Dem Feuer die Seele - Jo Schneider - E-Book

Dem Feuer die Seele E-Book

Jo Schneider

5,0

Beschreibung

Sommerprinzessin Ciara leidet Nacht für Nacht unter den Qualen ihrer unheilvollen Albträume, die sich realer anfühlen, als sie eigentlich sollten. Laut den Weisen ihres Landes soll die Erklärung für ihr Leid an einem ganz besonderen Ort zu erlangen sein, doch der befindet sich inmitten des feindlichen Winterreichs. Ciara begibt sich auf eine Mission, die sie das Leben kosten könnte und macht Bekanntschaft mit einem Wesen, das in den kalten Landen so gefürchtet wie verehrt ist: dem Winterkönig. Er bietet ihr einen Handel an, der sie zu den begehrten Antworten führen könnte. Doch sollte sie ihrem Erzfeind wirklich vertrauen? Teil 1 der Trilogie

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Man kann sich nicht von der Lektüre losreißen

Freu mich auf Teil 2
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Dem Feuer die Seele

Drei Kronen Saga 1

Jo Schneider

Copyright © 2019 by

Drachenmond Verlag GmbH

Auf der Weide 6

50354 Hürth

http: www.drachenmond.de

E-Mail: [email protected]

Lektorat: Stephan R. Bellem

Korrektorat: Michaela Retetzki

Layout: Michelle N. Weber

Umschlagdesign: Alexander Kopainski

Bildmaterial: Shutterstock

ISBN 978-3-95991-487-1

Alle Rechte vorbehalten

Für Mrs Nish und die Pelztaube

Weil in jedes Buch ein wenig Katze gehört

Inhalt

Einleitung

1. Ein Gipfel voller Antworten

2. Die Reise ins Land der Zitronenanbeter

3. Wildnis

4. Von einem Unglück ins nächste

5. Obsydian

6. Der kalte König

7. Flammen, die verschlingen

8. Unter Wölfen

9. Funken

10. Die Weltenesche

11. Angriff und Verteidigung

12. Siegeshungrig

13. Sei schnell, sei gerissen

14. Nachtluft

15. Ein wogendes Meer aus Macht

16. Die Lehrstunde des Königs

17. Ein Spiel mit dem Feuer

18. Die zwei Gesichter des Königs

19. Para’Quenla

20. Die Wahl

21. Dem Feuer die Seele

22. Zerbrechlich und zart

23. Gefährliche Schatten

24. Die wahre Kriegerin

25. Verrat

26. Dünnes Eis

27. Die Walküre

28. Auf den zweiten Blick

29. Die Geschichten vom Tod

30. Geisterjagd

31. In letzter Sekunde

32. Die Wellen in uns

33. Der Rote Berg

34. Das Stück des Grauens

35. Blut und Eis

36. Winter und Sommer

37. Ein ungebetener Gast

38. Der Vogel, der aus dem Käfig floh

39. Der besiegte König

Glossar

Danksagung

Dem Feuer geschenkt sei die wildeste Seele.

In einem Käfig aus Gold wird sie die Freiheit begehren.

Zerreißt sie die Ketten, entfesselt sie Weltenbrände.

Als letzte bringt sie das Lied des Schicksals zu Ende.

Erst dann wird ihre ewige Flamme den Himmel verzehren

1

Ein Gipfel voller Antworten

Hier bist du.«

Ich hob den Kopf und blickte in Khouans gebräuntes Gesicht.

»Schon nervös?«

Nachdenklich widmete ich mich wieder den rotgoldenen Schmetterlingen, die in einem Tanz in der Luft herumwirbelten.

»Nein«, murmelte ich. »Ich kann nicht anders.«

»Du weißt, dass es die größte Dummheit deines Lebens sein wird«, redete Khouan auf mich ein.

Ich schnaubte. »Jaja. Ich ahnungslose, naive Prinzessin.«

»Du bist nicht naiv, Ciara. Aber du bist nun mal keine Kriegerin. Ich weiß, dass man dich gelehrt hat, wie man einen Dolch hält, aber kannst du auch zustechen, wenn es darauf ankommt?«, entgegnete er mit einer leichten Note von Sorge in der Stimme.

Es verbitterte mich, dass ich es immer wieder zu hören bekam - ja, ich war keine Kriegerin. Ich würde vermutlich auch nie eine sein. Ich war eine Diplomatin des Königshauses, die älteste Prinzessin und ich trug meine Krone mit Würde. Und am besten noch mit dem nötigen Anstand, aber dafür konnte ich nicht immer garantieren.

Aber ich konnte einfach nicht akzeptieren, dass das alles war. Ich könnte so viel mehr sein als eine junge Frau, die die Handelsbeziehungen des Hofes jede Woche aufs Neue mit irgendwelchen garstigen Kaufleuten ausfocht. Mehr als die schöne Dekoration eines strahlenden Königreiches, das ohnehin zu viel Prunk besaß, um sich noch mit mehr Glanz zu rühmen.

Und darum hatte ich vor genau acht Tagen beschlossen, mein Schicksal selbst in die Hand zu nehmen.

Ich würde fliehen. Würde den Palast hinter mir lassen und in die Wildheit von Arkasia vordringen. Allein. Wie eine echte Entdeckerin.

Tatsächlich war dies nicht mein einziger Gedanke, mein einziger Grund, der mich trieb, meine Heimat zu verlassen. Wann immer mir genau dies jedoch durch den Kopf ging, fühlte ich nichts als Schmerz und Angst – um mein Leben. Also ballte ich die Fäuste und zwang mich, an etwas anderes zu denken. So auch jetzt.

»Ciara?« Khouans Stimme drang nur schwerlich zu mir durch.

Ich drehte den Kopf. »Hm. Ja, was?«

Er schenkte mir ein schwaches Lächeln. »Weichst du mir absichtlich aus?«

»Nein. Ich habe nur nichts mehr zu sagen. Morgen ist der Tag, an dem ich mich ins Ungewisse stürze. Und ich könnte nicht froher darum sein. Kannst du dir denn etwas Aufregenderes vorstellen, Khouan? Kannst du das?«

Khouan war der Sohn eines angesehenen Kaufmanns und gleichzeitig auch mein bester Freund. Auch er kannte nicht viele Freiheiten und daher hatte ich gehofft, er würde mich verstehen.

»Ich habe einfach Angst um dich«, erklärte er offen.

»Danke, das weiß ich zu schätzen. Aber nach acht Tagen kannst du es auch mal gut sein lassen.«

Khouan schenkte mir ein Grinsen. »Du Viper.«

Sein Spitzname für mich. Ich war eine Schlange mit leuchtenden Augen, die zubiss, wenn man ihr zu nahe kam. Für jede andere Frau wäre es wohl eine Beleidigung gewesen, doch mein liebstes Tier war tatsächlich die Regenbogenviper, die sich außerhalb unserer dicken Stadtmauern in den Dünen finden ließ. Ein schillerndes, anmutiges Tier, dessen Schuppen in allen Farben dieser Welt leuchteten.

»Der Plan steht fest. Ich werde mich morgen früh auf eine der Kutschen schmuggeln, die bis zur Grenze der Jahreszeiten fahren. Dann werde ich von dort aus die Straße zum Meer entlangwandern. Ein Kaufmannssohn wird mich mit seinem Schiff weiter in die graue Heide mitnehmen. Ab da schlage ich mich dann allein durch, bewege mich immer am Meer entlang, bis ich die ersten Ausläufer des kalten Kamms erreiche.«

»Wenn du bis dahin nicht von Schwarzeisspähern gefangen genommen wurdest«, ergänzte Khouan. »Überhaupt – ich will gar nicht wissen, was du mit einem Kaufmannssohn angestellt hast, dass er dich bis zur grauen Heide fährt. Wer aus unseren Reihen handelt denn bitte mit diesen Wilden?«

»Ich habe nichts mit ihm angestellt«, entgegnete ich aufbrausend. »Ich habe ihm nur ein wenig Gold versprochen.«

»Und viel zu viel davon. Dein Vater wird nicht begeistert sein, wenn seine halbe Schatzkammer fehlt.«

»Ach, jetzt übertreib nicht so. Du sagst doch selbst immer: Warum im Dunkeln Staub ansetzen lassen, wenn es im Tageslicht funkeln könnte?«

»Um Himmels willen, Ciara«, seufzte Khouan, als ich statt einer Antwort lediglich die Arme verschränkte.

»Um Himmels willen, Khouan«, entgegnete ich wie so oft.

Er lachte. Es klang nervös. »Ich schätze, dann muss ich mich heute Abend von dir verabschieden.«

Erst jetzt wurde diese Tatsache zu einer inneren Gewissheit für mich. Prompt fühlte ich mich schlecht.

