Europas längster Sommer - Maxi Obexer - E-Book

Europas längster Sommer E-Book

Maxi Obexer

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Beschreibung

Auf einer Zugfahrt von Italien nach Deutschland mit dem Ziel, in Berlin ihren deutschen Pass in Empfang zu nehmen, kehren die Jahre ihres Einwanderns zurück, die Zeiten des Übergangs vom Fremden ins Vertraute, Menschen und Momente die aufblitzen und erkennen lassen, was da alles in sie eingewandert ist. Kurz vor der italienisch-österreichischen Grenze steigen sechs junge Männer dazu; sie könnten auch Jugendliche sein auf dem Weg zum Fußball oder zum Trompetenunterricht. Sie sind es nicht. Doch was trennt diejenigen, die nach Europa einwandern, von denen, die es innerhalb Europas tun? Was bedeutet es zu gehen – und was heißt ankommen? Auf diese und andere Fragen findet Maxi Obexer überraschende Antworten.

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Inhaltsverzeichnis
Cover
Titelseite
Das Epub lesen...
Impressum
Maxi Obexer
EUROPAS LÄNGSTERSOMMER
Romanessay
Für Irene Kacandes

Prolog

Wo ist dieses freie Land, das den schönen Namen Europa trägt? Ich sehe nur Staaten. In einem dieser Staaten, in Belgien, gibt es ein Parlament, das Europaparlament, das ist bekannt. Bekannt ist auch, dass viele, Tausende, sogar Hunderttausende nach Europa ziehen. Millionen andere ziehen in Europa um, brechen auf, verlassen ihr Land und lassen sich woanders nieder. Europa hat die Menschen dazu gebracht, sich in Bewegung zu setzen. Aber wo ist das Land? Je tiefer sie nach Europa einwandern, umso mehr scheint es zu verschwinden.
Die Menschen hier nennen sich Europäer – oder würden sich gerne so nennen. Noch erkennen sie Europa an seinen Grenzen. Nicht an Europa.
Was damals den amerikanischen Traum beseelte, beseelt die Menschen auch heute: die Hoffnung auf ein Leben, das offener ist und freier, als es im eigenen Land je sein konnte. Die Neugier auf ein Dasein jenseits von Begrenzungen, Ideologien und Kategorien. Und die Sehnsucht, einander zu finden, nachdem alle einmal aufgebrochen sind.
Europa gründete sich über Verträge und Festakte, auf den Trümmern und Ruinen von Kriegen, auf den Leichenbergen, die der nationalistisch organisierte Hass aufgetürmt hatte. Um solche Verwüstungen und Vernichtungen für immer zu bannen, wurde ein Himmelszelt über die Nationalstaaten gespannt. Wenn Europaparlamentarier sprechen, richten sie ihre Blicke gern himmelwärts. Bemerken sie, was ihre Verträge und Festakte in Bewegung setzten?
Von überall her und in alle Richtungen wird seither aus- und eingewandert. Die Bürger der europäischen Länder durchwandern diese gegenseitig. Ihnen wird es einfach gemacht, sie können einfach gehen. Andere, die nach Europa aufbrechen, müssen oft Mauern durchstoßen, den Eintritt müssen sie sich blutig erkämpfen. Gemeinsam haben sie alle eins: sie sind gegangen, um woanders anzukommen.
Zu wem sprechen die Europaparlamentarier, wenn sie sprechen? Sprechen sie zu ihnen, zu einer europäischen Gesellschaft? Wenn nicht, zu wem dann?

I.

