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Das vorliegende Jahrbuch umfasst die Leitartikel der EuZ – Zeitschrift für Europarecht aus dem Jahr 2025. Die EuZ berichtet in nunmehr 27. Jahrgängen über die jüngsten Entwicklungen im Recht der EU sowie über die Beziehungen der Schweiz zur EU. Im Rahmen wissenschaftlicher Beiträge analysieren renommierte Experten aktuelle Rechtsfragen in allen wirtschaftsrelevanten Bereichen des EU-Rechts.
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Seitenzahl: 638
Veröffentlichungsjahr: 2025
EuZ - Zeitschrift für Europarecht - Jahrbuch 2025 Copyright © by Tobias Baumgartner; Andreas Kellerhals; and Sophie Tschalèr is licensed under a Creative Commons Attribution-NonCommercial-NoDerivatives 4.0 International License, except where otherwise noted.
Verlag: EIZ Publishing (eizpublishing.ch), Bellerivestrasse 49, 8008 Zürich,[email protected]:978-3-03994-060-8 (Print – Softcover)978-3-03994-061-5 (ePub)DOI:https://doi.org/10.36862/74T3-4E9GVersion: 1.00 – 20251212
Dieses Werk ist als gedrucktes Buch sowie als Open-Access-Publikation in verschiedenen Formaten verfügbar:https://eizpublishing.ch/publikationen/euz-zeitschrift-fuer-europarecht-jahrbuch-2025.
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Das vorliegende Jahrbuch umfasst die Leitartikel der EuZ – Zeitschrift für Europarecht aus dem Jahr 2025. Die EuZ berichtet im nunmehr 27. Jahrgang über die jüngsten Entwicklungen im Recht der EU sowie über die Beziehungen der Schweiz zur EU. Im Rahmen wissenschaftlicher Beiträge analysieren renommierte Expertinnen und Experten aktuelle Rechtsfragen in allen wirtschaftsrelevanten Bereichen des EU-Rechts.
Seit 2022 wird die EuZ als Open Access-eJournal im Fachverlag des Europa Instituts an der Universität Zürich, „EIZ Publishing“, herausgegeben. Sie erscheint zehnmal jährlich und ist auf der Verlagswebseite (eizpublishing.ch) kostenfrei abrufbar. Die einzelnen Ausgaben des eJournals umfassen neben den im vorliegenden Jahrbuch zusammengeführten Leitartikeln Kurzbeiträge zu aktuellen Entwicklungen in allen wirtschafts- und gesellschaftsrelevanten Bereichen des EU-Rechts und der Beziehungen Schweiz-EU.
Wir danken den Autorinnen und Autoren bestens für Ihre Beiträge und das Vertrauen in unser neues Veröffentlichungsformat, mit dem wir den Verbreitungsradius der EuZ enorm vergrössern konnten.
Zürich, Dezember 2025
Tobias Baumgartner Dr. iur., LL.M., RechtsanwaltAndreas Kellerhals Prof. Dr. iur., LL.M., RechtsanwaltSophie Tschalèr MLaw2
Neuorientierung im EU-Lebensmittelrecht – Ist der Green Deal am Ende?
Prof. Dr. Martin Holle
Marktbeherrschende Stellung und kollektive Marktbeherrschung in digitalen Märkten
Dr. Okan Yildiz
Sustainable Finance 3.0: The Emerging Regulatory Framework for Impact Investing under EU Law
Dr. Tadas Zukas
Value conditionality as a new EU mechanism used against autocratizing Hungary
Prof. Dr. Gábor Halmai
The application of suitability and appropriateness tests in relation to retail investors under EU capital markets law
Prof. Dr. Christos V. Gortsos
Das EU-Reformpaket „VAT in the Digital Age“ (ViDA) und seine Auswirkungen auf die Schweiz
Prof. Dr. Ralf Imstepf
Marktmissbrauch im Kryptomarkt – Eine Einordnung nach MiCAR und Schweizer Finanzmarktrecht
Dr. Fabio Andreotti / Dr. Joshua R. Taucher
Plus c’est la même chose, plus ça change – Schiedsverfahren im Rahmen des Pakets Schweiz-EU
Prof. Dr. Benedikt Pirker
Strafrechtlicher Einwanderungsschutz der Schweiz im Schengenraum – Systematische Darstellung der Strafnorm von AIG Art. 115 unter Berücksichtigung ihrer europarechtlichen Einbettung
Prof. Dr.Marc Jean-Richard-dit-Bressel
Abkommen zwischen der Schweiz und dem Vereinigten Königreich über die gegenseitige Anerkennung im Bereich der Finanzdienstleistungen – Eine Übersicht zur Funktionsweise des Berne Financial Services Agreement (BFSA)
Christian Bracher
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Dr. Fabio Andreotti ist Head Legal und Deputy General Counsel der Bitcoin Suisse AG, einer auf Kryptodienstleistungen spezialisierten Gesellschaft mit Sitz in Zug. Davor war er für Rechts- und Compliance-Themen bei der RealUnit Schweiz AG verantwortlich, einer börsenkotierten Investmentgesellschaft mit tokenisierten Beteiligungsrechten. Fabio Andreotti hat an der Universität Zürich im Bereich dezentraler Handelsplattformen doktoriert.
Christian Bracher, Rechtsanwalt, bis August 2025 Staatssekretariat für internationale Finanzfragen SIF (davor Goldman Sachs, FINMA, UBS), führte als head des Schweizer central teams die technischen Verhandlungen der Schweiz mit dem Vereinigten Königreich über das Berne Financial Services Agreement.
Prof. Dr. Christos V. Gortsos is Professor of Public Economic Law at the Law School of the National and Kapodistrian University of Athens and Visiting Scholar at the University of Zurich, where he previously also served as Visiting Professor. He is an internationally recognized expert in financial regulation and central banking law, and the author of numerous publications in these fields. His academic and institutional affiliations include serving as Vice-President of the Board of Appeal of the European Supervisory Authorities, President of the Academic Board of the European Banking Institute, and Member of the European Parliament’s expert group on banking resolution. He is also for a decade now a Visiting Lecturer at the Europa Institut at the University of Zurich, as well as Academic Coordinator of the Committee on International Monetary Law of the International Law Association (MOCOMILA).
Prof. Dr. Gábor Halmai is professor emeritus of the Eötvös Loránd University, Budapest. Between 2016 and 2022 he was Professor and Chair of Comparative Constitutional Law at the Law Department of the European University Institute. He served as Director of Graduate Studies at the Law Department from 2017 till 2021. His primary research interests are comparative and European constitutional law. He is founder and editor-in-chief of Fundamentum, the Hungarian human right quarterly, and Member of the Scientific Advisory Board of the European Yearbook on Human Rights, and of the Review of Constitutionalism and Constitutional Change (RC3). He is still active as part-time professor at European University Institute, Department of Law, in Florence.
Prof. Dr. Martin Holle ist seit 2013 Professor für Lebensmittelrecht und Verwaltungsrecht an der Hochschule für Angewandte Wissenschaften in Hamburg. Zudem ist er seit vielen Jahren als Syndikusanwalt für Fragen des Lebensmittel- und Wettbewerbsrechts in der deutschen bzw. europäischen Rechtsabteilung Unilever PLC, London tätig.
Prof. Dr. Ralf Imstepf ist Assistenzprofessor für Steuerrecht an der Universität St. Gallen und leitet die Rechtsabteilung MWST bei der Eidgenössischen Steuerverwaltung. Zuvor war er als Steuerberater und Rechtsanwalt in einer international ausgerichteten Anwaltskanzlei sowie als Gerichtsschreiber am Bundesverwaltungsgericht tätig. Ralf Imstepf hat im Bereich des Mehrwertsteuerrechts dissertiert, ist Rechtsanwalt und eidgenössisch diplomierter Steuerexperte. Er publiziert und referiert regelmässig im Bereich des Steuer- und Verfahrensrechts.
Prof. Dr.Marc Jean-Richard-dit-Bressel, LL.M., ist Staatsanwalt/Abteilungsleiter an der Staatsanwaltschaft III des Kantons Zürich und Titularprofessor für Strafrecht und Strafprozessrecht an der Universität Zürich.
Dr. Joshua R. Taucher ist Senior Legal Counsel bei der Sygnum Bank AG, einer auf digitale Vermögenswerte spezialisierten Schweizer Bank. Davor war Joshua R. Taucher als Rechtsanwalt in einer Wirtschaftskanzlei in Zürich im Bereich des Banken- und Finanzmarktrechts tätig. Vor dieser Tätigkeit absolvierte er ein LL.M.-Programm an der Bond University (Australien) und verfasste eine Dissertation im Bereich des Aktien- und Finanzmarktrechts an der Universität St. Gallen.
Prof. Dr. Benedikt Pirker ist Titularprofessor am Lehrstuhl für Europarecht, Völkerrecht und Öffentliches Recht der Universität Freiburg i. Üe. und Forschungsbeauftragter am Liechtenstein-Institut.
Dr. Okan Yildiz ist Gerichtsschreiber am Bundesverwaltungsgericht (Abteilung II). Er studierte an der Universität Zürich sowie an der Université de Neuchâtel. Während seines Master- und Doktoratsstudiums war er bei Prof. Dr. iur. Rolf H. Weber wissenschaftlicher Assistent am Universitären Forschungsschwerpunkt (UFSP) Finanzmarktregulierung. Anschliessend doktorierte er an der Universität Zürich zu Kopplungsgeschäften in der digitalen Wirtschaft und verbrachte je einen Forschungsaufenthalt an der University of Melbourne sowie an der UNSW Sydney.
Dr. Tadas Zukas is the Global Lead Senior Legal Counsel Sustainability / ESG at Vontobel in Zurich and a Fellow at Zurich University’s Center for Sustainable Finance and Private Wealth. The views expressed in this paper are his personal views.
