Exil in der Welt - Belén Fernández - E-Book

Exil in der Welt E-Book

Belén Fernández

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Beschreibung

Belén Fernández hat als junge, gut ausgebildete Journalistin aus Protest den USA den Rücken gekehrt und reist seither, wohin es sie treibt. Allein und abseits von den üblichen Pfaden denkt sie darüber nach, was es heißt, Amerikanerin zu sein in einem weitgehend von den USA angerichteten Chaos in der Welt. Mit den Jahren ihres Berichtens aus Ländern wie Ecuador, Kolumbien, Venezuela, Mexiko, Libanon, ­Syrien, der Türkei, Serbien, Italien hat sie sich einen Namen als eine der schärfsten Beobachterinnen amerikanischer Interventionen rund um den Erdball gemacht. Über Monate bleibt sie an politischen Brandherden, lernt die Menschen, ihr Leben, wenn nicht Überleben und ihre Sicht der Dinge kennen, benennt konkret, wie es zu politisch fatalen Entwicklungen und haltlosen Zuständen gekommen ist und wer in höchsten Positionen dafür verantwortlich ist. Ob sie über Erdogans Kurdenverfolgung oder Trumps Pläne einer Mauer gegen Mexiko schreibt, immer hat sie auch die Berichterstattung im Blick und deckt Gefälligkeiten, Unterlassungen und Schlamperei auf. Ein höchst unterhaltsames Buch, intelligent, geistreich, zornig und mit beißendem Humor.

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Die englische Originalausgabe ist 2019 unter dem Titel Exile. Rejecting America and Finding the World bei OR Books, New York und London, erschienen.

© 2019 Belén Fernández

© 2020 Rotpunktverlag, Zürich, für die deutschsprachige Ausgabe

www.rotpunktverlag.ch

Umschlagfoto: Belén Fernández in Akkar, Libanon

Das gedruckte Buch enthält 8 Seiten Bildteil.

eISBN 978-3-85869-876-6

1. Auflage 2020

Für meine Eltern, wie immer

INHALT

VORWORT

ANFÄNGE

LIBANON

HONDURAS

TÜRKEI

ITALIEN UND ANDERSWO

WEITER

ANMERKUNGEN

BELÉN FERNÁNDEZ’ REISEN

VORWORT

Zu Hause sei vielleicht »gar kein Ort, sondern ein unwiderruflicher Zustand«, schrieb James Baldwin einmal.1 Mir gefällt dieser Gedanke, weil er mir allzu intensives Nachdenken darüber erspart, wo nach mehr als fünfzehn Jahren ständigen Herumreisens eigentlich mein Zuhause, meine Heimat ist. Er entbindet mich auch endgültig von der Verpflichtung, warme und kuschelige Gefühle für das Land meiner Geburt und Erziehung, die Vereinigten Staaten von Amerika, aufzubringen, die sich als globale Supermacht darauf spezialisiert haben, weite Teile des Planeten unbewohnbar zu machen, indem sie die dort lebenden Menschen durch eine Kombination aus immer neuen Kriegen, ökologischer Plünderung und wirtschaftlicher Ausbeutung massenhaft in die Flucht treiben.

Wenn man mich an den internationalen Einwanderungs- und Passkontrollen nach meinem Wohnort fragt, kommt die Antwort »nirgends« allerdings nicht sonderlich gut an. Ich könnte auch sagen »überall«, aber das wäre recht anstößig, wenn man bedenkt, dass ein Großteil der Weltbevölkerung durch Grenzen deutlich stärker beeinträchtigt wird als die Inhaberin eines US-Passes.

Auch Menschen, die grundsätzlich bezweifeln, dass man ohne festen Wohnsitz überhaupt existieren kann, können meinem Lebensstil nicht viel abgewinnen. Trotzdem fühlen sich oft dieselben Leute berufen, Migranten und Geflüchtete aufzufordern, »nach Hause« zu gehen, auch wenn dieses Zuhause als physischer Heimatort eine Existenz und damit auch jenen »unwiderruflichen Zustand« von vornherein ausschließt.