»Danke«, sagte ich mit gedämpfter Stimme. »Dass du dir all das anhörst und mich trotzdem gehen lässt.«

»Ich habe keine Wahl. Du hast deinen eigenen Kopf. Du würdest mich umrennen wie ein Stier, würde ich mich dir in den Weg stellen. Denn, Ciara, wir wissen alle, dass du die Härteste von euch drei Königskindern bist. Deine Geschwister sind Gold und Silber, aber du … du bist Stahl, Ciara. Nicht geschärfter, aber starker Stahl.«

Khouan und ich hatten uns lange umarmt, als er mich vom Schmetterlingshaus zurück zu meinem Zimmer begleitet hatte. Danach hatte ich ein letztes Mal mein Reisegepäck überprüft, das in einem Rucksack in den Tiefen meines Kleiderschranks verstaut war. Auch meine Kleidung für den morgigen Tag lag schon bereit – Reithosen und ein lockeres Hemd, feste Stiefel sowie ein Tuch, das ich mir um den Kopf wickeln konnte, um mein Gesicht vor fremden Blicken zu schützen. Das Allerwichtigste waren jedoch die beiden magischen Sanduhren, die ich ebenfalls aus der königlichen Schatzkammer gestohlen hatte – alte Artefakte, die ihren Träger mit dem Schutz der Unsichtbarkeit versahen. Mit ihnen wäre ich in der Lage, mich inmitten des feindlichen Territoriums ungesehen zu bewegen. Sie waren das Herzstück meines Plans.

Ich war bereit. Bereit für alles, was kommen würde.

Nur dass der Schlaf eben etwas war, das nicht kam. Wie so oft wälzte ich mich in meinem Bett herum, spürte die weiche Seide und sah das Mondlicht beruhigende Flecken an meinen Baldachin werfen. Doch es nützte nichts, den trägen Wirbeln zuzusehen, meine Träume blieben fern.

Jedenfalls die, die voll von Ruhe und Friedfertigkeit waren.

Immer öfter handelten meine nächtlichen Visionen von Feuer und Verderben. Von Eis und Untergang. Von Gift und Tod. Ich hörte Schreie. Schmerzenslaute und Hilferufe. Und oftmals war ich selbst unter den Leidenden. Doch ich verstand nicht, was da vor sich ging. Jedes Mal wollte ich an mir hinabblicken, weil ich glaubte, mit meinem Körper wäre etwas nicht in Ordnung. Aber ich vermochte einfach nicht den Kopf zu heben. Irgendetwas entzog mir die Kontrolle.

Oft wachte ich keuchend auf, das Gesicht vor Schmerz verzerrt, den ich eigentlich gar nicht fühlte und der doch da war. Meist brannte es in meinem Mund wie Feuer, die Kehle schien rau und ätzend, so als hätte ich glühende Kohlen geschluckt.

Niemand wusste eine Erklärung. Keiner kannte eine Heilung. Meine beiden Großmütter waren die obersten Weissagerinnen des Königreiches. Sie hatten in meinen Händen gelesen, hatten Strähnen meines Haars im wissenden Feuer unserer Ahnen verbrannt. Aber nichts hatte ihnen eine Antwort geliefert. Als wäre da eine Dunkelheit, die mich und meinen Schlaf umgab.

Und so hatten sie nur gesagt: »Die Antwort liegt dort verborgen, wo das Licht so hell strahlt, dass jede Dunkelheit vertrieben wird. Nur da wird man dich lesen können, Kind.«

Ich hatte sie gefragt, was für ein Ort das sei.

Sie hatten mir keine Antwort darauf gegeben und so hatte ich angefangen, sie in Büchern zu suchen. Es hatte lange gedauert, viel zu lange, bis ich fündig geworden war. Gleichzeitig hatte ich allerdings eine Erklärung für die Zurückhaltung meiner Großmütter gefunden.

Es gab einen Ort auf dieser Welt, wo das Licht die Erde berührte. Es handelte sich um den höchsten Gipfel des kalten Kamms – der eisigen Gebirgskette des Ostens, die sich einmal um das gesamte Winterreich wand.

Feindesland. Hier regierten die Kinder des Winters. Herrschten von ihrer uneinnehmbaren Festung aus – der Winterstadt Obsydian.

Man sagte, der Mond berühre ihren höchsten Gipfel. Schließlich war es ihr Reich, das dem Mond ohnehin näherstand. Unseres wurde dagegen jeden Tag von der Sonne geküsst. Oder eher verbrannt, wenn es nach einer schlecht gelaunten Ciara ging.

Ja, es gab Tage, da hasste ich diese stete trockene Hitze, die durch die Luft flimmerte und mir binnen weniger Minuten den Mund ausdörrte. Es war eine Hitze, in der man nicht mehr wirklich schwitzte, sondern schlichtweg mit der Zeit dahinsiechte. Zumindest in den beiden heißesten Monaten des Jahres.

Ich wusste um mein Ziel. Sicher, es war purer Wahnsinn. Aber es ging nicht allein um eine Antwort. Denn ja, wenn ich noch ein paar Monate länger jede Nacht zu leiden hätte, würde ich gewiss wüten wie ein echter Drache. Zu einem großen Teil ging es auch darum, mich loszusagen.

Beide Fliegen mit einer Klappe zu schlagen, war nur ein glücklicher Zufall.

Dachte ich jedenfalls.

Stöhnend warf ich mich auf die Seite, spähte durchs große Quarzglasfenster hinaus auf den klaren Sternenhimmel, der die Menschen von Nova Libra in den Schlaf holte.

Sie alle.

Nur mich nicht.

2

Die Reise ins Land der Zitronenanbeter

Die Welt lag noch in Dunkelheit gehüllt, als ich mich aus dem Palast davonstahl. Auf leisen Sohlen schlich ich durch die kunstvollen, duftenden Gärten, vorbei an den Wachen, deren Positionen und Routen mir mittlerweile in Fleisch und Blut übergangen waren. Und das nicht erst seit gestern.

Junge Prinzessinnen kannten ihre Mittel und Wege, unbemerkt von einem Ort zum anderen zu kommen. Die jugendliche Rebellion gebot es so.

Trotz allem konnte ich es kaum fassen, als ich über einen der drei großen Marktplätze huschte und merkte, dass mir niemand auf den Fersen zu sein schien. Das Tuch ließ nur mehr meine Augen frei und so konnte ich mich ganz unerkannt durch die langsam wachsende Menge bewegen. Die Sonne ging inzwischen auf und die ersten Bürger machten sich an die Arbeit. Ich dagegen fühlte allmählich die Angst, die sich in Form eines kalten Knotens in meinem Magen zusammenballte. Ein wenig Sehnsucht mischte sich hinzu, als ich den Duft von frischen Orangen vernahm.

Dort, wo ich hingehen würde, gab es keine Orangen. Dort gab es rein gar nichts, was Nova Libra, meine Heimat, ausmachte. Nur Schnee, Eis und vielleicht sogar der Tod. Für den Bruchteil einer Sekunde zweifelte ich, für dieses Abenteuer bereit zu sein, besann mich dann aber eines Besseren und lief weiter.

Es dauerte nicht lang, bis ich zu einem der vielen Kutschplätze vorgedrungen war, mir dann jenen Wagen aussuchte, dessen Plane die Zollnummer fünfzehn trug. Der Zeitpunkt, die erste Sanduhr umzudrehen, war gekommen. So nützlich ihr magiedurchdrungener Sand auch war, so sparsam musste man damit umgehen, denn mit jeder Umdrehung verflüchtigten sich einige der kleinen Körner – die Dauer der Unsichtbarkeit wurde von Mal zu Mal kürzer.

Im Inneren des Wagens angekommen, versteckte ich mich hinter der letzten Kiste. Mein Plan ging auf und ich wurde prompt übersehen, als der Händler, dem die Kutsche wohl gehörte, einen Blick auf seine Waren warf, ehe er den Befehl gab aufzubrechen.

Ich hatte drei Tage zuvor unauffällig einen Blick auf die Listen geworfen, die jede Woche vom Zoll angefertigt wurden, um den Warentransport sowie die angemeldeten Routen zu dokumentieren. Ich wusste über jede der hundertelf Kutschen Bescheid, die am heutigen Tage die Stadt verließen. Jene mit der Nummer fünfzehn war das Gefährt meiner Wahl. Sie würde mich zur goldenen Mitte des Kontinents bringen – einer Gegend, die man die Grenze der Jahreszeiten nannte.

Während die westliche Hälfte des Kontinents vom Sommer gesegnet war, war die östliche ganz und gar vom Winter vereinnahmt. Beginnend von der Grenze verlängerten sich die entsprechenden Jahreszeiten zusehends, bis sie schließlich in den jeweiligen Hauptstädten beinahe das ganze Jahr über das Land beehrten.

Oder aber im Griff hatten. Diese Ansicht lag wohl im persönlichen Ermessen. Doch wer wollte schon im ewigen Winter leben? Nur Tiere. Wilde und Tiere. Das behauptete jedenfalls mein Vater, der Sommerkönig von Nova Libra.

Ich presste die Lippen zusammen, als ich daran dachte, wie er wohl zürnen würde, wenn er von meinem Verschwinden erfuhr. Gewiss würde er Suchtrupps entsenden. Dabei hatte ich ihm eine kurze Notiz hinterlassen, die eindeutig klarmachte, dass ich aus freien Stücken gegangen war und aller Wahrscheinlichkeit nach zurückkehren würde.

Beim letzten Teil war ich mir nicht ganz sicher, doch ich hoffte es sehr.

Seufzend lehnte ich meinen Kopf gegen eine Kiste, verzog jedoch kurz darauf das Gesicht, als ein Rumpeln sie mir gegen den Schädel hämmerte.

Das würde noch eine sehr lange Reise werden.

Es dauerte vier Tage, bis wir die Grenze der Jahreszeiten erreichten und noch einmal fünf, bis ich endlich am Meer angekommen war. Wann immer es nötig war, drehte ich eine meiner Sanduhren um.

