Die letzten Zeilen der Nacht - Jo Schneider - E-Book

Die letzten Zeilen der Nacht E-Book

Jo Schneider

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Beschreibung

Geschichten sind die Worte unseres Herzens, geschrieben mit der Tinte unserer Fantasie, geformt von der Feder unseres Verstands. Eine gefeierte Poetin zu sein, das ist Saizas größter Traum. Doch als Frau scheint sie niemand in ihrer Welt tatsächlich ernst zu nehmen. Niemand, bis auf der mysteriöse gelbäugige Mann, der in dem verwunschenen Wald hinter ihrem Haus lebt und von ihren Worten verzaubert wird. Ein Mann, der bei Mondschein die Seelen junger Frauen stiehlt und von allen gefürchtet wird. Ein Mann, bekannt als Gott der Spinnen. Als Gottjäger schließlich drohen, ihren einzigen Vertrauten zu ermorden, trifft Saiza eine verhängnisvolle Entscheidung, die alles verändern wird ...

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Die letzten Zeilen der Nacht

Jo Schneider

Copyright © 2018 by

Drachenmond Verlag GmbH

Auf der Weide 6

50354 Hürth

http: www.drachenmond.de

E-Mail: [email protected]

Lektorat: Lillith Korn

Korrektorat: Michaela Retetzki

Layout: Michelle N. Weber

Umschlagdesign: Alexander Kopainski

Bildmaterial: Shutterstock

ISBN 978-3-95991-428-4

Alle Rechte vorbehalten

Für alle Träumer, die die Worte dieser Welt im Herzen tragen.

Inhalt

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

Kapitel 38

Kapitel 39

Kapitel 40

Epilog

Danksagung

Über die Autorin

Wie soll sie sein?

Jung und schön. Lieblich und grazil.

Und ganz allein.

So wie sie aus dem Neste fiel.

Komm, sagt er zu ihr, nimmt sie bei der Hand.

Komm ins Reich der Nacht.

Reich sie mir als gold’nes Pfand.

Gib mir deiner Seele Macht.

Auf dass du ewig bleibst bei mir.

Und es doch niemals wird ein Wir.

Sondern nur ein Du.

Du ganz allein.

– Die Geliebte des Spinnenfürsten –

Kapitel 1

Vater«, begann ich, »ich fürchte um mein Wohl, wenn ich den Kopf in den Nacken lege.«

»Manche Dinge sollten nicht höher gebaut werden, als man die Hände strecken kann«, pflichtete meine Mutter mir bei.

Das Haus mutete an wie ein windschiefer Klotz, der zu einem Palast hätte geboren werden wollen, auf halber Strecke jedoch der harten Realität jener Zeiten entgegensehen musste, die mittlerweile herrschten. Verwittertes Holz zwischen abgetragenem Stein, dazwischen quadratische Löcher, denen das Wort »Fenster« nicht gerecht wurde. Das Dach eingedrückt vom alten Toben des Windes, ein Intermezzo aus Moos und Nistdreck durchbrach das verblasste Braun der Schindeln.

Mein Vater seufzte. »Könnte ich es, würde ich euch ein Schloss mit den bloßen Händen bauen. Aber womöglich würde es eines Tages ebenso über euch zusammenstürzen.«

Meine Mutter und ich schenkten ihm starre Blicke. Er stöhnte erschlagen, griff nach den vielen Säcken, die er für einen Moment auf den Boden gelegt hatte, um sich über die Stirn zu wischen. Zwar war es noch kühler Frühling, aber die Anstrengung hatte uns allen den Schweiß aus den Poren getrieben. Der Umzug hatte uns einiges abverlangt; drei Kutschen hatte es gebraucht, um uns hierherzubringen.

Nach Velkhain.

Ich hatte es zunächst bedauert. Ich hatte unsere kleine Hütte inmitten unseres alten Dorfes geliebt. Nichts war uns entgangen, keine Menschenseele war uns unbekannt gewesen. Schon dort war mein Vater unter dem Namen verrückter Kauz bekannt gewesen; ein kreativer Kopf, der doch zu oft die Realität aus den Augen verlor. Trotzdem liebten sie ihn. Man nannte ihn einen gütigen, sich kümmernden Mann, der keinem eine Bitte ausschlug. Er half, wo er nur konnte.

Doch irgendwann kam der Tag, an dem sich alles änderte. Ein reicher Fürst zog mit seinem Gefolge durch unsere Heimat. Alle mussten für einen Tag haltmachen, da die Achse einer jener schweren Kutschen sich verkantete, die ihn begleiteten. Ein wunderschönes Ding, wie mein Vater sagte.

Er reparierte es binnen einer einzigen Stunde.

Dabei blieb es nicht. Der Fürst folgte meinem Vater in unseren Schuppen, ließ sich erst von ihm alle Werkzeuge zeigen, die er gedachte, an diesem einzigartigen Meisterwerk zu benutzen, wie der edle Mann das Gefährt selbst nannte. Fast zwanzigtausend Darzen habe es gekostet. Eine Sonderanfertigung seines Meisterkonstrukteurs. Unerreicht. Sagenhaft. Pompös.

Während des aufgeblasenen Geschwafels, dem ich zu jenem Zeitpunkt unauffällig beigewohnt hatte, fiel dem Fürsten eine sonderbare Maschine zwischen all dem Gerümpel auf, das mein Vater hortete. Was es sei, fragte er.

Eine Buchdruckmaschine, so mein Vater.

Funktioniere sie?, wollte der Fürst wissen.

Wie ein Mühlrad, sagte Vater, schnell und unermüdlich.

Der Fürst ließ sie sich zeigen, frohlockte wie ein kleines Kind, als er seinen Namen auf dem Papier verewigt sah. In der Tat, meinte er, wahrlich flink.

Mein Vater erhielt ein Angebot, seine Maschine dem Fürstentum zu überlassen. Gegen eine großzügige Summe natürlich. Gleichzeitig wäre großes Interesse an seiner Person vorhanden, denn wer eine solche Wundermaschine erschaffen hatte, der konnte gewiss auch noch zwei weitere bauen. Oder zehn.

Meinem Vater stockte der Atem, steif schüttelte er die Hand des Fürsten. Währenddessen bekam meine ebenfalls anwesende Mutter große Augen.

Damit es war besiegelt. Der Fürst nahm die Maschine noch am selben Tag mit, entlohnte meinen Vater bis auf die letzte Darze. In zwei Wochen wolle man ihn auf dem Fürstenhof sehen. Dann könne man alles Weitere besprechen.

Und da waren wir nun. Eine halbe Wegstunde von Alvara entfernt, der großen Hauptstadt des Fürstentums, die Vaters Maschine jetzt ein neues Zuhause sein durfte. Ein Haus dort hatten wir uns nicht leisten können, nicht einmal mit dem Geld des Fürsten. Alvara schien ein ausgesprochener Hort des Adels zu sein, nur wenig ärmliche Bürger lebten dort. Dafür gab es viele Dörfer in jedweder Himmelsrichtung um die am Fuße eines Berges gelegene Stadt verteilt. So auch Velkhain, jene Siedlung, die nahe dem schimmernden Dunkelwald lag, des größten Waldes aller nördlichen Lande.

Nun stand ich vor ihm, betrachtete die Bäume mit den schwarzen Baumkronen, die wie finstere Soldaten in einer Reihe standen. Silbergraue Rinde umgab ihre geraden, hochgewachsenen Stämme. Feine Blumen in hellem, fast durchscheinendem Blau drängten sich in zarter Gemeinschaft an ihre Wurzeln, die gewunden schienen wie frisch geschmiedetes Eisen. Der Wind murmelte leise Geheimnisse in die dunklen Blätter, ließ sie wogen und tanzen, eines mit dem anderen.

»Saiza, träume nicht bei Tag, sonst sind deine Gedanken vollkommen still in der Nacht und du wirst vom kopflosen Reiter fortgeholt, wenn er es merkt!«

Ich zuckte zusammen und setzte eine entschuldigende Miene auf. Hastig begann ich ihr zu folgen. Ein kalter Schauer überkam mich, während ich hinter ihr durch den krummen Türbogen trat und mich in einer dunklen Stube wiederfand, die schwere Gerüche von Staub und Mäusedreck in sich gefangen hielt.