Wie es der Zufall will, begegnete mir ein ähnlich baldwinesker Gedanke im Winter 2018 in der bosnischen Hauptstadt Sarajewo, in der ich mich für zwei trostlose Monate eingenistet hatte und wo ich täglich am Ufer der Miljacka joggte, dick eingepackt in unansehnliche Lagen Sweatshirts, Schals und Socken. Auf diesen Trabrunden, die schmerzhafte Begegnungen mit tückischem Glatteis und betagten Fußgängern mit sich brachten, wurde ich von heftigem Selbstmitleid und abgrundtiefer Einsamkeit heimgesucht. Granatnarben aus der Zeit der Belagerung Sarajewos Mitte der neunziger Jahre riefen mir allerdings eindringlich in Erinnerung, dass mein vermeintliches Unglück demgegenüber wahrlich ein Witz war.

Auf einem dieser Joggingausflüge entdeckte ich auf dem Asphalt einen Spruch, der sinngemäß lautete: »Heimat ist, wo du bist.« Der Graffiti-Künstler mochte den Spruch einer geliebten Person zugedacht haben, doch ich interpretierte ihn als persönliche Bestärkung, zumindest so lange, bis Sarajewo komplett unter Schneebergen verschwand und ich ihn durch das Motto ersetzte: »Heimat ist, wo der Weinvorrat ist.«

Ein Stockwerk unter meiner Mietwohnung – einen Steinwurf von der Brücke, an der 1914 die Ermordung des österreichischen Erzherzogs Franz Ferdinand den Ersten Weltkrieg auslöste –, lebte eine bosnische Familie. Die Eltern, die in den neunziger Jahren die Belagerung ihrer Stadt miterlebt hatten, achteten streng darauf, dass ich konstant bis oben hin mit Spinatkäsetaschen gefüllt war. Die jüngere Tochter Uma brachte mir nicht nur wichtige bosnische Wörter wie »Wein«, »Spinatkäsetasche« und »Katastrophe« bei, sondern auch ein kurzweiliges Michael-Jackson-Videotanzspiel.

Mein unwiderruflicher Zustand ist zwar offenbar der migrantische – und mein Exil aus den USA endgültig –, doch die Großzügigkeit, mit der die Welt mich aufnimmt, lässt vermuten, dass Heimat da ist, wo die Menschen sind.

Belén Fernández

Sarajewo, Dezember 2018

ANFÄNGE

Im Jahr 1993 kam ich im Alter von elf Jahren in die siebte Klasse der St. Louis Catholic School in Austin, Texas. Es war meine dritte katholische Schule in Folge, obwohl meine Eltern beide nicht erkennbar gläubig waren. In der ersten, Our Lady of Lourdes in Bethesda in Maryland, hatte ich gelernt, »Our Lady of Lourdes« zu schreiben, und schon bald begonnen, Kurzgeschichten über eine pupsende Fledermaus namens Blaster zu verfassen. Die zweite war St. Theresa’s in der texanischen Hauptstadt Austin, in die wir zogen, weil mein Vater seinen beruflichen Pflichten als Journalist fortan lieber weit weg von der Redaktion in Washington, D. C., nachkommen wollte, damit niemand überprüfen konnte, ob er auch wirklich arbeitete, oder ihm bei seiner spontanen Wandlung zum Cowboy in die Quere kam.

St. Louis, die dritte und letzte meiner katholischen Lehranstalten, schmiegte sich in eine pittoreske Einkaufsmeile im Norden Austins und unterwarf uns einem totalitären Regime, dessen göttlicher Weisheit zufolge mein Hund nicht in den Himmel kam, das Tönen der Lippen eine lässliche Sünde war und das fehlerhafte Aufsagen des US-Treuegelöbnisses Pledge of Allegiance an Gotteslästerung grenzte. Die Eintönigkeit des irdischen Daseins wurde gelegentlich von einem Free Dress Day unterbrochen, an dem wir keine Schuluniform tragen mussten, ich aber durch öffentliche Demütigung und einen Ausflug ins Rektorat lernte, dass sich die Freiheit lediglich auf die Uniformfarben Grün und Weiß bezog.

