Existential Nursing - Dorothee Bürgi - E-Book

Existential Nursing E-Book

Dorothee Bürgi

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Beschreibung

Existential Nursing geht von der Conditio Humana aus und zeigt den Zusammenhang zwischen Existenz und der Ausgestaltung von Pflege auf. Es bildet die Brücke zwischen Pflegetheorien und dem Blick auf das Wesen des Menschen. Beides vereint ist entscheidend für eine moderne und humane Pflege. Das Buch ist ein Praxisleitfaden und eine Einladung zum Dialog über das Wesen von Pflege. Existential Nursing ist mit seinen theoretischen Bezügen zur Existenz ein integrativer Ansatz für eine authentische und ganzheitliche Pflege, beinhaltet Fragen zur Reflexion in den eigenen existentiellen Bezügen und ist auch ein Impulsgeber für Pflegende aus den Bereichen Führung, Fachentwicklung und Bildung.

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Dorothee BürgiAndrea Ott WabelPatrik Honegger

Existential Nursing

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Alle Angaben in diesem Fachbuch erfolgen trotz sorgfältiger Bearbeitung ohne Gewähr, eine Haftung der Autor:innen oder des Verlages ist ausgeschlossen.

Alle Rechte, insbesondere das Recht der Vervielfältigung und der Verbreitung sowie der Übersetzung, sind vorbehalten.

Copyright © 2024 Facultas Verlags- und Buchhandels AG

facultas Verlag, Wien, Österreich

Umschlagfoto: © Patrik Honegger; Bildnachweis: Adobestock

Lektorat: Katharina Schindl, Wien, Österreich

Abbildungen: giger grafik, Zürich, Schweiz

Satz: Florian Spielauer, Wien, Österreich

Druck: Facultas Verlags- und Buchhandels AG

ISBN 978-3-7089-2435-9

E-ISBN 978-3-99111-838-1

Inhalt

Vorwort

Einleitung

„Pflege, quo vadis – Pflege, wohin gehst du?“

Eine Pflegende erzählt

Zum Aufbau des Buches

Teil IExistential Nursing – ein integrativer Ansatz

1 Existential Nursing – Pflege, die vom Menschen ausgeht

Vier Thesen zu Pflege

2 Pflege auf den Grundlagen der Existenz

Die Welt und ihre Bedingungen und Möglichkeiten

Schutz, Raum, Halt

Das eigene Leben

Beziehung, Zeit, Nähe

Das eigene Personsein

Beachtung, Gerechtigkeit, Wertschätzung

Die Zukunft und das Handeln

Zusammenhang, Aufgabe, Wert in der Zukunft

3 Orientierungen der Pflege

Vertrauensorientierte Pflege

Wahrnehmen und objektiv prüfen

Rigide Pflege

Qualitätsindikatoren für vertrauensorientierte Pflege

Wertorientierte Pflege

Fühlen und Beziehung aufnehmen

Funktionale Pflege

Qualitätsindikatoren für wertorientierte Pflege

Personorientierte Pflege

Einschätzen und Stellung beziehen

Unpersönliche Pflege

Qualitätsindikatoren für personorientierte Pflege

Sinnorientierte Pflege

Erfassen des situativ Geforderten und handeln

Orientierungslose Pflege

Qualitätsindikatoren für sinnorientierte Pflege

Im Dialog mit Settimio Monteverde

Plädoyer für eine „sehende“ Pflege

4 Ganzheitlich pflegen

Die Personierung der Pflege

Das Wesentliche in der Pflege

Teil IIExistential Nursing – ein authentischer Ansatz

5 Pflege für Pflegende

Debriefing und Time-out

Selbstsorge im Umgang mit Frustration

Der Sinn von Frustration

6 Existential Nursing und Shared Governance

Im Dialog mit Esther Matolycz

Bildung braucht Lebenspraxis

Teil IIIExistential Nursing – ein wissenschaftlicher Ansatz

7 Das Menschenbild von Existential Nursing

Das Zusammenspiel von Körper – Psyche – Geist

Die Weisheit der Psyche

Körper – Psyche – Geist als Pflegelandkarte

Im Dialog mit Eckhard Frick sj

Pflege und Spiritualität

8 Die wissenschaftlichen Grundlagen von Existential Nursing

Existential Nursing – existentielle Basistheoreme in der Pflegepraxis

9 Literaturverzeichnis

10 Empfohlene Literatur

Autorinnen und Autor

Vorwort

Ich sitze auf meinem Sofa und bin rundum zufrieden. Sie müssen wissen, die letzten drei Wochen verbrachte ich im Krankenhaus mit einem komplizierten Beckenbruch, eine ganz unangenehme Sache. Ich bin heilfroh, wieder zu Hause zu sein. Heute Früh kam Post, darunter auch ein Brief vom Krankenhaus. Rechnungen und so, und ein Fragebogen, um dessen Rücksendung gebeten wird. Zuhanden der Leitung Qualitätsmanagement, heißt es im Briefkopf. Ich überfliege den Fragebogen. Die Beantwortung dauert ca. 10 Minuten, heißt es weiter. Die Teilnahme an der Befragung ist selbstverständlich freiwillig. „Als ob für einen Patienten etwas freiwillig wäre“, geht es mir durch den Kopf. „Wie zufrieden waren Sie mit der Betreuung? Wurde auf Ihre Bedürfnisse eingegangen? Wie zufrieden waren Sie mit dem Essen? War das Personal freundlich, wie verhielt es sich mit der ärztlichen Betreuung, der Sauberkeit, den Besuchszeiten, dem Komfort im Zimmer? Würden Sie unser Krankenhaus weiterempfehlen?“