Mein Vater öffnete den Fensterladen, ließ frische Luft hineinströmen, welche all den matten Schmutz in die Luft wirbelte, der in diesem Gemäuer lag. Mutter seufzte. Das würde viel Arbeit werden.

»Verletze dich nicht, du Narr«, murrte meine Mutter, als mein Vater sich an die knarzende Treppe wagte, die in das nächste Stockwerk führte. Ich saß neben ihr, löffelte meine Suppe und beobachtete, wie er einen Fuß nach dem anderen auf das alte Holz setzte, lief, als würde er einen gefrorenen Bach überqueren wollen.

»Saiza!«, rief er oben angekommen. »Das musst du dir ansehen.«

Ich stellte meine Suppe auf den wackelnden Tisch, sprang auf und erklomm die steile Stiege. Mein Vater packte mich bei der Hand, zog mich zu sich, deutete in die entgegengesetzte Richtung. Wieder entdeckte ich ein geöffnetes Fenster, doch dieses Mal wand sich ein großer Ast daran vorbei – und auf ihm saß ein kleiner Vogel. Ein stolzes Rotkehlchen mit gerecktem Bäuchlein zwitscherte die schönste Arie in unsere Hütte, als wollte es uns in unserem neuen Heim begrüßen.

»Das, meine Liebe«, murmelte mein Vater leise, während ich vor Staunen nur noch lächeln konnte, »ist dein Zimmer.«

Kapitel 2

Ich war gerade dabei, einen Strauß duftenden Winterlavendels zu pflücken, der neben dem Küchenfenster wuchs, als eine Gruppe Fremder unvermittelt den dünnen Pfad entlanggetrottet kam, der von der ein Stück entfernt liegenden Handelsstraße zu unserem Haus führte. Ich hielt inne, schaute auf.

Es handelte sich um zwei Frauen und einen Mann. Vielleicht ein Paar und ihre Tochter? Der jüngeren Frau, die anscheinend demütig hinter den zweien herlief, lag ein schwaches Lächeln auf den Lippen.

»Ehrenwerte Iophissia«, begrüßte mich der Mann mit einem freundlichen Nicken.

Iophissia. Die hier wohl gegenwärtige Bezeichnung für junge, unverheiratete Frauen. Lange nicht mehr hatte ich dieses Wort gehört, nannte man Mädchen wie mich in meiner alten Heimat lediglich »Fräulein«.

Ich erwiderte den Gruß. »Was führt Euch an diesen Ort, mein Herr?«, fragte ich höflich.

Der Mann sah an mir vorbei. Seine Blicke wanderten unser marodes, windschiefes Haus entlang. »Nun, ist das nicht offensichtlich?«

Die ältere Frau machte einen Schritt zur Seite, sodass die jüngere vortreten konnte. Im Arm hielt sie einen Korb mit eingeschlagenem Brot, einem Strauß herrlich gelber Blumen und einer unsanft geformten Weinflasche.

»Mein Name ist Lored Egne. Ich wohne mit meiner Familie inmitten unserer blühenden Gemeinschaft in Velkhain«, stellte sich mir der Mann vor. Er deutete eine Verbeugung an, lichtete seinen Umhang und entblößte einen gewölbten Bauch.

»Dies ist meine Frau, Miralissia, und das dort meine Tochter, Eidala.«

Ich sank kurz herab und nickte ihnen zu. »Sehr erfreut, Herr Egne.« Das Kinn hebend, schaute ich ihm in die braunen Augen. »Lasst mich Euch meinen Vater vorstellen.«

Ich ging voraus, öffnete die Tür und rief nach ihm. Mir selbst war es nicht erlaubt, mich allein vorzustellen, sofern er sich in der Nähe befand.

Meine Mutter, die gerade in der Küche einen Teigfladen mit ihrer Hand bearbeitete, schien äußerst überrascht, musterte die Fremden von Kopf bis Fuß. Während Vater die Treppe hinunterkam, wischte sie sich die mehligen Hände unauffällig an ihrer Schürze ab.

»Brista Manot«, stellte er sich vor. »Willkommen in unserem bescheidenen Heim.«

Die junge Frau, Eidala, schnaubte, es klang amüsiert. Sofort handelte sie sich von ihrer Mutter ein tadelndes Starren ein.

Vater nannte unsere Namen und schüttelte dem Mann die Hand, erst danach durfte ich den Geschenkkorb entgegennehmen. Meine Mutter sah mir akribisch genau zu, wie ich ihn auf den maroden Tisch hievte, von dem ich betete, er möge nicht in dieser Sekunde in alle Einzelteile zerfallen.

»Woher stammt Eure Familie, wenn ich das fragen darf, Kurd Manot?«, richtete sich Herr Egne an meinen Vater.

Kurd. Herr.

»Die blaue Heide ist unsere Heimat«, antwortete er. »Ein gutes Stück gen Süden.«

»Ah.« Herr Egne nickte. »Dort, wo der viele Wein an den Hängen wächst, nicht wahr?«

»Ganz recht.«

»Wir hörten, Ihr habt eine Maschine erfunden, die Bücher macht«, erhob Eidala plötzlich die Stimme. Sie klang weich und dennoch wohnte ihr eine herausfordernde Schärfe inne. Ihre Mutter verzog abermals missbilligend das Gesicht.

»So ist es. Aber sie macht sie nicht, Fräulein. Sie druckt sie nur«, korrigierte Vater sie mit einem milden Schmunzeln.

Eidalas Gesicht leuchtete auf. »Kann man sie sehen?«

»Ich bedaure. Sie steht nun in Alvara.«

»Ein Gram. Hier auf dem Land fehlt uns der Geist für kluge Technik.« Eidala schmunzelte vielsagend. Es irritierte mich, wurde ich doch nicht schlau aus ihr.

»Was meine Tochter sagen will«, fing Herr Egne mit warnendem Blick an, der Eidala jedoch nicht im Geringsten interessierte, »ist Folgendes: Wir können kaum glauben, einen Erfinder in unserer Mitte begrüßen zu dürfen. Es ist eine große Ehre, noch dazu sagt man, Ihr hättet bereits die Gunst des Fürsten errungen. In der Tat beeindruckend.«

Mein Vater lächelte unbeholfen. Mit Lob und Komplimenten hatte er noch nie gut umgehen können.

»Wir würden Euch gerne auf das große Götterfeuerfest einladen«, sprach Herr Egne weiter. »Es wäre uns eine große Freude, würdet Ihr uns dort mitsamt Eurer Familie beehren.«

Eidalas Augen waren wieder schmal geworden, was den überlegenen Zug um ihre Lippen jedoch keineswegs schmälerte. Sie besah erst meine Mutter, dann mich. Auf einmal grinste sie.

»Gern, werter Herr. Diese Einladung nehmen wir dankend an«, meinte mein Vater.

Herr Egne drehte sich schwungvoll zu seiner Familie um, wollte sehen, ob die seine überschwängliche Euphorie denn teilten. Sie taten es erst in jenem Moment, in dem er sich ihnen zuwandte. Ein Lächeln, schöner gefälscht als das andere.

»Bis dahin beehrt uns doch in unserem kleinen Dörfchen und seht Euch um. Wir werden Euch mit offenen Armen empfangen.« Das war an uns alle gerichtet.

Wir nickten höflich.

Auf dem Weg zum Markt lief ich an der Seite meiner Mutter durch die platt getretenen Pfade, die man innerhalb Velkhains als »Straße« bezeichnete. Mein Saum stand bereits vor Schmutz. Sehr zum Missfallen meiner Mutter, die mir beinahe jede Minute nahelegte, mich aufrecht zu halten, das Kinn zu heben und nicht dreinzublicken, als wäre mir ein Regenschauer in die Stiefel gejagt.

Wenn ich wenigstens welche besessen hätte, um diesen Morast zu bezwingen.

Wir kamen an einem Gemüsestand vorbei. Der Handel hier schien bereits im vollen Gange, dabei war es erst frühmorgens. Noch schillerte der Tau auf den Blättern. Feine Nebelschwaden waberten über die Erde.

»Guten Tag, werte Lina, werte Iophissia«, sprach der Gemüsehändler, ein älterer Mann, uns an.

Lina – die Dame.