Abgesehen von den Methoden der geistlichen Indoktrination, illustrierte St. Louis beispielhaft die Prinzipien der US-amerikanischen Schulbildung, die das Auswendiglernen für Prüfungen in den Mittelpunkt rückt und eine integrative Weltsicht weitgehend ausschließt. Meine Geschichtslehrerin Mrs. Conway verteilte gar vor jeder Klassenarbeit ein Übungsexemplar, sodass ich die Jahre auf der Junior High damit verbrachte, die Abfolge der Multiple-Choice-Antworten (B, A, C, D, B, E und so weiter) auswendig zu lernen und wieder auszuspucken, statt beispielsweise darüber nachzudenken, warum die geheiligten amerikanischen Gründerväter Sklaven hielten.

Wie überall schreibt auch in den USA die herrschende Klasse die Geschichte so, dass sie ihren Interessen nützt. Anders als in anderen Ländern aber gründen die USA zwar auf Sklaverei und dem Völkermord an den Indianern, präsentieren sich aber als leuchtendes Vorbild und stellen sich so eine Blankovollmacht dafür aus, den Rest der Welt nach eigenem Ermessen zu bombardieren, zu besetzen und sonstwie zu erleuchten. Die US-Mythologie behandelt die Erfahrungen der Gründeropfer als isolierte Tragödien, die nie und nimmer darauf schließen lassen, dass das US-amerikanische Projekt im Kern faul wäre, während die Schlachtfeste jüngerer Zeit in Hiroshima, Nagasaki, Vietnam, im Irak und anderswo in die Kategorie »Musste sein« fallen.

Lange, bevor ich all das auch nur ansatzweise begriff, verlebte ich eine angenehme Kindheit, die geprägt war von prätechnologischen Beschäftigungen wie dem Ausgraben von Würmern im Garten oder dem Hundeweitwurf vom Treppenabsatz im ersten Stock (unsere Hündin wurde trotzdem vierzehn Jahre alt). Allerdings litt ich schon in früher Kindheit unter einer Listenneurose, höchstwahrscheinlich ein genetisches Erbe meines Vaters und Großvaters, die mit großem Eifer Listen erstellten, um das Universum zumindest sinnbildlich in den Griff zu bekommen. Ich besaß einen Stapel mit Zetteln, auf denen in meiner krakeligen Handschrift die täglichen Pflichten verzeichnet waren, die ich eine nach der anderen abhakte, aufwachen, Zähne putzen, zur Schule gehen, von der Schule nach Hause kommen, Eis essen und so weiter. Als ich von der Existenz des Amazonas erfuhr, erstellte ich für eine spätere Reise dorthin schon mal eine Checkliste, unter anderem mit dem Vermerk, vorab zu recherchieren, wie viele Portionen Kentucky Fried Chicken ich einpacken musste.

Hin und wieder kümmerte ich mich auch um typisch amerikanische Projekte. Mit sechs modellierte ich einen Glücksbringer aus Lehm, mit dem ich mich während des Super Bowl 1988 in den Keller setzte und betete, was dazu führte, dass die Washington Redskins die Denver Broncos besiegten. Meine magischen Rituale zugunsten der Präsidentschaftskampagne Dukakis-Benson im selben Jahr verliefen weniger erfolgreich und endeten in der Präsidentschaft George H. W. Bushs.

Auch mein drei Jahre jüngerer Bruder war ein dankbares Versuchsobjekt. Nachdem ich ihm sehr zum Entsetzen meiner Eltern beigebracht hatte, aus dem Gitterbettchen zu klettern, dachte ich mir immer neue Experimente aus und plante unter anderem, ihm einen Finger zu brechen, um einmal das erhebende Gefühl zu erleben, wie es ist, einen Krankenwagen zu rufen. Der Finger ließ sich nicht brechen; den Krankenwagen rief ich trotzdem. Sollten Zweifel daran aufkommen, dass die spätere Zerrüttung unseres geschwisterlichen Verhältnisses allein meine Schuld ist, findet sich der Beweis auf einem alten Betamax-Film, der zeigt, wie ich meinem Bruder tyrannisch durch den Garten folge und mit schriller Stimme rufe: »Wie macht das Schweinchen, Joey? Wie macht das Schweinchen?!«

Mit dem Eintritt in die St. Louis Catholic School hatte die kindliche Spielerei ein Ende, zumal, als mich meine Mitschülerinnen darüber aufklärten, dass ich nicht nur behaarte Beine hätte, sondern auch einen Schnurrbart und zu wenig Busen. Trotzdem war meine Schulzeit dort nicht völlig verschwendet. Kurz vor meinem zwölften Geburtstag angelte ich mir einen Freund namens Rómulo, mit dem ich nach der Schule stundenlang in der Stadtteilbücherei auf dem Boden saß und unter quälendem Schweigen Händchen hielt. Wenn ich abgeholt wurde, verabschiedeten wir uns mit einem Liebesschwur und dem obligatorischen Kuss auf den Mund, ehe ich hinausflitzte.