Martin Holle
Seit dem 1. Dezember 2024 ist die neue EU-Kommission im Amt. Auch wenn die bisherige Kommissionpräsidentin in ihrem Amt bestätigt wurde, hat sich der politische Fokus der zweiten Kommission von der Leyen deutlich verschoben. Gleiches gilt für die Mehrheitsverhältnisse im Europäischen Parlament nach den Wahlen im Juni 2024. Der frühere Erste Vizepräsident Frans Timmermans, einer der massgeblichen Architekten des Green Deal, gehört der neuen Kommission nicht mehr an. Zeit, eine erste Bilanz des Europäischen Green Deal und der Farm-to-Fork-Strategie im Lebensmittelsektor zu ziehen und einen Ausblick in die nähere Zukunft zu wagen.
In Bezug auf den Agrar- und Lebensmittelsektor stellte die Europäische Kommission in ihrer Mitteilung zum Green Deal aus dem Jahr 2019 fest, dass die Lebensmittelerzeugung nach wie vor mit Luft‑, Wasser- und Bodenverschmutzung verbunden sei, zum Biodiversitätsverlust und zum Klimawandel beitrage und übermässige Mengen an natürlichen Ressourcen verbrauche. Ausserdem werde ein bedeutender Teil der Lebensmittel verschwendet. Zudem trügen schlechte Ernährungsgewohnheiten zu Adipositas und Erkrankungen wie Krebs bei[1].
Um diese Herausforderungen im Lebensmittelsektor anzugehen, entwickelte die EU-Kommission die Farm-to-Fork-Strategie[2]. Sie zielte darauf ab, den Übergang zu einem nachhaltigen Lebensmittelsystem zu beschleunigen, das
neutrale oder positive Umweltauswirkungen hateinen Beitrag zur Eindämmung des Klimawandels und zur Anpassung an seine Auswirkungen leistetden Verlust an biologischer Vielfalt umkehrtErnährungssicherheit, gesunde Ernährung und öffentliche Gesundheit gewährleistetsicherstellt, dass jeder Zugang zu ausreichenden, sicheren, nahrhaften und nachhaltigen Lebensmitteln hatLebensmitteln erschwinglich hält und gleichzeitig Erzeugern erlaubt, gerechtere wirtschaftliche Erträge zu erzielendie Wettbewerbsfähigkeit des EU-Lebensmittelsektors und den fairen Handel fördert[3].Unter besonderer Betonung der Bedeutung der Ernährungs- und Lebensmittelsicherheit wurden dabei insbesondere die folgenden Schwerpunkte definiert[4]:
Ein belastbares, resilientes Lebensmittelsystem, das die Bürger in ausreichendem Masse mit erschwinglichen und nahrhaften Lebensmitteln versorgt und dabei die Belastbarkeitsgrenzen des Planeten respektiertEine Verringerung der Abhängigkeit von Pestiziden und antimikrobiellen Mitteln (mit dem Ziel einer Halbierung des Einsatzes bzw. Umsatzes) sowie eine Reduktion des übermässigen Einsatzes von DüngemittelnEine Erhöhung der für ökologische/biologische Landwirtschaft genutzten Fläche mit dem Ziel, bis zum Jahr 2030 mindestens 25% der landwirtschaftlichen Flächen in der EU ökologisch zu bewirtschaftenFörderung eines nachhaltigen Lebensmittelverzehrs und Erleichterung der Umstellung auf eine gesunde und nachhaltige ErnährungVerringerung von Lebensmittelverlusten und -verschwendungBekämpfung von Lebensmittelbetrug entlang der LebensmittelversorgungsketteVerbesserung des Tierwohls zur Stärkung der Tiergesundheit und zur Erhöhung der LebensmittelqualitätZur Erreichung dieser Ziele schlug die Europäische Kommission im Entwurf ihres Aktionsplans zur Farm-to-Fork-Strategie für den Lebensmittelsektor insgesamt 27 legislative und nichtlegislative Massnahmen für die gesamte Wertschöpfungskette vor[5].
Eine der Leitmassnahmen dieser Strategie war die Schaffung eines umfassenden Rechtsrahmens für nachhaltige Lebensmittelsysteme mit dem Ziel, die Nachhaltigkeit und Transparenz im gesamten Lebensmittelsystem zu bewerten, die politische Kohärenz und die Multi-Level-Governance zu unterstützen und einen Prozess zur Bewältigung der Folgen des Übergangs einschliesslich der Auswirkungen auf den internationalen Handel zu schaffen[6].
Im Bereich der Lebensmittelerzeugung wurden dabei neben einer allgemeinen EU-Initiative für eine klimaeffiziente Landwirtschaft insbesondere die nachhaltigere und reduzierte Verwendung von Pestiziden, die Stärkung der Zusammenarbeit der Primärerzeuger zur Festigung ihrer Position in der Lebensmittelkette, die Ertüchtigung des Informationsnetzes landwirtschaftlicher Buchführung für eine Nachhaltigkeitsberichterstattung für landwirtschaftliche Betriebe, eine Stärkung des Tierschutzes und die Überarbeitung der Rechtsvorschriften zu Futtermittelzusatzstoffen in den Blick genommen. In der Primärproduktion sollten zudem die Gemeinsame Agrarpolitik (GAP) und die Gemeinsame Fischereipolitik (GFP) als zentrale Instrumente die Anstrengungen zur Bekämpfung des Klimawandels, zum Schutz der Umwelt und zur Erhaltung der Biodiversität unterstützen. Gleichzeitig waren aber auch ein angemessener Lebensunterhalt für Landwirte, Fischer und ihre Familien sowie die Erschwinglichkeit und Verfügbarkeit von Lebensmitteln zu gewährleisten[7]. Die reformierte Gemeinsame Agrarpolitik sollte zur Nutzung von nachhaltigen Verfahren wie Präzisionslandwirtschaft, ökologischem Landbau, Agrarökologie, Agrarforstwirtschaft und strengeren Tierschutzstandards führen. Ein weiterer Ansatz war, Landwirte durch Massnahmen wie Öko-Regelungen für eine verbesserte Umwelt- und Klimaleistung, einschliesslich CO2-Management und -speicherung im Boden, sowie für eine bessere Nährstoffbewirtschaftung, mit der die Wasserqualität verbessert und Emissionen verringert werden, besser zu entlohnen[8].
Zu diesem Zweck wurden Massnahmen wie die Verbesserung der Widerstandsfähigkeit der Böden[9], der Einsatz neuer genomischer Techniken bei Pflanzen[10], die Renaturierung zur Abschwächung der Auswirkungen des Klimawandels, des Verlusts der biologischen Vielfalt und der Umweltzerstörung[11], die Verbesserung des pflanzlichen und forstlichen Vermehrungsmaterials durch die Erhöhung der Vielfalt und Qualität von Saatgut, Stecklingen und anderem pflanzlichen Vermehrungsmaterial[12] sowie die Verringerung von Lebensmittel- und Textilabfällen[13] vorgeschlagen.
In den Sektoren Lebensmittelverarbeitung, Grosshandel, Einzelhandel, Gastgewerbe und Verpflegungsdienstleistungen sollten Nachhaltigkeitsaspekte im Rahmen eines neuen Corporate-Governance-Regimes stärker in die Unternehmensstrategien einbezogen werden. Daneben war die Entwicklung eines EU-Kodex und eines Monitoringrahmens für verantwortungsvolle Unternehmens- und Marketingpraktiken in der Lebensmittelversorgungskette vorgesehen. Ausserdem sollten Anreize zur Förderung der Neuformulierung verarbeiteter Lebensmittel, u.a. durch die Festlegung von Höchstgehalten für bestimmte Nährstoffe sowie von Nährwertprofilen zur Einschränkung der Bewerbung von Lebensmitteln mit hohem Salz‑, Zucker- und/oder Fettgehalt, geschaffen werden. Auch eine Überarbeitung der EU-Vermarktungsnormen für Agrar‑, Fischerei- und Aquakulturerzeugnisse zur Sicherstellung der Versorgung mit nachhaltigen Erzeugnissen war Teil des Arbeitsprogramms. Ebenfalls auf der Agenda, wenn auch mit einem geringeren sachlichen Bezug zum Green Deal standen die Überarbeitung der EU-Rechtsvorschriften über Lebensmittelkontaktmaterialien sowie eine effektivere Bekämpfung von Lebensmittelbetrug.
Auf Seiten der Verbraucher sah die Farm-to-Fork-Strategie eine Erweiterung der nachhaltigkeitsbezogenen Informationen über Lebensmittel vor, um die Wahl für nachhaltigere Lebensmittel zu erleichtern. Dies betraf zum einen die Förderung einer gesünderen Ernährung durch die Einführung einer verpflichtenden Nährwertkennzeichnung auf der Packungsvorderseite, zum anderen aber auch die Schaffung einer allgemeinen Nachhaltigkeitskennzeichnung für Lebensmittel. Daneben sollte die Nachhaltigkeit bei der Erzeugung und beim Verbrauch von Lebensmitteln in Schulen und anderen öffentlichen Einrichtungen durch die Festlegung von Mindestkriterien für eine nachhaltige und gesundheitsfördernde Lebensmittelbeschaffung und -verwendung sowie durch eine Neuausrichtung des EU-Absatzförderungsprogramms für landwirtschaftliche Erzeugnisse und Lebensmittel verbessert werden.
Weitere positive Nachhaltigkeitseffekte versprach sich die Europäische Kommission von der Einführung verbindlicher europäischer Zielvorgaben für die Verringerung von Lebensmittelabfällen und der Überarbeitung der EU-Vorschriften über das Verbrauchs- bzw. Mindesthaltbarkeitsdatum bei vorverpackten Lebensmitteln.
Basierend auf dem Arbeitsprogramm der Farm-to-Fork-Strategie erarbeitete die Europäische Kommission in den Folgejahren eine Vielzahl von Gesetzgebungsinitiativen, denen höchst unterschiedlicher Erfolg beschieden war[14]. So geriet die Entwicklung des Vorschlags zur Schaffung eines umfassenden Rechtsrahmens für nachhaltige Lebensmittelsysteme nach einer ersten Folgenabschätzung und einer öffentlichen Konsultation ins Stocken und wurde während der Amtszeit der Kommission 2019–2024 nicht abgeschlossen. Dasselbe geschah mit dem ergänzenden Rahmen für die Kennzeichnung nachhaltiger Lebensmittel zur Information der Verbraucher über ernährungsbezogene, klimatische, ökologische und soziale Aspekte von Lebensmitteln.