Meine Mutter blieb stehen und so tat ich dasselbe. Wir schauten hinab auf die glänzenden Karotten, die saftigen Salatköpfe und den hellen Spargel – allein der Anblick ließ meinen Magen krampfen. Ich hatte kaum eine Scheibe Brot gegessen, da hatte meine Mutter mich gedrängt, sie hierher zu begleiten. Ich fühlte mich müde, aber der bunte Trubel auf diesem weiten Platz inmitten des Dorfes erweckte neues Leben in mir.

»Woran seid Ihr interessiert, werte Lina?«, hakte der Händler nach, während Mutter sich anschickte, nach den Karotten zu greifen.

Während sie um das Gemüse zu feilschen begann, zwang ich mich dazu, wegzuschauen, um nicht vollends vor Hunger zu vergehen. In jenem Moment entdeckte ich dafür Eidala vor einem Stand, hinter dem ein junger Mann mit verschränkten Armen lehnte. Seine Miene wirkte erheitert, während sie irgendetwas zu erzählen schien.

Urplötzlich schoss sein Blick jedoch in meine Richtung. Ich erstarrte.

Eidala drehte sich um, eine Braue nach oben gezogen. Nachdem sie mich entdeckt hatte, grinste sie und kam auf mich zu.

»Seid gegrüßt, Iophissia Manot«, war das Erste, was ich aus ihrem Mund zu hören bekam. Leise nur. Dabei tönte in jedem Laut eine gewisse Verachtung, sogar Rebellion. Als wäre ihr diese steife Höflichkeit zuwider.

»Iophissia Egne«, erwiderte ich in den Worten des Landes.

Ich merkte erst jetzt, dass ich mich ein Stück von meiner Mutter entfernt hatte, die nun gerade einen Salatkopf aus den Händen des Händlers pflückte, die Stirn runzelte und seinem Gerede nur ein halbes Ohr schenkte, wie sie es gern bei meinem Vater tat, uferte er wieder einmal bei seinen neuen Ideen für eine Maschine aus.

»Wie gefällt es dir in Velkhain?«, fragte Eidala.

»Gut«, entgegnete ich.

Eidala schnaubte amüsiert. »Mehr hast du nicht zu sagen?«

»Mehr habe ich noch nicht gesehen.«

Sie stemmte die Hand in die Hüfte, betrachtete mich eingehend. »Vielleicht kann ich dich ein wenig herumführen, was meinst du?«

Ich schaute über meine Schulter. »Ich kann nicht.«

Eidala sah an mir vorbei. »Ach so, du hängst ja noch am Rockzipfel.«

Für einen kurzen Moment flammte Wut in mir auf. Ein wunder Punkt in meinem Inneren begann zu brennen. »Ich bin eine gute Tochter«, sagte ich bloß.

»Sind wir das nicht alle?« Eidala schritt rückwärts, zeigte mir ein Lächeln, das voll von Verheißung und Unheil war. Ich kannte solche Menschen. Sie brachten nichts als Ärger.

»Wenn du es dir anders überlegst – ich wohne im roten Haus am Brunnen.«

Wenn, dachte ich.

Wenn. Wenn. Wenn.

Wenn es nur anders wäre.

»Herrje, Saiza, willst du uns verhungern lassen?«

Ich sah das verärgerte Gesicht meiner Mutter, bemerkte den Blick, der auf die vielen Kartoffelschalen fiel, die vor mir lagen.

»Schneide sie dünner! Oder glaubst du, wir hätten etwas anderes an die Erde zu verschenken als unsere Demut und unseren Fleiß?«

Den Kopf schüttelnd bemühte ich mich, dünner zu schneiden. »Gewiss nicht, Mutter.«

Es dauerte lang, bis wir das Essen auf den Tisch gebracht hatten. Doch bei Weitem länger dauerte das Mahl selbst. Ich kämpfte darum, aufrecht zu sitzen und sorgsam die Hände zu falten, um meiner Mutter und ihrem Gebet den nötigen Respekt entgegenzubringen. Mit aller Macht versuchte ich, nicht darauf zu achten, wie mein Vater eine alberne Grimasse zog, während meine Mutter ihre schwer schwingenden Worte sprach.

Ein ersticktes Kichern drang aus meiner Kehle.

Meine Mutter schlug mit der flachen Hand auf den Tisch. Sämtliche Teller schepperten, ein Porzellangewitter riss mich in die Höhe.

»Saiza Evanoliné Manot!«, zischte sie. »Willst du die Götter verärgern?«

»Nein, Mutter.«

»Lobst du ihre Güte, ihre Weisheit und ihre Allmächtigkeit?«

»Ja, Mutter.«

»Dann tue Buße außerhalb dieser Räume. Denn die Götter ertragen keinen Schalk in den Gaben, die wir ihnen tagtäglich zu geben haben!«, fauchte sie, während ich auf meine Hände starrte, die wie weiße Fremdkörper auf dem aschfarbenen Tisch anmuteten.

Ich bog den Nacken. »Verzeih mir, Mutter.« Ohne ein weiteres Wort erhob ich mich, trat nach draußen in die milde Mittagswärme und schloss die Tür hinter mir.

Es geschah nicht zum ersten Mal, dass sie mich nichts essen ließ, wenn ich mich ihrer Meinung nach wie eine blasphemische Närrin aufgeführt hatte. Nichts hasste sie mehr an mir als die mangelnde Frömmigkeit, die sie mir so häufig unterstellte. Wehren tat ich mich dagegen nicht. Ich huldigte den Göttern auf meine Weise, allerdings widmete ich ihnen nicht alles, was ich tat. Denn wo bliebe dann das, was nur uns galt? Das, was wir nur für uns selbst taten?

Innerhalb unseres egoistischen, gierigen Geistes, hatte meine Mutter geantwortet, nachdem ich ihr diese Frage einmal gestellt hatte. Danach war mein Kopf zur Seite geflogen und ich hatte für den Rest des Tages geschwiegen.

Nachdenklich zupfte ich eine weitere Lavendelblüte vom Strauch, steckte sie mir ins Haar und lief einige Schritte, betrachtete die großen blauen Gipfel in der Ferne. Dort, wo ich herkam, gab es nur sanfte Hügel und Blumenmeere. Hier dagegen war alles schroff und uneben, die Wälder dicht und dunkel. Die Winde kühler. Nie wieder würde meine Haut so braun werden wie in meiner alten Heimat. Nein, hier würde ich blass und farblos bleiben.

Ich wanderte ein gutes Stück, erreichte irgendwann einen großen Baum, der einsam und dennoch stark am Fuße eines Hanges stand. Ich sank neben ihm auf die Erde, lauschte zunächst dem Rauschen des Windes, der durch seine Krone tanzte. Dann fischte ich aus meiner Rocktasche ein gefaltetes Blatt Papier und einen verkümmerten, mit Holz ummantelten Kohlestift. Zu lange schon hatte ich ihn nicht mehr gespitzt und so kratzte er nun träge über das Papier, ließ meine Worte breiter und breiter werden.

»He! Iophissia!«

Ich schaute auf. Meine eben gewonnene Ruhe und Friedlichkeit schien einfach hinfortgewischt. Eidala stand mitsamt einem Mann auf der gepflasterten Straße, die sowohl nach Velkhain als auch nach Alvara führte.

Eidala raffte ihren frühlingsgrünen Rock und eilte auf mich zu. Sie lachte, als sie über einen großen Stein hinwegsprang, der Mann folgte ihr weitaus gemächlicher. Ich kannte ihn, es handelte sich um den jungen Händler, mit dem sie am Vortag auf dem Markt geredet hatte.

»Was machst du denn hier?«, fragte mich Eidala und kam mit einem letzten Sprung vor mir zum Stehen, stemmte die Hände in die Hüften. Sie wirkte so stolz und stark.

»Ich genieße diesen Moment«, antwortete ich. Zumindest habe ich das, bis du kamst.

»Das klingt sehr nachdenklich«, meinte Eidala unbeschwert. Dann guckte sie auf meinen Schoß. »Ach so. Du schreibst Gedichte. Nein, wie romantisch.«

Der Mann tauchte neben ihr auf. Sein tiefbraunes Haar fiel ihm in die Stirn, die grünen Augen darunter wirkten wachsam und neugierig. »Eine Poetin?«

»Nein, ich …«

Weiter kam ich nicht, da schnellte Eidala vor, bückte sich und riss mir das Papier aus der Hand. Ihr Blick flog über die paar Zeilen hinweg, die ich bis jetzt verfasst hatte. Sie fing an zu grinsen. »Du meine Güte, ein Erfinder und eine Poetin. In Velkhain scheint sich eine Legende zutragen zu wollen, so viele Berühmtheiten unter uns.«

Der Mann linste Eidala über die Schulter. Auch sein Mund verzog sich zu einem amüsierten Lächeln.