Vollkommen gerädert und stetig gähnend trat ich an den Pier und ließ meine Blicke schweifen. Etliche Knochen knackten, als ich mich einmal in jede Richtung neigte, um meine geschundenen Muskeln ein wenig zu dehnen. Zudem machten mir die kleinen Blasen an meinen Füßen allmählich zu schaffen. Trotzdem biss ich die Zähne zusammen. Ich hatte es bis hierher geschafft, ich würde jetzt nicht einknicken.

Also versuchte ich in meinem Kopf all die guten Dinge aufzuzählen, die ich bereits erfahren hatte: Ich hatte echtes Gras gesehen, hatte sauberen Regen geschmeckt und unter den Sternen geruht. Außerdem bedeutete wenig zu schlafen, dass meine Albträume fernblieben.

Ich stemmte meine Hände in die Hüften und versuchte mich an einem Lächeln. Das Gute wog das Schlechte auf. So gesehen war die Reise bisher erfolgreich verlaufen.

»Na, auf der Suche nach etwas Bestimmtem?«, wurde ich von einem übel riechenden Kerl angesprochen. Ihm fehlte ein Schneidezahn, was seinem breiten Grinsen jedoch keinen Abbruch tat. »Du machst einen sehr hilflosen Eindruck«, ergänzte er, als ich nichts anderes tat, als ihn finster anzustarren.

»Da musst du dich wohl verguckt haben.«

»Ach ja? Passiert mir eigentlich nie«, entgegnete er mit leuchtenden Augen.

»Manchmal treffen meine Dolche nicht ihr Ziel und schlitzen unnötig andere Körperteile auf. Passiert mir aber eigentlich auch nie.«

»Hm. Spielverderberin«, brummte der Kerl und verengte die Augen. Dann zog er ab.

Ich versuchte mir nicht anmerken zu lassen, wie sehr mein Herz gerade gegen meine Brust hämmerte. Ich konnte von Glück sagen, dass meine grimmigen Worte offenbar ausgereicht hatten, um ihn zu vertreiben. Er hätte bestimmt Tränen gelacht, hätte ich tatsächlich meinen Dolch zücken müssen. Ich würde ja nicht einmal einen Baumstamm richtig treffen, würde es darauf ankommen.

Mit schwachen Beinen lief ich an den vielen Stegen entlang und fand schließlich das, wonach ich gesucht hatte – das Schiff, das mich zur grauen Heide bringen würde. Der junge Händlersohn erkannte mich nicht, da ich mein Gesicht wieder hinter dem dunkelroten Tuch versteckte. Ich hatte ihm vor einiger Zeit einen Brief zukommen lassen, in dem ich ihm eine großzügige Summe versprach, wenn er eine Freundin außer Landes brachte. Er stellte nicht viele Fragen, als ich ihm einen kurzen Schrieb entgegenhielt, den ich selbst angefertigt hatte. Sowohl meine Unterschrift als auch ein königliches Siegel prangten darauf.

Mehr brauchte er nicht, dann ließ er mich auf das Schiff.

Wir segelten keine Stunde später los.

Obwohl ich anfangs gedacht hatte, dass es wohl nichts Schlimmeres als einen auszehrenden Fußmarsch gäbe, wurde ich nun eines Besseren belehrt. Das stete Schaukeln des Schiffs im Wellengang brachte meinen Magen zum Bersten. Ständig hob ich mir die Hand vor den Mund und betete zum Himmel, dass das wenige Essen, was ich mir am Morgen einverleibt hatte, auch drinbleiben möge. Mein Kopf wurde von Schwindel heimgesucht und in meinen Handflächen sammelte sich kalter Schweiß.

Wenn ich nicht gerade gegen meine eigene Verdauung kämpfte, hörte ich mit halbem Ohr zu, was die Männer des Schiffs so von sich gaben. Meist drehte es sich um unflätige Dinge, einmal aber sprachen sie von den Bewohnern der grauen Heide. Den Wilden. Berserker, die mit ihren massigen Waffen die zu groß geratene Fauna ihrer Heimat zu Fall brachten. Von riesigen Mammuts war die Rede. Ebenso von Tigern mit Zähnen so lang wie Kinderarme.

Es gab jedoch niemanden, der mehr für Zitronen zahlte als ebendiese Barbarben. Es war ein Witz, den niemand verstand. Zwei Pfund für hundertdreißig Goldstücke! Um Himmels willen, was stellten sie damit an? Spießten sie die Früchte auf und beschworen die Dämonen der Unterwelt? Man wusste es nicht. Aber eigentlich war es auch egal, solange der Handel florierte. Auch wenn es ein Handel mit dem Feind war. Doch was sollten sie schon ausrichten mit ein paar mickrigen Zitrusfrüchten. Sollten sie sie horten und anbeten, wenn es ihre Friedlichkeit gegenüber dem Sommerreich garantierte.

Und das tat es offenbar.

»… du bist?«, riss mich eine Stimme aus der fragilen Ruhe, die ich gerade in mir geschaffen hatte während all der Plaudereien zwischen den Männern. Unvermittelt wurde mir wieder übel.

Ich hob den Blick und entdeckte einen Mann mit tiefen Falten im Gesicht. Dabei schien er noch gar nicht so alt. »Nur eine Reisende.«

Er verschränkte die Arme. »Aha. Eine von den Geheimnisvollen. Na, dann viel Glück.«

»Wohin genau solls denn gehen?«, mischte sich jedoch ein anderer ein, der uns offenbar gehört hatte.

Als ich nicht antwortete, meinte der erste, ältere: »Vielleicht wurde sie ja von einem der Zitronenfresser gezeugt und will jetzt herausfinden, was das Schicksal für sie bereithält.«

»Ja. Richtig. Ich muss wissen, ob es mir genügen wird, meinen Brotlaib nur anzusäuern, oder ob ich ihn lieber mit dem Blut meiner Feinde tränken sollte, wie Wilde das gern tun, wenn ihnen die Zitronen ausgehen«, gab ich dunkel zurück.

Der Mann lachte schallend. Sein jüngerer Genosse zog dagegen angewidert die Brauen zusammen.

Damit war alles gesagt.

Wenn die Grenze der Jahreszeiten mir schon kalt erschienen war, dann war die graue Heide der Hort des Winters. Dabei fiel hier gar kein Schnee – noch nicht. Irgendwo am Horizont ließen sich bereits die weißen Gipfel des kalten Kamms erahnen.

Mein Ziel.

»Dann viel Glück bei der Suche nach deinem Vater«, meinte der ältere Mann, der die vergangenen Tage mit mir gescherzt und gezankt hatte. Inzwischen wusste ich, dass man ihn Blixa rief. Er schenkte mir ein wenig seines Dörrfleisches und hob zum Abschied die Hand, als ich das Schiff verließ.

Die Häfen des Ostens waren anders als jene des Sommerreiches. Sie waren weniger prunkvoll, statt mit Holz, arbeitete man hier mit großen, schweren Flusssteinen, die man zu einem langen Pier aufgeschichtet hatte. Starke, in dunkle Kluft gewandete Männer kamen herbei, um all die Zitronenkisten auszuladen. Sie wirkten grimmig und misstrauisch, dennoch beachtete kein einziger von ihnen die dürre Gestalt, die an ihnen vorbeilief. Irgendwann sprang ich in eine kleine Gasse, drehte eine meiner Sanduhren um, befestigte sie an meinem Gürtel und eilte dann weiter.

Vorsicht war besser als Nachsicht. Wer konnte schon sagen, wie weit ich kommen würde, wenn ich einfach schnurstracks durch diese Lande marschierte? Inzwischen fiel ich in meiner bunten Kleidung viel zu sehr auf, wenngleich ich mir nur dunkle Farben ausgesucht hatte, wie sie im Winterreich üblich waren.

Trotz meiner Unsichtbarkeit kam ich nicht umhin, mich immer wieder umzusehen. Ich war noch nie in den Winterlanden gewesen. Ihre spitzen Bauten aus Holz und Stroh erschienen mir so fremd – sie wirkten so schlicht und schmucklos im Gegensatz zu den kunstvoll verzierten Gebäuen in Nova Libra. Die Frisuren der Wintermenschen waren wild und zerzaust und selbst die Kinder trugen schon Zähne und Knochen als Schmuck um den Hals.

Trotzdem spielten sie genau dieselben Spiele wie die Kinder des Sommerreiches – Fangen, Verstecken, Die-dritte-Hand-gewinnt; ja, auch hier gab es Messer, Stein und Papier.

Seltsam. Und doch zauberte es mir ein Lächeln auf die Lippen.

3

Wildnis

Nach einer Weile hatte ich das Dorf hinter mir gelassen. Nun führte mein Weg immer nahe am Ufer entlang. Irgendwann hatte ich die Zivilisation verlassen und ließ vom Strand aus die Blicke über die weiten, hügellosen Ebenen schweifen, die mit nichts außer dünnem grauen Gras und dornigen Büschen bedeckt waren. Und tatsächlich – irgendwann begegnete ich ihnen, den Mammuts. Wesen groß wie Häuser. Ihre langen dichten Haare erinnerten mich an die die eines Bären. Sie alle besaßen weißgelbe, glatte Stoßzähne, die bei ausreichendem Schwung gewiss einen Baum durchbohren könnten. Trotz ihrer eindrucksvollen Gestalt erschienen sie jedoch sanft und friedlich. Sie zupften an den Büschen herum, steckten sie sich einfach mit ihren langen Rüsseln ins Maul. Ich fragte mich, ob ihr Mund aus Eisen bestand. Wie sonst könnten sie diese Dornen einfach zermalmen?