Auf dem Gebiet der ökologischen Nachhaltigkeit war die Kommission zumindest anfangs erfolgreicher. Sie erreichte die Verabschiedung der Verordnung über entwaldungsfreie Produkte[15], die Lebensmittelunternehmen, die häufig im Lebensmittelsektor verwendete Rohstoffe wie Soja, Palmöl, Kaffee, Kakao und Rindfleisch oder daraus hergestellte Produkte auf den Markt bringen, dazu verpflichtet, nachzuweisen, dass die Produkte nicht von kürzlich abgeholzten Flächen stammen oder zur Waldschädigung beigetragen haben. Allerdings wird der ursprünglich zum 30.12.2024 vorgesehene Geltungsbeginn derjenigen Bestimmungen der Verordnung, die Verpflichtungen für Marktteilnehmer, Händler und zuständige Behörden enthalten, durch eine Änderungsverordnung um 12 Monate verschoben[16].
Weitere Erfolge waren der Beschluss der Richtlinie über die Sorgfaltspflichten von Unternehmen im Hinblick auf Nachhaltigkeit[17] und die Aktualisierung der Vorschriften zur Erleichterung des Inverkehrbringens von Biopestiziden[18]. Die umfassendere Überarbeitung der Rechtsvorschriften für den nachhaltigen Einsatz von Pestiziden, die eine Verringerung des Pestizideinsatzes um 50% bis 2030 vorsah, wurde hingegen im Gesetzgebungsverfahren vom Europäischen Parlament abgelehnt und anschliessend von der Europäischen Kommission zurückgezogen. Andere Initiativen wie die Überarbeitung der Verordnungen über Materialien, die mit Lebensmitteln in Berührung kommen, die Festlegung verbindlicher Ziele für die Reduzierung von Lebensmittelabfällen oder die Aktualisierung der Verordnung über Lebensmittelzusatzstoffe, wurden im Gesetzgebungsverfahren stark verzögert.
Insgesamt ist zu konstatieren, dass Vorschläge, die in erster Linie auf Aspekte der wirtschaftlichen und sozialen Nachhaltigkeit abzielten, vor allem dann erfolgreich waren, wenn ihr Geltungsbereich über den Agrar- und Ernährungssektor hinausging und sie vorwiegend grosse Unternehmen betrafen, wie die Richtlinie über die Sorgfaltspflicht von Unternehmen bei der Anwendung von Nachhaltigkeitskriterien[19] oder die Änderung der Richtlinie über unlautere Geschäftspraktiken im Hinblick auf die Verwendung „grüner Angaben“ (Green Claims)[20]. Alle anderen, stärker lebensmittelbezogenen Massnahmen im Bereich der Lebensmittelinformation wie die Einführung von Nährwertprofilen, um die Werbung für Lebensmittel mit hohem Salz‑, Zucker- und/oder Fettgehalt einzuschränken, die harmonisierte obligatorische Nährwertkennzeichnung auf der Vorderseite von Verpackungen, die Herkunftsangabe für bestimmte Produkte oder die Überarbeitung der Vorschriften für die Datumsangabe wurden ohne Angabe eines Zeitplans für den Abschluss verschoben. Das gleiche Schicksal ereilte das Dossier zur Überarbeitung der Tierschutzvorschriften. Auch der Vorschlag über Pflanzen, die mit bestimmten neuen Genomtechniken gewonnen wurden, und aus ihnen gewonnene Lebens- und Futtermittel[21], der darauf abzielt, eine Innovation zu regeln, die sich als entscheidend für die Abschwächung der Auswirkungen des Klimawandels auf die Agrar- und Lebensmittelproduktion und für die Wettbewerbsfähigkeit des EU-Agrar- und Ernährungssektors erweisen könnte, ist in grundlegende politische Kontroversen verwickelt und konnte daher in der Amtszeit der ersten Kommission von der Leyen im Gesetzgebungsverfahren nicht wesentlich vorangebracht werden.
Im Agrarsektor ist zudem der wichtigste Hebel zur Steuerung der Umstellung auf eine nachhaltigere landwirtschaftliche Produktion, die Direktzahlungen an die Landwirte, bisher weitgehend unangetastet geblieben. Die GAP-Finanzierung basiert nach wie vor weitgehend auf Zahlungen pro Hektar Land, wobei ein deutlich kleinerer Teil des Budgets für eine „Greening“-Komponente für die Landschaftspflege, zusätzliche Einkommensbeihilfen in Gebieten mit naturbedingten Einschränkungen sowie für einige andere Gebiete und Arten der Landwirtschaft oder zusätzliche Zahlungen für Junglandwirte und Kleinbauern vorgesehen ist. Die GAP für den Zeitraum 2023-2027 geht somit nicht auf die grundlegenden Probleme ein, die dazu führen, dass der Agrarsektor in so erheblichem Masse zu den Treibhausgasemissionen beiträgt, dass diese mehr als 10% der Gesamtemissionen der EU ausmachen[22]. Auch der ursprüngliche Plan, im Rahmen der EU-Klimaziele bis 2040 die Emission von Nicht-CO2-Treibhausgasen wie Methan um mindestens 30% zu reduzieren, wurde nach erheblichem politischen Gegenwind fallengelassen.
Zusammenfassend ist zu konstatieren, dass der Erfolg des Green Deal in der Agrar- und Ernährungswirtschaft bis heute eher begrenzt ist. Die Farm-to-Fork-Strategie hat bisher nur in Bereichen Wirkung gezeigt, die nicht zu wesentlichen Veränderungen im derzeitigen Agrar- und Ernährungssystem führen. Zentrale Initiativen wie der Rechtsrahmen für nachhaltige Lebensmittelsysteme, die deutliche Reduzierung des Pestizideinsatzes oder die Regulierung neuer Genomtechniken wurden entweder aufgegeben oder sind im Gesetzgebungsverfahren stecken geblieben. Die soziale Nachhaltigkeit wird durch einige neue GAP-Beihilfen, z. B. für die Entwicklung des ländlichen Raums oder die Unterstützung von Kleinbauern, zwar stärker gefördert. Dennoch ist die Einkommenssituation vieler Kleinbauern nach wie vor schwierig. In einer Studie, die physische Input-Output-Datensätze mit Daten über öffentliche Subventionen verknüpfte, wurde gezeigt, dass die derzeitige Verteilung von GAP-Subventionen Lebensmittel tierischen Ursprungs begünstigt, in dem auf sie 82% der Agrarsubventionen der Europäischen Union entfallen (38% direkt und 44% für Futtermittel); gleichzeitig sind Lebensmittel tierischen Ursprungs mit 84% der gesamten Treibhausgasemissionen der EU-Lebensmittelproduktion verknüpft[23]. Die Gemeinsame Agrarpolitik ist damit noch weit davon entfernt, dem langfristigen Ziel der CO2-Neutralität bis zum Jahre 2050 signifikant näher zu kommen. Bei Konflikten zwischen wirtschaftlichen, sozialen und ökologischen Nachhaltigkeitszielen scheint, wie auch schon vor dem Green Deal, weiterhin wirtschaftlichen und bis zu einem gewissen Grad auch sozialen Aspekten Vorrang vor ökologischen Interessen eingeräumt zu werden.
Der Green Deal verlor viel von seinem Schwung, als die Covid-19-Pandemie und der russische Angriff auf die Ukraine die politischen Prioritäten veränderten. Die Unterbrechung der globalen Versorgungsketten führte zu einer Bedrohung der Lebensmittelsicherheit, wie sie die Europäische Union seit dem Zweiten Weltkrieg nicht mehr erlebt hatte, und der Anstieg der Energiekosten wirkte sich stark auf die Erschwinglichkeit von Lebensmitteln aus. Es ist daher kaum verwunderlich, dass diese sehr unmittelbaren Sorgen die entfernteren (aber auch hartnäckigeren) Herausforderungen durch die globale Erwärmung und den Klimawandel ersetzt haben. Darüber hinaus führte der alle Gesellschaftsbereiche durchdringende, umfassende Ansatz des Green Deal zu einer nie gekannten Komplexität der zu behandelnden Fragestellungen und einer Vielzahl von Zielkonflikten, die mit den vorhandenen Ressourcen in der Kürze der zur Verfügung stehenden Zeit nicht zu bewältigen waren.
Betrachtet man die politische Agenda der (wieder‑)gewählten Präsidentin der Europäischen Kommission, so bekennt sich diese zwar grundsätzlich immer noch zur Fortführung des Green Deal. Im Mittelpunkt der Kommissionstätigkeit soll jetzt allerdings eine Europäische Wohlstandsinitiative stehen mit dem Ziel[24]:
unternehmerische Initiative zu erleichtern und den Binnenmarkt zu vertiefeneinen „Clean Industrial Deal“ für die Dekarbonisierung der Wirtschaft und für niedrigere Energiepreise auf die Beine zu stellenForschung und Innovation in der Wirtschaft in den Mittelpunkt zu stellendie Produktivität durch die Verbreitung digitaler Technologien anzuschiebenmassiv in nachhaltige Wettbewerbsfähigkeit zu investierensowie
den Fach- und Arbeitskräftemangel zu beheben.Ursula von der Leyens politische Vision für den Agrar- und Ernährungssektor ist es dabei, „die langfristige Wettbewerbsfähigkeit und Nachhaltigkeit unseres Agrarsektors innerhalb der Grenzen unseres Planeten“ zu sichern[25]. Nach ihrem Programm bedeutet dies insbesondere, den Landwirten ein faires und ausreichendes Einkommen zu sichern, ihre Position in der Kette zu stärken, sie für die Arbeit mit der Natur zu belohnen, die Wettbewerbsfähigkeit der Lebensmittelwertschöpfungskette zu unterstützen und die Ernährungssouveränität sowie die Lebensmittel- und Wassersicherheit zu schützen[26].
