Every Moment Between Us - Jo Schneider - E-Book
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Every Moment Between Us E-Book

Jo Schneider

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Beschreibung

**Liebe folgt keiner Gleichung**  Das College sollte für die aufgeweckte Max ein traumhafter Neuanfang werden. Aber schon am ersten Tag verscherzt sie es sich mit einem Prof und muss feststellen, dass sie ihren Mathekurs niemals allein bestehen kann. Auf der Suche nach einem Nachhilfelehrer, landet sie ausgerechnet bei einem Typen, der sein Geld damit verdient, illegal Prüfungslösungen auf dem Campus zu verticken. Der abweisende, undurchschaubare Sam ist nicht nur ein Einzelgänger, sondern auch DAS Mathegenie des Colleges. Also das genaue Gegenteil von Max. Aber je öfter die beiden sich treffen, umso mehr scheint Sams ruppige Art zu schwinden – und umso deutlicher wird, dass ihn eine bittere Vergangenheit quält … Jeder Moment ist einzigartig, wenn du den Mut hast, dich auf ihn einzulassen … //Der New Adult Liebesroman »Every Moment Between Us« ist ein in sich abgeschlossener Einzelband.//

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Impress

Die Macht der Gefühle

Impress ist ein Imprint des Carlsen Verlags und publiziert romantische und fantastische Romane für junge Erwachsene.

Wer nach Geschichten zum Mitverlieben in den beliebten Genres Romantasy, Coming-of-Age oder New Adult Romance sucht, ist bei uns genau richtig. Mit viel Gefühl, bittersüßer Stimmung und starken Heldinnen entführen wir unsere Leser*innen in die grenzenlosen Weiten fesselnder Buchwelten.

Tauch ab und lass die Realität weit hinter dir.

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Jo Schneider

Every Moment Between Us

**Liebe folgt keiner Gleichung**Das College sollte für die aufgeweckte Max ein traumhafter Neuanfang werden. Aber schon am ersten Tag verscherzt sie es sich mit einem Prof und muss feststellen, dass sie ihren Mathekurs niemals allein bestehen kann. Auf der Suche nach einem Nachhilfelehrer, landet sie ausgerechnet bei einem Typen, der sein Geld damit verdient, illegal Prüfungslösungen auf dem Campus zu verticken. Der abweisende, undurchschaubare Sam ist nicht nur ein Einzelgänger, sondern auch DAS Mathegenie des Colleges. Also das genaue Gegenteil von Max. Aber je öfter die beiden sich treffen, umso mehr scheint Sams ruppige Art zu schwinden – und umso deutlicher wird, dass ihn eine bittere Vergangenheit quält …

Wohin soll es gehen?

Buch lesen

Vorbemerkung für die Leser*innen

Vita

Danksagung

© privat

Jo Schneider wurde 1995 im malerischen Chiemgau mit Blick auf die grünen Alpen geboren, die sie schon zu manchen fantastischen Geschichten inspirierten. Aktuell lebt sie in Leipzig und widmet sich leidenschaftlich dem Verfassen kreativer Texte. Wo sie geht und steht, findet sie immer die Zeit, ein paar Zeilen zu Papier zu bringen. Meist werden aus ihren Ideen ganze Romane, manchmal aber auch »nur« Kurztexte oder Poetry Slams.

Für euch.

Vorbemerkung für die Leser*innen

Liebe*r Leser*in,

dieser Roman enthält potenziell triggernde Inhalte. Aus diesem Grund befindet sich hier eine Triggerwarnung. Am Romanende findest du eine Themenübersicht, die demzufolge Spoiler für den Roman enthält.

Entscheide bitte für dich selbst, ob du diese Warnung liest. Gehe während des Lesens achtsam mit dir um. Falls du während des Lesens auf Probleme stößt und/oder betroffen bist, bleib damit nicht allein. Wende dich an deine Familie, Freunde oder auch professionelle Hilfestellen.

Wir wünschen dir alles Gute und das bestmögliche Erlebnis beim Lesen dieser besonderen Geschichte.

Jo Schneider und das Impress-Team

Kapitel 1

Wo verflucht noch mal ist mein verdammter Kurs?

Seufzend drückte ich meinen Ordner an mich. Zwei Seminare hatte ich bereits hinter mir. Dies hier wäre meine letzte Einführungsveranstaltung für heute. Die Betonung lag auf wäre, denn ich war schlichtweg nicht in der Lage, meinen nächsten Kurs zu finden. Dabei hatte ich mir den Raumplan bereits letzte Woche abfotografiert. Offenbar war er veraltet, vielleicht sogar falsch, denn jene Tür, die zu Raum B212 führen sollte, war abgeschlossen. Laut des Online-Tools meiner Universität fand die Veranstaltung aber statt.

Wo also lag der verdammte Fehler?

Wild rüttelte ich an der Tür und stieß ein frustriertes Zischen aus.

»Hey, was soll das werden?«

Ich wirbelte herum. Ein großer Mann mit Mütze starrte mich grimmig an. Dem Outfit nach könnte er ein Hausmeister sein. Demnach ein Kundiger.

»Ich suche den Kurs Wirtschaftsmathematik I«, erklärte ich mit dünner Stimme.

»Noch so eine«, murmelte er in sich hinein, ehe er den Arm ausstreckte und in einen der drei Flure wies. »Der Raum wurde für dieses Semester verlegt. Geradeaus, dann links, zweite Tür.«

Was zur …? Wer zum Teufel wies auf eine solche Änderung nicht hin? »Danke«, stammelte ich.

Hastig huschte ich den Korridor entlang. Die Tür zu finden war nicht schwer, das Gekritzel auf dem Schild daneben zu entziffern dagegen schon.

Ersatzraum Wirtschaftsmathematik I/Hörsaal 7

Unsicher umfasste ich die Klinke. Ein Blick auf meine Armbanduhr verriet mir, dass ich ganze sechs Minuten zu spät war. Der erste Tag und schon unpünktlich.

»Wohin soll das nur führen?«, hätte mein Vater vermutlich gefragt.

»Das wüsste ich auch gern«, murmelte ich und stieß die Tür auf.

Mehrere Hundert Studenten drehten sich auf der Stelle zu mir um. Auch der Dozent, ein Mann mit schlohweißem Haar, hielt inne.

»Entschuldigung«, würgte ich hervor, als er mich in Augenschein nahm.

»Ein Ehrengast! Wie schön, dass Sie es einrichten konnten«, rief er. Mein Gesicht wurde heiß. Dann winkte er mich heran. »Kommen Sie, nicht so schüchtern. Wir haben erst vor fünf Minuten angefangen, aber ich erkläre Ihnen alles Versäumte gern noch einmal ausführlich.«

Einige Studenten fingen an zu grinsen. Andere warfen sich amüsierte Blicke zu. Ich wäre vor Scham am liebsten im Boden versunken. Mit schwachen Beinen stakste ich die Stufen hinab.

»Wie lautet Ihr Name?«

»Maxine Larsson«, entgegnete ich mit hoher Stimme.

»Miss Larsson, herzlich willkommen in meinem Kurs für Wirtschaftsmathematik. Mein Name ist Dr. Maude und ich hoffe, Sie mit dieser Stunde restlos von meinem Fach überzeugen zu können, sodass Sie in Zukunft vor lauter Vorfreude bereits eine halbe Stunde vor Kursbeginn an dieser Tür warten werden. Es gibt schließlich nichts Schöneres als Differenzialrechnung am frühen Morgen, nicht wahr?«

Es war mir kaum möglich, meinen Mund aufzukriegen, derart entblößt fühlte ich mich. »Absolut, Sir.«

Er klatschte zustimmend in die Hände und wandte sich damit endlich von mir ab, um sich dem Rest der Studentenschaft zuzuwenden. »Endlich einmal jemand, der meiner Meinung ist! Nehmen Sie sich bitte ein Beispiel am glühenden Enthusiasmus unserer werten Miss Larsson!«

Mit diesen Worten nahm er die Stunde wieder auf. Ich suchte mir einen Platz am Rand und gab mir dabei alle Mühe, die wiederkehrenden Blicke der anderen zu ignorieren. Verbissen notierte ich jede noch so kleine Information, die Dr. Maude an uns weitergab. Zunächst stellte er einen groben Zeitplan mit den Themengebieten vor, die wir dieses Semester behandeln würden. Anschließend erklärte er uns, wie sich unsere Endnote zusammensetzte. Mir wurde schlecht, als er uns darauf aufmerksam machte, dass die wöchentlichen Hausarbeiten mit in die Bewertung eingingen. Nur ab einer Durchschnittsnote von fünfundsiebzig Prozent wurde man überhaupt zu den Midterms zugelassen.

»Du siehst aus, als müsstest du gleich kotzen«, murmelte die Studentin neben mir.

Unauffällig schielte ich zu ihr hinüber, schließlich wollte ich Dr. Maude nicht noch einen Anlass bieten, mich vor dem Kurs zu demütigen. »Würde ich auch am liebsten. Mathe liegt mir nicht.«

Sie schnaubte. »Und dann hast du dir Wirtschaft ausgesucht?«

»Ich interessiere mich für Management. Trotzdem brauche ich zwei Kurse in Wirtschaftsmathe«, klärte ich sie auf.