Das Meer war hier im Gegensatz zu der schillernden Gestalt, die es in meiner Heimat besaß, ein grauer, träger Ozean, der sich mit beständigen Wellen über das Ufer schob. Muschelstücke und feuchtes Geäst fanden sich am Strand, wohl angespült von fernen Gegenden.

Meine Schritte knirschten im Sand, der mehr und mehr die Farbe verlor, je näher ich dem Gebirge kam.

Die Nächte waren bitterkalt. Wieder glaubte ich vor Angst zu vergehen. Ich hatte mich unter einem zusammengetragenen Haufen von kahlen Ästen eingerollt; einen besseren Schutz hatte ich nicht finden können. Ein Feuer wäre zudem unklug, wer konnte schon wissen, ob die Barbaren nicht auch nachts durch ihre Ländereien streiften.

Irgendwann wurde die gesamte Szenerie in ein silbrig blaues Licht getaucht, das mich die Augen öffnen ließ. Ich drehte mich um und hielt den Atem an. Da war er. Der Mond. In all seiner Herrlichkeit, die ich so nie gekannt hatte. Er war groß wie die Sonne; eine anmutige, edle Scheibe am blauschwarzen Nachthimmel. Und mit ihm leuchteten die zahllosen Sterne wie Kerzen in einer unendlichen See.

Wieder fand ich nur für kurze Zeit in den Schlaf. Doch dieses Mal war es mir egal.

Allmählich gingen mir die Vorräte aus. Der Weg in die Berge zog sich länger als erwartet. Ich konnte von Glück reden, dass ich in meiner Jugend Pflanzenkunde nicht ganz so sehr gehasst hatte wie die meisten anderen Fächer, so konnte ich immerhin ein paar Beeren zusammensuchen, von denen ich mir sicher war, dass sie mich nicht vergiften würden. Zudem hatte ich vor Betreten des Schiffs noch Nachschub gekauft, doch selbst der war schwer zur Neige gegangen.

Mittlerweile war mir ganz flau im Magen. Müde schleppte ich mich durchs Gras der Ebene, das trotz der Kälte immer dichter zu werden schien. Irgendwann verwandelte sich mein Atem in dünne Wölkchen vor meinem Gesicht.

Ich glaubte schon nicht mehr an mein Glück, da sah ich ihn. Einen Apfelbaum. Wie ein Geschenk der weit entfernten Sonne. Gelobt sei ihre nie endende Kraft!

Gerade als ich lossprinten wollte, besann ich mich jedoch eines Besseren. Ausgiebig sah ich mich um, doch außer ein paar zotteligen Mammuts war nichts zu sehen. Es machte mich stutzig, dass ich während meiner bisherigen Reise noch keinem einzigen Raubtier begegnet war.

Die Luft schien rein zu sein und so wagte ich mich vorwärts. Ein schwacher Wind brachte das Laub zum Rascheln. Die Äpfel waren klein, aber es waren genügend da, um mich für eine Weile zu ernähren.

Die Äste hingen zu hoch und der Baum war zu glatt, um daran emporzuklettern. Also balancierte ich auf einem großen Stein, streckte mich, so weit ich konnte, um das Obst zu erreichen. Währenddessen gab ich ein selbstmitleidiges Seufzen von mir. Eine Prinzessin, die sich in der Wildnis traurige kleine Äpfel vom Baum pflückt, um nicht den Hungertod zu erleiden. Inzwischen war meine Kleidung so verschmutzt, dass man das königliche Blut in mir bestimmt in Zweifel gezogen hätte.

Meine Finger berührten gerade den ersten Apfel, als mein Magen ein so lautes Geräusch erzeugte, das mich glatt zusammenzucken ließ. Mit einem Mal war der Wind verschwunden, da war nur noch trügerische Stille über der Ebene.

Ich war diejenige, die sie brach. Erneut. Mit einem Schrei.

Eine wendige und dennoch muskulöse Kreatur, einer Katze nicht unähnlich, jagte aus dem hohen Gras. Ihr Fell war von diversen Grautönen, die sie perfekt mit der Umgebung verschmelzen ließen, wären da nicht die funkelnden grünen Augen gewesen. Das Maul war gespickt mit messerscharfen Zähnen, aber weitaus mehr Angst bereiteten mir die zwei langen Fänge, die bis über das pelzige Kinn hinausragten.

In meiner Panik stolperte ich, fiel kreischend vom glatten Stein hinab auf das dichte, kratzige Gras. Für einen Moment sah ich nur kleine Sternchen vor den Augen, dann rollte ich mich herum und robbte keuchend über den Untergrund. Eine heftige Erschütterung verriet mir, dass das Monster einen Satz gemacht haben musste. Ein bösartiges Knurren ließ mich aufwimmern.

Tränen standen mir in den Augen, als ich mich vom Boden abstieß und anfing zu laufen. Hinter mir ertönte ein Fauchen.

»He!«, brüllte jemand. »Leg dich hin! Lauf nicht weg!«

Mir war schleierhaft, wieso ich diesem Befehl folgte. Es war purer Wahnsinn. Dennoch warf ich mich der Länge nach hin und flüsterte ein fahriges Gebet an das ewige Feuer.

Zunächst vernahm ich nur das wilde Rascheln des Grases. Erst als ich mich umdrehte, sah ich die massige Katze unmittelbar vor mir. Ihr Maul war bedrohlich weit aufgerissen, sie setzte bereits zum Sprung an. Wer auch immer mir diese idiotische Anweisung gegeben hatte, hatte nun mein Todesurteil besiegelt.

Ich hielt den Atem an.

Und stieß ihn schockiert durch die zusammengebissenen Zähne, als der Kopf des Tieres zur Seite flog und seine Beine nachgaben. Schwer und dumpf schlug es auf der Erde auf. Erst da wurde sichtbar, dass ein Pfeil aus seinem Ohr ragte. Die Zunge glitt über die Zähne, Speichel tropfte auf einen Grashalm. Der Körper verlor jegliche Spannung und lag letztlich still.

Es dauerte, ehe ich meine Muskeln wieder unter Kontrolle hatte. Zitternd setzte ich mich auf und rang nach Luft. Mein Blick wanderte hinüber zu der einsamen Gestalt, die unweit des Apfelbaumes stand.

Es war ein Mann. Seine Kleidung war schlicht und zweckmäßig, womöglich die eines Jägers. In der Hand hielt er einen mit Federn verzierten Bogen. Tiefe Falten lagen auf seiner Stirn, während er mich betrachtete.

Es dämmerte mir, wenn auch viel zu spät. Er konnte mich sehen, mich und meine für dieses Reich untypische Kleidung. Ich hatte mich hier draußen in der Wildnis in Sicherheit gewiegt und das Tuch von meinem Mund gezogen, um besser atmen zu können. Ein fataler Fehler, war meine Hautfarbe doch weitaus dunkler als seine und verriet mich somit als Eindringling aus dem Sommerreich.

Der Jäger, von dem ich vermutete, dass er genau wie die Raubkatze still und leise im hohen Gras auf der Lauer gelegen hatte, kam näher. »Du bist nicht von hier«, rief er mir zu.

Panik ließ meinen Puls erneut in die Höhe schnellen. Instinktiv tastete ich nach meiner Sanduhr – und zischte auf, als ein scharfer Schmerz meine Finger heimsuchte. Hastig blickte ich an mir hinab. Unzählige kleine Scherben bedeckten meine Hose. Eine kleine Menge roter Sand lag auf der Erde, wirkte wie ein Klecks Farbe, der nicht in diese Szenerie passen wollte. Kalte Klauen, bestehend aus Angst und Verzweiflung, trieben sich in meinen Verstand, als die Körner sich nach und nach in feinen Rauch auflösten.

Der Jäger kam näher. Fieberhaft begann ich, meinen Gürtel nach der anderen Sanduhr abzusuchen. Ich dankte dem Himmel und der Sonne gleichermaßen, als ich sie in der Falte meines Umhangs fand. Sie war intakt, wenngleich der Sand darin sich stark verringert hatte. Ohne weiter darüber nachzudenken, presste ich meine Finger in die gerillten Mulden und drehte die Sanduhr um.

Die Miene des Jägers erstarrte, als ich vor seinen Augen verschwand. Irritiert sah er sich um.

Ich hielt mir eine Hand vor den Mund, während ich mich aufrappelte und davonhumpelte. Erst jetzt, wo der Schock des ersten Angriffs anfing nachzulassen, bemerkte ich den Riss in meinem Ärmel und das Blut, das dahinter zum Vorschein kam. Ich musste mich irgendwo geschnitten haben, an einem Stein, wie es aussah. Alles pochte, überall klebte Dreck. Doch fürs Erste hatte ich keine Zeit, mich darum zu kümmern. Ich musste weg. Nur weg.

Mit Mühe und Not hatte ich die Berge erreicht.