Die Mandatsschreiben an die für den Agrar- und Lebensmittelsektor zuständigen Kommissare präzisieren diese Mission noch weiter. In der gemeinsamen Einleitung des Briefings für alle EU-Kommissare werden noch einmal die zentralen politischen Ziele der „Gewährleistung unserer Sicherheit in jedweder Hinsicht in einer immer gefährlicheren und unruhigeren Welt sowie die Unterstützung der Bevölkerung, indem unser Wohlstand, unsere soziale Marktwirtschaft, der ökologische und der digitale Wandel gestärkt und unsere einzigartige Lebensqualität aufrechterhalten wird“[27] betont. Zwar sollen alle Kommissionsmitglieder weiterhin dafür Sorge tragen, dass die Ziele der Vereinten Nationen für eine nachhaltige Entwicklung bis 2030 in ihren Politikbereichen erreicht werden, es sollen darüber hinaus aber u.a. auch die Ergebnisse des Draghi-Berichts über die europäische Wettbewerbsfähigkeit, des Letta-Berichts über die Zukunft des Binnenmarkts und des Berichts über den strategischen Dialog zur Zukunft der Landwirtschaft in der EU mit einbezogen werden[28].
Der Abschlussbericht zum strategischen Dialog zur Zukunft der Landwirtschaft[29] betont die Bedeutung von Zusammenarbeit und Dialog über die gesamte Lebensmittelwertschöpfungskette hinweg sowie die strategische Rolle von Lebensmitteln und landwirtschaftlicher Produktion im aktuellen geopolitischen Kontext und für die Ernährungssicherheit der EU. Zentrale Aspekte einer neuen Agrarpolitik sollen das Vorantreiben von Nachhaltigkeit und Wertschöpfung in den Märkten, eine bessere Internalisierung von externen Effekten, die Umstellung auf eine ausgewogenere Ernährung, eine Verbesserung der Attraktivität des ländlichen Raums sowie eine aktivere Nutzung von neuen Technologien und Innovationen sein[30].
Als Massnahmen zur Förderung der Wettbewerbsfähigkeit und Nachhaltigkeit der Lebensmittelwertschöpfungskette schlägt der Bericht u.a. die folgenden Massnahmen vor[31]:
Förderung der Zusammenarbeit zwischen Landwirten und anderen Akteuren der Lieferkette, um Landwirte für ihre Bemühungen um Nachhaltigkeit zu belohnenSchaffung von Rechtssicherheit in Bezug auf die kartellrechtliche Freistellung von Nachhaltigkeitsinitiativen in Art. 210a der GMO-VerordnungVerbesserung der kritischen und nachhaltigen Infrastruktur für den Agrar- und ErnährungssektorAnreize für Investitionen in die Reduzierung von Treibhausgasemissionen, Energieeffizienz, umweltfreundlichere Logistik, grüne Energieerzeugung und DigitalisierungAufnahme von vertraglichen Öffnungsklauseln für den Fall eines aussergewöhnlichen Kostenanstiegs oder von Veränderungen bei Angebot und NachfrageEine Stärkung der Position der Landwirte in der Wertschöpfungskette soll zudem durch einen besseren Zugang zu Kapital und Land, eine Förderung der Organisation in landwirtschaftlichen Genossenschaften, den Austausch von Best Practices sowie durch Massnahmen, die sicherstellen, dass Landwirte ein angemessenes Markteinkommen erzielen können, erreicht werden[32].
Auch die Bewältigung der Treibhausgasemissionen des Sektors (11% des EU-Gesamtausstosses) nimmt der Abschlussbericht des strategischen Dialogs in den Blick. Diese soll durch die Festlegung spezifischer Reduktionsziele für die verschiedenen Arten der Landwirtschaft sowie durch die Entwicklung eines Systems zur Erfassung von Treibhausgasemissionen adressiert werden; eine Teilnahme am Emissionshandelssystem ist allerdings nicht Teil der Empfehlungen[33].
Weitere Aktionspunkte zur Unterstützung und Förderung nachhaltiger landwirtschaftlicher Praktiken sind die Einbeziehung der Landwirte in Strategien der Kreislaufwirtschaft, integriertes Nährstoffmanagement, die Nutzung kohlenstofffreier Düngemittel, die Anwendung von Techniken zur Nährstoffrückgewinnung sowie biologische Schädlingsbekämpfung als Ergänzung bzw. Ersatz für konventionelle Schädlingsbekämpfung[34]. Auf Verbraucherseite soll die Wahl gesünderer und nachhaltigerer Lebensmittel leichter gemacht werden. Hierzu sollen nachfrageseitige Massnahmen zur Schaffung eines günstigen Lebensmittelumfelds genutzt werden, in dem eine ausgewogene, nachhaltige und gesunde Ernährung verfügbar, zugänglich, erschwinglich und attraktiv ist. Handlungsfelder sind hier insbesondere[35]:
Eine Neuausrichtung der Proteinquellen auf pflanzliche Optionen, einschliesslich eines EU-Aktionsplans für pflanzliche LebensmittelDie Aktualisierung der lebensmittelbasierten Ernährungsrichtlinien zur Berücksichtigung der NachhaltigkeitEine stärkere Kohärenz zwischen der Politik zur Förderung von Lebensmitteln in der Landwirtschaft und den Leitlinien für eine gesunde ErnährungDie Einbeziehung der Nachhaltigkeit in die Lebensmittelkennzeichnung, eine Regulierung der Vermarktung an Kinder und die Reformulierung von LebensmittelnSteuerliche Anreize sowie sozial- und steuerpolitische Massnahmen zur Förderung der Erschwinglichkeit von nachhaltigen Produktenund
Die schrittweise Erhöhung der Beschaffung von nachhaltigen Lebensmitteln in öffentlichen EinrichtungenDes Weiteren soll das Bewusstsein für den Tierschutz bei Erzeugern wie Verbrauchern gestärkt werden. Hierzu wird eine Überarbeitung der Tierschutzgesetzgebung bis 2026 und die Schaffung eines Tierschutzkennzeichnungssystems vorgeschlagen[36].
Um zu nachhaltigeren und wettbewerbsfähigeren Lebensmittelsystemen zu kommen, ist schliesslich auch eine schrittweise Anpassung der GAP zur Unterstützung des Übergangs erforderlich. Dazu ist es nach Ansicht der Teilnehmer des strategischen Dialogs notwendig, die GAP-Finanzierung stärker an sozioökonomische Bedürfnisse und nicht nur an die Fläche zu koppeln, neue Verteilungsmechanismen einzuführen, günstigere Bedingungen für ländliche Gebiete zu schaffen, positive gesellschaftliche Ergebnisse der landwirtschaftlichen Tätigkeit in den Bereichen Umwelt, Soziales und Tierschutz zu fördern sowie gezielte, ergebnisorientierte Umweltzahlungen einzuführen, die die Bereitstellung von Ökosystemleistungen belohnen. Hierzu soll der Anteil der Haushaltsmittel für Öko-Regelungen, Agrarumwelt- und Klimainstrumente allmählich erhöht werden und ein befristeter Sonderfonds für gerechte Übergänge eingerichtet werden[37].
Zusammenfassend kommt der Bericht zu dem Schluss, dass eine überarbeitete GAP den Landwirten, die es am nötigsten haben, sozioökonomische Unterstützung bieten und sich auf die Entwicklung des ländlichen Raums und die Verbesserung der Umwelt- und Tierschutzergebnisse konzentrieren muss, während gleichzeitig sicherzustellen ist, dass die Politik mit den langfristigen Nachhaltigkeitszielen in Einklang steht.
Diese Empfehlungen des strategischen Dialogs zur Zukunft der EU-Landwirtschaft werden im Mandatsschreiben an den Kommissar für Landwirtschaft und Ernährung als Leitlinien und Grundlage für eine innerhalb der ersten 100 Tage der Amtszeit der Europäischen Kommission zu erarbeitenden Vision für Landwirtschaft und Ernährung benannt[38]. Bei der Konkretisierung der relevanten Belange wird dann zwar auch wieder ein neuer Ansatz für Nachhaltigkeit und eine Unterstützung der Landwirte bei der Dekarbonisierung und dem Erhalt der biologischen Vielfalt angesprochen; wesentlich grösseren Raum nehmen aber die Förderung ländlicher Gebiete, die Verbesserung der Einkommenssituation und der Wettbewerbsfähigkeit der Landwirte und deren finanzielle Unterstützung ein[39].
Das Arbeitsprogramm der neuen Europäischen Kommission, wie es in den politischen Leitlinien der Kommissionspräsidentin und den Mandatsschreiben an die für den Agrar- und Lebensmittelsektor zuständigen Kommissare zum Ausdruck kommt, betont vordergründig eine Kontinuität bei der Umsetzung des Green Deal. Schaut man aber auf die grossen Linien der neuen Kommissionstrategie, treten Nachhaltigkeitsaspekte gegenüber ökonomischen und sozialen Erwägungen wie der Stärkung der Wettbewerbsfähigkeit, der Sicherstellung der Ernährungssouveränität, der Verbesserung der Einkommenssituation der Landwirte und der Entwicklung des ländlichen Raumes deutlich in den Hintergrund. Es ist daher nicht damit zu rechnen, dass die Initiativen des Green Deal im Lebensmittelsektor mit der gleichen Intensität fortgeführt werden wie unter der ersten Kommission von der Leyen. Insbesondere die Gemeinsame Agrarpolitik ist zunächst einmal bis 2027 festgeschrieben, so dass von dort keine weiteren Impulse im Hinblick auf eine nachhaltigere Ausrichtung der Landwirtschaft zu erwarten sind. Auch zentrale Vorhaben der Farm-to-Fork-Strategie wie die Schaffung einer Rahmenregelung für nachhaltige Lebensmittelsysteme werden aller Wahrscheinlichkeit nach nicht erneut aufgegriffen. Demgegenüber ist damit zu rechnen, dass spezifischere Initiativen, insbesondere wenn diese auch die Wettbewerbsfähigkeit des europäischen Lebensmittelsektors betreffen, weiter verfolgt werden. Hierzu gehört z.B. der Vorschlag zur Regelung der Nutzung von neuen genomischen Verfahren. Ein weiterer Bereich, in dem die Kommission aller Voraussicht nach aktiv bleiben wird, ist die Verbraucherinformation, vor allem dort, wo diese die Förderung einer gesünderen Ernährungsweise zum Ziel hat. Daher dürfte die Einführung einer verpflichtenden Nährwertkennzeichnung auf der Packungsvorderseite schon bald wieder auf der Tagesordnung stehen. Ebenfalls im Blick bleiben werden die Themen Tierwohl und eine Erweiterung der Herkunftskennzeichnung. Der Green Deal ist somit nicht aufgekündigt, er ist aber vom politischen Leitmotiv zu einem von mehreren Themen herabgestuft worden. Welche Bedeutung ihm bei der Priorisierung bestimmter Interessen im Rahmen von Zielkonflikten noch zukommt, bleibt abzuwarten.