»Dann hoffen wir mal, dass Maude deinen Namen schnell vergisst. Er ist nicht dafür bekannt, sonderlich gnädig mit seinen Studenten zu sein.«

»Was du nicht sagst.«

Sie grinste hinter vorgehaltener Hand. »Ich bin übrigens Ivy.«

»Max.«

Den Rest des Kurses verbrachten wir vornehmlich schweigend. Als wir entlassen wurden, gehörten Ivy und ich zu den Ersten, die den Raum verließen. Kaum war ich durch die Tür des Hörsaals getreten, atmete ich hörbar auf und schüttelte mich. Ivy lachte.

»Du tust mir leid, ehrlich«, meinte sie.

»Wenn ich mich nur nicht mit diesem blöden Raum vertan hätte«, gab ich zurück. »Wie habt ihr ihn eigentlich gefunden? Das stand nirgends geschrieben.«

»Doch, es stand dick und fett im Online-Tool.«

Ungläubig runzelte ich die Stirn und holte mein Handy hervor. »Nein, da steht nichts.« Entschieden präsentierte ich Ivy das Smartphone.

Wieder schien sie amüsiert. »Du Heldin bist ja auch in der Sektion Raumänderungen im Fachbereich Mathematik unterwegs. Wie wäre es mit Wirtschaft?«

Gequält stöhnte ich auf. »Das ist ein ganz schlechtes Omen für dieses Studium.«

»Quatsch. Als Freshman hat man das Recht, in nahezu unerträglichem Maße verpeilt zu sein.«

»Du sprichst, als hättest du diese Phase schon längst hinter dir.«

Ein selbstsicheres Lächeln stahl sich auf ihre Lippen. »Na ja, mein Cousin hatte zu seiner Zeit nahezu denselben Studienplan wie ich. Ich bin also vorgewarnt worden und dementsprechend gewappnet. Vor allem, was Dr. Maude betrifft.«

»Das macht mich jetzt schon ein bisschen neidisch.«

»Großzügig wie ich bin, biete ich dir natürlich zu gegebener Zeit an, von meinem umfangreichen Wissen zu profitieren.«

»Damit avancierst du hier und jetzt zur Heldin des Tages.«

Gemeinsam traten wir hinaus auf den grünen Campus. Die späte Augustsonne wärmte uns das Gesicht, während wir uns den Weg über die Wiesen bahnten.

»Was steht jetzt bei dir an?«, fragte Ivy.

»Ich wollte mich hier draußen mit meiner besten Freundin treffen, June. Ist auch ihr erster Tag.«

»Ebenfalls Wirtschaft?«

»Nein, Journalistik.« Mein Blick schweifte über den Rasen. Ich hörte June, bevor ich sie sah. Ihr lautes Lachen war wie ein kleiner Segen für mich. Schlagartig fühlte ich mich besser.

Sie war in Begleitung eines großen Studenten unterwegs. Sein langes braunes Haar war zu einem Zopf gebunden, verschmolz in seiner Färbung beinahe mit seiner dunkleren Haut. Zwar besaß June einen ähnlichen Teint, doch mit ihren metallisch violetten Haaren, die in pinken Spitzen endeten, und dem bunten Kleid wirkte sie wie eine explodierte Farbpalette.

»Du siehst aus, als hätte dein Dozent ein Katzenbaby verspeist und du hättest zusehen müssen«, war das Erste, was meine beste Freundin sagte, als sie vor mir zum Stehen kam.

»Es war eher so, dass der ganze Kurs zugesehen hat, wie der Professor sie verspeist hat«, erklärte Ivy.

»Was?« Junes braune Augen wurden groß.

Ich erzählte ihr von dem Vorfall mit Dr. Maude, konnte dabei nicht verhindern, abermals vor Scham rot anzulaufen. Die Hitze flimmerte unangenehm in meinen Wangen. June machte ein mitfühlendes Gesicht.

»Wie ätzend ist das denn?«, zischte sie, nachdem wir uns zusammen einen der verwitterten Tische unter den Nagel gerissen hatten, die über die gesamte Grünfläche verstreut waren.

Ivy zog einen grünen Apfel aus ihrer Tasche und wedelte damit wild gestikulierend herum, während sie meinte: »Noch ist ja nichts verloren. Es gibt Mittel und Wege, Dr. Maude zu überleben.«

»Das ist übrigens Ivy«, stellte ich sie vor.

Dies schien June ins Gedächtnis zu rufen, dass sie ja auch in Begleitung war. Sie wandte sich an den bisher namenlosen Studenten neben sich. »Oh, entschuldige, wie unhöflich von mir. Leute, das hier ist Rafael. Rafael, das ist meine beste Freundin und Mitbewohnerin Maxine.«

Ich nickte ihm zu. »Nenn mich Max.«

»Freut mich, euch kennenzulernen«, gab er freundlich zurück und schob sich die schwarze Brille zurecht.

Wir plauderten noch eine Weile, ehe sich jeder von uns zu seinem nächsten Kurs begeben musste. Dieses Mal kam ich pünktlich und wurde von niemandem groß beachtet, was ich persönlich als dicken Pluspunkt verbuchte.

Nach der Veranstaltung war mein Einführungstag offiziell beendet. June wartete schon auf mich am Hauptausgang des Campus. Doch anstatt sich nach mir umzusehen, spähte sie die Allee entlang. Sie lachte, als ich mich von hinten an sie heranpirschte und sie erschreckte. Kurz darauf quietschte sie wie ein kleines Mädchen. Der Grund dafür war schwer zu übersehen.

Eine junge Studentin mit kurz geschnittenem silberweißem Haar überquerte die Straße. Eine Sonnenbrille verdeckte den Großteil ihres rosigen Gesichts, während sie lässig mit einem Schlüsselbund in ihrer Hand klimperte. Ihr gesamtes Outfit schrie »Zu cool für dich«, nichtsdestotrotz steuerte sie geradewegs auf uns zu. Schlussendlich schloss sie June in die Arme und gab ihr einen innigen Kuss.

»Hey, Babe.«

Meine Freundin grinste über beide Ohren. Selbst ich konnte den leichten Wirbel in meinem Bauch spüren. Cat hatte diese unfassbare Ausstrahlung, der man sich einfach nicht entziehen konnte. Männer und Frauen drehten sich gleichermaßen nach ihr um. Sie wirkte derart selbstsicher, dass es schwerfiel, ihrem Lächeln nicht hoffnungslos zu verfallen.

»Wie war das College?«, fragte sie mit ihrer samtigen Stimme, die in meinem Kopf immer den Gedanken an Rotwein auslöste, der bei Kerzenschein ins Glas gegossen wurde …

June berichtete, während wir gemeinsam zu Cats Wagen schlenderten. Selbst die Rostflecken auf der alten Limousine wirkten gewollt und edgy. Cat hätte uns vermutlich auch mit einem altersschwachen Traktor abholen können und die Welt hätte ihr zu Füßen gelegen.

»Beschissene Aktion«, lautete ihr Kommentar zum Vorfall mit Dr. Maude. »Dem Typ hätte ich was gehustet.«

»Reden wir nicht mehr drüber.« Stöhnend ließ ich mich auf die Rückbank des Autos fallen. Prompt entdeckte ich die Sixpacks mit Bier auf dem freien Sitz neben mir. »Sieht nach Party aus.«

Cat zeigte mir ihr schiefes Lächeln durch den Rückspiegel. »Nur was Nettes für unseren Abend heute. Ich hoffe, du hast nichts dagegen, wenn ich eine WG-Party anzettle? Eine Einweihung sozusagen, nur wir vier.«

»Viel Glück dabei«, kam es von June. »Unsere Mitbewohnerin hat sich seit dem Einzug kein einziges Mal blicken lassen. Manchmal glaube ich, sie ist ein Geist. Oder bloß verstorben. Wir sind uns nicht ganz sicher, keiner traut sich, an ihrer Tür zu klopfen.«

Ich gab ein zustimmendes Brummen von mir.

Sidney war zeitgleich mit uns eingezogen. Die Wohnung war frisch renoviert worden und die Besitzerin hatte schlicht die Mädchen ausgewählt, die ihr »am anständigsten« vorgekommen waren. Ihre Worte.

Zwar hatten wir uns an dem Tag bemüht, mit unserer schweigsamen Mitbewohnerin ins Gespräch zu kommen, doch außer ein paar unbeholfener Kommentare ihrer Eltern war die Resonanz eher dürftig gewesen. Das war jetzt gut eine Woche her. Seitdem verschanzte sie sich in ihrem Zimmer. Hin und wieder hörte ich sie wie wild auf ihrer Tastatur herumtippen oder im Bad die Dusche bis zum Anschlag aufdrehen, aber das waren auch schon fast alle Lebenszeichen. Gelegentlich sah man noch einen Joghurt aus dem Kühlschrank verschwinden oder einen weiteren Teller in der Spülmaschine. Alles Dinge, die man viel zu leicht übersah.