»So griff er nach ihr, begehrte sie aufzuhalten, aber da war nichts als Schmerz in ihren Augen, als sie sich ihm zuwandte, die Lippen öffnete, um ein Wort zu sprechen, das ihr in der Seele brannte«, las Eidala laut vor. Sie seufzte theatralisch. »Eine Geschichte über die Liebe? Die Leidenschaft?«

Züngelndes Feuer suchte mein Gesicht heim. »Nein«, brachte ich schwach hervor. »Nur die Liebe.«

Eidala schaute mich wieder an. »Kennst du dich damit aus?«

Ich wagte es nicht, den Kopf zu schütteln. Noch nie hatte ich wirklich tiefgehende Liebe für jemand anderen als meinen Vater verspürt. Noch nie auf eine andere Weise geliebt als auf die, mit welcher man seine Familie liebte. Hin und wieder hatte ich träumerische Gedanken gehegt und mit meinen Blicken viel zu lang auf schönen Gesichtern verharrt, die mir im Laufe des Lebens untergekommen waren, aber wahrlich geliebt?

»Offenbar nicht«, las der Mann jedoch die Antwort in meinem Gesicht.

»Das ist übrigens Noahl«, stellte Eidala ihn mir vor. »Vielleicht kann er dir ja ein paar Dinge zeigen, die mit der Liebe zu tun haben.«

Noahl schnaubte belustigt. Vielleicht auch abschätzig?

Ich stand auf, griff nach dem Blatt. Zu meiner Überraschung gab Eidala es sofort frei. Fast schon schützend presste ich es an meine Brust, entlockte der jungen Frau ein weiteres Grinsen damit.

Sie begann um mich herumzuschreiten, fast wie eine Wölfin, die ihre Beute einzukreisen versuchte. »Du bist tatsächlich ein verschüchtertes Entlein, nicht wahr? Es ist nicht nur deine Familie, die dich wie eine Schnecke kriechen lässt?«

Verunsichert biss ich die Zähne zusammen. »Ich liebe meine Familie.«

»Sie ist wirklich gut erzogen«, stellte Noahl fest.

»Stört es dich auch?«, wandte sich Eidala an ihn, als wäre ich nicht da.

Er verschränkte die Arme, überlegte. »Ich fühle mich richtig unwohl, wenn ich sie ansehe und ihr zuhören muss.«

»Es ist ja auch alles falsch an ihr«, zischte eine Stimme plötzlich nahe meinem Ohr. Japsend zuckte ich zusammen, sprang erschrocken zur Seite und sah, wie Eidala lachte.

»Komm schon, kleine Poetin. Lass dich gehen.« Sie breitete die Arme aus. »Was denkst du, was wir hier tun? Denkst du nicht, uns sind die vier Wände, in denen wir leben, und jene Gebote zuwider, die in ihnen gelten?«

»Ich weiß nicht, was ihr von mir wollt«, entgegnete ich mit einem tiefen Stirnrunzeln. In meinem Kopf wirbelten Worte herum, die Eidalas Anblick zu beschreiben versuchten. Sätze bildeten sich aus einem Silbenhaufen heraus. Eine Geschichte erblickte das Licht der Welt.

Aufmerksam sah ich mich um, während ich Eidala und Noahl auf einem lichten Waldpfad folgte.

»Wir gehen zum einem kleinen See. Kannst du schwimmen, kleine Poetin?«, fragte Eidala mit verwegener Miene.

Ich nickte. »Ja. Kann ich.«

»Sag, hast du deine Stimme nur, um Antworten zu geben? Oder sprichst du auch von allein?«, wandte sich Noahl an mich.

Zaghaft schaute ich in das Gesicht des jungen Mannes, das durchaus schön genannt werden konnte, obgleich es harte Züge aufwies.

»Das kommt darauf an, ob ich glaube, dass meine Worte aufgehoben oder verschwendet sind.«

Er zeigte die Zähne. »Und was sagst du bisher? Verschwendest du sie bei uns?«

»Wer weiß. Bisher bringen sie mir nicht viel mehr außer Spott«, gab ich zurück.

»Nicht doch.« Eidalas Stimme glich dem Schnurren einer Katze. »Wir schätzen deine anregende Gesellschaft. Du musst wissen, in Velkhain gehen wenig Leute ein, dafür umso mehr aus.«

Mein ganzer Körper versteifte sich, während Eidala neben mir herschlenderte und meinen Körper inspizierte wie ein Kleidungsstück, das sie im Begriff war zu kaufen. »Wie kommt das?«

»Kennst du die Sagen der Götter?«

Wieder nickte ich. Jeder von ihnen besaß seine eigene Geschichte. Eine ruhmvoller als die andere.

»Dann weißt du gewiss, was man sich über den Spinnengott erzählt«, kam es von Noahl.

»Spinnengott?« Ich durchforstete meine Erinnerungen. Von dem hatte ich noch nie etwas gehört.

»Oder auch Spinnenfürst. Er ist eine mystische Kreatur, die im Dunkelwald haust«, murmelte Eidala mit geheimnisvoller und zugleich lockender Stimme. »Er stiehlt die Seelen schöner Jungfrauen.«

Mein Mund öffnete sich vor Entsetzen. Ein Gott sollte sich Seelen erschleichen?

Eidala schmunzelte triumphierend, als sie meinen Gesichtsausdruck bemerkte. »Nachts, wenn alles schläft, schickt er seine kleinen Helfer aus, lässt sie Haus und Hof erobern, um nach einem Opfer zu suchen, das seinen Gelüsten gerecht wird. Und hat er eines gefunden, spinnt er sein Netz darum.«

Kälte kroch meine Arme entlang. Ich konnte diese absurde Geschichte nicht glauben. Götter waren ehrenvolle, gute Wesen. Keine arglistigen Räuber.

»Du siehst zweifelnd aus, Poetin.« Wieder hatte mich Noahl gut beobachtet.

»Die, die wir in meiner Heimat verehrten, sind anmutig und genießen unsere Hochachtung. Sie tun derartige Dinge nicht«, sprach ich meine Gedanken laut aus.

Eidalas Brauen zuckten. »Ah. Du stammst aus einem der Landstriche, in denen sie den Göttern huldigen und vor ihnen kriechen.«

Meine Mutter hätte vor Empörung laut aufgeschrien. Wie konnte sie so etwas nur sagen?

»Hier stellen wir uns ihnen entgegen. Wir halten gemeinsam gegen ihre Missetaten an. Wir wenden unsere Gesichter dem schützenden Feuer zu und nicht ihren lechzenden Fratzen«, stimmte Noahl mit ein.

Gotteslästerer. Verleumder. Ungläubige. Die Stimme meiner Mutter dröhnte in meinem Kopf. Ein giftiger Chor schwoll in mir an.

»Was ist los, kleine Poetin?«

Ich sah auf. Hinter Eidala und Noahl schimmerte ein kleiner See unter dem strahlenden Sonnenlicht. Wie ein Meer aus glitzernder Seide lag er dort inmitten des Waldes. Unberührt und voll einzigartiger Schönheit.

»Verurteilst du uns gerade?«

Ich schaute hinüber zu Eidala. Sie guckte mich abwartend an, ihr Lächeln war verschwunden. Übrig blieb nur eine junge Frau mit großen Augen und wallendem schwarzen Haar.

»Nein«, sagte ich.

Ein seltsamer Funke erhellte mein Inneres. Hoffnung. Viel zu absurd, um ihr Gehör zu schenken. Und dennoch …

Ich bekam meine Gedanken nicht zu fassen, meine Gefühle nicht geordnet. Denn auf einmal jagte Noahl los, sprang über einen umgestürzten Baumstamm und riss die Arme nach oben, ehe er im schillernden Teich verschwand. Funkelnde Perlen spritzten durch die Luft, wirbelnder Frühlingswind riss sie hinfort.

Und meine Furcht gleich mit.

Denn die wurde nun zu einer langsam lodernden Neugierde.