Bei einem dieser leidenschaftlichen Tête-à-Têtes wurden wir von einem Mitschüler namens Meléndez gestört, der sich nach der Herkunft meines Nachnamens Fernández erkundigte. Mein Blick fiel auf die Wandkarte der Bibliothek, und ich weiß nicht, warum, aber ich fand, der mexikanische Bundesstaat Coahuila eigne sich als Antwort auf diese Frage so gut wie jeder andere Ort.

Zugegeben, eine so dröge Erinnerung lohnt sich wahrlich nicht jahrzehntelang zu konservieren. Sie fiel mir auch erst Jahre, nachdem ich 2003 die USA verlassen hatte, wieder ein, als ich mir den Kopf darüber zerbrach, ob ich jemals eine Identität über die Person hinaus besessen hatte, die Lebenszeit mit einem Buch über Thomas Friedman vergeudete (Schlussfolgerung: eigentlich nicht). Jedenfalls hatte die Familie Fernández mit Coahuila nichts zu tun, und das wusste ich auch schon im Alter von elf Jahren, denn da hatte ich mir bereits einen bis ins dreizehnte Jahrhundert zurückreichenden Familienstammbaum unter den Nagel gerissen und einen Verwandten namens Luis Centurión zu unserem offiziellen Hausgeist ernannt.

Mein Vater Joseph Fernández, der älteste lebende Vertreter unserer modernen Familiengeschichte, kam als Sohn von Joseph und Jeanette Fernández zur Welt, die beide im Viertel Ybor City in Tampa, Florida, geboren worden waren und auch beide einen Vater namens José Fernández hatten. Ihre Familien stammten aus verschiedenen Gegenden Spaniens und Kubas.

Dass einige dieser Vorfahren schillernder waren als andere, erfuhr ich, als mein Dad 2017 in seinem Rentneralltag, der von der wiederholten Lektüre des Don Quijote beherrscht wurde, ein wenig Zeit freischaufelte, um seine Lebenserinnerungen fertigzustellen, die er siebzehn Jahre zuvor begonnen hatte. Dieses Projekt hatte ihm einen Vorwand geliefert, als Korrespondent für The Bureau of National Affairs Inc. (später von Bloomberg aufgekauft) ein ausgedehntes Sabbatical zu nehmen. Wie er in in seinen Erinnerungen schrieb, war sein abuelo José väterlicherseits der festen Überzeugung gewesen, »dass die Benutzung der Toilette nicht gut für die Rohrleitungen ist«, und habe daher seine Frau angewiesen, stets in eine Café-Bustelo-Dose zu pieseln. Derselbe José hatte offenbar auch den College-Abschluss meines Vaters kleingeredet: »Dann doch lieber wie Don Quijote und Sancho herumstromern und vom Leben lernen«, soll er gesagt haben. So könnte sich die spätere Lektürewahl meines Vaters erklären.

Der andere abuelo José meines Vaters, bekannt als El Boy, hatte in den ersten Jahren des 20. Jahrhunderts in Ybor City einen Kollegen in der Zigarrenfabrik niedergestochen, nachdem dieser seine Familie beleidigt hatte, und war von seinen Schwestern eilig nach Kuba verschifft worden, wo er bei der Centurión-Verwandtschaft in Jiguaní im Osten der Insel Zuflucht fand, bis die Anklage gegen ihn fallengelassen wurde, er nach Tampa zurückkehren konnte und eine Anstellung bei dem Mafiaboss Santo Trafficante fand. Fast ein Jahrhundert später, 2006, besuchte ich mit Freunden die heutige Verwandtschaft in Jiguaní, die uns bei sich zu Hause aufnahm und uns mit Bergen gegrillter Schweineschwarte und Familiengeschichten überhäufte, etwa der tragischen Mär, »warum wir wegen Fidel Castro seit 1962 das Badezimmer nicht renovieren konnten«.