»Untot, hm? Dann sollten wir sie erst recht einladen. Ich habe nämlich noch nie Poker mit einem Geist gespielt«, meinte Cat, als gäbe es an diesem Umstand nicht das Geringste auszusetzen.

Ich schüttelte bloß schnaubend den Kopf, während June grinsend die Hand mit ihrer Freundin verschränkte.

Kaum hatte Cat ausgeparkt, reckte sie entschlossen den Finger in die Höhe. »Auf zur Geister-WG!«

***

In unserer Wohnung angekommen präsentierte June das vollständig eingeräumte Wohnzimmer. Das Herzstück war ihr hellblaues Stoffsofa, dessen ehemals rauer Bezug solch einen Abrieb erlitten hatte, dass ein ganz neues Sitzgefühl entstanden war. Davor stand ein von uns bemalter Couchtisch, den ich auf dem Dachboden meiner Eltern ausgegraben hatte. Den Fernseher hatten wir mit Regalwürfeln aus Metall umrahmt, die über und über mit Blumen und Blu-Rays gefüllt waren. Die Küche schloss sich nahtlos an. Einen Esstisch hatten wir zwar nicht, dafür eine hübsche Bartheke mitsamt passenden Hochstühlen. Unsere Mitbewohnerin Sidney hatte kein Wort über die Einrichtung verloren. Selbst hatte sie nicht einmal eine einzige Blumenvase zur Einrichtung beigesteuert.

Ich besorgte uns etwas zu trinken, während ich aus den Augenwinkeln beobachtete, wie June von ihren Dekoschalen schwärmte, die sie vor zwei Tagen auf einem Flohmarkt aufgetrieben hatte. Cat lächelte sie die ganze Zeit nur an. Es reichte ihr schon, ihre Freundin so glücklich zu sehen.

»Es sieht super aus«, lautete Cats abschließendes Fazit. »Vielleicht sollte ich dich für meine Bude engagieren.«

June sank neben ihr aufs Sofa. »Niemals, ich liebe den Charme deiner Wohnung.«

»›Charme‹«, wiederholte Cat grinsend und formte mit den Fingern Anführungszeichen in der Luft.

Ich verteilte die Gläser und lachte. Bisher hatte ich Cats Wohnung nur ein einziges Mal zu Gesicht bekommen. Sie war das chaotische Nest einer Musikverrückten. Überall lagen CDs herum, seien es eigene Mixtapes oder die bekannter Künstler. Cats beste Freundin hatte sich in den Kopf gesetzt, Musikproduzentin zu werden. Nicht selten verteilte Cat ihre neuesten Remixes an all ihre Bekannten, so auch uns. Nahm sie uns in ihrem Auto mit, hörten wir meist nichts anderes.

Während June anfing, meine kupferblonden Haare zu einem Zopf zu flechten, ging Cat auf Wanderschaft. Ich kam nicht umhin, festzustellen, wie geschmeidig sie sich bewegte.

Ein Brennen in meinem Bauch führte mir den Neid vor Augen, den ich bei diesem Anblick empfand. June hatte die perfekte Freundin gefunden. Sie musste nicht länger allein sein. Nun, da sie von zu Hause ausgezogen war, konnte sie sich voll und ganz Cat widmen. Ich dagegen hatte meine letzte Beziehung vor knapp einem Monat beendet. Zuerst hatte ich geglaubt, die Sehnsucht nach einem Partner, einem Anker, an dem ich mich festhalten konnte, würde mich umbringen. Aber die Vorbereitungen aufs College waren die perfekte Ablenkung gewesen. Wohnungen aussuchen, Wände streichen, Einrichtung sammeln, Stundenpläne vorbereiten, Formalitäten klären – es war nur selten Zeit geblieben, der Vergangenheit hinterherzuschmachten.

»Nicht!«, rief June, als Cat vor Sidneys Tür die Hand erhob. »Weck den Drachen nicht auf!«

Cat zuckte mit den Schultern und wandte sich ab, hielt aber im letzten Moment inne und lehnte sich zurück. Das folgende Klopfen ließ mich die Lippen zusammenpressen.

Zunächst geschah nichts, dann hörten wir Schritte aus Sidneys Zimmer. Die Tür öffnete sich, nur einen Spaltbreit, doch das ovale Gesicht dahinter war eindeutig zu erkennen. Es wirkte verschlafen und grimmig.

»Was?«, zischte eine tiefe Stimme.

Cat schenkte ihr ein vereinnahmendes Lächeln. »Hi, ich bin Cat. Lust, mit uns abzuhängen?«

Sidney zog die dunklen Brauen zusammen. »Keinen Bock, ich hab zu tun.«

»Was treibst du denn?«

Zögern. Stille. »Schlafen.«

»Klingt aufregend. Davon wollen wir dich natürlich nicht abhalten. Schlaf ist wichtig. Falls wir zu laut sind, sag uns einfach Bescheid.« Cats lässige Gesten straften ihren mitfühlenden Ton Lügen.

Sidney knallte die Tür zu.

June zog einen Schmollmund. »Super, jetzt hasst sie uns.«

»Egal, mehr Bier für uns.« Cat kehrte zurück zum Sofa. »Aber jetzt bringe ich euch Pappnasen erst mal Poker bei.«

***

Die Morgensonne brannte mir beinahe die Augen aus dem Gesicht. Mein Hirn schien wie von einem dicken Nebel durchzogen, vermutlich wegen des billigen Biers vom gestrigen Abend. Vielleicht aber auch aufgrund der Tatsache, dass ich mit den anderen bis drei Uhr nachts wach geblieben war.

Grummelnd zog ich mir die Decke über den Kopf, erinnerte mich jedoch daran, dass ich in zwei Stunden in einer Vorlesung zu sitzen hatte. Träge kroch ich aus dem Bett und schlurfte hinüber zu meinem Schrank. Direkt daneben stand mein Ecktisch. Ich warf einen Blick auf meinen ausgedruckten Stundenplan und versuchte die Raumnummern zu verinnerlichen, zur Sicherheit checkte ich sie im Online-Tool.

Erst der Anblick der riesigen Fotowand über meinem Bett konnte meine Laune bessern. Sie war überfüllt mit Bildern von June, meiner Schwester Alva und meinem Bruder Ellis. Dazwischen Schnappschüsse von Ondie, meinem Border Collie, und diversen Sehenswürdigkeiten, die ich in meinem Leben schon besucht hatte. Das neueste war von unserem Einzug; June und ich hatten die Gesichter aneinandergequetscht und grinsten über beide Ohren in die Kamera.

Mir war nicht ganz klar, wie ich Dusche, Make-up und Frühstück erfolgreich hinter mich brachte, ehe ich einige Zeit später aus dem Haus trat. Mein Auto parkte auf der gegenüberliegenden Straßenseite. Junes Veranstaltungen hatten schon vor einer Stunde begonnen, also war sie bereits mit Cat gefahren.

Am Campus angekommen stapfte ich gähnend zum Vorlesungsgebäude.

»Buh!«

Erschrocken zuckte ich zusammen, als zwei Hände auf meine Schultern niederfuhren.

»Gott, es ist noch nicht mal zehn Uhr«, fuhr ich Ivy an, während diese grinsend an mir vorbeitänzelte.

»Hast du nicht gestern noch Besserung gelobt, was Motivation und Pünktlichkeit betrifft?«, scherzte sie.

Ich warf einen Blick auf meine Armbanduhr. Noch zehn Minuten bis Kursbeginn, also war ich dieses Mal pünktlich. Ein zufriedenes Lächeln stahl sich auf meine Lippen.

Ivy entging es nicht. Sie nickte anerkennend. »Ein Fundament, auf das man bauen kann. Ich bin stolz auf dich!«

Als Antwort streckte ich ihr die Zunge raus.

Zusammen boxten wir uns durch die kommende Veranstaltung. Schnell war klar: Dieser Tag startete bedeutend besser als der gestrige. Der zweite Kurs machte mir sogar richtig Spaß, ein echtes Novum für mich, war ich bisher doch eine wenig begeisterte Schülerin gewesen, die sich ihre Noten lediglich mit eiserner Disziplin erarbeitet hatte. Ich hatte lange gebraucht, bis ich mich für ein Studienfach hatte entscheiden können. Nichts war mir richtig vorgekommen. Also hatte ich versucht, in der Praxis meine Antwort zu finden. Etliche Ferienpraktika später war ich nicht viel schlauer, dafür umso verzweifelter gewesen.

Ich erinnerte mich noch genau an den grauen Nachmittag, an dem ich beleidigt mit einer großen Packung Cookie Dough auf dem Sofa herumgelungert und mich durch die vielen Sender unseres Flatscreens gezappt hatte. Bis heute erschien es mir als Wendung des Schicksals, dass genau an jenem Tag zu exakt dieser Uhrzeit eine Dokumentation über Non-Profit-Organisationen ausgestrahlt worden war.