Kapitel 3

Verrate mir, was würdest du über uns schreiben, kleine Poetin?«, fragte Eidala mit einem ungewöhnlich sanften Schmunzeln auf den Lippen, während sie Noahl, dessen Kopf in ihrem Schoß lag, wieder und wieder durchs nasse Haar fuhr.

»Zwei Liebende an einem See. Geheim und so vertraut. Liebe so stark, sie schmilzt den Schnee«, kamen mir jene Worte über die Lippen, die in meinem Kopf schon seit einigen Momenten ihr Unwesen trieben.

Eidala lachte. »Liebende? Sind wir das, mein geschätzter Noahl?« Nachdem Noahl jedoch lediglich brummte, als Eidalas schlanke Finger aufgehört hatten, sein Haar zu zerzausen, richtete sie sich wieder an mich.

»Wir sind Geliebte, kleine Poetin. Nicht mehr und nicht weniger.«

Ich blinzelte. »Ich habe den Unterschied zwischen Liebenden und Geliebten nie verstanden«, gab ich unvermittelt zu.

Da schlug Noahl die Lider auf, er und seine Geliebte Eidala sahen sich an. Fingen gleichsam an zu strahlen. »Nun«, begann Eidala, »wie soll ich es dir erklären?«

Ich fühlte, wie Röte über meine Wangen schlich, dachte an den Text in meiner Rocktasche. War er nichts als eine Farce? Wie konnte eine Unwissende schon von Liebe schreiben. Von Feuer, das sie selbst nie gekannt hat. Machte es mich zur Heuchlerin?

»Was ist die schönste Erinnerung in deinem Leben?«, fragte Eidala plötzlich.

Darüber musste ich nicht lange nachdenken. »Es ist der Tag, an dem mein Vater mir die Feder einer Mond-Elster schenkte und mit mir zusammen anfing zu schreiben. Die ganze Nacht. Den gesamten folgenden Morgen. So lange, bis wir einfach eingeschlafen sind.«

Eidala hörte mir aufmerksam zu. »Würdest du sagen, dass das deine Leidenschaft ist? Schreiben, Tag und Nacht?«

Ich nickte, ohne zu zögern. »Ich liebe es.«

Eidalas Lächeln wandelte sich zu einem Grinsen. »Du tust es heimlich, nicht wahr?«

»Meine Mutter sagt, es wäre ein sinnloses Hirngespinst. Eine Träumerei, fernab der Welt, die die Götter für uns geschaffen hätten«, erklärte ich ein wenig leiser.

Eidala nickte beinahe mitfühlend. Dann strich sie Noahl ein letztes Mal über den Kopf. »Das ist es, was Geliebte und Liebende unterscheidet – Liebende haben ihre Leidenschaft Tag und Nacht, sie erfüllen einander, lassen einen sein, wer man wirklich ist. Geliebte teilen flüchtige Momente der Freude miteinander, doch mehr als das wird es nie sein. Ein Aufflammen von Leidenschaft. Ein kurzes Hingeben. Aber keine bindende Zuneigung. Kein Anspruch auf Halten und Gehaltenwerden.«

Eidalas Worte faszinierten mich. Sie brachten mich zum Nachdenken, entzündeten die Lyrik in mir, die sich in den letzten Tagen angestaut hatte wie ein blockierter Bach. Ich dachte über die Geschichte nach, an der ich gerade schrieb. Über die tiefen Gefühle, die dort zwischen den Zeilen schimmerten.

»Warum seid ihr lediglich Geliebte und keine Liebenden?«, wollte ich wissen, bevor ich überhaupt nachdachte, was ich da gerade sagte.

»Wie alt bist du, kleine Poetin?«, fragte Noahl.

»Achtzehn.«

»Was denkst du, wie alt wir sind?«

»Das vermag ich nicht zu sagen.«

Noahl drehte sich um, vergrub das Gesicht zwischen den Beinen von Eidala, die nur vergnügt kicherte. Mir aber stieg die Hitze den Hals entlang. Was taten sie da nur? Fürchteten sie sich nicht vor dem Urteil dieser Welt?

»Wir sind doch bei Weitem zu jung, um zu entscheiden, wer uns halten kann und darf. Und gleichzeitig sind wir so jung, wie wir sein sollten, um den Spaß vor den Ernst des Lebens zu stellen.«

Ich presste die Lippen zusammen.

»Für so klug und wortgewandt hat sie uns wohl nicht gehalten«, raunte Eidala, das Gesicht ganz nah an dem von Noahl. Er nickte verschwörerisch grinsend.

»Hör zu, kleine Poetin, lass uns all das jugendliche Pathos doch beiseitelassen«, meinte Eidala auf einmal und erhob sich, sehr zum Missfallen von Noahl, der die Finger an ihren Beinen entlanggleiten ließ. Sie reckte die Arme in die Höhe und senkte die Lider, während die Sonne ihr Gesicht wärmte.

»Lass uns lieber mit dem Frühling tanzen und nichts als grenzenlose Freude empfinden!«

Zur Bekräftigung ihrer Worte fing sie an zu laufen, schlug urplötzlich ein rasantes Rad inmitten des grünen Grases. Lachte und drehte sich um sich selbst, nachdem sie wieder auf beiden Füßen gelandet war.

Noahl guckte mich an. »Kannst du tanzen?«

»Ein wenig«, erwiderte ich.

Bisher hatte ich nur gemeinsam mit meinem Vater zu den Klängen des alten Geigers getanzt, der in unserer alten Heimat gegenüber gewohnt hatte. Ich war herumgewirbelt worden wie ein Kreisel, hatte gelacht und gesprüht. Mein Vater hatte die Posen der städtischen Edelmänner imitiert – nein, er hatte sie verspottet – und mich derart in endloses Gelächter verfallen lassen, dass mir noch am Tag danach der Bauch wehgetan hatte.

Es war einer der wenigen Tage gewesen, an denen ich mein wahres Selbst berührt, es ins Licht geholt und nicht in die Dunkelheit gesperrt hatte, wie es von mir verlangt worden war, tagein, tagaus.

»Dann tanz mit mir, kleine Poetin.« Noahl hielt mir die Hand entgegen.

Ich legte meine Finger in seine.

Meine Mutter zürnte, als ich erst nach Stunden wieder nach Hause kam, doch das kümmerte mich nicht. Mein Vater entschuldigte sich bei mir für ihren Wutausbrauch und half mir, das Feuerholz in die Stube zu tragen, während er mir ein paar alberne Reime zusammendichtete. Dennoch war meine Freude zum Anbruch der Nacht hin getrübt.

Morgen müsste mein Vater aufbrechen und mich hier zurücklassen. Der Gedanke daran ließ mich nur schwer in den Schlaf finden. Immer wieder wälzte ich mich herum, hörte das Kratzen der Äste, die bei jedem Windhauch an der Hauswand entlangschabten. Irgendwann lichteten die ersten Sonnenstrahlen den dunklen Himmel, kitzelten meine Nase durch einen Spalt der kaputten Fensterläden. Vater hatte erst gestern versprochen, sie zu reparieren.

Der Abschied fiel nicht leicht. Aber auch mein eigener Aufbruch einige Stunden später glich einem Kampf. Mir war es erst erlaubt zu gehen, als ich meiner Mutter versprach, einen Laib Brot mit nach Hause zu bringen. Ich nickte demütig, küsste bekräftigend ihre Hände und machte mich auf den Weg.

Doch ein Laib Brot war gerade das Letzte, was mich interessierte. Schnellen Schrittes erreichte ich Velkhain und noch viel schneller stand ich vor jenem roten Haus, das all die Blicke des runden Platzes auf sich zog, auf dem ich nun stand. Ein hübscher Brunnen plätscherte hinter meinem Rücken, als ich an die Tür klopfte.

»Poetin!«, rief Eidala freudig überrascht aus, als sie mich erkannte. »Du kommst, um mich zu besuchen?«

»Nein. Ich komme, um dich mitzunehmen«, meinte ich.

Eidala verschränkte grinsend die Arme. »So? Ist dir über Nacht der Mut gekommen oder warum so forsch des Weges?«

Ich zuckte mit den Schultern. »Um das herauszufinden, musst du wohl oder übel mitkommen.«

Eidalas Augen funkelten. Sie griff sich einen tiefgrünen Umhang, trat nach draußen und lief mir nach.

»Wohin gehen wir denn?«, wollte sie wissen, hakte sich ganz selbstverständlich bei mir unter.

