die Fehler der Vergangenheit ins Heute getragen. Fehler, die zu einer starren Politiklandschaft und letztendlich zu einer selbst verschuldeten Abschottung führen. Der Titel dieses Essays ist die Verbildlichung eines gravierenden Fehlers, dessen Auswirkungen erst viel später zutage kommen.

Dieser Essay ist Ausdruck eines persönlichen Anliegens, das nicht mehr ist als die Beobachtung eines Kulturschaffenden in der Migration, eines Zuschauers aus sicherer Entfernung, dessen Nachdenken und dessen Versuche über das eigene Herkunftsland noch mehr Unverständnis und Unmut nach sich ziehen werden. Der Unmut über die Verständnislosigkeit einer ins Chaos hineingeborenen Generation, die seit mehr als 20 Jahren auf der Flucht ist und in Massen das Land verlässt und der nur noch die fremde Sprache und das kümmerliche Pathos der Heimat geblieben sind.

II. Bedingungen

Zunächst müssen mehrere Faktoren aufeinandertreffen, damit der Nationalismus überhaupt einen festen Fuß in der Gesellschaft fassen kann. Es reicht nicht, die wirtschaftlichen Aspekte hervorzuheben, wenn ein Wechselspiel mehrerer sich überlappender gesellschaftlicher Faktoren stattfindet. Von diesen Faktoren kann der wirtschaftliche durchaus einer der ausschlaggebendsten sein, muss es aber zwangsläufig nicht. Das ganze Bild lässt sich freilich kaum erfassen und bedürfte nicht nur einer profunderen, wissenschaftlichen Arbeit. Die Verbindung mehrerer Initiativen wäre eine ideale Möglichkeit, regionale und überregionale Projekte zu fördern, die sich mit den verschiedenen Konflikten innerhalb der Balkanregion auseinandersetzen. Fraglich bleibt, ob das ganze Bild je erfasst werden kann.

Auch vom Beobachtersessel eines »Laien« lassen sich unschwer die Versäumnisse erkennen, die Staaten wie Serbien oder Kroatien im Hinblick auf ihre Aufarbeitungspolitik der Kriegsverbrechen der 1990er-Jahre gemacht haben. Gerade diese Versäumnisse sind ein Teil des politischen Höllenkarussells in Serbien, das aus gegenseitigen Anschuldigungen oder gar losen Versprechungen im Hinblick auf eine Versöhnungspolitik besteht. Schließlich will man in die EU und jegliche Art von Fauxpas würde dem wackeligen Image einer noch wackeligeren Scheinwelt schaden.