»Ich freue mich, Ihnen mitteilen zu können, dass Ihr Einbürgerungsverfahren nunmehr durch Aushändigung der Einbürgerungsurkunde abgeschlossen werden kann.« Gezeichnet, Hoff.
Mit diesem Bescheid zur Einbürgerung in der Hand buche ich ein Europa-Spezial-Ticket und nehme den Zug nach Berlin, wo ich in einer offiziellen Zeremonie mit Eid und Urkunde in Deutschland eingebürgert werden soll. Bis zu diesem Brief wusste ich nicht, dass der Erwerb der deutschen Staatsbürgerschaft »einbürgern« genannt wird; auch nach zwanzig Jahren mache ich noch immer Bekanntschaft mit neuen Wörtern. Manche von ihnen sind so schillernd und klug, dass ich mich wundere, wie ich so lange ohne sie leben konnte. Dieses Wort aber stellt nach meinem Gefühl nichts Richtiges her. Ich schaue in die Luft und spreche es nach: »Einbürgern, einmachen, einwecken, luftdicht verschließen.«
Seit ich in Deutschland bin, werden mir Begriffe zur Seite gestellt, die mein Dasein begleiten. Sie ändern sich sogar mit der Zeit und passen sich wunderbarerweise meinen Schritten an. Zuerst war es eine befristete Aufenthaltserlaubnis. Das Wort gefiel mir schon immer. Um die befristete Aufenthaltserlaubnis zu bekommen, musste ich ein unwirtliches Gebiet durchschreiten, das jeder, der es betritt, schnellstmöglich wieder verlassen will.
Bürgersteige oder Fahrradwege gab es dort nicht, die U-Bahn lag weit entfernt. Die Strecke lief parallel zu einer sechsspurigen Autobahn und führte über eine windige Autobahnbrücke, die einem laut und erbarmungslos den Feinstaub ins Gesicht schlug. Darunter die Hochspannungsleitungen und die Schienen der Eisenbahn, an ihnen entlang Hebekräne, Stellwerke, Abstellhalden und Getreidespeicher. Die Ämter bestanden aus Containerbauten und ergaben ein barackenähnliches Dorf mit Straßen, die mit Buchstaben ausgezeichnet waren, so die Straße A, wo sich das Amt für Abschiebung befand.
Der sogenannte Parteienverkehr im Ausländereinwohnermeldeamt beschränkte sich auf 8 bis 12 Uhr. Jeder, der einmal hier war und unverrichteter Dinge wieder nach Hause ging, wusste von da an, dass er spätestens um 6 Uhr eine Wartenummer abzureißen hatte. Die Wartezeit betrug mindestens fünf Stunden und war wie überall auf der Welt in Plastikschalen zu verbringen, die am Boden angeschraubt und miteinander verbunden waren. Und sie verbanden wirklich, nämlich diejenigen miteinander, die am selben Tag darauf warteten, dranzukommen. Wir alle schauten in die Luft und dazwischen immer wieder auf die Formulare, die ewig Rätsel aufgaben. Wir spitzten die Ohren, wenn eine Tür aufging oder die Lettern auf die nächste Zahl sprangen, und wir alle starrten ewig und ewig sinnlos auf die Nummerntafeln. Ich war stolz darauf, eine von uns zu sein, eine Ausländerin. Hier, im Ausländereinwohnermeldeamt kam ich meiner Vorstellung, wie und wo ich sein wollte, am nächsten. Ich wollte eine Ausländerin sein unter lauter anderen Ausländern.
»Sprechen Sie Deutsch?«, fragte mich die deutsche Beamtin in einem angestrengten Ausländerdeutsch, als würde ich sie besser verstehen, wenn sie sich bemühte, gebrochen Deutsch zu sprechen. Meine eigene Antwort aber überraschte mich noch mehr. Ich sagte: »Ich sprechen Deutsch, ja«. Auch ich sprach plötzlich in einem korrekten ausländischen Deutsch. Mit der Anfrage nach einer Aufenthaltserlaubnis wurde meine eigene deutsche Sprache unversehens zur Fremdsprache.
Die Prozedur für die befristete Aufenthaltserlaubnis wiederholte ich drei Mal. Die Zeitspannen dazwischen wurden länger; stets war ein Kontoauszug mitzubringen. Es war die Höhe der Summe, die entschied, wie lange mir der Aufenthalt bis zur nächsten Frist gewährt wurde.
Das ferne Ziel war die unbefristete Aufenthaltserlaubnis.
Doch ich habe sie nie erhalten, angeblich wurde sie unwichtig. Die Behörden hatten anderes zu tun, als sich um den rechtlichen Status dieser Sorte von Einwanderern zu kümmern: den EU-Bürgern. Sie wurde obsolet. Ich aber hätte die unbefristete Aufenthaltserlaubnis dennoch gerne in der Hand gehalten, auf meinen Namen ausgestellt. Als Nachweis für einen Weg, den ich gegangen war, mit meinem neuen Leben woanders.
Stattdessen bekam ich eine Freizügigkeitsbescheinigung im deutschen Bürgeramt.
Der alljährliche, für manche monatliche, doch immer frühmorgendliche Schicksalsgang durch das unwirtliche Gebiet zwischen Autobahnbrücke, Getreidespeicher und Industriehafen blieb nun den richtigen Ausländern vorbehalten. EU-Bürger durften in die warme Stube eines deutschen Bürgeramtes und wurden mit den deutschen Bürgern gleichgestellt.
Mit der Auflösung der europäischen Binnengrenzen und der Gestaltung einer europäischen Komfortzone für die EU-Bürger hörten wir europäischen Einwanderer auf, Ausländer zu sein. Alle anderen wurden es dafür umso mehr. Obwohl wir alle dasselbe taten, nämlich einwandern, trennten sich von nun an unsere Wege.
Ich blickte auf die Freizügigkeitsbescheinigung in meiner Hand. In meinen Ohren klang das wie die launische Aufforderung: »Zieh frei und zügig weiter«, gerichtet an eine freizügige Person, die, wenn sie ihren Mantel öffnet, darunter nur Unterwäsche herzeigt.