Meine Großeltern gaben sich alle Mühe, ihre Nachkommen zu enthispanisieren, und mein Großvater vollzog die patriotische Assimilierung durch seinen Eintritt in die Streitkräfte, was dazu führte, dass er nicht nur an der D-Day-Landung in der Normandie teilnahm, sondern auch an den Kriegen in Korea und Vietnam. Zu den weiteren Glanzpunkten seiner Karriere zählten eine Einsatzbesprechung mit US-Verteidigungsminister Robert McNamara während der Kubakrise und in den siebziger Jahren seine Tätigkeit als Direktor des Militärnachrichtendienstes für das United States Southern Command in der Panamakanal-Zone, die ihn mehrmals mit Manuel Noriega, dem späteren Diktator von Panama, zusammenführte. Noriega, den die CIA ungeachtet seiner bestens bekannten Verstrickung in den internationalen Drogenhandel jahrzehntelang für sich spionieren ließ, fiel Ende der achtziger Jahre bei Bush senior in Ungnade, woraufhin das US-Militär unter dem euphemistischen Namen »Operation Just Cause« Armenviertel von Panama City mit Tod und Zerstörung überzog.1I Vertreter der Vereinigten Staaten rechtfertigten die Mission mit dem Fund einer größeren Menge Kokains in einem Haus, in dem Noriega verkehrt hatte. Bei dem Kokain handelte es sich in Wahrheit um Tamales, also gefüllte Bananenblätter, doch eine Pentagon-Sprecherin fand auch das problematisch: »Das ist eine Substanz, die in Voodooritualen verwendet wird.«2

Ungeachtet seiner Rolle als Diener des Imperiums, hatte mein Großvater eine Schwäche für Castro, Che Guevara und andere regionale Größen, deren ärgerlichem Erbe, sich mit dem Imperium anzulegen, auch noch so viele US-gestützte Juntas, Diktatoren und Todeskommandos nicht den Garaus machen konnten. Die Früchte seiner Militärlaufbahn offenbarten sich am Ende seines Lebens, als er nackt durch die Flure eines texanischen Altersheims stürmte und potenzielle Invasionen der mexikanischen Luftwaffe aufdeckte oder andere Altersheimbewohner kommunistischer Umtriebe bezichtigte, in denen Sauerstoffflaschen eine maßgebliche Rolle spielten.

Der Vater meiner Mutter, ein ehemaliger Air-Force-Pilot, ebenfalls aus Florida, war in seinen ideologischen Überzeugungen da schon deutlich gefestigter. Als ich diesen Großvater 2009 wohl oder übel in West-Florida besuchte, erklärte er nicht nur, dass Barack Obama ein Kommunist sei, sondern auch, dass die USA Vietnam und den Irak von der Landkarte hätten tilgen sollen. Dieses Rezept für globale Gerechtigkeit gab er ohne jede Gereiztheit an mich weiter, etwa in dem Tonfall, in dem man jemandem rät, die Pflanzen im Garten zu gießen.

Die Mutter meiner Mutter, zu der wir schon früh den Kontakt abgebrochen hatten, bediente sich wiederum eigener Methoden der Kriegsführung: Einer alten Tante brach sie in einem dramatischen Kräftemessen auf der Treppe die Hüfte, ein andermal bedrohte sie ihre Tochter mit einer Schusswaffe. Nachdem die Behörden die Waffe vorübergehend eingezogen hatten, erhielt meine Großmutter sie gemäß dem unveräußerlichen Recht der US-Bevölkerung auf militarisierte Soziopathie wieder zurück. Andere Verwandte mütterlicherseits, die indes nicht so recht wussten, wie der Nachname meines Vaters zu interpretieren war, fragten sich besorgt, ob er womöglich schwarz sei. Wie durch ein Wunder gelang es meiner Mutter, aus diesem Umfeld mit einem intakten logischen Denkvermögen und einer beeindruckenden Bandbreite an positiven menschlichen Gefühlen hervorzugehen.