Inzwischen ging es mir schlechter. Zwar hatte ich ein paar Beeren finden können, doch sie hatten nicht einmal ansatzweise ausgereicht, um meinen Hunger zu stillen. Meine Wunde hatte ich notgedrungen mit Meerwasser gesäubert, was mich wiederum fast hatte ohnmächtig werden lassen. Es war ein brennender Schmerz gewesen, den ich in meinem ganzen Leben noch nicht kennengelernt hatte. Mittlerweile hatte ich den Schnitt mit einem Tuch verbunden. Immer wieder traten kleine Mengen Blut aus, was mir ernsthafte Sorgen bereitete. Ich hatte keine Ahnung von Heilkräutern oder Verbänden, konnte also nur hoffen, dass mein Körper das von selbst regelte. Ab und zu presste ich etwas Schnee dagegen, was die Qual ein wenig linderte.

Das dritte Mal in meinem Leben sah ich ihn, den Schnee. Fünf Jahre war es her, dass meine Geschwister und ich unseren Vater zur Grenze der Jahreszeiten begleitet hatten. Meine kleine Schwester war vor Freude beinahe zerlaufen, als sie im dichten Winterweiß herumgetollt war wie ein wilder Welpe. Mein Bruder hatte sogar einen Schneeball auf sie geworfen.

Aber diese Zeit schien auf einmal Ewigkeiten her zu sein. Damals hatte unser Vater mehr Güte im Herzen gehabt, mehr Geduld. Heute war er oftmals ein nachdenklicher, strenger Mann, der den gehäuften Meldungen über irgendwelche Angriffe der Wilden mit einem tiefen Stirnrunzeln beiwohnte.

Der Hass zwischen dem Winterreich und dem Sommerreich schwelte schon lange. Aber in den letzten Jahren schien immer mehr davon an die Oberfläche zu dringen. Allerdings waren es immer die Wilden, die angriffen. Meist überfielen sie Händlerzüge, die sich nahe der Grenze der Jahreszeiten bewegten. Oft fingen sie auch Handelsschiffe ab, die von anderen Kontinenten zu uns kamen.

Manchmal töteten sie auch um des Tötens willen.

Eigentlich sollte es mir Bauchschmerzen bereiten, hier zu sein. Eigentlich sollten mir die Knie schlottern bei dem bloßen Gedanken, jederzeit auf die blutrünstigsten ihrer Krieger zu treffen. Bei den Wilden gab es keine Ordnung. Sie taten, was sie wollten. Wann sie es wollten.

Dennoch bahnte ich mir mutig einen Weg. Je weiter ich kam, desto tiefer wurde der Schnee unter meinen Stiefeln. Bald glaubte ich, an Ort und Stelle festzufrieren, wenn ich mir nur genug Zeit ließ. Die Steigung des Berges ließ mich keuchen. Meine einzige Motivation war dieser entsetzlich hohe Gipfel in der Ferne, um den sich die grauen Wolken drängten. Ich vermochte nicht einmal sein Ende zu sehen.

Dort lag mein Ziel.

Ein heftiges Seitenstechen zwang mich schlussendlich zu einer Pause, in der ich mir an den Kopf greifen und mich selbst für wahnsinnig erklären konnte.

Niemals würde ich es bis dorthin schaffen. Noch war ich in der Lage, mich von Rinde und kargen Beerensträuchern ernähren, aber bald wäre auch das vorbei, wenn ich mir die gewaltige Eiswüste so ansah, die noch vor mir lag. Und wer konnte schon sagen, was dort auf mich lauerte?

Ich pustete warmen Atem in meine Hände, die ich mittlerweile in zwei dunkle Tücher gewickelt hatte, um sie vor dieser immer schlimmer werdenden Kälte zu schützen.

Erst jetzt fiel mir auf, wie müde ich doch war. Die vergangenen Wochen hatte ich mit Albträumen zugebracht und nun hielt mich die Angst vor einem fremden Land des Nachts in Atem. So oder so – lange würde ich nicht mehr überdauern, besser ich entschied mich schnell, ob ich wirklich vorhatte, diesen Berg zu besteigen, oder ob ich lieber umdrehte, zum Sommerreich zurückkehrte, mich dort von einem Händler nach Nova Libra zurückbringen, behandeln und den heftigen Tadel meines Vaters über mich ergehen ließ.

Doch weiter als bis zu diesen Überlegungen kam ich nicht. Denn plötzlich vernahmen meine bald abgefrorenen Ohren ein neues Geräusch.

Es waren Stimmen.

4

Von einem Unglück ins nächste

Hastig wirbelte ich herum, suchte mit den Blicken nach fremden Gestalten. Noch konnte ich sie nicht sehen, aber sie waren eindeutig in der Nähe. Und bis jetzt schienen sie allesamt Männer zu sein.

Geradezu panisch warf ich meinen Umhang beiseite und suchte nach der Sanduhr. Blitzschnell drehte ich sie herum und verschwand vor den Augen der Welt ins scheinbare Nichts.

Und auf einmal sah ich sie.

Es waren fünf an der Zahl. Bewaffnete Krieger in Gewandungen aus dunklem, verstärktem Leder, das mir eigentlich viel zu dürftig erschien für diese entsetzlichen Temperaturen. Sie trugen Umhänge, jedoch keinerlei Reisegepäck. Handelte es sich etwa um eine Patrouille?

Ich erstarrte zur Salzsäule, als sie immer näher kamen. Plötzlich stieß einer jedoch den Arm zur Seite, woraufhin alle anderen stehen blieben.

»Seht«, sagte der Mann, der sie aufgehalten hatte. Er war jung, besaß dunkles Haar und einen forschenden Blick. Mit schmalen Augen deutete er auf den Boden.

»Spuren«, murmelte ein anderer.

»Ja. Aber nicht von einem der unseren«, entgegnete der Dunkelhaarige.

»Stimmt. Dieses Schuhwerk muss ja erbärmlich sein«, pflichtete der Nächste bei.

Ich bekam es mit der Angst zu tun, als der Dunkelhaarige den Kopf hob und den Blick schweifen ließ.

Mir lief ein Schauer den Rücken hinunter, als er meinen traf, mich allerdings nicht bemerkte.

Langsam begannen sie sich umzusehen, einer führte sogar schon den Griff zu dem kurzen Schwert, das an seinem Gürtel hing. Alle anderen trugen ihres auf dem Rücken. Lange, Furcht einflößende Waffen, die mir binnen einer einzigen Sekunde den Kopf von den Schultern säbeln könnten.

Der Dunkelhaarige ging an meinen Spuren entlang. Die Angst verleitete mich zu einer wagemutigen Dummheit – ich stieg auf den großen Stein, der neben mir im Schnee lag. Der Schnee auf seiner dunklen Oberfläche musste wohl über den Tag geschmolzen sein, wodurch keinerlei Spuren von mir zu sehen waren. Ich betete, dass es reichen mochte, um diese Wilden davon abzuhalten, mich aufzuspüren.

Langsam wie ein Raubtier schlich der Dunkelhaarige durch den Schnee, hatte meine Spuren stets im Blick. Schließlich stand er vor dem Stein, wo die Fußstapfen auf magische Weise einfach endeten. Seine Augen verengten sich zu Schlitzen, als er den Blick wandern ließ.

»Und?«, fragte einer seiner Gefährten.

Der Dunkelhaarige hob den Kopf. »Irgendetwas stimmt hier nicht.«

Mein Herz pochte so laut, dass ich fürchtete, er würde es hören.

Aber das tat er nicht. Einen schier unerträglich langen Moment schaute er mir direkt ins Gesicht, dann wandte er sich ab. »Vielleicht eine Magierin. Oder aber ein Magier mit sehr kleinen Füßen«, sagte er mit einer Stimme, die genauso frostig war wie der Berg selbst.

»Hier entlang.«

Er machte eine knappe Geste, woraufhin die anderem ihm widerstandslos zu folgen begannen.

Lange noch starrte ich ihnen hinterher, ehe ich mich von meinem Stein wagte. Mein ganzer Körper zitterte wie Espenlaub, während ich mich mit großen Schritten davonmachte.

So haarscharf war ich noch nie an einer Katastrophe vorbeigeschrammt.

Die Nacht brach beängstigend schnell über die Berge herein. Ich kauerte mich so eng zusammen, wie ich nur konnte. Ich bereute es, keine Decken oder Ähnliches im Dorf geklaut zu haben. Mir klapperten die Zähne, ich konnte meine Zehen nicht mehr spüren und die Erschöpfung war beinahe bodenlos. Mein Arm war weiter angeschwollen, die Haut um die Wunde bedrohlich rot. Zudem war er von einer sich langsam ausbreitenden Schwäche befallen worden, die ebenfalls an meinen Nerven zehrte.

Ich hatte ihn nicht zu Ende durchdacht. Meinen Plan. Offenbar war ich doch die naive kleine Prinzessin, die jeder in mir sah. Und es hatte ein kläglich in die Realität umgesetztes Hirngespinst gebraucht, um mir das begreiflich zu machen.

Noch war mein Wille allerdings nicht vollends gebrochen. Nicht nur die Hoffnung auf Erlösung war es, die mich antrieb, auch die Angst trieb mich jeden Tag an meine Grenzen. Ich kannte das Gefühl, dem Tod ins Auge zu sehen, und das nicht erst seit gestern. Ein weiterer Grund, der mich dazu bewogen hatte, Nova Libra wirklich zu verlassen und zu dieser Entscheidung zu stehen. Mein Überleben war pures Glück gewesen, aber es hatte mich dennoch wachgerüttelt. Mir war klar geworden, dass ich nicht den Rest meines Lebens in Angst und Qual leben wollte.

Trotzdem war da diese Frage in mir – hatte ich mich übernommen?