II.

Der Zug fährt gerade an der Festung Franzensfeste vorbei, eine der größten Abwehranlagen im Alpenraum. Viertausend Menschen sollen gleichzeitig an ihr gebaut haben. Sie reicht weit ins Flussbett hinein und ein Staudamm verbindet die beiden Talseiten; auch der sollte der Abwehr im Kriegsfall dienen. Unterirdisch führt die Festung durch felsige Bunker und geheime Gänge und kriecht an der anderen Talseite den Waldhügel hoch, wo eine steinerne Treppe einen Wehrturm mit dem nächsten verbindet. Die wenig aufstrebende, eher geduckte Anlage wirkt auch heute so, als sei sie noch immer in Stellung gebracht.
Ihre Gemäuer aus Kasernen, Munitionskammern, Türmen, Treppen, Stallungen und Empfangssälen ergeben ein plateauförmig angelegtes Labyrinth, das vor allem eines ausstrahlt: fest verankert zu sein. Die Habsburger hatten die Franzensfeste im 19. Jahrhundert errichten lassen, offenbar in der Vorstellung, massiv bedroht zu sein. Als die Monarchie schließlich auch ohne Angriff auf die Festung zusammenbrach und die Italiener das Land übernahmen, bauten diese die Anlage weiter aus. Auch sie rechneten mit Angriffen, und auch bei ihnen ist es nie zu einem gekommen.
Die Festung musste sich nicht ein einziges Mal bewähren.
Mit dem Erhalt der Freizügigkeitsbescheinigung begann ich, daran zu zweifeln, dass die offiziellen Wörter die Einwanderungswege der einzelnen Menschen beglaubigen oder bestätigen sollten. Dass sie denen, die sich auf den Weg in ein neues Land machten, als Streckenbegleiter dienen sollten. Und dass dabei am Ende eines langen Tages auch ihr Ankommen vorgesehen war.
Ich fing an zu ahnen, dass uns diese Wörter voneinander trennen sollten. Und dass sie den Leuten vorgesetzt werden, statt sie aus ihrer Sicht heraus zu schaffen. Den meisten Einwanderern wird ihre Einwanderung vorgeschrieben, in der Gestalt einer ewigen Prüfung, von der hauptsächlich andere wissen, wie sie zu bestehen ist – nämlich nie. Verlangt und vorgeschrieben wird sie von denjenigen, die zu wissen meinen, wie’s geht: »Integriere dich!« Wie aber sollte ein Integrieren im Imperativ gehen? Und was wäre eine vollkommene Integration? Dass du ganz Deutsche bist? Genau das aber ließe man dich niemals werden. Still und leise jedoch wird es erwartet. Wird etwas erwartet, das dir zugleich verwehrt wird.
Von einer wie mir wurde allerdings weder etwas verlangt noch gewünscht, ich wurde nicht angewiesen noch eingewiesen, ich musste mich nicht integrieren, weil ich von vorneherein als integriert galt, und ich sollte nicht mehr ins Ausländereinwohnermeldeamt gehen, sondern ins Bürgeramt.
Ich hätte allerdings die kalte Zugluft auf der Brücke dem überheizten Bürgeramt vorgezogen. Die Überquerung, den unwirtlichen Ort, das Luftige der eigenen Existenz, das Vertraute unter lauter Fremden: Es entsprach dem Zustand meiner eigenen Fremdheit, die sich Schritt für Schritt in Bekanntes verwandeln würde. Mit dem Bürgeramt wurde dieser Weg offiziell nivelliert, er blieb unbeachtet und war somit bedeutungslos. Das war nicht tragisch, Unbeachtetes und Bedeutungsloses erhebt keinen Anspruch auf Tragik.