Nach einer zum Glück nur kurzen Aufwallung patriotischer Gefühle im Nachgang der Terroranschläge vom 11. September gelangten meine Eltern zu dem Schluss, dass sie auf den Krieg gegen den Terror auch gut verzichten konnten, und die folgende Präsidentschaft Obamas – König der Drohnenanschläge, Abschiebungen und anderer Flurschäden mehr – heilte sie endgültig von der Illusion, dass die Demokratische Partei auch nur ein Jota besser sei als ihre Alternative.3II Einige Jahre, nachdem ich die USA verlassen hatte, siedelten meine Eltern erst nach Argentinien, dann nach Panama und schließlich nach Barcelona über, wo sie zu bleiben gelobten und mein Dad seine Don-Quijote-Lektüre um ein weiteres Steckenpferd ergänzte, als er begann, Postkarten an Beelzebub und Mephistopheles zu schreiben, c/o Weißes Haus und Büro des Ministerpräsidenten von Israel.

Mein Bruder nahm einen völlig anderen Weg und trat den US Special Operations Forces bei, eine für ihn nicht völlig abwegige Laufbahn, nachdem er als Kind bei seinen Großvätern praktisch mit Militaria aufgewachsen war. Möglicherweise hatte er auch die ausgeprägt amerikanische Philosophie verinnerlicht, dass das Leben ein Videospiel sei. Wie er selbst einmal andeutete, begriff er den Dienst bei den Spezialkräften und die grotesken Muskelpakete, die er dort erwarb, als sinnbildlichen Triumph über die Schulhofschläger seiner Kindheit. In der Praxis führte das auf den seltenen Familientreffen dazu, dass ich mich im Schrank versteckte, während mein Bruder seinen Bizeps präsentierte und über die Warmduscher der internationalen Gemeinschaft herzog, die gegen den Einsatz ätzenden weißen Phosphors durch die USA in Syrien und im Irak protestierten.4

Im Jahr 1967 verurteilte Martin Luther King Jr. die US-Regierung als den »größten Gewaltlieferanten der Welt« und bezeichnete den Vietnamkrieg als »Symptom für eine weit tiefer gehende Krankheit im amerikanischen Geist«. Die USA, so klagte er, stünden »auf der Seite der Reichen und Sicheren, während wir den Armen die Hölle bereiten«.5

Ein halbes Jahrhundert später nannte die Historikerin Roxanne Dunbar-Ortiz in ihrem Buch An Indigenous Peoples’ History of the United States weitere bis heute gültige Merkmale dieser amerikanischen Geisteshaltung: »die fortwährenden [US-amerikanischen] Aggressionskriege und Invasionen, Billiardenausgaben für Kriegsgerät, Militärbasen und Personal statt für Sozialwesen und beste staatliche Bildung; die grotesken Gewinne der Konzerne, die jeder für sich mehr Ressourcen und Geldmittel besitzen als über die Hälfte aller Länder der Welt zusammengenommen, aber trotzdem kaum Steuern zahlen und den Menschen in den USA nur wenig Jobs bieten; die Unterdrückung der vielen Aktivistinnen und Aktivisten, die seit Generationen das System verändern wollen; die Inhaftierung von Armen, besonders von Nachfahren versklavter Menschen aus Afrika; den Individualismus, der allen Menschen sorgfältig eingetrichtert wird, einerseits bei persönlichen Rückschlägen heftige Selbstvorwürfe auslöst und andererseits einen gnadenlosen, erbitterten Konkurrenzkampf um den möglichen Erfolg entfesselt – der sich nur selten einstellt –; und die hohen Raten von Selbstmord, Drogenmissbrauch, Alkoholismus, sexueller Gewalt gegen Frauen und Kinder, Obdachlosigkeit, Schulabbruch und Waffengewalt.«6

So sehr mir die USA später missfielen, hatte ich herzlich wenig zu meckern, wenn man mein Leben mal mit dem meiner Landsleute vergleicht, die ins Gefängnis kamen, weil sie in einem Kaufhaus drei Gürtel gestohlen hatten, oder von Gesetzeshütern erschossen wurden, weil sie »als Schwarze« dieser oder jener Betätigung nachgingen – weil sie rennen oder gehen, fahren oder atmen.7 Auch wenn jemand »›als Schwarzer‹ im Gefängnis gefesselt ist«, weckt das bei Vertretern des Staates bekanntermaßen potenziell mörderische Impulse, deren Folgen die Redaktionsleitung der Washington Post in der Berichterstattung über einen Fall in Virginia 2015 diplomatisch formulierte: »Wie der Gerichtsmediziner feststellte, war der Umstand, dass mehrmals mit einer Elektroschockpistole auf die gefesselte Natasha McKenna geschossen wurde, einer von vielen Faktoren, die ihren Tod herbeiführten.«8