Okan Yildiz
Mit dem Aufkommen der digitalen Märkte haben die Behörden vermehrt die Besonderheiten der Plattformen in ihre Analysen aufgenommen. Dabei nehmen die Plattformen eine Vermittlungsfunktion ein und verbinden verschiedene Nutzergruppen miteinander. Sie bieten ihre Dienstleistungen ohne monetäres Entgelt – also scheinbar kostenlos – an, bedienen mehrere Marktseiten gleichzeitig und profitieren von Netzwerkeffekten sowie von Grössenvorteilen; seit der Jahrtausendwende finden sich diese Charakteristika vermehrt in den kartellrechtlichen Entscheiden wieder. Während das kartellrechtliche Denken auf relevanten Märkten basiert und die Literatur sich ausgiebig mit der Marktabgrenzung in der digitalen Wirtschaft auseinandergesetzt hat, erfuhr die Marktbeherrschung bisher nicht dieselbe Aufmerksamkeit. Dieser Aufsatz dient einer detaillierten Untersuchung der Marktbeherrschung, die im Rahmen der Digitalwirtschaft auch in der Schweiz punktuellen Anpassungen bedarf. Die vorliegenden Erkenntnisse sind getrennt vom Mehrwert einer DMA-ähnlichen Regulierung für die Schweiz zu beurteilen.
Nachfolgend wird zunächst Bezug auf den Begriff der Marktbeherrschung genommen (B.), bevor die Beurteilungskriterien der Marktbeherrschung in Faktoren für die Begründung und die Begrenzung der Marktmacht unterteilt werden (C.). Anschliessend sind die Besonderheiten der kollektiven Marktbeherrschung (D.) mit Blick auf die Plattformökonomie zu untersuchen, bevor ein Ausblick die zu erwartenden Entwicklungen darlegt (E.).[1]
Der Begriff der Marktbeherrschung bzw. der Marktmacht wird üblicherweise als Preisbestimmungsmacht umschrieben (I.). Neben der Preisbestimmungsmacht spielt in der digitalen Wirtschaft die Qualitätsbestimmungsmacht (II.), die Intermediationsmacht (III.) und die Datenmacht (IV.) eine wichtige Rolle.
Bei der Marktbeherrschung handelt es sich um die Fähigkeit eines Unternehmens, „seine Preise durch eine Einschränkung des Absatzes gewinnmaximierend und langfristig über das kompetitive Niveau (d.h. die Grenzkosten) anzuheben bzw. dort zu halten“.[2]
Obwohl in der digitalen Wirtschaft die Plattformen eine besondere Preisstruktur aufweisen und ihre Leistungen auf einer Marktseite in der Regel unentgeltlich anbieten,[3] kann die Preisbestimmungsmacht weiterhin ein angemessenes Kriterium für die Bestimmung der Marktbeherrschung darstellen. In diesem Zusammenhang ist insbesondere an die Fähigkeit der Plattform zu denken, seine Preise gegenüber einer Marktseite gewinnmaximierend und langfristig über das kompetitive Niveau anzuheben.
Ferner ist es denkbar, eine Kostenbestimmungsmacht als Alternative zur Preisbestimmungsmacht heranzuziehen. Dieser Ansatz lässt sich insbesondere vor dem Hintergrund rechtfertigen, dass in der digitalen Wirtschaft die unentgeltlichen Leistungen oft eine nichtmonetäre Gegenleistung[4] in Form der Daten[5] bzw. der Aufmerksamkeit[6] der Nutzenden erfordern. Die Fähigkeit eines Unternehmens, diese entstehenden Kosten für die Nutzenden gewinnmaximierend und langfristig über das kompetitive Niveau anzuheben, hat mindestens indirekt ebenfalls Einfluss auf die Preisanhebung bzw. Gewinnmaximierung auf den anderen Marktseiten.[7] Folglich ist neben der Preisbestimmungsmacht auch die Kostenbestimmungsmacht zu berücksichtigen.
In der ökonomischen Theorie wird Marktmacht als Preisbestimmungsmacht verstanden, da sie eine leicht messbare Grösse darstellt.[8] Angesichts der unentgeltlichen Leistungen in der digitalen Wirtschaft verschiebt sich der Fokus aber auf andere Wettbewerbsparameter, wie z.B. die Qualität, den Service, die Werbung oder die Innovation.[9]
Dieser Ansatz ist bereits in der Europäischen Union teilweise ersichtlich. In Sachen Google Search (Shopping) lehnte die Europäische Kommission das Argument von Google ab, es könne keine marktbeherrschende Stellung einnehmen, da es seine Leistungen unentgeltlich anbiete. Sie begründet dies mit dem Umstand, dass die Nutzenden zwar keine monetäre Gegenleistung erbringen, aber andersartig zur Monetarisierung des Geschäftsmodells beitragen. Die unentgeltliche Natur der Leistungen ist demnach bloss ein relevanter Faktor für die Bestimmung von Marktmacht. Als weiteres Kriterium zieht die Kommission die Qualität heran und führt aus, dass Google die Fähigkeit besitze, die Qualität seiner Leistungen in einem gewissen Grad zu ändern, ohne dass ein beträchtlicher Teil seiner Nutzenden zu anderen Suchmaschinen wechseln würde.[10] Deshalb ist Google in der Lage, sich seinen Wettbewerbern, seinen Abnehmenden und letztlich den Verbrauchenden gegenüber in Bezug auf die Qualität in einem nennenswerten Umfang unabhängig zu verhalten.
Ausserdem verweist die Europäische Kommission in ihrer Prioritätenmitteilung mehrfach auf die Qualität als potenziellen Wettbewerbsparameter.[11] Demzufolge tragen neben dem Preis weitere Parameter – u.a. die Qualität – zur Fähigkeit bei, sich gegenüber anderen Marktteilnehmenden in wesentlichem Umfang unabhängig zu verhalten.
Während also in kostenpflichtigen Märkten die Marktmacht über die Preisbestimmungsmacht dargelegt werden kann, ist in Märkten, in welchen der Preis keine bzw. nur eine untergeordnete Rolle spielt, ein anderer Wettbewerbsparameter zu berücksichtigen. Gemäss den vorangehenden Ausführungen berücksichtigen die Behörden – analog zur Preisbestimmungsmacht – auch die Qualitätsbestimmungsmacht als Kriterium. Folglich liegt Qualitätsbestimmungsmacht vor, wenn ein Unternehmen über einen längeren Zeitraum die Qualität seiner Produkte senken kann, ohne ausreichend wirksamem Wettbewerbsdruck ausgesetzt zu sein.
Aufgrund der Mehrseitigkeit und der damit zusammenhängenden Netzwerkeffekte haben die Unternehmen der digitalen Wirtschaft die Möglichkeit, ihre Intermediärstellung zu ihrem Vorteil auszunutzen. Dieser Umstand lässt sich mit den Begriffen der Intermediations- bzw. Plattformmacht umschreiben.[12]
Mittels dieses Ansatzes lassen sich die ökonomischen Besonderheiten der digitalen Wirtschaft im Rahmen der Marktbeherrschung angemessen erfassen. Diese Mehrseitigkeit erlaubt den Plattformen, den Zugang zur jeweils anderen Seite zu regeln und gewisse Abhängigkeiten zu kreieren, welche einen Eingriff unter der Marktbeherrschungsschwelle rechtfertigen könnten.[13] In diesem Zusammenhang sind insbesondere Informationsasymmetrien[14] und das Single-Homing von bestimmten Plattformseiten zu beachten.
Bei der Intermediationsmacht handelt es sich jedoch nicht um ein neues Konzept der Marktbeherrschung,[15] sondern um eine Ergänzung zur Preis- und Qualitätsbestimmungsmacht. Die Intermediationsmacht dient insbesondere als Hilfestellung, welche eine Gesamtbetrachtung aller relevanten Umstände vereinfacht und die Marktmacht unter Berücksichtigung aller Marktseiten ermittelt. Die Bedeutung der Intermediationsmacht kommt in der Analyse der Marktbeherrschung – innerhalb der Analyse der einzelnen Beurteilungskriterien[16] – zum Ausdruck.
Bei der Beurteilung der Marktposition eines Unternehmens können ausserdem Daten eine wichtige Rolle spielen. Die Literatur erfasst die Bedeutung der Daten häufig unter dem Begriff der Datenmacht.[17] Während die Datenmacht in der Digitalökonomie aufgrund der Omnipräsenz der Daten einen hohen Stellenwert einnimmt, ist sie nicht automatisch mit der Marktmacht gleichzusetzen. Es ist bereits fraglich, ob eine Datenmacht überhaupt existiert.[18]
Da die Geschäftsmodelle der digitalen Wirtschaft oft auf Daten beruhen, haben diese eine besondere Relevanz bei der Beurteilung der Marktbeherrschung. Die Datenmacht ist dabei nicht als eigenständiger Faktor zu beurteilen, sondern vielmehr im Kontext der übrigen Beurteilungskriterien zu berücksichtigen. In diesem Zusammenhang sind die besonderen Eigenschaften der Daten miteinzubeziehen: Zunächst kann nicht bloss anhand der Datenmenge auf die Marktmacht geschlossen werden, da die Datenqualität und deren Verarbeitungsmöglichkeiten eine ebenso grosse Rolle spielen.[19] Dies lässt sich am Beispiel von Google+ veranschaulichen, denn Google hatte bei der Markteinführung von Google+ Zugriff auf eine sehr grosse Menge an Daten, aber konnte sich trotzdem nicht als soziales Netzwerk etablieren.