Mich faszinierte die Leidenschaft, mit der die Mitglieder der dort aufgeführten Organisationen über ihre Schwerpunkte und damit verbundenen Ziele sprachen, die ihnen am Herzen lagen. Selbstlosigkeit und Willensstärke waren zentrale Punkte der Reportage gewesen. Themen wie Gerechtigkeit, Umweltschutz, Gemeinnützigkeit, Sicherheit und Gesundheit vereinten sich unter einem Dach.

Ich hatte in jener Nacht kein Auge zugetan. Stattdessen hatte ich versucht, alle möglichen Infos über NPOs auszugraben und aufzusaugen. Am nächsten Morgen war mir klar gewesen, dass ich Teil davon werden wollte.

Zufrieden, dass ich mich offenbar richtig entschieden hatte, sank ich auf die Bank. Ivy, die mir gegenübersaß, scrollte auf ihrem Handy. »Okay, der Kurs eben war wohl der Himmel auf Erden.«

»Nicht wahr?« Noch immer prangte mir ein Schmunzeln im Gesicht.

»Soll ich dich fürs Erste in dieser flauschigen Zuckerwattewelt zurücklassen oder ist dir nach einem harten Absturz auf den Boden der Realität?«

Ich runzelte die Stirn. »Wie meinst du das?«

»Schon mal in die Matheaufgaben geschaut, die Maude uns mitgegeben hat?«

»Nein.« Das hatte ich nach dem unangenehmen Vorfall mit Absicht nicht getan. Dr. Maude hatte mir bereits den Frischlingsmorgen versaut, da sollte er sich nicht auch noch in meine erste Freizeit drängen.

Ivy schob mir ihr Smartphone vor die Nase. Darauf waren einige kompliziert aussehende Formeln zu sehen.

»Was zum Teufel ist das?« Mir taten die Augen schon allein vom Hingucken weh.

»Differenzialrechnung, Stetigkeiten, Integrale«, las Ivy laut vor. »Und das soll noch der Kinderkram sein, hat mir mein Cousin gesagt. Maude testet in den ersten Wochen, was wir noch aus Schulzeiten wissen. Danach geht’s auf geradem Weg in die Hölle.«

Ivy konnte es nicht sehen, aber ich biss mir gerade heftig auf die Zunge. Natürlich hatte ich im Hinterkopf gehabt, dass Mathe ein Bestandteil meines Studiums werden würde, wenn auch kein allzu großer. Doch was, wenn mir der Rest meiner Ausbildung verwehrt blieb, nur weil ich nicht an grauenvollen Klammern, Buchstaben und Zahlen vorbeikam?

Ein Albtraum.

Eigentlich hatte ich mich auf genau das hier vorbereiten wollen. Nach meinem Abschluss hatte ich mir ein Buch für Einsteiger der Wirtschaftsmathematik besorgt. Die traurige Bilanz am Ende meiner allerletzten Schulferien? Eine einzige angefangene Aufgabe. Statt mich mit dem Ratgeber auseinanderzusetzen, hatte ich mich lieber mit meinem damaligen Freund Wes in die Haare gekriegt. Die Streitereien hatten sich über Wochen hingezogen, erst dann zog ich den Schlussstrich. Danach war zunächst einmal in Selbstmitleid baden angesagt gewesen, bis June mich in die Welt der Wohnungssuche eingeführt hatte. Mathe war in den Untiefen meines gefühlsbeduselten Hirns versunken.

Jetzt hatte ich den Salat.

»Ich bin am Arsch«, hörte ich mich sagen. Entfernt und tonlos.

»Nicht nur du, Schwester.«

Stöhnend vergrub ich das Gesicht in meinen Händen. Hinter uns lachten ein paar Studenten. Sie hatten ja keine Ahnung von dem Sturm, der uns überrollen würde.

»Vielleicht kommt da drüben gerade unsere Rettung angeritten«, sagte Ivy nach einem Moment des deprimierten Schweigens.

Ich sah auf und folgte ihrem Fingerzeig. Ein Kerl mit Haaren so rot, dass ich ihn in meinem Kopf unweigerlich als einen Verwandten der Weasleys einordnete, stieg von seinem Fahrrad und schloss es an einem der Ständer an. Ivy winkte ihm zu, woraufhin er lächelnd zu unserem Tisch gelaufen kam. Unbekümmert lehnte er sich an den Laternenpfahl nebenan und schob die Hände in die Hosentaschen.

»Darf ich vorstellen, mein Cousin. Ian, das ist Max. Max, Ian.«

»Hi.« Er klang unerwartet schüchtern für jemanden, der so tiefenentspannt wirkte.

»Wir brauchen deine Hilfe, weiser Mann«, verkündete Ivy in dramatischem Tonfall.

Er nahm neben ihr Platz. »Lass mich raten – es geht um Dr. Maude.«

»Ein Genie durch und durch«, sprach Ivy an mich gewandt.

Ich schenkte ihr ein schwaches Lächeln. Mir war noch immer mulmig zumute.

»Mal angenommen, vor dir sitzen zwei unfassbare Mathenieten. Was würdest du ihnen raten?«

»Geht zum Math-Dealer.«

Ich glaubte, ich hatte mich verhört. »Was?«

Auch Ivy schien verstört. »Drogen können nicht die Antwort sein, Ian.«

»Nein, nein.« Er wirkte amüsiert. »Math-Dealer. Math für Mathe.«

Ivy und ich tauschten einen irritierten Blick.

»Das ist ein Typ, der gegen Geld Matheaufgaben löst. Er macht eure Hausarbeiten und erledigt die Onlineaufgaben, die ihr braucht, um zu den Midterms zugelassen zu werden. Und natürlich auch zur Abschlussprüfung.«

»Echt jetzt? So etwas gibt es?« Ivy war erstaunt.

»Klar. Was glaubst du, wie viele Studenten hier Probleme mit Mathe haben? Vermutlich auch wegen solchen Vollidioten wie Maude. Selbst Leute mit Ahnung sind schon bei ihm durchgefallen. Wenn ihr aber konstant fünfachtzig bis neunzig Prozent bei ihm abliefert, müsst ihr im Test lediglich zwei Drittel korrekt beantworten, um durchzukommen. Ist anstrengend, aber machbar.«

»Fällt es Maude nicht auf? Wenn wir bei den Aufgaben utopische Leistungen abliefern und dann im Test derart versagen?«, fragte ich voller Skepsis.

Ian zuckte mit den Schultern. »Bisher hat er sich nie beschwert. Außerdem gibt’s ja noch die schöne Ausrede mit der Prüfungsangst. Davon abgesehen muss er euch direkt erwischen, wie ihr die Lösungen kauft, was aber vermutlich nicht passieren wird. Ein eingebildeter Maude hat Besseres zu tun, als seine Studenten auf dem Campus zu stalken. Mir ist noch nie zu Ohren gekommen, dass jemand beim Math-Dealer erwischt worden ist.«

»Mhm.« Ivy strich sich übers Kinn. »Und wie finden wir diesen mysteriösen Kerl?«

»Er ist Student. Seinen richtigen Namen kenne ich nicht. Meistens sitzt er irgendwo allein herum. Roter Laptop, dunkle Klamotten, Augenringe. Ach, und er trägt ständig eine Mütze. Ich denke, ihr werdet ihn schon erkennen, wenn ihr ihn vor euch habt.«

Ivy grinste. »Klingt verwegen, das gefällt mir.«

»Mach dir keine falschen Hoffnungen, er ist ein Arschloch«, warnte Ian sie. »Aber er erledigt seine Arbeit schnell und gründlich, also müsst ihr euch für gewöhnlich nicht lange mit ihm rumärgern.«

Während Ivy wirkte, als hätten sich all ihre Probleme urplötzlich in Luft aufgelöst, war ich immer noch zwiegespalten. Möglicherweise würde mich der Math-Dealer bis zu den Midterms durchbringen, doch was dann?

»Wir können einen Deal machen«, schlug Ivy vor, als sie meine nachdenkliche Miene bemerkte. »Die Zeit, die wir nicht mit nervigen Hausaufgaben verbringen, nutzen wir zum Lernen, okay? Bestimmt finden wir irgendwelche Unterlagen, die dafür besser geeignet sind als der Schrott von Maude. Da verstehe ich nur Bahnhof.«

Ich nickte schwach. Hoffentlich ging dieser Plan auf. Er musste einfach.

Kapitel 2

In den folgenden Tagen hielten Ivy und ich stets Ausschau nach dem sagenumwobenen Math-Dealer. Zwar gab es mehr Studenten als gedacht, die ganz alleine herumsaßen, aber auf keinen davon passte Ians Beschreibung. Irgendwann war die Woche vorbei und wir hatten ihn immer noch nicht gefunden. Meine Sorge wuchs.

Am Tag vor Maudes Kurs war ich richtig nervös. Ivy war nicht da und so hockte ich allein an einem der Holztische, in dem Versuch, mich durch seine Aufgaben zu kämpfen. Selbst mithilfe des allwissenden Internets waren diese Formeln für mich ein Buch mit sieben Siegeln.

Frustriert warf ich das Handy zur Seite und bettete mein Kinn auf die verschränkten Arme. Rastlos ließ ich den Blick über den Campus schweifen und hoffte den Kerl zu entdecken, der für mich inzwischen im selben Seltenheitsgrad rangierte wie ein Einhorn.