Zunächst würde sich keiner dabei was denken, da die Erhaltung einer solchen Scheinwelt zwar viel kostet und schön ausschaut, jedoch nicht von Dauer sein kann. Was auf der anderen Seite dabei herauskommt, ist ein mehr als fragwürdiges System. Dieses System wiederum ist nicht nur temporär. Es zieht sich durch die Institutionen bis hin zu den Bürgern, die nicht anders können und den Politikern Glauben schenken müssen, die als Einzige übrig geblieben sind. Eine scheinbare Demokratie in Ländern, die nach außen hin die Großen mimen, im Kern aber einen faschistoiden Apparat aufgebaut haben, der unter dem Deckmantel eines westlichen Demokratieverständnisses den eigenen Bürgern die Rechte entzieht, um dadurch Macht zu demonstrieren. Wenn in Serbien die LGBT-Bevölkerung (lesbisch, schwul, bisexuell oder transgender) auf die Straße geht, dann geschieht das nur nach dem Willen der Regierung. Sie allein entscheidet, ob jemand marschieren darf oder nicht. Dass es dabei um allgemeine Menschenrechte und die Meinungsfreiheit geht, ist zweitrangig bis unwichtig. Allein der Wille der Machthaber zählt und wenn es am Ende doch zur Demonstration kommt, dann nur, weil die Regierung es billigte und nicht weil es die Verfassung so für ihre Bürger vorsieht. Das Volk darf marschieren, der Präsident und der Premierminister feiern sich als die großen Menschenrechtler, die EU klopft auf die Schulter. Dass im Grunde ein ganzer Staat von Hooligans, Ultras und Rechtsradikalen unter Druck gesetzt und erpresst wird, erscheint nur am Rande, da das Polizeiaufgebot diesmal vervierfacht wurde und die staatlichen Medien nicht viel durchsickern lassen. Doch während alle gebannt auf Belgrads Straßen schauen und den Politikern die Daumen drücken, dass keine Zwischenfälle vorkommen mögen, brodelt es an den Rändern des Landes, da die Menschen an ihrer Arbeitslosigkeit und ihrer Armut verzweifeln. Hier tritt die Scheinwelt in den Vordergrund. Der desolate Zustand einer Bevölkerung, die von den eigenen Repräsentanten im Stich gelassen wurde. Der Nährboden für einen flächendeckenden Nationalismus ist gegeben. Dabei beziehe ich mich hier nicht einmal auf die älteren Generationen, die im Namen einer großserbischen Idee hinausgingen, um Menschen zu ermorden. Dieser desolate Zustand im Land trifft am härtesten die beschäftigungslose Jugend, die keinen anderen Ausweg findet, als die eigene, konkrete Geschichte zu verneinen und sich eine scheinbar stärkere, rein serbische Nation zu imaginieren. Dies ist wahrscheinlich das größte Versäumnis der Politik seit dem Ende der Milošević-Ära.

III. Geschichtsvernichtung

Gerade den Versäumnissen auf politischer Ebene ist es zu verdanken, dass heutzutage eine große Verwirrung unter der Bevölkerung herrscht. Der unaufhaltsame Verlust der Identität einer ganzen Bevölkerung. Die Gesichtslosigkeit mehrerer Generationen, deren Geschichte sich wie die von fünf verschiedenen Völkern liest. Einige konkrete Beispiele zeugen von diesem zynischen Umgang mit der Geschichte. Diese Verantwortungslosigkeit lastet auf der Politik der 2000er-Jahre und eine Besserung der Lage ist nicht in Sicht. Egal, was man von der Tito-Ära halten mag – vieles davon auch zurecht –, das ehemalige Jugoslawien hatte ein überaus ausgeprägtes Geschichtsbewusstsein aufgrund des antifaschistischen Widerstands und der Tatsache, dass Tito neben Roosevelt, Churchill und Stalin als der vierte große Befreier Europas gefeiert wurde. Sicherlich könnte man dieser Geschichts- und Kulturpolitik Einseitigkeit vorwerfen, jedoch könnte man diese Einseitigkeit auch der EU-Politik vorwerfen. Der Pluralismus sieht nur auf dem Papier gut aus, in Wahrheit jedoch ist er ein langwieriger und schwerer Prozess, ein Umdenken, das nicht von heute auf morgen Einkehr in die Wohnzimmer der EU-Bürgerinnen finden wird. Ausschlaggebend ist, dass diese Politik Titos dem Zwecke der jugoslawischen Identitätsbildung diente. Die Erinnerung an die Helden und Gefallenen des Zweiten Weltkriegs, aber auch die Erinnerung an die Holocaustopfer, die unzähligen Roma, Sinti und Juden in Serbien, Kroatien, Bosnien usf., gehörte zum allgemeinen Bildungsauftrag und war ein Eckpfeiler dieser Kulturpolitik. Eine Kulturpolitik, die die Bevölkerung nicht zur Gesichtslosigkeit verurteilen wollte. Neben der Umbenennung der Straßen war die Errichtung zahlreicher Denkmäler in ganz Jugoslawien ein zentraler Punkt dieser Politik. Dieselben Denkmäler verwahrlosen nun, abgeschieden und vergessen, in den einzelnen Ländern, da mit dem Schwinden von Jugoslawien auch die Geschichte dieses Landes sowie das Geschichtsbewusstsein seiner antifaschistischen Vergangenheit verschwunden waren. Heute zieren diese Denkmäler nur noch die Landschaften des WorldWideWeb, wo pathetische Bilderserien und Reportagen die einstige Bedeutung dieser Betonungetüme zu einem Pseudo-Mystizismus verzerren. Die ursprüngliche Idee hinter diesen Denkmälern war eine recht simple und unterscheidet sich kaum von den Konzepten heutiger Erinnerungsdenkmäler in Berlin, Paris, Wien oder sonst wo: Identität und Erinnerung.