Zudem sind die Daten grundsätzlich weder rivalisierend noch exklusiv; mehrere Unternehmen vermögen also gleichzeitig dieselben Daten zu sammeln, zu kaufen und zu nutzen.[20] Trotzdem haben die Unternehmen ein Interesse daran, sich möglichst früh qualitativ hochwertige Datensets anzueignen und so einen Wettbewerbsvorteil bzw. einen Datenvorsprung zu erzielen.[21] Dadurch können sie sich einen „first mover advantage“ verschaffen sowie mithilfe der vorhandenen Skalen- und Netzwerkeffekte die Attraktivität der eigenen Plattform steigern; dies führt zu höheren Marktzutrittsschranken.[22] In diesem Zusammenhang spielt sodann die Datenquantität eine wichtige Rolle, da die Unternehmen mit einer grösseren Anzahl an vorhandenen Daten grundsätzlich das Nutzerverhalten besser abschätzen und vorhersehen können. Die Unternehmen sind also in der Lage, sich gestützt auf ihre eigenen Daten von der Konkurrenz abzusetzen, da sie ihre verarbeiteten und qualitativ hochwertigen bzw. für den untersuchten Markt relevanten Daten verwenden können. Da das Unternehmen dadurch sowohl die Qualität als auch die Quantität der Daten erhöht, fällt es der potenziellen Konkurrenz schwieriger, mit diesem Angebot mithalten und dieselben Netzwerk- und Skaleneffekte erlangen zu können.[23]
In der Regel dienen nur bestimmte Daten, wie z.B. personenbezogenen Daten, dem verfolgten Zweck des Unternehmens. Es ist indessen nicht möglich, pauschal zu umschreiben, welche Daten in der Digitalökonomie von grosser Bedeutung sind.[24] Vielmehr ist eine einzelfallbasierte Analyse durchzuführen, da in verschiedenen Märkten unterschiedliche Daten relevant sind.[25] Der Wettbewerb wird schliesslich „nicht nur durch den schieren Umfang der jeweiligen Datenbank, sondern auch von den verschiedenen Arten von Daten, auf die die Wettbewerber Zugriff haben, und die Frage, welche dieser Arten sich als die nützlichste für die Zwecke der Internetwerbung erweisen wird“, bestimmt.[26] Folglich kann sich ein Unternehmen keinen Vorteil erschaffen, wenn es Daten besitzt, die für den abgegrenzten Markt irrelevant sind. Gerade die Individualisierung (z.B. gestützt auf Suchverhalten, Beruf, Alter, Geschlecht oder den Ort) bezogen auf den untersuchten Markt macht die Daten wertvoll und speziell für die Unternehmen.
Im Ergebnis ist es nicht angebracht, die marktbeherrschende Stellung unmittelbar aus der Datenquantität zu ermitteln. Es erweist sich als zweckmässiger, die Quantität sowie die Qualität der Daten im Rahmen der entsprechenden Beurteilungskriterien der Marktbeherrschung zu untersuchen. Die Datenmacht stellt also keine eigene Messgrösse für die Feststellung der Marktbeherrschung dar, sondern die Daten sind vielmehr ein zusätzlicher Faktor, welcher vor dem Hintergrund der besonderen Bedeutung der Daten in der digitalen Wirtschaft ebenfalls zu berücksichtigen ist. Dabei sind Parameter wie die Replizierbarkeit und Exklusivität der Daten, die Skalen- und Netzwerkeffekte, die Verbundvorteile oder das Single- bzw. Multi-Homing in die Untersuchungen miteinzubeziehen. Die Datenmacht ersetzt schliesslich nicht die bisherige Vorgehensweise bei der Ermittlung der marktbeherrschenden Stellung, sondern erlaubt einen neuen Blickwinkel innerhalb der Analyse der marktmachtbegründenden bzw. marktmachtbegrenzenden Faktoren.
Die Fähigkeit, sich im Wettbewerb in einem nennenswerten Umfang unabhängig zu verhalten, ergibt sich anhand einer Gesamtbetrachtung der Marktverhältnisse. Da in der digitalen Wirtschaft auf mehrseitigen Märkten verschiedene Faktoren gleichzeitig auf den untersuchten Markt wirken und teilweise marktübergreifende Bedeutung haben, ist eine eindimensionale Betrachtung der Marktgeschehnisse nicht mehr angemessen. Dabei können dieselben Faktoren – z.B. Netzwerkeffekte – unterschiedliche Auswirkungen für die Analyse haben. Folglich ist es sinnvoller, die marktmachtbegründenden Faktoren (I.) den marktmachtbeschränkenden Faktoren (II.) gegenüberzustellen. Mit diesen Kriterien lässt sich ein Gesamturteil über die Marktbeherrschung fällen.
Die Marktanteile bilden grundsätzlich den Ausgangspunkt der Untersuchungen der Marktbeherrschung.[27] Gemäss dem Bundesgericht ist ein hoher Marktanteil zwar ein starkes Indiz für eine marktbeherrschende Stellung, bedeutet aber nicht zwangsläufig, dass kein wirksamer Wettbewerb bzw. keine gleichwertigen Ausweichmöglichkeiten existieren.[28] Demnach ist ein Marktanteil von 50% ein Indiz bzw. die „kritische Schwelle“ für eine marktbeherrschende Stellung.[29] Gemäss der Terminologie des Bundesverwaltungsgerichts liegt bei Marktanteilen ab 50% eine „Vermutung“ für das Vorliegen der Marktbeherrschung vor; diese Vermutung lässt sich nur bei Vorliegen von entgegenstehenden Faktoren widerlegen.[30]
In den letzten Jahren haben sich die Literatur und Praxis bemüht, alternative Methoden zu entwickeln, die als Ersatz für die Marktanteile dienen können.[31] Diese Ansätze stellen grundsätzlich keine Neuheit für das Kartellrecht dar, da es bereits in den traditionellen Märkten möglich war, die Marktanteile auf unterschiedliche Weisen zu berechnen, z.B. über den Umsatz, die Stückzahlen oder die Kundenanzahl.[32]
Die Behörden sind in der Lage, sich an die neuen Begebenheiten anzupassen und die Marktanteile über unterschiedliche Kriterien zu berechnen.[33] Aufgrund der besonderen Struktur der Märkte der digitalen Wirtschaft können neben den Nutzeranteilen, der Nutzeraktivität[34] oder dem Datenbestand auch weitere Parameter herangezogen werden, wie z.B. Werbeeinnahmen, Anzahl des Werbefolgekontakts oder Aufmerksamkeitskosten.
In der Digitalwirtschaft ist die gesonderte, eindimensionale Analyse dieser Parameter nur beschränkt hilfreich, da ihre tatsächlichen Wirkungen nur im Kontext der übrigen Merkmale ersichtlich sind. Die Behörden sind deshalb gehalten, die Nutzeranteile in den Kontext des Multi-Homing[35] zu setzen und deren Bedeutung im Rahmen der Stellung der Marktgegenseite korrekt auszuwerten.[36] Hinzu kommen die von den Nutzenden ausgehenden Netzwerkeffekte,[37] welche angesichts des konkreten Umstandes zu Skaleneffekten und Lock-in-Effekten[38] führen können. Zudem ist auch die Mehrseitigkeit der Märkte zu berücksichtigen, die ebenfalls zusätzliche Informationen zu den Nutzeranteilen liefern.[39] In Sachen Google Android sind Ansätze einer solchen Gesamtbetrachtung ersichtlich. In der Schweiz hingegen fehlt grundsätzlich noch eine umfassende und verbundene Untersuchung der erwähnten Eigenschaften der digitalen Märkte.