Mir fielen allmählich die Augen zu, je länger ich vor mich hin bibberte. Schlussendlich erwachte ich nach kurzer Zeit mit dem Gesicht auf meinen Knien, schreckte hoch, als ich ein unheilvolles Geräusch vernahm.

Es war ein Stöhnen, gefolgt von einem schweren Schritt. Irgendetwas schleifte über den Boden. Und es war schwer. Sehr schwer.

Hastig drehte ich die Uhr, dann spähte ich mit aufgerissenen Augen in die monderleuchtete Nacht.

Und tatsächlich – da war ein großer Schemen. Groß wie ein Baum, massiv wie ein Fels. Er besaß zwei dicke Arme, mit einer Hand hielt er etwas Großes umklammert.

Einen Ast?

Auf einmal trat er in den Schein des Mondes. Erst da erkannte ich, dass es sich um eine Keule handelte. Eine riesige, vermaledeite Keule.

Silbernes Licht schien auf den kahlen Kopf des Wesens, seine gesamte Haut war rau, beinahe rissig. Die Farbe war nicht eindeutig zu bestimmen. Vielleicht grau? Aber eigentlich spielte es keine Rolle, denn dieses Monstrum kam genau auf mich zu, mit seinem wankenden Schritt.

Wieder stöhnte es vor sich hin. Dabei wirkte es keineswegs leidend. Das eine kugelrunde Auge, das ihm im Schädel saß, blinzelte in langsamem Rhythmus. Der Mund stand ein wenig offen.

Sein Schritt war kräftig wie das Hämmern eines Schmieds auf den Amboss. Jedes Mal erzitterte ich aufs Neue, umschlang meine Beine fester und fester. Sollte ich vielleicht besser wegrennen? Bei der glühenden Sonne, ich wusste es nicht!

Doch ich hatte keine Wahl, als das Untier im Begriff war, mich zu zerstampfen. Hastig warf ich mich zur Seite, konnte aber nicht verhindern, dass mir ein schriller Aufschrei aus der Kehle drang.

Sofort blieb das Monster stehen, drehte sich langsam um. Ein fragendes Dröhnen kam aus seinem Bauch. Sein trübes Auge suchte nach etwas, das es mit seinem Blick fixieren konnte. Als es nichts fand, kam das Untier langsam näher, marschierte wieder direkt auf mich zu. Noch immer auf dem Boden liegend wich ich zurück, strampelte mit den Beinen über den kalten Schnee, der mir gerade mit seiner Kälte die Hände zerbiss.

Das leise Brummen des Monsters endete abrupt, als sein hektischer Blick einfach kein Ziel zu finden wusste. Ein wütendes Grollen drang in diesem Moment aus seiner Kehle. Dann fing es an zu schnuppern.

Ich erstarrte.

Die Sanduhr konnte vielleicht meine Gestalt verbergen, aber meinen Geruch ganz sicher nicht.

Das Monstrum riss urplötzlich das Auge auf, fing an zu brüllen und schmetterte seine Keule durch die Luft. Schreiend rollte ich mich herum, kam endlich auf die Beine und sprang davon. Der mächtige Einschlag der Keule zwang mich jedoch nur eine Sekunde später wieder in die Knie. Das Biest hinter mir tobte.

Keulenschlag um Keulenschlag donnerte auf die Erde, als es versuchte, mich zu erschlagen. Dazwischen immer wieder hastiges Schnüffeln in der Luft. Ich versuchte zu fliehen, doch ein ums andere Mal musste ich stolpern, wenn die Wucht des Einschlags mich erfasste.

Plötzlich veränderte sich etwas. Denn außer dem Schnauben des Monsters waren da auf einmal Stimmen.

Ich kannte sie.

Wimmernd hob ich den Kopf und erkannte die fünfköpfige Patrouille wieder, die mir beinahe auf die Schliche gekommen war. Nun standen sie alle da, mit ihren im Mondschein glitzernden Klingen. Der Dunkelhaarige war offenbar ihr Anführer, denn erst als er den Befehl zum Angriff gab, stürmten sie alle zusammen los.

Das Monster brüllte sie an – so laut, dass ich dachte, der Berg würde zerbersten. Wutentbrannt schwang es seine Keule herum, doch der erste Winterkrieger tauchte einfach darunter hinweg, der zweite wich geschickt aus und der dritte stand bereits nahe genug, um einen Hieb auf das ungeschützte Bein der Kreatur auszuführen.

Ein grausiges Heulen erschütterte die Nacht.

Der Dunkelhaarige erschien hinter dem Monstrum, zog seine Klinge einmal über dessen krummen Rücken. Die Haut erschien zwar dick wie Rinde, doch das Schwert schnitt durch sie hindurch, als wäre sie aus Butter.

Mehr Schmerzensschreie folterten meine Ohren. Trotzdem rappelte ich mich auf, sprintete hinüber zu dem knorrigen Baum, unter dem ich vorgehabt hatte zu ruhen, und schlug meine Nägel in das Holz. Tränen traten mir in die Augen, während ich mich unter großer Mühe Stück für Stück nach oben zog. Mein Arm drohte unter dem brüllenden Schmerz in meiner Schulter nachzugeben. Erschöpft erreichte ich letztlich einen schiefen, tief sitzenden Ast und hievte mich nach oben. Und von da an immer höher, während unter mir das ungezügelte Chaos tobte.

Die fünf Männer arbeiteten wie eine einzige Einheit. Jeder Schritt schien geplant, jeder Hieb wirkte abgestimmt. Gemeinsam zwangen sie das Monster in die Knie, aber selbst das reichte nicht aus, um es wehrlos zu machen. Zornig fauchend schlug es mit der Keule um sich, erwischte sogar fast einen der Krieger, wäre der nicht von seinem Gefährten zur Seite gerempelt worden.

»Laas?«, fragte einer der Männer und richtete sich an den Dunkelhaarigen.

»Eure Majestät wird nicht erfreut sein, wenn wir einen Wächterzyklopen erschlagen«, meinte ein anderer, als die Kreatur für einen Augenblick innehielt, um nach Atem zu ringen.

»Der hier ist beinahe blind, er taugt ohnehin nicht mehr viel«, meinte der Dunkelhaarige – Laas.

»Auf Euer Wort«, brummte der Älteste der Runde.

Dann trieben sie alle im exakt selben Moment die Schwerter in den massigen Leib hinein. Das Monster gab ein letztes Gurgeln von sich, dann fiel die Keule mit einem lauten Rumms aus seiner Hand. Die Krieger sprangen zurück, als der tote Körper zu Boden fiel. Ich hatte Mühe, mich auf meinem Ast zu halten, so sehr wurde die Erde unter mir erschüttert.

»Was hat ihn so in Aufruhr versetzt?«, wollte ein jüngerer Krieger wissen.

Laas’ Blicke wanderten bereits über den Kampfschauplatz. Schließlich fand er meinen dunklen Rucksack, der an einer wuchernden Wurzel des Baumes lehnte. »Ich denke, er war unserem Eindringling auf der Spur.«

Der Mond leuchtete mir gleißend ins Gesicht, als Laas den Kopf in den Nacken legte und am Baum entlangspähte. Ich war tief erleichtert, dass er mich aufgrund der Sanduhr nicht sehen würde. Nicht auszudenken …

Auf einmal kamen meine Hände zum Vorschein. Zwei fast erfrorene Pfoten, eingewickelt in durchgeschwitzten Stoff. Und mit ihrem Erscheinen begann auch der Rest meines Körpers sichtbar zu werden.

Das letzte Sandkorn war gerieselt. Das rote Schillern im Glas war beinahe aufgebraucht.

»Verdammt!«, zischte ich.

»Da hätten wir ja unseren mysteriösen Gast«, hörte ich Laas’ kühle Stimme unter mir.

»Ich bin kein Gast!«, schleuderte ich ihm entgegen. Mir wurde übel. Da war ich nun. Ein kleines dummes Mädchen, das dachte, es würde es einmal weit bringen. Und nun? Nun saß ich hier auf einem Baum, betete, nicht herunterzufallen – direkt in die Arme des Feindes.

»Stimmt. Du bist ein Eindringling in unserem Reich. Ich vermute ja mal stark, dass jemand mit derlei Kleidung aus dem Westen stammt.«

Obwohl meine Sachen vor Dreck starrten, war hier und da noch etwas von der bunten Farbe der Stoffe zu erkennen. Ich fluchte lautlos.

»Komm runter«, forderte Laas.

»Hättest du wohl gern.«

Der Krieger trat näher an den Baum heran, die Brauen zusammengezogen, als sein Blick sich verdunkelte. »Große Töne für eine einfache Streicherin.«

Er hielt mich für eine … heimatlose Irrende? Nun legte ich all mein verbliebenes Feuer in meinen Blick hinein.

Und spuckte ihn an.

Gerade so konnte er noch ausweichen.

»Rag, hol sie da runter«, befahl er einem seiner Männer.

Es war ein eher wendiger, schlanker Kerl, der sich plötzlich am Baum zu schaffen machte. Mühelos kletterte er zu mir nach oben. Ich wich immer weiter zurück, zückte schließlich meinen Dolch.

»Steck das Ding weg, du verletzt dich nur selbst«, höhnte Rag, der so viele Narben im Gesicht trug, dass ich mir gar nicht vorstellen mochte, wie viele Gegner er schon in seinem Leben erschlagen hatte.