In Serbien hat man die Bedeutung dieser Denkmäler vergessen. Die sozialistische Vergangenheit wird systematisch wegradiert, die nationalistische jedoch rehabilitiert. War es unter Boris Tadić und der DS-Regierung »nur« eine Geschichtsverdrängung, so ist es heute unter Aleksandar Vučić eine Verzerrung. Bis zur perfiden Unkenntlichkeit. Jüngstes Beispiel: Der Tag der Befreiung Belgrads von den deutschen Besatzungsmächten im Zweiten Weltkrieg, der 20. Oktober, ein Nationalfeiertag, wurde drei Tage nach hinten verschoben, da der russische Präsident, Vladimir Putin, zu Besuch war und man gemeinsam den Sieg über die Achsenmächte feiern wollte. Doch nicht nur das Datum wurde kurzerhand geändert. Auch die Uniformen der marschierenden Soldaten waren den neuen Machthabern ein Dorn im Auge. Anstelle von Partisanenuniformen trugen die Soldaten Uniformen aus dem Ersten Weltkrieg, weil dies ein Bekenntnis darstellen würde. Dass Belgrad von Tito-Partisanen und sowjetischen Alliierten befreit wurde, war unwichtig, da es sowieso niemand bemerken würde. Die Problematik liegt nicht bei den Uniformen. Es geht auch nicht um eine Glorifizierung und Wiederauferstehung altjugoslawischer Werte. Das Problem liegt darin, dass die Geschichte eines ganzen Landes von Politikern interpretiert wird, die sich immer noch nicht von ihrem Tschetnikdasein und ihrem Nationalismus losgelöst haben. Die ihre Version einer Geschichte haben, die jedoch nichts mit der antifaschistischen Vergangenheit Serbiens zu tun hat. Im Gegenteil. Dies mündet nicht nur in sinnlose Militärparaden, sondern auch in diesem zynischen Umgang mit Geschichte: Die immer wieder vorgeschobene, rasche Rehabilitierung von Dragomir Mihajlović ist beispielsweise eines dieser fragwürdigen Projekte, selbstverständlich unter der Duldung der jetzigen Regierung und zur großen Freude des Präsidenten, Tomislav Nikolić, der sowieso jedes Projekt solcher Art begrüßt. Dass auf der anderen Seite des Flusses in Novi Beograd das ehemalige Konzentrationslager Staro Sajmište lange Zeit als Diskothek benutzt wurde, ist symptomatisch für die Regierungen, die die letzten 14 Jahre in Serbien das Sagen hatten. So verhält es sich dann am Ende auch mit der Kulturpolitik eines Landes. Der Nationalismus kehrt ein in die Institutionen und somit auch in die Kultur.

IV. Kulturchauvinismus

Der jüdisch-jugoslawische Schriftsteller Danilo Kiš schrieb in einem Aufsatz über den Nationalismus: »Der Nationalist ist, der Definition nach, ein Ignorant. Nationalismus ist daher die Linie des geringeren Widerstands, eine Bequemlichkeit.«1 Diese Bequemlichkeit setzt eine Faulheit voraus. Die von Kant so viel verschmähte selbst verschuldete Unmündigkeit findet wieder ihre Einkehr in Europa.2