Damit die Leute nicht auf die Idee kommen, der Staat selbst könnte der Staatsfeind Nr. 1 sein, werden ihnen regelmäßig zweckmäßige Bedrohungen aufgetischt. Neben den üblichen Verdächtigen im eigenen Lande – Schwarze, Arme, Einwanderer und so weiter – hat sich die große weite Welt als fruchtbare Quelle für die Fabrikation freiheitsgefährender Dämonen bewährt. Ich kam zu spät auf diese Welt, um die sowjetische Gefahr in ihrer vollen Pracht zu würdigen, lernte aber im Alter von acht Jahren das Modell Saddam Hussein kennen, der, wie uns unsere Lehrerin in der vierten Klasse von St. Theresa erklärte, jede Minute Bomben auf unser Klassenzimmer werfen konnte.

Das war 1991/92. Damals lief gerade die Operation Desert Storm, weniger als zehn Jahre, nachdem die USA eben diesen Saddam Hussein verschiedentlich tatkräftig dabei unterstützt hatten, an chemische Waffen zu gelangen. Sorgfältiger als andere moderne Nationen wählen die USA stets gezielt Zeitpunkt und Umstände aus, um aus einem Verbündeten einen Feind zu machen und umgekehrt. Wie Peter Frankopan von der Oxford University in seinem Buch The Silk Road. A New History of the World darstellt, quittierten die USA Mitte der achtziger Jahre Berichte der Vereinten Nationen über Saddam Husseins Einsatz chemischer Waffen gegen die eigene Bevölkerung »mit Schweigen«. Auch war es äußerst peinlich, »dass die Produktionsleistung des Irak einem hohen amerikanischen Offizier zufolge ›in erster Linie von westlichen Firmen [stammte], unter ihnen mutmaßlich eine ausländische Tochter eines US-Unternehmens«, was natürlich »unbequeme Fragen nach einer Mitschuld am Erwerb und Einsatz« international verbotener Stoffe durch Saddam Hussein nach sich zog.9

Als sich der Wind gedreht hatte, wurde der Irak nicht nur zur Zielscheibe amerikanischer Bomben, sondern auch amerikanischer Sanktionen, die glatt als Massenvernichtungswaffen durchgehen könnten. Die damalige UN-Botschafterin Madeleine Albright begegnete 1996 dem Vorwurf, infolge der Sanktionen sei Berichten zufolge eine halbe Million irakischer Kinder gestorben, mit den Worten: »Wir meinen, den Preis ist es wert.«10

Als ich erfuhr, welche Gefahr für mein Klassenzimmer vom Irak ausging, setzte ich umgehend einen Brief an Saddam Hussein auf, in dem ich ihm von meinen Pferden erzählte und ihn bat, die Raketen doch bitte bei sich zu behalten. Er schrieb mir nie zurück, anders als ein US-Soldat namens McGee, der an der Operation Desert Storm teilnahm und den mir St. Theresa’s als Brieffreund zugeteilt hatte – mit der Unterstützung der Truppen konnte man nicht früh genug beginnen. Der Gefreite McGee schickte mir netterweise etwas Wüstensand und ein paar saudische Münzen, und ich korrigierte mit bunten Textmarkern seine Orthografie- und Grammatikfehler.