Es ist eine abenteuerliche Reise, tiefgehender als alles andere. Und sie beginnt nicht mit dem Tag der Einreise. Das eigentliche Einwandern beginnt später und nimmt zu und wird immer mehr, je mehr das wird, was da in einen einwandert. Und wahrscheinlich hört diese Reise, einmal begonnen, nicht wieder auf. Nein, ich wollte keinen Schritt achtlos übergehen.
Meine Reise begann mit einer zentimetergenauen und minutiösen Landvermessung in der zweiten Etage. In der stillen Einzimmerwohnung mit einem Klavier, das mutterseelenallein in dem ansonsten leeren Zimmer stand. Es war einfach zurückgelassen worden. Und so stand es da, mit mir, der neuen Mieterin, die nicht Klavier spielen konnte.
Ich lernte Elena kennen, eine junge Frau aus Moskau, die mit ihrem Vater nach Deutschland gekommen war. Offiziell galt sie als Deutsche, als deutsche Aussiedlerin. Von der deutschen Sprache kannte sie ein paar altmodische Wörter aus der Zeit Maria-Theresias. Sie lernte die deutsche Sprache in Rekordzeit, dafür wurde sie an der Handelsschule aufgenommen, wo sie zur Sekretärin ausgebildet wurde. Elena hatte in Russland ein Studium der Englischen Literatur abgeschlossen und war staatlich geprüfte Klavierlehrerin. Beides wurde ihr in Deutschland nicht anerkannt. Elena war vor allem eine Pianistin und wenn sie auf dem Klavier spielte, dann verwandelte sich das heruntergekommene Haus in einen Palast. Sie spielte radikal, zart, heftig, streng und vorsichtig, sie ließ die tiefen und die hellen Wogen der Musik miteinander ringen, und während ich erlebte, wie diese beiden Körper aufgingen, das Klavier und sie, starrte ich gebannt auf Elenas Mund. Ihre Lippen waren nass und voll, sie musste unaufhörlich schlucken, der Speichel in ihrem Mund schien überzulaufen.
Elena war keine Sekretärin. Alles, was sie brauchte, war ein Klavier. Und alles, was dieses abgestellte Klavier brauchte, war Elena. Sie kam zweimal wöchentlich zu mir und spielte. Sie spielte sich das Herz aus der Seele, dem Klavier auch.
Und ich bestand meinen Englischtest. Den brauchte ich für meinen Aufnahmetest an der Universität, und das war, was Elena mir anbot, einen geschliffenen Englischunterricht. Im Test musste ich den Schlegelschen Ursprungstext der Romantik ins Englische übersetzen. Dank der russischen Nachhilfe war das keine Kunst mehr.
Elena sagte mir einmal, ein Russe kann alles verlieren, solange er seine Sprache behält. Die wichtigste Heimat war die Sprache, und die war im Innenfutter seines Mantels verwoben. Und ich? Was suchte ich so heftig im Fremden, wenn nicht eine Sprache?
Es gab kein Innenfutter in meinem Mantel. Oder wenn, dann war es löchrig.
Sprache wird da, wo ich herkomme, nur wenig gesprochen; der Dialekt gehört der Landschaft, den Jahreszeiten, der Witterung und dem Gedeih von Tieren und Menschen. Mehr gibt es darüber hinaus nicht zu sagen. Mir aber schien es, als würde stattdessen geschwiegen, so, als müsste man die Sprache, die auch noch da war, verschweigen.