In der digitalen Wirtschaft gilt es die Bedeutung der Marktanteile zu relativieren, da sich dieses Kriterium als kaum aussagekräftig erweist.[40] Bei den hier untersuchten Märkten handelt es sich grundsätzlich um einen jungen und dynamischen Sektor, in dem sich die Marktanteile schnell ändern können und folglich die Marktanteile zur Ermittlung der Wettbewerbsstärke kaum von Relevanz sind.[41] Es sind neue und schnell wachsende Märkte, die von Markteintritten und ständiger Entwicklung geprägt sind. Dies führt dazu, dass die Marktanteile vergänglich (engl. „ephemeral“)[42] sind und deren Bedeutung in den Märkten der digitalen Wirtschaft kleiner ist. In diesen dynamischen Märkten darf den Marktanteilen keine Indizwirkung zukommen.[43]
Neu sind andere Merkmale, wie z.B. der Datenzugang, die Mehrseitigkeit oder die Netzwerkeffekte, wichtiger als die Marktanteile.[44] Es liegt in der Natur der Auslegung der Marktanteile, dass ihnen in dynamischen und schnell wachsenden Märkten weniger Bedeutung zukommt. Die Berechnung der Marktanteile stellt eine Momentaufnahme dar, deren Aussagekraft insbesondere in innovationsgetriebenen Märkten zu relativieren ist. Diese hohen, aber volatilen Marktanteile sprechen grundsätzlich nicht für das Bestehen von Marktbeherrschung.[45] Daraus leitet sich ausserdem ab, dass niedrige, aber volatile Marktanteile aufgrund der besonderen Struktur der Märkte der digitalen Wirtschaft nicht als Hinweis auf fehlende Marktbeherrschung des untersuchten Unternehmens zu deuten sind. Es ist möglich, dass sich ein Unternehmen in wesentlichem Umfang von den anderen Marktteilnehmenden unabhängig verhalten kann, wenn seine Nutzerbasis beispielsweise Single-Homing betreibt, starke Netzwerkeffekte vorliegen und die Nutzenden mit hohen Wechselkosten konfrontiert sind.[46]
Die Netzwerkeffekte sind ein wichtiger Faktor in der digitalen Wirtschaft. Im Rahmen der Ermittlung der beherrschenden Stellung eines Unternehmens nehmen insbesondere die indirekten Netzwerkeffekte eine zentrale Rolle ein. Bei der Untersuchung der Netzwerkeffekte ist naturgemäss auch die Mehrseitigkeit der Plattformen zu beachten. Hat ein Unternehmen auf allen Plattformseiten Zugang zu einer grossen Menge an qualitativen Daten, vermag dies ihre Dienstleistungen zu verbessern und mehr Nutzende anzuziehen. Obwohl es sich bei Vorliegen von Netzwerkeffekten nicht ohne Weiteres um einen Indikator für Marktmacht handelt, vermögen sich die Unternehmen bei entsprechenden Umständen mithilfe der Netzwerkeffekte in eine Lage zu versetzen, welche die Aufrechterhaltung eines wirksamen Wettbewerbs auf dem relevanten Markt verhindert, indem sie sich gegenüber anderen Unternehmen im Wettbewerb in einem nennenswerten Umfang unabhängig verhalten können.[47]
Die Beurteilung der Netzwerkeffekte ist grundsätzlich Bestandteil der Intermediationsmacht[48] und nimmt bei der Ermittlung der Marktbeherrschung mittels der Qualitätsbestimmungsmacht einen besonderen Stellenwert ein. Das Geschäftsmodell der Plattformen beruht grundlegend auf einer grossen Nutzerbasis und auf Netzwerkeffekten. Weder die Anzahl Nutzenden noch die Netzwerkeffekte sind per se ein Indiz für die Marktmacht eines Unternehmens. Wirken allerdings wechselseitige Netzwerkeffekte, sind ebendiese Parameter die Voraussetzung für Selbstverstärkungseffekte. Je höher die Nutzeranzahl auf einer Plattformseite A ist, desto attraktiver ist die Plattform für die andere Plattformseite B. Die Grösse der Plattformseite B wiederum hat denselben Effekt für die Plattformseite A und führt zu Selbstverstärkungseffekten. Aufgrund der nun grösseren Attraktivität der Plattform zieht sie neue Nutzende an. Gleichzeitig verschafft sich die Plattform einen zusätzlichen Vorteil, indem sie nun Zugang zu neuen Daten hat und ihre Dienstleistungen damit verbessern können; verbesserte Dienstleistungen wiederum ziehen mehr Nutzende an. Das Ergebnis sind eine hohe Konzentration an Nutzenden auf dieser Plattform und eine Verfestigung der Marktverhältnisse.[49]
Gemäss der Kommission sind in der digitalen Wirtschaft die Marktanteile über die Nutzeranteile zu berechnen.[50] Ist der Europäischen Kommission bzgl. der Berechnung der Marktanteile in der Plattformökonomie zu folgen, genügen diese wechselseitigen Netzwerkeffekte und die damit zusammenhängende Vergrösserung der Anzahl Nutzenden als starkes Indiz für die Begründung von Marktbeherrschung. Die Netzwerkeffekte haben aufgrund der Selbstverstärkungseffekte indirekt Einfluss auf die Anzahl der Nutzenden und dienen deshalb als Parameter für die Begründung einer marktbeherrschenden Stellung.
Die Definition der marktbeherrschenden Stellung verlangt bloss die Verhinderung des wirksamen Wettbewerbs auf dem relevanten Markt, sie beschreibt jedoch nicht, wie diese Verhinderung zu entstehen hat. Es liegt in der Natur der verbundenen, mehrseitigen Plattformen, dass die andere Marktseite bei der Analyse der Marktbeherrschung nicht ignoriert werden kann.
Im Verhältnis der Gruppe der Nutzenden zur Gruppe der Werbenden lässt sich die plattformseitenübergreifende Bedeutung der Netzwerkeffekte im Sinne der Intermediationsmacht verdeutlichen. Von der Seite der Nutzenden entstehen positive (indirekte) Netzwerkeffekte, die in Richtung der Werbenden ausstrahlen. Eine grössere Gruppe der Nutzenden erhöht die Attraktivität der Plattform, da die Werbenden mit jeder Werbung potenziell ein grösseres Publikum erreichen. Diese Netzwerkeffekte haben ihren Ursprung auf dem Nutzermarkt, dienen jedoch zur Stärkung der Marktstellung der Plattform auf dem Werbemarkt.
Bei der Beurteilung der Marktbeherrschung in diesen Märkten ist sowohl die Preisbestimmungs- als auch die Qualitätsbestimmungsmacht zu beachten. Einerseits bietet die Plattform ihre Werbeflächen zu einem bestimmten Preis an und befindet sich auf dieser Seite – weiterhin unter Berücksichtigung der plattformökonomischen Faktoren – in einem „traditionellen“ Wettbewerbsverhältnis, in dem die beherrschende Stellung u.a. über die Fähigkeit eines Unternehmens, seine Preise gewinnmaximierend und langfristig über das kompetitive Niveau anheben zu können, umschrieben wird. Andererseits ist die Plattform gleichzeitig einem Wettbewerbsdruck seitens der Gruppe der Nutzenden ausgesetzt.[51] Da diese Gruppe die Leistung der Plattform unentgeltlich in Anspruch nimmt, ist hier auf die Qualitätsbestimmungsmacht der Plattform abzustellen, also ob ein Unternehmen die Fähigkeit besitzt, die Qualität seiner Leistungen in einem gewissen Grad zu ändern, ohne dass ein beträchtlicher Teil seiner Nutzenden zur Konkurrenz wechselt. Allerdings ist eine eindimensionale Sicht nicht zielführend. Die Behörden haben die Qualitätsbestimmungsmacht gegenüber den Nutzenden vielmehr unter dem Blickwinkel der Preisbestimmungsmacht gegenüber den Werbenden zu untersuchen. Im Rahmen der Intermediationsmacht eines Unternehmens sind diese beiden Elemente auszuwerten und potenziell als marktmachtbegründend zu qualifizieren.
Die Werbeeinnahmen lassen grundsätzlich bloss Rückschlüsse auf das Marktverhältnis auf einer Seite zu. Dabei bieten die Werbeeinnahmen eine objektiv berechenbare Grösse, welche mit den Werten der traditionellen Märkte vergleichbar ist. Über die Werbeeinnahmen lassen sich mindestens indirekt Informationen über die Netzwerkeffekte und die Parallelnutzung der anderen Marktseite ableiten. Höhere Werbeeinnahmen deuten in der Regel auf eine grössere Gruppe der Nutzenden und eine grössere Attraktivität der Plattform; die Gruppengrösse wiederum hängt eng mit den Netzwerkeffekten zusammen. Falls eine Plattform allerdings in der Lage ist, bei einem vergleichbar kleineren Publikum (Gruppe der Nutzenden) trotzdem verhältnismässig hohe Einnahmen zu erzielen, deutet dies darauf hin, dass dieses Publikum Single-Homing betreibt und die Plattform sich bei der Preisgestaltung unabhängig verhalten kann, da sie den Exklusivzugang zu diesem Publikum verschafft. Angesichts dieses Exklusivzugangs wirken die Netzwerkeffekte auf Seiten der Nutzenden in Richtung der Werbenden stärker, da kein alternativer Zugang zu dieser Gruppe der Nutzenden möglich ist.
Aus diesen Gründen dienen die Werbeeinnahmen[52] als stellvertretende Grösse für die Berechnung der Stellung auf dem Markt.[53] Ferner sind die Werbeeinnahmen in Bezug auf die Berechnung der Marktanteile weniger aussagekräftig, da eine Plattform auch ohne Aufschaltung von Werbung den gesamten Markt beherrschen kann (z.B. Nutzeranteile oder Nutzeraktivität aufgrund fehlender Werbung). Deshalb sind die Werbeeinnahmen vielmehr im Rahmen der Netzwerkeffekte und Parallelnutzung als stellvertretendes Merkmal zu beachten.
Die WEKO hat sich bereits in den 2000er Jahren mit Werbemärkten auseinandergesetzt und festgehalten, dass bei „der Prüfung, ob sich Unternehmen auf dem Lesermarkt unabhängig verhalten können, […] die Wirkung des Lesermarktes auf den Werbemarkt zu berücksichtigen“ ist.[54] Folglich handelt es sich um keine Neuheit der digitalen Wirtschaft, bei der Ermittlung der marktbeherrschenden Stellung eines Unternehmens alle Marktverhältnisse – auch jene, die auf der anderen Marktseite entstehen – in die Untersuchungen aufzunehmen.
Aus diesen Beispielen ist ersichtlich, dass die Wettbewerbsbehörden bei der Beurteilung der marktmachtbegründenden Faktoren nicht auf den abgegrenzten relevanten Markt beschränkt sind, sondern im Rahmen einer Gesamtbetrachtung alle Faktoren, die zur Verhinderung des wirksamen Wettbewerbs auf diesem Markt führen können, in Betracht ziehen können.
Die Netzwerkeffekte sind isoliert betrachtet nicht aussagekräftig. Neben den Netzwerkeffekten sind weitere Faktoren zu beachten, wie z.B. hohe Wechselkosten und Lock-in-Effekte. Auf Märkten mit Selbstverstärkungseffekten und Konzentrationstendenzen sind auch die hohen Wechselkosten und die Lock-in-Effekte eizubeziehen.[55] Die Wechselkosten und die Lock-in-Effekte können das Single-Homing der Nutzenden bereits ohne Beachtung der Netzwerkeffekte fördern und somit die Stellung des Unternehmens auf dem Markt stärken. Liegen gleichzeitig wechselseitige Netzwerkeffekte vor, erweist sich diese Kombination als besonders anfällig für die Begründung einer beherrschenden Stellung.