»Ich habe von einem Mann gehört, der Bücher verkaufen soll«, verriet ich ihr. »Mein Vater erzählte mir von ihm. Wie heißt er? Blagel? Blager?«

Eidala nickte. »Kurd Blagel.«

»Kannst du mich zu ihm führen?«

»Ich dachte, ich solle dir folgen?«

»Irgendwie musste ich dich doch aus dem Haus locken.«

Eidala lachte, drückte meine Hand. »Für dich wäre ich auch so auf die Straße getreten, kleine Poetin, glaube mir. Dieser Ort ist nett und beschaulich, aber wie ich schon sagte – es fehlt an neuen Leuten.«

Wieder musste ich an die Sage denken, von der sie und Noahl gesprochen hatten. Die Sage vom Spinnengott.

»Gibt es noch andere Götter, die ihr fürchtet?«, fragte ich freiheraus, als wir an einer Schmiede vorbeiliefen. Hitze flutete die Straße. Es roch nach Eisen und Schweiß.

»Wir fürchten sie nicht«, belehrte mich Eidala umgehend. Dann leckte sie sich über die Lippen. »Da gäbe es noch die Dame vom See, die Spiegelgöttin. Sie raubt dir das jugendliche Antlitz, wenn du dein Gesicht nur allzu oft im Wasser bewunderst.«

Ich sagte nichts, hörte einfach zu.

»Oder aber der kopflose Reiter, der deine Träume stiehlt, sollten sie voll von rastlosem Hass oder unstillbarer Begierde sein.«

Nun merkte ich auf. »Der kopflose Reiter ist ein Gott?«

Eidala blickte mich erstaunt an. »Natürlich. Er ist schließlich ein magisches Wesen.«

Magie. Jene Macht, die eine Kreatur zum Gott werden ließ. Sie war nicht für die Finger der Sterblichen gedacht und dennoch wurde sie weit mehr begehrt als endlose Schönheit oder nie endender Reichtum. Sie war eine Verführung, der nur die Götter zu widerstehen vermochten. Denn nur sie konnten über diese unvergleichliche Kraft gebieten.

Sagte jedenfalls meine Mutter.

Wir bogen um eine Ecke. »Was ist mit dem Spinnengott?«

»Was soll mit ihm sein?«

»Du sagtest, er lebt im Dunkelwald«, setzte ich an.

Eidalas Gesicht bekam etwas Verschlagenes. »Ja. Er lebt nur zehn Schrittlängen von eurem Haus entfernt.«

Mich fröstelte es. »Darum will also niemand in diesem Gemäuer leben.«

Eidala kicherte, nickte. »So ist es. Aber wenn du mich fragst, ist das alles nur Mumpitz. Das große Feuer schützt und segnet uns.« Wieder legten sich ihre Finger über meine Hand. »Und wenn du morgen daran teilnimmst, dann bist auch du gesegnet und der Gott kann dir nichts tun. Du brauchst dich nicht zu fürchten.«

Unsicher erwiderte ich ihren Blick.

»Und falls er doch vor deiner Schwelle steht, dann senk dein Haupt und hebe einen Finger an die Lippen. Denn wenn du nicht sprichst, dann kann dich auch die Magie seiner Worte nicht umgarnen.«

Ich legte den Kopf schief, Eidala aber zeigte mir, was sie meinte. Sie führte ihren Zeigefinger an die geschlossenen, vollen Lippen. Für einen kurzen Moment bemerkte ich eine seltsame Demut an ihr. Überraschend stellte ich fest, wie schön sie dabei aussah.

Ich machte es ihr nach.

Eidala nickte langsam, schaute mich an und fing wieder an zu grinsen – und ich erwiderte es.

In meiner alten Heimat hatte es Buchläden gegeben. Zweistöckig, bunt wie eine Blumenwiese. Ein Hort des Wissens und der Kunst, veredelt mit dem Geruch alten Papiers und verblasster Tinte. Eine Symphonie des Geistes und der Sinne.

Kurd Blagels Buchhandlung glich einem Trauerspiel des Herzens. Überall lagen einst kostbare Bücher wahllos auf Tischen verstreut, viele ihrer Einbände waren verschmutzt und vergilbt, manche regelrecht zerkratzt. Einige Seiten trugen dunkle Flecken an den Rändern, irgendwo hatte ich sogar geronnenes Blut gefunden. Meine Seele weinte mit jeder Sekunde mehr, die ich in diesem Schuppen verbringen musste, der sich ein Geschäft für lyrische Kunst schimpfte.

»Du siehst aus, als würdest du am liebsten eine Kerze umwerfen«, murmelte Eidala mit besorgter Miene, während ich stirnrunzelnd einen der Gedichtbände zu entkrusten versuchte, der wohl schon vor langer Zeit auf den Boden gefallen war.

»So geht man doch nicht mit Büchern um«, zischte ich gedämpft. Irgendwo im Raum trieb der Besitzer sein Unwesen. Schien mehr Geist denn Händler dieses Geschäftes.

»So sah es hier schon immer aus.« Eidala strich mit dem Finger über eine dicke Staubschicht eines Regals. »In Velkhain liest niemand. Hier wird nur viel geredet.«

Seufzend ließ ich die Arme sinken. Mein Herz blutete noch immer, als sie mich wieder auf die Straße zog, zurück ins Licht. »Du willst eine Geschichte hören, nicht wahr, kleine Poetin?«

Erst jetzt fiel mir auf, dass wir ja fast gleich groß waren.

»Dann lass mich dir nun von der großen Parinux erzählen, die das Unmögliche vollbrachte, indem sie eine einzige Kerze mit der Macht ihres Herzens entzündete«, fuhr Eidala fort, wertete mein Schweigen als glimmendes Interesse.

»Was war das Unmögliche?«, wollte ich jedoch wissen, bevor sie begann.

»Nun«, machte Eidala und zog den folgenden Moment unerträglich in die Länge.

Ich biss die Zähne zusammen, Falten gruben sich in meine Stirn. Eidala lachte bei diesem Anblick. Doch wer war ich, dem Sog einer geheimnisvollen Geschichte zu entgehen? Dies dürfte wohl etwas sein, das ich niemals zu schaffen vermochte. Denn Geschichten waren die Worte unseres Herzens, geschrieben mit der Tinte unserer Fantasie, geformt von der Feder unseres Verstandes.

Meine Seele wurde von ihnen berührt, wenn ich es nicht mehr konnte. Wenn ich glaubte, sie ginge nun endgültig in der Dunkelheit verloren, in der ich sie oft verstecken musste.

Und ja, so blieb mir nichts anderes übrig, als hier, mitten auf der Straße, mit geballten Fäusten zu stehen und stumm zu flehen.

Verrat sie mir. Diese Geschichte. Verrat mir ihr Geheimnis.

»Parinux war die Erste, die es zu tun vermochte«, hüllte mich Eidala weiterhin in den Nebel der Unwissenheit.

»Was?«, hauchte ich.

»Sie war die Erste, die einen Gott bezwang.«

Kapitel 4

Wie?«

»Indem sie sich ihm entgegenstellte und eine Kerze entzündete«, erklärte Eidala. »Er drohte, ihr das Leben zu nehmen. Sie war ganz allein inmitten der Nacht, er stahl jedes Licht aus dem Moment, tauchte alles in endlose Dunkelheit, wollte sie hindern an der Flucht. Wollte ihr jeden Mut nehmen und nur die Angst in ihren Augen sehen.«

Ich wagte kaum, mich zu rühren, sog jedes Wort auf.

»Sie aber bot ihm die Stirn und wagte nicht, auch nur in die Knie zu gehen. Ihre Finger schlangen sich um die Kerze, die sie vor ihrem Herzen trug. Das letzte Licht erstarb und so gab es da nichts außer Finsternis – doch plötzlich wurde die Dunkelheit vertrieben.« Eidalas Stimme wurde leiser und leiser.

»Die Flamme?«, wisperte ich.

Eidala nickte. »Die Kerze entzündete sich nur durch die Kraft des Herzens. Eines mutigen Herzens. Der Gott sah es und schreckte zurück, vollkommen gebannt von diesem strahlenden Licht. Parinux tat einen Schritt vor den anderen, ließ den Gott zurückweichen, weiter und weiter, bis er schließlich floh.«

»Tatsächlich?« Vor lauter Anspannung ballte ich bereits die Hände zu Fäusten.