Ich aber dachte nicht daran, klein beizugeben. Ich rutschte weiter über den Ast, den Dolch vor meinen Körper gehalten. Rag kam mir dennoch ein Stück entgegen, dann runzelte er die Stirn.

Es knackte. Ich schrie. Letztendlich fiel ich hinab.

Ich erwartete einen harten Aufprall, doch er war weitaus weicher als erwartet. Die Luft wurde mir unsanft aus der Lunge gedrückt, aber das war schon alles. Ich wühlte mich unter einer Schneedecke hervor, kam aber nicht sonderlich weit, denn plötzlich wurde ich gepackt und auf die Beine gerissen.

Irgendjemand zischte.

»Magie«, knurrte es hinter mir. Laas.

Ich fauchte, als er mir die schwächlich funkelnde Sanduhr vom Gürtel riss. Er wirbelte mich herum, sodass ich direkt in sein finsteres Gesicht starrte.

»Was ist das?«, fragte er mich und hielt das verkratzte Glas in die Höhe.

»Eine Sanduhr«, entgegnete ich hinter zusammengebissenen Zähnen. Die Wunde meines Arms schien abermals aufgerissen zu sein, ich fühlte, wie warmes Blut über meine Haut rann. Trotz des Schmerzes, der mir eine solche Übelkeit verursachte, dass ich mich am liebsten übergeben hätte, hielt ich mich aufrecht.

»Sehr witzig. So wie es leuchtet, scheint es keine gewöhnliche Uhr zu sein«, gab er zurück. »Bist du eine Magierin?«

»Wohl kaum, dann hätte Nannon sie nicht eben retten müssen«, höhnte Rag, der mittlerweile vom Baum gesprungen war.

Retten? Ich warf einen Blick über meine Schulter. Hm. Dieser große Schneeberg war vor meinem Fall noch nicht da gewesen. Hatte ihn etwa irgendjemand hergezaubert? Möglich wäre es. Es war ja gemeinhin bekannt, dass es unter den Wilden auch einige Magier gab.

»Antworte!«, fuhr Laas mich an.

»Die Sonnenanbeter tragen doch alle Zeichen im Nacken, die verraten, was sie sind. Gucken wir doch einfach nach«, brummte der Ältere unter ihnen.

Laas’ Mundwinkel zuckte, dann wurde ich von seinen groben Händen gepackt und umgedreht. Ich wollte mich wehren, doch in diesen Kriegerknochen steckte einfach zu viel Kraft. Ohne große Mühe zog er mir das Tuch aus dem Nacken. Eisige Luft brandete gegen meine Haut, ließ mich erschaudern.

»Ha«, machte Laas. »Sieh sich das einer an.«

Ich verfluchte ihn. Ihn und seine verdammte Truppe.

Unsanft wurde ich wieder herumgerissen. »Was macht ein Mitglied des Königshauses von Nova Libra hier im kalten Kamm?«, fragte Laas mit einer hochgezogenen Braue, die eindeutig der dunklen Erheiterung in seinem Gesicht zugeschrieben werden konnte.

Ich sagte nichts, presste nur voller Wut die Lippen zusammen.

»Vielleicht bist du ja nach ein paar Tagen in einer dunklen Zelle gesprächiger, Sonnenkriecher.«

Und auf einmal konnte ich mich nicht mehr beherrschen. Ich holte aus und donnerte meine Faust mitten in seine dämliche Visage – zumindest wollte ich es. Blitzschnell fing er den Schlag ab und packte meine Kehle. Jäh gab ich ein ersticktes Röcheln von mir, meine Augen wurden groß.

»Fesselt sie«, entschied Laas mit funkelnden Augen, die die Farbe von tintenschwarzer Nacht besaßen.

»Dann bringen wir sie zum König.«

5

Obsydian

Der Winterkönig. Eine kalte, unbarmherzige Kreatur, die mit unvergleichlicher Härte über das Reich des Winters regierte. Mein Volk verabscheute ihn mit aller Inbrunst, ihn und seine blutlüsternen Schergen. Er war nur der Gipfel all der Grausamkeiten, die sie den Unschuldigen dort draußen antaten. Dazu zählten auch seine eigenen Leute. Nicht selten hörte man, wie auch Bauern des Winterreiches abgeschlachtet wurden, nur weil diese sich dem Willen der Winterkrone widersetzten.

Und nun sollte ich ihm vor die Füße geworfen werden wie eine Beute, die man erjagt hatte? Als wäre er ein gieriger Wolf. Und ich nur ein ganz besonderer Leckerbissen.

Die Reise nach Obsydian, der Hauptstadt des Winterreiches, dauerte gut drei Tage. Drei Tage, in denen ich mehrmals glaubte, dem Kältetod nahe zu sein. Laas und seine Männer versorgten mich nur mit dem Nötigsten. Mein Arm wurde von Neuem verbunden, aber das war auch schon alles, was sie mir zugutekommen ließen. Scheinbar war es ihnen egal, in was für einem Zustand ich vor ihr Oberhaupt trat, solange noch ein letzter Lebensfunke in mir währte.

Ab und zu versuchte mich Nannon, der Jüngste der Truppe, auszufragen. Ich konnte nicht ganz einschätzen, ob es ehrliche Neugier war oder aber die Hoffnung, sich über irgendetwas lustig machen zu können, war doch er stets derjenige, den der Spott der Gruppe traf. Dabei schien er der einzige Magier unter ihnen zu sein. Es wunderte mich, dass er nicht mit mehr Respekt behandelt wurde. In meiner Heimat waren Magiekundige hoch angesehene Leute.

Ich selbst verfügte, wie alle anderen Mitglieder des Königshauses, über Magie. Doch niemand hatte mich darin geschult und so war sie zu einem winzigen Lichtlein verkommen, das in mir schlummerte. Ich hatte vergessen, wie man sie rief und erst recht keine Ahnung, wie man sie sinnvoll einsetzte. Das letzte Mal war vierzehn Jahre her. Und da hatte ich mich beinahe selbst umgebracht, woraufhin mir jegliches Wirken der Magie verboten worden war. Meine Mutter hatte fast erleichtert gewirkt, sie war ohnehin der Ansicht, dass eine Prinzessin sich lieber ungefährlicheren Dingen zuwenden sollte, anstatt Flammenwirbel und Feuerkugeln zu beschwören. Auch die Weisen rund um meinen Vater herum hatten es für besser gehalten, mich niemals in dieser Kunst zu schulen. So gesehen war es mir wohl nie bestimmt gewesen, eine echte Feuermagierin zu werden.

Der kalte Kamm forderte harte Tribute von mir. Ich hatte Mühe, einen Schritt vor den anderen zu setzen, als wir irgendwann an einer Schlucht vorbeiliefen, die wohl bis in den Mittelpunkt der Erde hinabreichen musste, so bedrohlich dunkel mutete sie an. Allmählich war mir schwummrig vor Augen und ich hatte Sorge, nicht mehr richtig geradeaus gehen zu können. Meine Angst wurde jedoch von der Ehrfurcht getilgt, als ich am gegenüberliegenden Ende einen Berg erkannte, auf dem sich ein dunkelgraues Haus an das andere reihte. Eine Mauer wand sich unter ihnen entlang. Unterhalb des Gipfels war ein Gebäude in den Fels gehauen worden, das im schwachen Schein der Wintersonne eigenartig silbern funkelte und schillerte, als wäre es von gläserner Beschaffenheit.

»Das ist der Palast«, erklärte Nannon, als er meinen schmalen Blick bemerkte.

»Dich werden wir aber erst mal unter die Erde stecken«, sagte Laas, der wie immer an der Spitze der Truppe lief.

»Euer König muss in Euch wahrhaftig die Erfüllung seiner Träume sehen«, zischte ich ihm zu.

»Bitte was?«

Ich schnaubte. »Ihr könnt Bitte sagen? Oh, was für eine Überraschung.« Laas sandte mir einen bösen Blick über die Schulter. »Ihr fletscht doch ständig die Zähne und blickt grimmig durch die Gegend. Das gefällt Eurem König sicher«, konkretisierte ich meine vorigen Worte.

»Ihr habt ja offenbar viel Ahnung vom Winterkönig«, murmelte Rag.

Die hatte ich nicht. Aber ich konnte mir kaum vorstellen, dass er ein verspieltes, sanftmütiges Wesen war. Nein. Inmitten dieser Barbaren – die sich zwar zivilisierter ausdrücken konnten als erwartet – musste man selbst hart sein wie ein Fels, scharf wie eine Klinge. Andernfalls würde man von der Meute einfach überrannt, über die man zu herrschen versuchte.

»Ach, lasst sie doch in Ruhe. Sie ist noch ein närrisches Balg. Seht ihr das nicht?«, kam es von dem älteren Kerl, dessen Name in all der Zeit nie genannt worden war. Vielleicht hatte er keinen.

»Stimmt. Es ist schwer zu glauben, dass jemand in Eurem Alter tatsächlich noch so dumm sein kann und sich mitten ins Herz des Feindes begibt«, meinte Laas.

»Andererseits beginnt man sich zu fragen, ob der König des Sommers vielleicht gar grausamer ist als der des Winters«, schloss Rag sich an. »Vielleicht hat er sie ja gequält und gedemütigt.«

Für einen Moment überlegte ich, mich auf ihn zu werfen. Der Stoß würde ausreichen, um ihn über die Kante und damit in die lechzende Tiefe zu befördern. Vielleicht würde ich mit ihm fallen, aber das wäre es wohl wert gewesen.