Dann sah ich ihn. Ein Kerl, groß und schlank, mit einer Kapuze auf dem Kopf. Er hatte gerade an einem Tisch Platz genommen und klappte nun seinen Laptop auf. Ein metallisch roter Glanz veredelte die Seiten.

Mein Herz klopfte wie wild. Endlich. Das ist er.

Hastig packte ich meine Sachen zusammen und schulterte meinen Rucksack. Mit steifen Schritten bewegte ich mich auf den Typen zu. Er runzelte die Stirn und tippte mit einer Hand irgendetwas auf dem Laptop ein, während er mit der anderen eine Getränkedose öffnete.

Kaum hatte ich mich ihm auf zwanzig Meter genähert, schnellte sein Blick nach oben. Er erstarrte in seiner Bewegung.

Ian hatte recht gehabt. Der Kerl sah wirklich fertig aus. Dunkle Ringe zeichneten sich unter seinen haselnussbraunen Augen ab. Das Gesicht wirkte fahl.

Nachdem ich langsam näher gekommen war, erkannte ich die zerbissene Unterlippe sowie eine Narbe, die die rechte Braue spaltete. Das Haar war vollständig unter einer schwarzen Mütze verborgen.

»Hey«, sagte ich mit hoher Stimme und blieb stehen. Noch immer starrte er mich an, als wäre er ein Reh und ich das auf ihn zurasende Auto. »Bist du der … der …?«

Gott, dieser Spitzname ist so blöd.

»Ja«, entgegnete er leise.

Für einen Moment nestelte ich bloß unsicher an meinem Schultergurt herum, dann deutete ich auf die Sitzbank. »Darf ich?«

Er schwieg, lehnte sich aber ein Stück zurück, was ich als Ja deutete.

»Ein … Bekannter hat mir von dir erzählt«, fing ich an. »Ich hatte gehofft, du könntest mir bei meinen Aufgaben helfen.«

»Welcher Kurs?«

»Wirtschaftsmathematik I. Bei Dr. Maude.« Den letzten Satz schob ich sicherheitshalber hinterher.

Zu Recht offenbar: Der Kerl holte hörbar Luft.

»Ich habe die Aufgaben dabei, wenn du sie dir erst angucken willst.«

»Muss ich nicht. Es ist immer das Gleiche.« Sein Tonfall klang äußerst abweisend, was mich nur noch aufgeregter werden ließ. Mein Magen krampfte sich zusammen.

Unsicher, was ich nun tun sollte, blieb ich einfach still sitzen. Er zeigte ebenfalls keinerlei Regung.

»Fünfzehn Dollar pro halbe Stunde bei Hausaufgaben. Zwanzig für die Online-Tests. Die Bezahlung erfolgt vorab. Ich mache die Aufgaben sofort, du nimmst sie direkt wieder mit. Ich renne niemandem hinterher«, sagte er auf einmal.

Meine Augen wurden groß. »Wow, das ist viel Kohle.« Besonders für hilfsbedürftige Studenten.

Er zog die halbierte Braue nach oben und starrte mich finster an.

Fahrig wühlte ich in meinem Rucksack nach dem Portemonnaie. »Kannst du wechseln?«

Der Augenblick, in dem wir unser Geld tauschten, fühlte sich äußerst surreal an. Seltsam … verboten. Hätten meine Eltern davon gewusst, hätte mir die Gardinenpredigt meines Lebens bevorgestanden. Ich kam mir vor wie eine Betrügerin.

Eine verzweifelte Betrügerin.

Ich wollte dieses Studium schaffen. Um jeden Preis. Und offenbar betrug dieser Preis mindestens fünfzehn Dollar. Pro Woche, wie mir mit Schrecken klar wurde.

Zwar brauchte ich mir wegen der Kohle nicht den Kopf zu zerbrechen, Sorge bereitete mir diese Schummelei trotzdem. Es erschien mir hinsichtlich meines späteren Berufswunsches moralisch überaus verwerflich, für eine Leistung zu bezahlen, sie anschließend bewusst als meine eigene auszugeben und mein Studium folglich mit Betrug zu beginnen. Für eine Sekunde war ich versucht, dem Math-Dealer das Geld wieder aus der Hand zu reißen.

Aber vielleicht kann ich es später wiedergutmachen, wenn ich einen Job habe, in dem ich Leuten helfen kann.

Die zwei Seiten meines Gewissens fingen an zu streiten, so laut und eindringlich, dass mir glatt schwindelig wurde. Mit zusammengebissenen Zähnen krallte ich mich an der Tischplatte fest.

»Die Zeit läuft. Nur so als Info.«

Ich erwachte aus meiner Starre. Der Math-Dealer wirkte genervt.

Seufzend holte ich die Unterlagen hervor und schob sie ihm über dem Tisch. Er scannte die beiden Blätter binnen weniger Sekunden, dann fing er auch schon an.

»Brauchst du einen Taschenrechner?«, fragte ich piepsend.

Er gab mir keine Antwort.

Irgendwann kam mir ein weiterer Gedanke: »Ich muss das abgeben. Vielleicht wäre es besser, wenn du die Lösungen auf ein Papier schreibst. Wegen der Schrift und so …«

»Könntest du mal still sein?«

Der Satz traf mich unerwartet heftig. Ein Kloß bildete sich in meinem Hals, der es mir unmöglich machte, noch irgendeinen Ton von mir zu geben. Also schaute ich einfach dabei zu, wie mein Blatt sich langsam füllte. Die halbe Stunde war nicht vollständig ausgereizt, als der Math-Dealer zum Ende kam. Wortlos reichte er mir den Aufgabenzettel zurück und widmete sich dann seinem Laptop.

Es dauerte, bis ich die Notizen in meinen Rucksack stopfte. Unsicher, wie ich diese Situation beenden sollte, starte ich ihn an.

»Ist noch was?«, blaffte er mich irgendwann an.

Ein von Wut und Scham dominierter Teil meines Verstandes brüllte mir zu, ihn einfach sitzen zu lassen. Ein anderer, weitaus kontrollierterer Teil brachte mich dazu, in Ruhe aufzustehen. »Danke«, entgegnete ich höflich.

Übelkeit flutete meinen Magen. Das hier ist nicht richtig.

Er beachtete mich nicht einmal, während ich mich abwandte und mit schwachen Schritten davonging.

***

»Du hast ihn gesehen?« Ivys grüne Augen waren kugelrund.

»Ja«, bestätigte ich heiser. »Live und in Farbe.«

»Und? Wie war er? Gib mir mehr Infos!«

»Wie Ian sagte: Er ist ein Arschloch.«

»Okay, jetzt bin ich wirklich scharf darauf, ihn kennenzulernen. Wo kann ich ihn finden?«

Ich gab ihr die Beschreibung des Ortes, wo ich ihn entdeckt hatte. »Aber sag mal«, begann ich, »willst du nicht einfach bei mir abschreiben?«

»Geht nicht, Maude hat doch verschiedene Versionen rausgegeben.« Zum Beweis präsentierte sie mir ihr Aufgabenblatt, in dessen oberen rechten Ecke ein unauffälliges B prangte. Ich seufzte.

»Wünsch mir Glück!«, meinte sie daraufhin grinsend und machte sich davon.

Ermattet widmete ich mich also meinem Handy und hoffte, June würde auf meine Nachrichten reagieren. Glücklicherweise tat sie das auch und winkte mir fünf Minuten später zu, als ich sie in der großen Essenshalle erspähte. Neben ihr saß Rafael.

»Du bist noch hier? Ich dachte, du hättest schon vor einer Stunde Schluss gehabt«, fragte ich erstaunt und schnappte mir einen der bunten Stühle.

»Wir hatten noch ein Tutorium, war ganz interessant. Ich wollte dir gerade schreiben, als deine Nachricht gekommen ist.«

Seufzend legte ich den Kopf auf den Tisch, murmelte dabei noch ein paar halbherzige Begrüßungen an ihren Kommilitonen.

»Schon wieder ein Zusammenstoß mit Dr. Maude?«, erkundigte sich Rafael.

»Ich habe euch doch von dem Math-Dealer erzählt, nicht wahr?«, nuschelte ich.

Sie nickten.

»Ich habe ihn gefunden.«

»Und?«

»Wüsste ich es nicht besser, würde ich behaupten, wir haben den nächsten Schüler des Sith-Ordens gefunden.«

Rafael schien amüsiert. »Ich glaube, deine Freundin hat mit ihrem Studium den dunklen Pfad der Macht beschritten. Die Geschichten nehmen ja gar kein Ende.«

June zeigte mir eine mitleidsvolle Miene und legte den Kopf schief, sodass sie mich besser ansehen konnte. »Hat er dir wenigstens helfen können?«

»Schätze schon. Er hat meine Hausaufgaben gemacht. Mal sehen, was Maude dazu sagt.«

»Es tut mir leid, dass dein Studium bis jetzt so ätzend ist«, meinte sie mitfühlend.