»Tatsächlich«, bestätigte Eidala. »Parinux kehrte zurück in ihre Heimat und lebte ein friedliches Leben. Sie teilte ihr Wissen mit all den Menschen dort, zeigte ihnen, dass sie sich nicht länger vor den Göttern fürchten müssen, sich nicht ihrer Grausamkeit beugen müssen, wenn diese ihnen nach dem Leben trachten. Denn das Feuer des Mutes würde sie schützen vor ihrer Macht.«

»Darum das Fest.« Nun verstand ich.

»Richtig. Das Feuer ist entzündet von unserem Mut und unserer Gemeinschaft. Jedes halbe Jahr erhellen wir die Nacht damit und zeigen den Göttern, dass wir uns nicht vor ihnen ängstigen.«

Eine schöne Geschichte. Wenngleich ich noch immer nicht recht verstand, dass Götter das Leben der Menschen begehrten. Aus purem Egoismus – wie es jedenfalls beim Spinnengott erschien.

»Um was für einen Gott handelte es sich?«, wollte ich im Folgenden wissen.

»Der des Winters und der Eisblumen«, verriet Eidala.

»Und warum wollte er Parinux’ Leben?«

Eidala zuckte mit den Schultern. »Das weiß niemand.«

Ich starrte sie irritiert an. »Hat sie es nie erzählt?«

»Offenbar nicht.«

Wut kochte in mir hoch. Das Feuer der Neugierde brannte noch so hell und doch gab es nichts mehr zu sagen. Eidala konnte mir nicht viel mehr erzählen, während wir wieder zum kleinen Brunnenplatz zurückkehrten. Sie lachte über mein grübelndes Gesicht, das in Wahrheit nur eine Maske des Frustes war, den ich verspürte.

Ich hasste es, den Schleier eines Geheimnisses nicht lüften zu können.

»Ich hoffe, Vater geht es gut«, erhob ich nach lange währender Stille die Stimme.

Ich fegte gerade den Boden, während meine Mutter am Tisch saß und den dünnen Stoff bestickte, den sie erst gekauft hatte, um daraus Vorhänge zu schneidern.

»Er ist manchmal ein schlimmer Tölpel«, meinte Mutter. »Aber haben wir Vertrauen. Haben wir Hoffnung, dass die Götter ihn auf den richtigen Pfad leiten.«

Ich fragte mich in diesem Moment, was meine Mutter sagen würde, wüsste sie, welche Bedeutung das morgige Fest tatsächlich hatte. Aber ich entschied mich zu schweigen und ihrem Zorn somit vorerst zu entgehen.

»Wo willst du hin?«, fragte meine Mutter, als ich den Besen in die Ecke stellte und nach der Türklinke griff.

»Ich möchte ein paar Blumen vom Waldrand pflücken. Sie haben so schöne Blüten, ich glaube, sie würden wundervoll in deiner grünen Vase aussehen.«

Meine Mutter nickte, entließ mich in die Abenddämmerung. Die Luft fühlte sich kühl an, sanfte Müdigkeit zerrte an meinen Gliedern und meinem Verstand, als ich über die wankenden Gräser lief, tatsächlich keine zwanzig Schritte brauchte, bis ich vor dem ersten Baum stand und langsam vor ihm in die Knie ging. Meine Finger berührten die blassblauen Blüten, spürten diese zarte Weichheit der Kronblätter.

Ich sammelte einen regelrechten Strauß, konnte kaum aufhören, mich an dieser einzigartigen Schönheit satt zu sehen. In meiner ehemaligen Heimat hatte es viele Blumen gegeben und keine Farbe, die es nicht gab. Hinter unserem alten Haus gab es damals eine bunte, von Blüten übersäte Wiese und ich hätte Stunden damit verbringen können, sie zu betrachten. Diese Pflanzen hier waren anders. Sie besaßen eine unaufdringliche und sanfte Eleganz.

In meinem Kopf begannen sich einzelne Bilder zu einer Szene zu weben. Meine Protagonistin hielt eine Blume in der Hand, eine tiefblaue …

Ich rang nach Luft, tat einen Satz zurück und drückte die Blumen an meine Brust. Eine Gänsehaut breitete sich auf meinen Armen aus. Mit angehaltenem Atem starrte ich auf das seltsame dunkle Etwas, das da soeben in meine Sicht tanzte.

Eine Spinne. Eine schwarze, am Faden wogende Spinne.

Ein Kloß bildete sich in meiner Kehle. Diese Kreaturen hatte ich nie gemocht, ihre langen Beine waren mir ein Graus und die Art und Weise, wie sie über Wände und Böden huschten, bereitete mir Ekel. Diese hier hatte zudem eine bemerkenswerte Größe. Auf den zweiten Blick erkannte ich, dass sie bereits ein vollständiges Netz zwischen zwei Stämmen gewebt hatte. Erst jetzt fiel das Sonnenlicht auf die glitzernden Fäden, enthüllte eine ganz eigene Art von Schönheit.

Stirnrunzelnd sah ich an dem Tier und seinem Kunstwerk vorbei, dachte, ich hätte einen Schatten im Wald gesehen, aber da war nichts. Nur dunkles Dickicht und schwarze Blätter. Dennoch konnte ich nicht verhindern, dass mir ein unangenehmer Schauer den Rücken entlangjagte.

Der Spinnengott.

Ich war eine Närrin. Eine neugierige, wohl das Leben nicht wertschätzende Närrin. Einen Fuß setzte ich vor den anderen, wagte mich in den Wald hinein, blickte hinter jeden Stamm. Weit ging ich nicht, nur ein kleines Stück, und doch fühlte es sich bereits an, als stünde ich in tiefster Finsternis. Die Welt schien ein Stück kälter geworden zu sein, die Luft so klar und frei von den Düften des Frühlings.

Mir war nicht klar, was ich eigentlich wollte. Den Gott sehen? In sein magisches Antlitz starren? Vielleicht hatte mich Eidalas Geschichte wagemutig werden lassen. Es kostete Mühe, mir ins Gedächtnis zu rufen, dass ich noch nicht vom Feuer geschützt und demnach eine leichte Beute für einen seelenraubenden Gott war.

Ein Knistern im Gebüsch. Ich fuhr herum, suchte nach jenem Ding, das meinen Atem stocken ließ.

Aber da war nichts. Nur meine Blumen und ich.

»Saiza!«

Nur schwerlich widerstand ich dem Drang, laut aufzuschreien, als ich die Stimme meiner Mutter vernahm. Nach Atem ringend lief ich los, hetzte über Stock und Stein, nur um aus diesem Wald zu kommen.

»Rot oder Blau?«, fragte Eidala, während sie meine hellbraunen Haare zu einem Zopf flocht.

»Blau«, sagte ich und genoss das Kitzeln der Gräser an meinen Beinen, während ich so auf dem Bauch lag.

»Kirsche oder Apfelsine?«

»Hm.« Ich dachte kurz nach. »Apfelsine.«

»Mann oder Frau?«

Ich drehte meinen abgelegten Kopf ein wenig weiter, versuchte Eidala ins Gesicht zu blicken. »Seltsame Frage. In welcher Hinsicht denn?«

»Beantworte sie einfach. Mann oder Frau.«

»Mann«, sagte ich dann.

Eidala tat ein amüsiertes Geräusch. »Hast du schon mal geküsst, Saiza?«

Meine Lippen pressten sich kurz zusammen. »Nein.«

»Würdest du es gern?«

Hitze stieg mir in die Wangen. Eidala bemerkte es und lachte darüber, hörte aber nicht auf, meine Strähnen zu verflechten.

»Heute Abend auf dem Fest könntest du herausfinden, wie es sich anfühlt. All die jungen Männer unseres Dorfes werden dort sein und mit uns tanzen. Du könntest dir einen von ihnen aussuchen.«

Ein unverständlicher Laut kam aus meinem Mund, ich entschied mich jedoch, nicht eindeutig darauf zu antworten.

»Auch Noahl.«

Nun musste ich die Lider wieder aufschlagen. »Ist Noahl nicht dein?«

Eidala lächelte vor sich hin. »Das hatten wir dir doch erklärt. Noahl ist nicht mein und ich bin nicht sein.«

»Aber du magst ihn, oder?«, forschte ich nach.