Als es 2003 erneut zwingend geboten schien, Jagd auf Saddam Hussein zu machen, befand ich mich im Abschlussjahr meines Studiums an der Columbia University in New York und hatte mich in einem Alltag kräftezehrender Panikattacken eingerichtet, nachdem ich nach meiner Rückkehr von einem Auslandsjahr an der Universität in Rom feststellen musste, dass mein Heimatland mittlerweile einem gigantischen Laborexperiment zur Zertrümmerung der menschlichen Seele glich. (Zugegeben, die Iraker, denen die buchstäbliche Zertrümmerung unmittelbar bevorstand, und die Afghanen, die sie gerade über sich ergehen ließen, hatten deutlich mehr zu beanstanden als ich.) Die USA hatten sich nach dem 11. September in dem Tsunami patriotischer Klischees durchaus nicht grundlegend verändert, sondern mir fielen nach meiner Rückkehr Starrsinn und Freudlosigkeit wohl einfach nur stärker auf, nach einem Jahr in einem römischen Viertel, in dem mitten am Tag alle Geschäfte für vier Stunden dichtmachen, damit die Menschen Zeit für gemächliches Schlemmen und ein Nickerchen haben. Angesichts der Zuversichtlichkeit und Grazie, mit der die Menschen in Italien durch das Universum zu spazieren schienen – auch wenn sie dabei ständig Kraftausdrücke mit Penis- oder Hodenbezug ausstießen –, glichen die USA in meinen Augen immer mehr einem Volk von Schaumschlägern, die für die Ökosysteme dieser Erde nicht taugten.

Es war nicht mein erster Rodeo in Sachen Panikattacken. Seit der Grundschule hatte ich mir in regelmäßigen Abständen Fehldiagnosen erstellt, sei es Epilepsie, Herzinfarkt oder andere Krankheiten, deretwegen ich mich regelmäßig hyperventilierend in WC-Kabinen einschließen musste. Möglicherweise versuchte ich ja auch nur, dem amerikanischen Motto »Irgendwas fehlt einem immer« gerecht zu werden, doch der gemeinsame Nenner meiner Angstzustände war offenbar die Furcht, dass mir niemand helfen würde – ein durchaus berechtigtes Gefühl in einem System, das sich der Isolation des Individuums und der allgemeinen Entfremdung vom Menschsein verschrieben hat. Und die italienische Gesellschaft mag zwar nicht die hilfsbereiteste auf unserem Planeten sein – man sehe sich nur an, wie viele Bootsflüchtlinge die italienische Küstenwache in den letzten Jahren hat ertrinken lassen –, doch dank des stets verfügbaren kostengünstigen Weins war das Land bestens geeignet, um dort das erste Jahr des Kriegs gegen den Terror auszusitzen, der kurz nach meiner Abreise nach Rom 2001 begonnen hatte.11

Als ich im Jahr darauf in die Heimat zurückkehrte, begegneten mir die manische Klimatisierung von Innenräumen und andere vertraute Phänomene einer entfremdeten Gesellschaft wieder, in der der Kapitalismus mit der Kriminalisierung und Pathologisierung normalen menschlichen Verhaltens eine Verbindung eingeht, das kriminell krankhafte System selbst aber unberührt bleibt. Empathie, Gemeinschaftssinn, eine von technischem Schnickschnack ungestörte Aufmerksamkeit oder eine zivilisierte Bürgerschaft, die sich wirksam gegen staatliche Gewalt im In- oder Ausland gestemmt hätte – Fehlanzeige. Die USA setzen seit langem andere Schwerpunkte, sei es in der Kommerzialisierung von allem und jedem, was es auf dieser Erde gibt, oder im Heranziehen lammfrommer Medien, die wie im Falle der Verwüstung des Irak imperiales Kampfgehabe kritiklos glorifizieren.

Vom alltäglichen Mangel an Mitgefühl profitieren die Waffen- und Pharmaindustrie ebenso wie andere Branchen, die in einem gestörten Umfeld ideale Märkte finden. In der hier entstandenen gesellschaftlichen Landschaft werden auch die Voraussetzungen für Schulmassaker immer günstiger – noch so ein Phänomen, das es in vielen angeblich minderwertigen Ländern des Globus mysteriöserweise nicht gibt. Auch sind in weiten Teilen der Welt die Menschen nicht darauf angewiesen, dass ihnen Gwyneth Paltrow Salz für 78 Dollar andreht.12

Und obwohl viele steif und fest behaupten, die USA seien im Grunde ihres Herzens anständig und gütig, und den Aufstieg Donald Trumps als gigantischen Unfall beklagen, zeigt schon ein kurzer Blick in die nationale Bilanz – parteiübergreifende Kriegstreiberei, Doppelmoral, amerikanischer Exzeptionalismus und die Vergötterung des Mammon –, dass Amerika schon ziemlich lange unter Vorerkrankungen leidet.