»Ach, das Essen hier ist bis jetzt ganz nett. Außerdem habe ich Ivy kennengelernt.«

»Geregnet hat es die letzten Tage auch nicht«, fügte Rafael hinzu.

Ich schnipste mit den Fingern. »Das sind wirklich vielversprechende Aussichten.

»Komm doch morgen mit uns feiern. Cat kennt den Mittwochs-Türsteher vom Peak, da kommen wir ohne Probleme rein.«

Irritiert richtete ich mich auf. »Feiern? Unter der Woche?«

June nickte strahlend. »Wozu bis zum Wochenende warten, um sich zu belohnen? Du bist übrigens auch herzlich eingeladen.« Diese Worte galten Rafael.

Er schien wesentlich interessierter als ich. Ohne Umschweife zückte er sein Handy. »Mal sehen, wie mein Kursplan aussieht.«

»Ich weiß nicht. Vielleicht sollte ich mich lieber auf die Suche nach verständlichem Lernmaterial machen. Die Matheprüfungen muss ich trotzdem noch selbst schreiben.«

»Vielleicht geht der Math-Dealer ja für dich hin, wenn du noch ein paar Laserschwerter frisch erlegter Jedis drauflegst.«

»Sehr witzig«, murrte ich.

Wir lungerten noch eine ganze Weile in der Mensa herum und quatschten. Nach dem Mittagessen fuhr ich June zu Cats Wohnung. Anschließend machte ich mich auf den Heimweg.

Zurück in der Wohnung hängte ich den Schlüssel an das metallene Board über dem Schuhschrank. Ein kurzer Blick auf unsere Sammlung verriet, dass Sidney zu Hause sein musste. Wo June und ich bloß Ballerinas und leichte Stoffschuhe bevorzugten, schien Sidney zu einhundert Prozent auf Sneakers abzufahren.

Wie so oft war ihre Tür geschlossen. Einen Moment lang erwog ich, bei ihr zu klopfen, um nicht allein zu sein, entschied mich letztlich aber dagegen. Mir fielen einfach keine Worte ein, die mich für sie sympathischer erscheinen ließen. Seit ihrer Begegnung mit Cat hatten wir sie nur noch ein einziges Mal zu Gesicht bekommen. June hatte sich mit leiser Stimme bei ihr entschuldigt, was sie lediglich mit einem genervten Brummen kommentiert hatte. Danach war sie wieder in ihr Zimmer gehuscht.

Nach einer Weile kam mir aufgrund meines grummelnden Magens die revolutionäre Idee, ihr – und mir – ein paar Cookies zu backen. Da ich jedoch wenig Ahnung vom Kochen und noch viel weniger vom Backen hatte, befragte ich zunächst das Internet nach einem Rezept. Glücklicherweise war June eine leidenschaftliche Bäckerin und hatte für jede Eventualität Vorräte angelegt. Ein wenig bedauerte ich es, dass sie seit unserem Einzug so selten hier war. Zwar gab ich keinen guten Koch ab, aber als demütige Assistentin taugte ich allemal.

Die ersten zehn Minuten ließen mich noch in dem Glauben, alles würde nach Plan laufen. Als es allerdings darum ging, den Teig in Form von kleinen Scheiben auf dem Backblech zu platzieren, fiel mir auf, dass ich einen Fehler gemacht hatte.

Statt zwei Portionen hatte ich gleich vier gemacht. Offenbar hatte ich mich mit dem Multiplikator vertan.

Die Hände in die Hüfte gestemmt starrte ich auf die beiden gut gefüllten Bleche. Hätte ich vielleicht schon bei dem knappen Kilo Zucker stutzig werden sollen? June kippte immer ganze Berge in die Rührschüssel, doch am Ende war die Menge meist überschaubar.

»Waren acht Eier zu wenig?«, fragte ich das Handy und rieb mir übers Kinn.

Irgendwann nach dem vierten Blech fühlte ich mich wie der letzte Vollidiot.

Vor meinem inneren Auge tanzten die vierzehnjährige June und ihre Mutter durch die kochshowreife Küche, während sie ein kulinarisches Meisterwerk nach dem anderen aus dem Ofen zauberten. Meine Mutter hatte mir zu dieser Zeit beigebracht, wie man die Rechtsformen diverser Gesellschaften erkennt und was sie unterscheidet. Bis zu meinem siebzehnten Lebensjahr war ich kaum in der Lage gewesen, Bolognese zuzubereiten und gleichzeitig ein Auge auf das Nudelwasser zu haben. Ganz zu schweigen vom Abschätzen der richtigen Menge Nudeln für eine Person.

Wobei das ein Mysterium zu sein schien, das zu entschlüsseln nur wenigen Menschen auf dieser Welt vorbehalten war.

Nachdem die Cookies fertig gebacken waren, mussten sie nur noch auskühlen. Die Zeit überbrückte ich mit einer Folge Suits. Vier besonders schöne Exemplare richtete ich auf Teller an, stellte sie Sidney vor die Tür und klopfte abermals. Natürlich blieb die unmittelbare Reaktion aus.

Egal, dachte ich mir und widmete mich wieder meiner Serie. Irgendwann nach der dritten Folge wanderte mein Smartphone vibrierend über den Tisch. Ich entdeckte den Namen meiner Schwester neben der Sofortnachricht und lächelte.

[Alva] Hey, alles klar bei dir? Wie ist das Studium?

[Ich] Foto gesendet.

[Alva] Bei der Menge an Cookies musst du aber schon viele Leute verärgert haben.

[Ich] Bisher nur eine. Glaube ich zumindest. Meinst du, das reicht?

[Alva] Na ja, doppelt hält besser, würde ich sagen.

[Alva] Bei Walmart gibt’s die Woche einen 25-Pfund-Sack Zucker. Wenn du zwei kaufst, kriegst du eine Insulinspritze gratis.

[Ich] Spitze. Das macht laut meinem Rezept zwei Leute mehr, denen ich auf die Füße treten kann.

[Alva] Ich sehe schon, du hast das bestens im Griff. Halt die Ohren steif, Schwesterherz!

Lächelnd sandte ich ihr ein fröhliches Emoticon. Wäre ich in der Lage gewesen, besser mit Worten umzugehen und mich klarer auszudrücken, hätte ich ihr gesagt, wie wunderbar ich es fand, dass sie immer an mich dachte. Dass es sie interessierte, was in meinem Leben vor sich ging. Also konnte ich nur hoffen, dass sie das ohnehin schon wusste.

Kapitel 3

Als Ivy bei uns ankam, rollte June gerade wie ein verspielter Welpe durchs Gras. Es war Samstagnachmittag und wir hatten uns entschieden, den größten Park der Stadt zu besuchen. Das hatte ich auch bitter nötig, nachdem ich am gestrigen Tag die erschwindelte Hausaufgabe bei Maude eingereicht hatte und dabei innerlich tausend Tode gestorben war. Leider wusste ich nicht, wann ich mit einem Ergebnis rechnen konnte, daher war ich noch immer angespannt. Zum Glück war das Wetter bestens – warm und sonnig, wie ich es mochte. Während ich mit einem Buch auf der Picknickdecke herumlungerte, benahmen sich June und Cat wie zwei verliebte Teenager. Auch Ivy fiel das auf, als sie neben mir zu Boden sank.

»Noch ist das alles jugendfrei, oder?«, fragte sie mich mit einem schiefen Lächeln auf den Lippen.

Ich linste über das Buch. »Bis jetzt schon. Sie zeigen allerdings erste präkoitale Tendenzen.«

Ivy schnaubte. »Schon süß. Ist sie ihre erste Freundin?«

»Nein«, antwortete ich. »Cat ist nur ihre erste offizielle Freundin. Davor gab es schon andere, aber meist war das nichts Ernstes und sie hat nur wenigen Leuten davon erzählt.«

»Engstirnige Eltern?«

Cat setzte sich rittlings auf die kichernde June. Kreischend und strampelnd wand sie sich umher, während Erstere zu einer brutalen Kitzelattacke ansetzte.

»Nein, eine fiese Mädelsclique zu Schulzeiten. Die meisten haben zu ihnen aufgesehen. Wer in ihrer Gunst stand, hatte nichts zu befürchten. War das nicht so, dann … na ja.« Für den Bruchteil einer Sekunde presste ich die Lippen zusammen. »Hm.« Ivy runzelte die Stirn. June flehte im Hintergrund lachend um Gnade. »Das ist scheiße.«

»Die Zahl an queeren Menschen in unserer winzigen Gemeinde war und ist immer noch ziemlich gering. Junes Eltern waren aber zu jeder Zeit auf ihrer Seite und haben sie immer bei allem unterstützt.«

Ivy lächelte.