»Natürlich.«

»Doch lieben tust du ihn nicht?«

Eidala zog an meinen Haaren, sachte nur, aber ich merkte es. »Was bist du neugierig, kleine Poetin.«

Das war ich in der Tat. Aber nicht ohne Grund. Natürlich fand ich die Liebe und all jene Dinge, die mit ihr zu tun hatten, spannend. Doch wenn es nach meiner Mutter ginge, dann würde ich mit brav gefalteten Händen im Schoß auf den Tag warten, an dem ein Mann um meine Hand anhielt. Genau wie es mein Vater damals bei ihr getan hatte. Eine wunderschöne Dame sei sie gewesen. Kümmernd und warmherzig.

Manchmal wusste ich nicht, wo diese Frau heute war.

»Hast du ein hübsches Kleid für das Fest?«, fragte mich Eidala irgendwann, nachdem sie ihr Werk an meinem Haar beendet hatte.

»Bestimmt«, murmelte ich.

»Auch eines, das nicht aussieht wie aus dem letzten Jahrhundert?«

Nun musterte ich Eidala empört. »Was soll das heißen?«

»All deine Kleider sind so langweilig, so hochgeschlossen. Du siehst aus wie eine Priestertochter, aber nicht wie eine leidenschaftliche Poetin.«

Ich setzte mich auf, sah ihr zu, wie sie an einem Gänseblümchen herumzupfte. »Wie sollte sich denn eine Poetin kleiden?«

»Aufregend!«, entgegnete Eidala. »Dem Feuer angemessen, das in ihr lodert.«

Jetzt war ich diejenige, die lachen musste. »Vielleicht hättest du eine Poetin werden sollen.«

»Vielleicht.« Sie grinste. »Aber ich begnüge mich damit, die Freundin einer solchen zu sein.« Auf einmal stand sie auf, hielt einen kleinen Bund Gänseblümchen in der Hand. »Komm mit, ich habe da eine Idee.«

Gemeinsam schlenderten wir zurück ins Dorf; ich staunte, als sie mich dort in ihr Haus bat. Es war weitaus ansprechender eingerichtet als unseres. An den Wänden hingen sogar Bilder. Kunstvolle Gemälde von Landschaften und edel aussehenden Obstschalen.

Auch so etwas, was ich nie verstanden hatte – Obst auf einem Bild. Obst und nichts sonst. Was wollte uns dieses Kunstwerk sagen? Etwa, dass auch einer Schar Äpfel eine gewisse Tragik innewohnte, hatte man sie nur richtig mit Trauben und Apfelsinen zu einem ansprechenden Arrangement drapiert?

»Mein Zimmer«, verkündete Eidala, während sie eine knarzende Tür öffnete.

Ein großes Bett zierte die Mitte des Raumes. Unter dem einzigen Fenster stand ein kleiner Schreibtisch und ein großer, mit Rosen bemalter Schrank fand sich direkt neben uns. Ebenjenen riss Eidala nun auf und wühlte ausgiebig in all den darin enthaltenen Kleidungsstücken.

»Wie wäre es hiermit?«

Sie hielt mir ein langes weißes Kleid vor die Brust. Der Stoff wirkte auf der einen Seite glatt und fließend, auf der anderen dünn und leicht. Auf ihr Drängen hin zog ich es an. Es entsetzte mich, wie viel Haut ich auf einmal entblößte – da war nur durchsichtiger Stoff über meinem Schlüsselbein und auch auf einem kleinen Stück darunter.

»Ich bin ja nackt«, keuchte ich angesichts meiner blanken Arme.

»Unsinn.« Eidala schüttelte abwinkend den Kopf. »Es ist perfekt!«

»Meine Mutter wird mich niemals so unter die Leute lassen.«

»Sie muss es ja nicht unbedingt sehen, bevor du auf dem Fest bist.« Schalk eroberte Eidalas Miene. Sie holte noch ein anderes Teil aus ihrem Schrank. Eine beige Tunika. »Zieh die drüber. Und wenn wir uns heute Abend treffen, reiße ich sie dir vom Leib. Dann hast du sogar eine Ausrede.«

Meine Brauen wanderten in ungeahnte Höhen. Eidalas Worte ließen mir die Röte ins Gesicht schießen. Natürlich hatte sie darauf gehofft, kicherte triumphierend und widmete sich den Blumen, die sie vorhin achtlos auf ihr Bett geworfen hatte.

»Ich mache mir einen Kranz daraus«, erklärte sie angesichts meines neugierigen Blickes. »Sie sehen immer herrlich auf meinen schwarzen Haaren aus. Alle Männer drehen sich nach mir um, wenn ich an ihnen vorbeilaufe.« Vollkommen gedankenversunken strich sie über die Blüten. »Wie eine Prinzessin sehe ich dann aus.«

Wenn auch nicht, um Männer zu gewinnen, wollte ich es ihr nachmachen. Die Idee gefiel mir und so holten wir uns noch einen Strauß Lavendel hinzu, der im Hinterhof wuchs, und fertigten auch mir einen duftenden Kranz. Eidala führte mich im Anschluss zu dem einzigen Spiegel, den es im Haus gab. Und der befand sich im Schlafgemach ihrer Eltern. Es fühlte sich so verboten an, dass mir glatt ein wenig flau im Magen wurde.

Doch dieses Gefühl verflog, als ich mein Spiegelbild entdeckte.

Da stand ich. Meine hellblauen Augen, mein blasses Gesicht mit diesen vollen Lippen, die das Einzige an mir waren, was ich wirklich mochte. Mein langes braunes Haar hatte ich zu einem seitlichen Zopf geflochten, der lilafarbene Kranz umgab mein Haupt wie eine Krone. Das zarte weiße Kleid umschmeichelte meine ohnehin schmale Figur. Zum ersten Mal, seit ich aufgehört hatte zu wachsen, fühlte ich mich wie eine Frau.

Wie eine Prinzessin.

Eidala umfasste meine Schultern, schob ihr Gesicht neben meines. Ihre Lippen zu einem roten Lächeln verzogen, die Augen glänzten in freudiger Erwartung.

»Lass uns tanzen, Saiza. Und lass es nicht weniger als die ganze Nacht lang sein«, wisperte sie zu mir.

Ich nickte. Sah die Farbe in meinem Gesicht.

Das Leben.

Kapitel 5

Ich war unendlich froh, meinen Vater wieder in die Arme schließen zu können, so sehr hatte ich ihn vermisst.

»Bist du gewachsen, meine Liebe?«, scherzte er und tätschelte mir den Kopf.

»Erzähl mir von deinem Besuch in der Stadt«, drängte ich. »Wie ist das Leben dort? Hast du Bücher mitgebracht? Wie geht es deiner Maschine?«

»Vergiss das Atmen nicht.« Er schmunzelte. »Ich erzähle dir alles auf dem Weg. Es wird doch schon Zeit, nicht?«

»Ganz recht.« Meine Mutter richtete sich das Halstuch. Auf einmal verstand ich, was Eidala gemeint hatte, als sie mich wegen meiner braven Kleidung verspottet hatte. Meine Mutter war ganz und gar verschlungen worden von all den Stoffen, die sie auf ihrer Haut trug.

»Verzeih, ich habe den ganzen Tag vertrödelt. Ich wusste nicht, wann du kommst«, meinte ich demütig, während mein Vater mir meinen Umhang reichte.

Er drückte liebevoll meine Schulter. »Ich freue mich, wenn du Freunde gefunden hast, Saiza.«

Bevor wir aus dem Haus gingen, warf meine Mutter noch mal einen letzten unzufriedenen Blick auf mein Kleid. Ich trug, wie mir aufgetragen, die Tunika darüber und nun auch einen Umhang. Doch meine entblößten Arme mussten ihr bereits ein Dorn im Auge sein. Ich hatte allerdings erklärt, wie wundervoll ich es fand, dass Eidala mir etwas von ihr lieh, besaß ich doch selbst so wenige helle Sachen.

Während wir uns also auf dem Weg nach Velkhain befanden, berichtete mein Vater von seinem Aufenthalt in Alvara. Der Fürst habe ihn warm empfangen, mit Freuden berichtet, wie wunderbar die Maschine ihre Arbeit verrichte. Fast zweihundert Bücher hätten sie schon gedruckt und es sei kein Ende in Sicht. Die Leute seien vollkommen begeistert, strömten wie die Ameisen in die Buchhandlungen und kauften die neu gelieferten Werke.