Laas trug ein wissendes Lächeln im Gesicht. »Da sagt sie nichts mehr.«

»Soll die Sonne dir die Haut von den Knochen brennen«, knurrte ich ihn an.

»Die Sonne hat in diesem Reich keine Macht«, kam es unmittelbar zurück.

So schwach und lieblich, wie ihre Strahlen uns gerade erreichten, stimmte das wohl.

Wir überquerten eine Brücke, die einmal über die gesamte Schlucht gespannt worden war. Danach liefen wir an besetzten Türmen und Wachposten vorbei, die uns mit Argusaugen beobachteten. Auch am Stadttor wurde ich regelrecht von Blicken durchbohrt.

Unser Weg führte uns offenbar willkürlich gewundene Straßen entlang. Alle waren sie mit dunklen Pflastersteinen gesetzt. Gleiches galt für die Häuser; auch hier war nur dunkelgrauer Stein verarbeitet worden, die Dächer waren sogar meist tiefschwarz. Hier und da hingen massive Eiszapfen unterhalb der Traufen. Groß genug, um einem Menschen mühelos den Schädel zu durchbohren.

Wir arbeiteten uns den Berg hinauf. Allmählich wurden die Häuser weniger, die Mauern dafür dicker und besser bewacht. Schließlich standen wir vor einem gewaltigen Gebäude, das mir Nannon als den Palast beschrieb.

»Trottel, sie wird ja wohl wissen, was das ist. Das verzogene Ding wird vermutlich jeden ihrer bisherigen Tage in Samt und Seide gewickelt unter dem Dach ihres eigenen Palastes gelebt haben«, murrte Rag.

Bis auf meine gelegentlichen Ausflüge zu den Kontoren der jeweiligen Händler hatte ich tatsächlich nie viel von der Welt außerhalb des Palastes gesehen. Meinem Vater war es lieber, wenn ich in seiner Nähe war und ich fügte mich diesem Wunsch.

Doch das würde ich niemals vor diesen Wilden zugeben. Vermutlich wälzten sie sich jeden Tag im Schlamm und jagten sich ihre Mahlzeiten ausschließlich selbst, ganz gleich, ob Tag oder Nacht.

Das Innere des Palastes mutete weitaus größer an als gedacht. Die Decken waren entsetzlich hoch und die Wände waren aus einem seltsam gemaserten dunkelblauen Stein gefertigt. Säulen ragten an ihnen empor, trugen mehrere Leuchter auf einmal, die angenehmes Licht in diese Hallen fluten ließen. Zudem war es hier recht still. Gerade gab es nur den Widerhall unserer stetigen Schritte, ansonsten hüllte sich das Gebäude in eisiges Schweigen.

»Wartet hier«, befahl Laas, als wir zwei gegenüberliegende Türen erreichten. Er verschwand hinter einer davon, kehrte auch nicht so schnell wieder.

»Wohin gehen wir jetzt?«, fragte ich, als mir das Schweigen unerträglich wurde.

»Du kommst in eine Zelle. Was ich mache, weiß ich noch nicht. Vielleicht ein Bier trinken«, murmelte Rag, der mit verschränkten Armen an der Wand lehnte.

Ich knirschte mit den Zähnen. »Ich dachte, ich sollte vor euren ach so großen König treten.«

»Der König hat viel zu tun. Seine Audienzzeit ist außerdem sehr begrenzt, da spielt es auch keine Rolle, ob du eine feine Prinzessin oder ein mittelloses Bauernmädchen bist«, meinte der ältere Krieger.

Was für ein aufgeblasener Hahn musste dieser Mann doch sein.

Auf einmal tauchte Laas wieder auf. Er warf Rag einen Schlüssel zu. »Zweihundertsieben«, sagte er nur, dann verschwand er einfach hinter genau jener Ecke, aus der wir erst gekommen waren.

»Also dann, Prinzessin. Hier entlang«, meinte Rag fast schon desinteressiert und ließ mich von dem älteren Krieger durch die andere Tür schieben, die es hier noch gab. Dahinter lag eine Wendeltreppe verborgen, die in die Tiefe führte.

Ich runzelte die Stirn, als ich mich hinter Rag die Stufen hinabkämpfte. Nannon folgte uns. »Das Gefängnis liegt unterhalb des Palastes? Ergötzt sich euer König etwa an den Klagerufen?«

»Nein, hier werden nur all die gefährlichen Kriminellen untergebracht, deren Magie unter Kontrolle gehalten werden muss, damit sie nicht die Stadt gefährdet. Diese Aufgabe übernimmt unser König persönlich.«

»Ach, und ich bin etwa eine dieser gefährlichen Kriminellen?«

Rag schnaubte. »Nicht im Entferntesten. Du kriegst nur eine Sonderbehandlung. Die Zellen hier sind stockdunkel und bitterlich kalt. Das wird dir gefallen.«

Ich fragte mich, was mit mir geschehen würde, sollte ich einfach innehalten und ihm meinen Fuß in den Rücken donnern, verwarf den Gedanken aber rasch wieder.

Irgendwann erreichten wir einen Gang, der kein Ende zu nehmen schien. Immer wieder waren riesige Löcher in die Wand gegraben und mit Eisenstäben versehen. Ich konnte kaum etwas sehen, denn der Schein der kleinen Laterne, die Rag am Ende der Treppe an sich genommen hatte, reichte kaum aus, um einen Fuß sicher vor den anderen setzen zu können. Hin und wieder drang ein leises Raunen aus den einzelnen Zellen, aber das war auch meist alles.

Nach einer Weile hielten wir an. Rag führte den Schlüssel an die Eisenstäbe eines Lochs heran, das offenbar mein neues Zuhause werden würde, und ich konnte mit einem Staunen beobachten, wie sie sich einfach in Luft auflösten. Kleine, bläuliche Lichtwirbel tanzten daraufhin vor unserer Nase herum, verglommen irgendwann in der Dunkelheit.

Magie.

»Genug geglotzt. Rein da.« Rag packte mich grob am Arm und schubste mich in das Loch. Gerade so konnte ich mich abfangen und prallte gegen eine raue, feuchte Wand, die einen ekelhaften Schleim auf meinen Fingern hinterließ.

»Bis dann«, kam es von Nannon, der als Einziger einen mitleidsvollen Blick für mich übrighatte, als sich die Eisenstäbe wie durch Zauberhand wieder in Boden und Decke stemmten. Prompt zog ihm der ältere Krieger die flache Hand über den Hinterkopf. Dann entfernte sich die Truppe mit leisem Gebrummel und die Dunkelheit kehrte in den Untergrund zurück.

Stille. Kälte. Einsamkeit.

Da war für lange Zeit nur mein eigener Atem sowie der Schmerz in meinem Arm und sonst nichts. Ich konnte nicht einmal mehr die eigene Hand vor Augen sehen. Unsicher sank ich hinab und schlang die Arme um meine angewinkelten Beine. Irgendwo fiel ein Tropfen zu Boden.

Wieder. Und wieder. Und wieder.

Erschöpft wollte ich schon mein Gesicht an meinen Knien vergraben, als urplötzlich ein kleines weißes Licht erschien, das durch den Gang schwebte. Direkt in meine Zelle hinein. Ich beobachtete seinen Flug, verzog skeptisch das Gesicht, als ich auf einmal eine Stimme vernahm.

»Ein Neuling«, raunte sie. Klang dabei melodisch und dennoch rau, fast schon schabend.

Ich spähte in die gegenüberliegende Zelle, wo ein weiteres Licht erschienen war. Im nächsten Moment legten sich zwei dunkle Hände um die dortigen Eisenstäbe. Doch es waren nicht die eines Menschen, sondern die eines Monsters. Lang waren sie und behaart, am Ende der Finger saßen scharfe Krallen, die ein unangenehmes Klackern auf dem Metall erzeugten.

Und dann schob sich eine Schnauze durch die Stäbe. Gebleckte, messerscharfe Fänge kamen zum Vorschein, feucht glitzerten sie im Schein des Lichts. Grelle grüne Augen glommen dahinter auf.

»Wer bist du?«, fragte das Wesen und schnüffelte.

Ich blieb, wo ich war. Angst bahnte sich bereits einen Weg durch meinen Körper, ließ meine ohnehin geschundenen Muskeln nur noch weiter verhärten.

»Ich bin … Ciara«, antwortete ich zaghaft.

Ein Geräusch, das wohl einem Gurren hätte ähnlich sein können, entkam dem gefährlichen Maul der Kreatur. Es klang erheitert. »Ein Mädchen.«

Ich wartete ab. Sagte nichts.

»Ich bin Vizla.«

»Auch ein Mädchen?«, fragte ich. Ich hatte keine Ahnung. Diese Kreatur hatte mehr etwas von einem Wolf als von einem Menschen. Eine Mischung aus beiden, würde ich behaupten, aber der Großteil ihres Körpers lag noch im Verborgenen.

Sie lachte. »Nein. Ich bin weder das eine noch das andere.«

»Was bist du dann?«

Das Licht begann um mich herumzuschwirren, als wollte es mich kennenlernen.

»Manche nennen mich Kaltfresser. Oder Totengräber«, verriet mir die Kreatur.

Ich traute mich nicht zu fragen, was genau das hieß. Doch ich ahnte bereits etwas.

»Ciara«, summte das Wesen, »warum bist du hier?«

»Ich wurde gefangen genommen.«