»Vor ein paar Monaten hat sie Cat auf einer Dating-App kennengelernt. Ich habe June noch nie derart schnell für jemanden schwärmen sehen. Die Redewendung ›Hals über Kopf‹ hat durch die beiden eine völlig neue Bedeutung bekommen. Allerdings war Cat bereits Studentin hier in Clementine und so war es anfangs hauptsächlich eine Fernbeziehung. Mit jedem Tag, den unser Umzug näher gerückt ist, ist June immer aufgeregter geworden. Sie konnte es kaum erwarten, endlich bei Cat zu sein. Manchmal denke ich mir, sie wäre am liebsten direkt bei ihr einzogen, aber wir hatten uns schon vor drei Jahren das Versprechen gegeben, für das Studium zusammenzuziehen.«

Diese Worte beschworen Bilder der Vergangenheit vor meinem inneren Auge herauf. Zu jener Zeit, als June mit Cat zusammengekommen war, hatten meine beste Freundin und ich gänzlich die Rollen getauscht – nach meiner Trennung hatte ich mich in den wortkargen Trauerkloß verwandelt, während sie vor positiver Energie nur so sprühte.

Sie jetzt mit Cat zu sehen löste ein Flattern in meinem Bauch aus. So lange hatte ich sie kämpfen sehen. Dieser Moment, heute, hier im Park, schien wie die Belohnung für all das Warten und Ausharren.

»Wenn sie nicht aufpassen, landen sie noch in einem Werbespot für Tampons«, kam es auf einmal von Ivy.

Mit aller Macht versuchte ich ein Lachen zu unterdrücken. June lief mit wehendem Kleid über die Wiese.

»Also ich würde sie kaufen«, meinte ich grinsend.

***

Vergangene Woche hatte ich mich wie eine Betrügerin gefühlt. Mit steifer Miene hatte ich meine Notizen auf Dr. Maudes Stapel gelegt. Jede einzelne Zeile davon eine feinsäuberliche Abschrift der Lösungen vom Math-Dealer. Heute, sieben Tage später, starrte ich mit steifem Lächeln auf die zwei dicken roten Zahlen in der linken Ecke des Blattes.

Neunundachtzig Prozent.

»Wow«, kam es von Ivy, die neben mir saß. Ihr Ergebnis war sogar um einen Prozentpunkt besser. Wusste der Teufel wieso. »Nur neunzig? Wofür hab ich dem Kerl fünfzehn Mäuse gegeben?« Ihre Stimme war nicht mehr als ein Flüstern.

»Weil es sonst auffallen würde«, erklärte ich. »Niemand schafft einhundert Prozent. Das ist unmenschlich.«

»Der Math-Dealer scheint mir weit entfernt von echter Menschlichkeit.«

Ich kaute auf der Unterlippe. »Wie war es eigentlich mit ihm?«

»Ist nicht viel passiert. Irgendwann hat er gemeint, ich soll die Klappe halten, also hab ich mir Lifehack-Videos reingezogen, bis er fertig war. Ziemlich gute Verwendung von Wartezeit, wenn du mich fragst. Schon gewusst, dass man Klamotten bügeln kann, indem man einen Topf mit kochendem Wasser drüberzieht?«

»Die Weisheit des Internets ist grenzenlos.«

»Nicht wahr?«

»Cookie?« Unauffällig bot ich ihr die offene Dose an. Dr. Maude war gerade ganz vertieft in seine Tafelrechnung und hatte glücklicherweise kein allzu genaues Auge auf uns.

Ich war überaus erleichtert gewesen, als eine der Ersten durch die Tür des Vorlesungssaals zu treten und somit einer weiteren Demütigung zu entgehen. Beinahe wäre ein anderer Student das Opfer dieser Woche geworden, hätte sich nicht eine besonders übereifrige Kommilitonin gemeldet, um eine Frage zu stellen, der zu folgen nahezu unmöglich erschienen war. Allmählich glaubte ich, in Sachen Mathe von einem anderen Stern zu sein. Wieso fiel es mir so schwer? Lag es an mir oder Maudes grauenvollem Unterricht?

»Sag mal, hast du eine Keksfabrik ausgeraubt oder warum bietest du sie mir jetzt schon zum fünften Mal an?«, fragte Ivy voller Skepsis, als ich ihr geistesabwesend die Dose hinhielt.

»Und wenn es so wäre?«

Sie griff zu, zögerte aber, ehe sie sich den Cookie an den Mund hob. »Der ist nicht voll mit Gehirnkontroll-Substanzen, oder?«

»Nein«, sagte ich, nachdem ich den Moment voller Absicht in die Länge gezogen hatte. »Natürlich nicht.«

Ivy schüttelte grinsend den Kopf und biss zu.

Nach Ende des Kurses litt ich wieder an Bauchschmerzen. Die neuen Hausaufgaben erschienen mir noch unverständlicher als die von letzter Woche. Geradezu panisch steuerte ich über den Campus und suchte nach dem Math-Dealer. Allmählich konnte ich den blöden Namen verstehen. Ivy war leider nicht in Form von moralischer Unterstützung bei mir, als ich ihn fand. Er hockte am selben Tisch. Wie beim letzten Mal war seine Aura nervös und abweisend. Kaum hatte er mich entdeckt, kniff er kurz die Augen zusammen. Versuchte er sich an mich zu erinnern?

»Hi, ich bin …«

»Wirtschaftsmathematik. Ja, ich weiß«, schnitt er mir das Wort ab.

Klar. Ich bin Wirtschaftsmathe. Namen sind ohnehin überbewertet.

»Genau«, entgegnete ich ermattet. Schweigend schaute er mich an. Es dauerte einen Moment, ehe ich verstand, dass er die Aufgaben wollte. Ich kramte die Blätter aus meinem Rucksack und reichte sie ihm. Danach nahm ich Platz und hielt vorsorglich den Mund. Es nützte ja sowieso nichts.

»Geld.« Mehr sagte er nicht.

Ein bissiger Kommentar lag mir auf der Zunge, aber wie so oft blieb mir meine Wut im Halse stecken und ich schluckte sie herunter. Brav kramte ich nach meinem Portemonnaie und reichte ihm zwei Scheine.

»Bitte« und »Danke« schien der Kerl nicht zu kennen. Säure brannte scharf in meinem Bauch, als er das Geld wortlos wegsteckte und sich an die Arbeit machte. Ich merkte erst, dass ich die Hände zu Fäusten geballt hatte, als Schmerz durch meine Finger jagte.

Es mussten vielleicht fünf Minuten vergangen sein, da vernahm ich den kurzen Nachrichtenton eines Handys. Meines war es nicht. Der Math-Dealer drehte mechanisch den Kopf und fixierte seinen schwarzen Rucksack, der neben ihm auf der Bank thronte. Sein ganzer Körper wurde starr und ich glaubte sogar, er hatte aufgehört zu atmen.

»Willst du nicht rangehen?«, fragte ich leise.

Er riss sich los. »Nein.« Zögernd verharrte er mit dem Kugelschreiber über dem Blatt. Er blinzelte, bewegte sich aber nicht.

Ist er krank? Sieht er deswegen so … fertig aus? Und wieso geht er nicht an sein verdammtes Handy?

Es dauerte, bis er zu seiner üblichen Geschwindigkeit zurückfand. Die ersten Zahlen schrieb er nur langsam. Gerade die letzte Aufgabe schien ihm Kopfzerbrechen zu bereiten, wobei ich das Zögern eher seiner schlechten Verfassung zuschrieb und nicht dem Schwierigkeitsgrad der Fragestellung.

Nach Ende der Bearbeitung prüfte er seine Armbanduhr. Auch ich hatte mithilfe meines Handys die Zeit im Auge behalten. So wusste ich auch, dass er exakt einunddreißig Minuten und zwölf Sekunden gebraucht hatte.

Sein ernster Blick traf meinen. In meinem Bauch bildete sich ein unangenehmer Knoten.

»Du kannst mir nicht den vollen Preis für eine einzige Minute berechnen«, brachte ich mit schwacher Stimme hervor, ehe er etwas sagen konnte.

Er verzog keine Miene. »Kann ich wohl.«

»Noch nie was von Kulanz und Kundenbindung gehört?« Ich wollte aufbrausend klingen, stattdessen hörte ich mich an wie ein ängstliches Mädchen, das nicht zu seiner Meinung stehen konnte.

Darauf gab er keine Antwort. Verständlich, schließlich kannte ich sie bereits selbst. An diesem College gab es genug Studenten, die seine Leistungen in Anspruch nahmen. Eine lausige Wirtschaftsstudentin weniger würde er mit Sicherheit verschmerzen können. Ich war absolut unbedeutend und austauschbar.

Die Erkenntnis traf mich heftiger, als sie sollte. Übelkeit drückte sich gegen die Wände meines Magens. Zu gern wäre ich aufgestanden und davongerannt, aber ohne die Aufgaben wäre der ganze Terz umsonst gewesen.

»Dein Handy hat geklingelt. Das hat dich abgelenkt. Du musst mir mindestens eine Minute gutschreiben«, blaffte ich ihn an. Scham stieg in mir auf, als ich merkte, wie sehr ich mit den Tränen zu kämpfen hatte. Wieso fiel es mir nur so verdammt schwer, für mich selbst einzustehen?

Die Brauen des Math-Dealers zuckten. Für einen Moment schien die Feindseligkeit in seinen Augen ein wenig zu schrumpfen. Stattdessen trat Verwirrung an ihre Stelle.