Auf sozialen Netzwerken beispielsweise treten regelmässig wechselseitige Netzwerkeffekte auf. Aufgrund dieser Netzwerkeffekte steigt die Attraktivität der Plattform für die Nutzenden mit jedem neuen Kontakt. Diese neuen Kontakte wiederum tragen dazu bei, dass die Wechselkosten zusätzlich steigen. Je grösser das eigene Netzwerk ist, desto höher sind die Wechselkosten. Ein Plattformwechsel kommt grundsätzlich nur in Betracht, falls auf einer anderen Plattform ähnliche Netzwerkeffekte vorliegen und die Nutzenden ihre Profile verhältnismässig einfach auf neue Plattformen übertragen können. Letzteres ist in der Regel nicht der Fall, weshalb hohe Wechselkosten auszumachen sind.
Ein Plattformwechsel macht schliesslich bloss Sinn, wenn das gesamte, persönliche Netzwerk mitwechselt. Aufgrund bereits getätigter Aufwendungen und des aufgebauten Netzwerks gekoppelt mit der fehlenden Möglichkeit der Interoperabilität sind die Nutzenden folglich an die Plattform gebunden; sie sind „locked-in“. In diesen Fällen befindet sich die Plattform in einer Lage, in der sie sich gegenüber den anderen Wettbewerbsteilnehmenden in wesentlichem Umfang unabhängig verhalten kann. Dieses unabhängige Verhalten wirkt sich insbesondere in der Verminderung der Qualität der Plattform aus,[56] z.B. durch die Vergrösserung der Werbeflächen, durch weniger Möglichkeiten der Datenportabilität, durch die Verringerung der Möglichkeiten für das Multi-Homing oder durch Ausschluss der Interoperabilität.[57]
Die Möglichkeit der Datenportabilität bzw. der Interoperabilität hat entscheidenden Einfluss auf die Wechselkosten und Lock-in-Effekte, wie dies das Beispiel der verkaufsseitigen Bewertungssysteme zeigt. Die Reputation und damit einhergehend die Häufigkeit der Transaktionen der Verkaufsseite hängen eng mit der Verkäuferbewertung zusammen. Diese Bewertungen sind allerdings plattformgebunden und nicht interoperabel.[58] Dadurch ist die Plattformseite, welche an die Bewertungen gebunden ist, höheren Wechselkosten ausgesetzt, da sie nach einem Plattformwechsel als unbekannte und nicht mehr gemäss den Bewertungen zuverlässige Partei auftreten muss. In diesen Fällen hat die Plattform – wenngleich das Multi-Homing dieser Plattformseite grundsätzlich möglich wäre[59] – eine stärkere Stellung gegenüber dieser Gruppe. Obwohl die Plattform also Multi-Homing zulässt, kann sie sich gegenüber dieser Gruppe unabhängig verhalten. Dieses Beispiel veranschaulicht, dass in der digitalen Wirtschaft einzelne Elemente in der Beurteilung der marktbeherrschenden Stellung eines Unternehmens bloss eine beschränkte Bedeutung haben. Die Behörden haben vielmehr alle plattformökonomischen Merkmale im Rahmen einer Gesamtbetrachtung auszuwerten und die tatsächlichen Wirkungen, die aus der Kombination dieser Merkmale entstehen, zu berücksichtigen.
Starke Netzwerkeffekte zusammen mit hohen Wechselkosten und Lock-in-Effekten führen zu grösseren Selbstverstärkungseffekten. Die Kombination dieser Effekte führt zu einer Eigendynamik, die es der Plattform erlaubt, die kritische Masse der Nutzenden zu erreichen. In dieser Konstellation sind die Märkte dazu geneigt, im Sinne des von diesen Effekten profitierenden Unternehmens zu „kippen“ (engl. „market tipping“).[60] Nach dem Market Tipping wirken die Netzwerkeffekte (u.a. zusammen mit hohen Wechselkosten und Lock-in-Effekten) als zusätzliche Marktzutrittsschranken und als marktmachtbegründender Faktor.[61] Auf das Kippen des Marktes folgen weitere Muster, welche die Begründung der Marktbeherrschung verstärken. Die Plattformen, welche diese kritische Masse nicht erreichen können, sehen sich mit negativen Netzwerkeffekten konfrontiert, da die Nutzenden dazu tendieren, zur Plattform mit der kritischen Masse und den stärkeren Netzwerkeffekten zu wechseln. Die Verkleinerung der Nutzergruppe führt zu weniger starken Netzwerkeffekten und zur Verringerung der Skaleneffekte. Dies wiederum kann dazu führen, dass diese Plattformen vom Markt verdrängt werden. Im Ergebnis ist die „gewinnende“ Plattform in der Lage, sich als Marktführerin zu etablieren, und befindet sich im Extremfall in einem Winner-Takes-All-Markt.[62]
Die Kartellbehörden berücksichtigen zwar in fast allen Fällen der Digitalökonomie die Lock-in-Effekte im Rahmen der Wechselkosten, gehen aber nicht im Detail auf deren Auswirkungen im Wettbewerb ein. In Sachen Google Android verweist die Kommission auf Aussagen, wonach Lock-in-Effekte in den untersuchten Märkten existieren und zu hohen Wechselkosten führen.[63] In Sachen Google Shopping sind die Lock-in-Effekte nicht einmal erwähnt, sondern müssen aus den Wechselkosten abgeleitet werden.[64] Wie soeben dargelegt, können die Wechselkosten zusammen mit den Lock-in-Effekten zum Ausschluss der Interoperabilität und/oder Datenportabilität, zur Begrenzung des Multi-Homing, zum Market Tipping und schliesslich zu Winner-Takes-All-Märkten führen; insgesamt liegen sodann gleichzeitig höhere Marktzutrittsschranken vor. Zudem sind die gebundenen Konsumierenden die Hauptressource der Plattformen, um einerseits ihre Geschäftsmodelle auszuweiten sowie zu diversifizieren und andererseits um Monetarisierungsmöglichkeiten zu schaffen, die sodann zum Nachteil der Nutzenden die Qualität der Plattformangebote verringern. Die Plattform übt also Intermediationsmacht aus, indem sie die Qualität ihrer Produkte senkt, ohne ausreichend wirksamem Wettbewerbsdruck ausgesetzt zu sein, weil sie auf die gebundenen Konsumierenden zählen kann.[65] Diese Aspekte weisen wichtige Informationen zur Marktmacht auf und können die Bedeutung der Lock-in-Effekte eingehender erfassen, wurden aber bisher weder in der Europäischen Union noch in der Schweiz im Detail untersucht.
Bei der Stellung der Marktgegenseite handelt sich in der Regel um die Nachfragemacht. Dabei ist die tatsächliche Verhandlungsposition der Nachfragenden gegenüber dem potenziell marktbeherrschenden Unternehmen entscheidend. Die Verhandlungsposition wiederum hängt von den Ausweichmöglichkeiten ab. Falls die Marktgegenseite eine schwache Stellung aufweist, liegt ein Indiz für Marktbeherrschung vor.[66] Als Faktoren für die Beurteilung der Stellung der Marktgegenseite sind die Fähigkeit, schnell zu konkurrierenden Unternehmen zu wechseln, die Grösse und die Wichtigkeit der Marktgegenseite für das untersuchte Unternehmen sowie die Sachkunde und Professionalität der Marktgegenseite zu berücksichtigen.[67] In der digitalen Wirtschaft sind in diesem Zusammenhang das Multi- und Single-Homing weitere wichtige Faktoren, die zu beachten sind.[68]
Die Erkenntnisse aus dem vorangehenden Kapitel werden im Kontext der Stellung der Marktgegenseite zusätzlich verstärkt. Während die Wechselkosten und Lock-in-Effekte die Entstehung der Marktmacht bloss aus Sicht einer Marktseite – genauer aus Sicht der gebundenen Nutzenden – beleuchten, ist dieses Phänomen bei der Behandlung der Competitive Bottlenecks ebenfalls zu erwägen; auf den Märkten der Digitalökonomie treten diese Effekte und Konstellationen gleichzeitig auf.
Auf einer Plattform können alle Plattformseiten Single-Homing betreiben. In diesem Fall liegen grundsätzlich hohe Wechselkosten und Mehrkosten für die Verwendung von unterschiedlichen Plattformen vor. Dabei konkurrieren die Plattformen auf allen Plattformseiten um dieselben, in einer begrenzten Anzahl vorhandenen Personen.[69] Es herrscht demnach zunächst reger Wettbewerb um diese Single-Homing-Seiten; kommt allerdings eine Plattform bei diesem Wettbewerb als Siegerin hervor, ist es das Single-Homing, welches eine zusätzliche Marktzutrittsschranke darstellt und so die Marktbeherrschung verstärkt.
Bei der Ermittlung der Marktbeherrschung gilt es insbesondere zu beachten, ob die Plattform das Multi-Homing für ihre Leistungen absichtlich begrenzt, indem sie beispielsweise die Interoperabilität oder die Datenportabilität beschränkt. Bei der Untersuchung der Interoperabilität ist das zugrunde liegende Verfahren entscheidend; während iPhones, Androids und andere Mobilgeräte in Bezug auf bestimmte Anwendungsprogramme interoperabel sind (z.B. WhatsApp),[70] trifft der Umkehrschluss nicht zwingend zu. Die Applikation WhatsApp ist nicht plattformübergreifend interoperabel (z.B. ist die Kommunikation zwischen WhatsApp und Threema nicht möglich).[71]
Das Merkmal des Single-Homing ist aufgrund der Mehrseitigkeit der Plattformen in Verbindung mit der Intermediationsmacht zu untersuchen. Die Plattform hat gegenüber den Single-Homing-Seiten eine gewisse Vermittlungsmacht (vergleichbar mit „must stock items“, weil die Plattform als unvermeidbare Vermittlungspartnerin auftritt). Jede Seite bedingt die andere Seite und hat aufgrund des Single-Homing keine Ausweichmöglichkeiten. Die Vermittlung kann nur über die untersuchte Plattform geschehen, da beide Seiten nur eine Plattform verwenden.[72] In dieser Situation hat die Plattform eine starke Stellung gegenüber allen Marktseiten. Ein Single-Homing auf allen Plattformseiten ist als marktmachtbegründender Faktor für alle Marktseiten zu interpretieren, da die Nutzenden aufgrund der hohen Wechselkosten an die Plattform gebunden sind.[73]