Eigentlich hatte ich erwartet, er würde mich anmotzen. Vermutlich hätte ich mich gefügt und ihm weitere fünfzehn Dollar überreicht. Stattdessen schob er mir die Blätter entgegen. Ungläubig starrte ich sie an.

»Gott, jetzt mach schon«, knurrte er.

Hastig stopfte ich die Zettel in meinem Rucksack. Meine Finger streiften dabei die Cookie-Dose. Unwillkürlich zog ich sie hervor und öffnete den Deckel.

»Hier, nimm das. Als Dankeschön.«

Offenbar hatte ich den ersten und einzigen Menschen dieser Welt gefunden, der keine Cookies mochte. Geradezu abgestoßen starrte er den runden Keks an, während ich ihm diesen entgegenhielt.

Ich runzelte die Stirn. »Die sind nicht giftig, okay?«

Er rührte sich nicht, also legte ich den Cookie einfach zwischen uns auf den Tisch. Dann stand ich auf und schulterte den Rucksack. Ich wollte schon gehen, hielt aber noch einmal inne.

»Wie heißt du?«

Wieder etwas, das den Math-Dealer zu überfordern schien. Dieses Mal erkannte ich das nervöse Zucken seiner Mundwinkel. Seine Finger krampften sich merklich um den Stift. Es dauerte, bis er den Blick heben konnte.

»Sam.«

Sam. Der Name war wie weiches Wachs in meinem Kopf. Schön und warm zugleich. Somit passte er überhaupt nicht zu der Person, die vor mir saß.

»Ich bin Max.«

Stille.

»Nur so als Information.«

Er nickte. Kaum wahrnehmbar, aber ich konnte es sehen.

»Danke«, sagte ich. »Bis nächste Woche.«

Es hatte etwas Befreiendes, einfach wegzugehen. Nicht brav darauf zu warten, dass er dieselben Worte zu mir sagte, und demütig abzutreten.

Ich holte Luft. Ja, das fühlt sich verdammt gut an.

Kapitel 4

Die kommenden Tage waren gespickt mit Höhen und Tiefen. Zuerst durfte ich mich mit Sidney auseinandersetzen, die eines Morgens wutentbrannt aus ihrem Zimmer stürmte. Sie fragte mich, ob ich meinen Mitmenschen gerne Lebensmittel vor die Tür stellen würde, in die sie nichtsahnend hineintreten konnten. Nachdem ich kaum hörbar verneint hatte, wurde mir die Cornflakes-Packung aus der Hand gerissen. Entgeistert starrte ich ihr hinterher, wie sie mit meinem geplanten Frühstück in ihrem Zimmer verschwand.

Am darauffolgenden Wochenende tanzte ich mir zusammen mit June auf einer Home-Party die Seele aus dem Leib. Es war die Abwechslung, die ich gebraucht hatte. Loslassen, nicht nachdenken, Sorgen vergessen.

In Mathe verpasste Maude mir punktgenaue neunzig Prozent. Meine Freude darüber hielt sich stark in Grenzen. Die Suche nach vernünftigem Lernmaterial erwies sich als mehr und mehr frustrierend. Ivy wartete mit einigen YouTube-Tutorials auf, die zwar ein wenig Licht ins Dunkel brachten, die meisten Themen aber lediglich anrissen, statt sie ausführlicher zu beleuchten.

Zu unserem Unglück wurde zwei Tage später der erste Online-Test angekündigt. Jeder von uns bekam seine Zugangsdaten per Code ausgehändigt. Man informierte uns darüber, dass es wie bei den Hausaufgaben sechs verschiedene Varianten gab, was »sinnentleertes Abschreiben« schwieriger machen sollte, so Maude.

Hätte er nur gewusst, wie die Dinge wirklich standen.

»Wie sollen wir bloß die Zwischenprüfung schaffen?«, murmelte ich verzweifelt, während ich die ersten Aufgaben im Online-Tool begutachtete.

Ivy, die mir gegenübersaß und Makkaroni schaufelte, was das Zeug hielt, zuckte mit den Schultern. »Irgendwas fällt uns schon noch ein. Oder wir fragen den Math-Dealer, ob er zufälligerweise die Lösungen für die Midterms hat. Wer weiß, vielleicht ist der Test ja jedes Jahr gleich.«

Ich sandte ihr einen ungläubigen Blick. Als ob.

»Im Übrigen lautet sein Name Sam.«

»Was?«

»Der Math-Dealer. Er heißt Sam.«

Ivy wirkte erstaunt. »Du hast dich mit ihm unterhalten?«

»Na ja, Unterhaltung konnte man das nicht nennen. Ich habe ihn gefragt.«

»Soso.« Sie grinste.

Misstrauisch sah ich sie an.

»Was denn? Es schadet bestimmt nicht, ein wenig mit ihm zu flirten. Möglicherweise kannst du ja was dabei rausholen. Er sieht nicht gerade aus, als könnte er sich vor weiblicher Aufmerksamkeit retten.«

»Ich habe schon Gewissensbisse, weil ich jemanden dafür bezahle, dass er meine Hausaufgaben macht«, erklärte ich mit gesenkter Stimme. »Da werde ich zu dieser Liste sicher nicht noch emotionale Manipulation hinzufügen. Mal abgesehen davon, dass das wirklich fies ist. Stell dir vor, er interpretiert irgendetwas hinein.«

»Du hast Angst, dem Math-Dealer das Herz zu brechen?« Ivy stützte ihr Kinn in die Hand. »Du bist echt eine von den Guten, Larsson.«

»Er heißt Sam.« Das klang ein wenig patziger als beabsichtigt.

Ivy hob mildernd die Hände. »Schon gut, ich mach nur Spaß. Vermutlich hast du recht.«

Während sie sich wieder ihren Makkaroni widmete, ließ ich meinen Blick durch die Mensa schweifen. Jede Minute rechnete ich mit June, die eigentlich geplant hatte, mich hier zu treffen. In den letzten zwei Tagen hatte sie sich mit dem Aufstehen vor zwölf Uhr mittags ziemlich schwergetan, da sie es einfach nicht lassen konnte, gemeinsam mit Cat nahezu jeden Abend um die Häuser zu ziehen. Zwar war ich mit meinem Kopf oftmals in dunklen Mathewolken stecken geblieben, doch hier und da hatte ich meine beste Freundin wirklich sehr vermisst. Umso mehr hoffte ich, sie würde jeden Moment auftauchen. Möglicherweise hatte sie ja Lust auf einen gemeinsamen Filmeabend? Oder einen Serienmarathon? Nachdenklich nagte ich auf meiner Lippe herum. Besser, ich fragte sie das umgehend, bevor sie mit Cat den nächsten Clubbesuch ansetzen konnte.

»Wenn man vom Teufel spricht.«

Ich folgte Ivys unauffälligem Fingerzeig.

Sam war in der Mensa erschienen. Ein athletisch aussehender Kerl stand neben ihm und redete auf ihn ein. Sam schien zuzuhören, warf jedoch immer wieder missmutige Blicke durch den Saal. Menschen, die ihm zu nahe kamen, wich er mit genervter Miene aus.

Irgendwann schien das Gespräch aus Sams Sicht beendet; ohne den anderen Kerl augenscheinlich zu verabschieden, lief er an ihm vorbei. Verdutzt schaute der Typ ihm hinterher. Sam wählte ein Sandwich aus der Selbstbedienungstheke und begab sich hinüber zur Kasse. Keiner der umstehenden Studenten schenkte ihm großartig Beachtung.

Ich fragte mich, ob Sam Freunde hatte. Hier, am College.

»Erde an Max.«

Geradezu ertappt riss ich mich von Sam los. Meine Wangen wurden heiß. Ivys Gesichtsausdruck war ein Zusammenspiel aus Neugierde und Skepsis.

»Kann es sein, dass du was für ihn übrighast?«

»Habe ich nicht«, gab ich krächzend zurück. Das klang nicht sehr überzeugend, obwohl ich mir mehr als sicher mit meiner Antwort war. Sam zog mich nicht an. Er machte mich neugierig.

Gerade war er dabei, die Mensa wieder zu verlassen, also stand ich auf. Ich musste ihn ohnehin bezüglich des Online-Tests nerven, da konnte ich das auch jetzt tun. Junes Vorlesung war seit achtzehn Minuten vorbei und sie hatte sich nicht gemeldet. Ein Blick auf ihr WhatsApp-Profil verriet mir, dass sie diesen Tag noch nicht einmal online gewesen war. Vermutlich lag sie noch in ihrem Bett und träumte von im Schwarzlicht fluoreszierenden Cocktails.

Ich seufzte. Vielleicht hätte sie ja trotzdem Zeit für mich, wenn ich nach Hause kam.

»Alles gut. Tu, was du tun musst«, meinte Ivy, nachdem ich mich bei ihr entschuldigt hatte. »Schreib mir, wo ich euch finden kann, wenn ich fertig bin. Und frag ihn nach den Lösungen!« Den letzten Satz brüllte sie mir regelrecht hinterher.

Peinlich berührt zog ich den Kopf ein und eilte aus dem Saal.

***