Ich schüttle den Kopf, gehe zum Schreibtisch hinüber, setze mich hin und nehme ein Blatt Papier. Oben rechts schreibe ich: zu Handen der Pflegenden …

■ im Notfall: „Die Vorstellung, dass die Folgen des Unfalls mein ganzes Leben verändern könnten, hat mich total aus der Bahn geworfen. Was wird kommen, wie geht es mit mir weiter? Ihre herzliche Sachlichkeit und die ruhige Art des gesamten Teams haben mir enorm geholfen, mit dem Chaos in mir zurechtzukommen.“

■ in der Radiologie: „Sie haben mich aufgefordert, möglichst ruhig zu liegen, was mir aufgrund der Schmerzen und meines Gefühls von Kontrollverlust alles andere als leichtfiel. Danke, dass während den Röntgenaufnahmen ein Mensch mit mir gesprochen hat und keine automatische Stimme.“

■ im Operationssaal: „Ich hatte panische Angst, aus der Narkose nicht mehr aufzuwachen. Diese Angst war wie weggeblasen, als Sie mir sagten: ‚Sie können jetzt gleich einschlafen; ich lasse Sie während der ganzen Operation keinen Moment aus den Augen.‘“

■im Aufwachraum: „Als ich erwachte, war ich völlig orientierungslos. Ich erinnere mich als Erstes an eine wohltuende Stimme, die sagte: ‚Es ist alles gutgegangen. Ich gebe Ihnen jetzt etwas gegen die Schmerzen. Ihre Frau wartet draußen. Soll ich sie hereinholen?‘“

■ auf der Station: „Drei Wochen lang haben Sie mich am Morgen um 7 Uhr geweckt und gefragt, ob ich gut geschlafen habe. Die Art, wie Sie sich nach meiner Nachtruhe erkundigten, war nie bloße Routine oder eine Floskel, sondern das spürbare Interesse daran, wie es mir geht und wie ich in den Tag starte.“

■ im Nachtdienst: „Am Anfang konnte noch nicht ausgeschlossen werden, dass die instabile Beckenfraktur bleibende Schäden hinterlassen würde. Diese Ungewissheit hat mich vor allem nachts geplagt. Einmal erzählte ich dem Pfleger um vier Uhr morgens von meiner Aufgabe als Junioren-Fußballtrainer. Sein offenes Ohr und sein Interesse haben mir in dunklen Stunden Mut und Zuversicht gegeben.“

■ von der ambulanten Pflege: „Die Beckenfraktur ist jetzt stabil und kann ausheilen. Mit meiner eingeschränkten Mobilität bin ich aber noch sehr abhängig von Unterstützung im Alltag. In den eigenen vier Wänden Hilfe anzunehmen und zuzulassen ist gar nicht so einfach. Danke für Ihre Geduld mit mir.“

Ein Patient

Einleitung

Die Geschichte der Pflege ist so alt wie die Menschheit, denn fürsorgende Zuwendung ist ein Wert, der uns Menschen auszeichnet. Deshalb ist Pflege aus einer solidarischen Gesellschaft nicht wegzudenken. Allein schon daraus wird ersichtlich, dass Pflege mehr ist als ein Fachbereich mit spezifischen Aufgaben, besonderen Zielsetzungen und Vorgehensweisen. Das Pflegen von Menschen ist ein zutiefst menschlicher Akt und in seinem Ausdruck eine Begegnung. Pflege in diesem Verständnis schaut nicht auf den Patienten1 als Objekt und Empfänger von Pflegdienstleistungen, sondern auf das Wesen der Pflege. Vieles, was wir in diesem Buch vorstellen, muss gefühlt werden und nicht gedacht. Das ist der Zugang, um das Eigentliche der Pflege, die Idee von Pflege, zu erfassen und lebendig zu machen.

Pflege ist ein integraler Bestandteil jeder Gesundheitsorganisation – sei es in der Akut- oder der Langzeitpflege, in der ambulanten Pflege oder in anderen spezialisierten Bereichen. Die Pflege ist immer da – 24 Stunden am Tag, sieben Tage die Woche, das ganze Jahr über. Das macht diese Profession einzigartig, in ihrer Identität unverwechselbar und unersetzbar. Pflege ist somit eine Konstante mit Gewicht. In einem Gesundheitswesen mit begrenzten Ressourcen und unter dem Druck des Effizienzdenkens läuft die Pflege jedoch Gefahr, die Grundlagen ihrer Identität zu verlieren: das Sorgen um die Patienten, die der Pflege anvertraut sind. Dieses Sorgen verwirklichen Pflegende nicht über das Abhaken von Checklisten und Abarbeiten von Aufgaben, sondern über das Gestalten tragfähiger Beziehungen, über geteilte Werte und ein Wissen, zu dem alle an der Pflege Beteiligten mit ihrer Expertise beitragen – ausgerichtet auf das Wohl des Patienten. Darum geht es in diesem Buch.

„Pflege, quo vadis – Pflege, wohin gehst du?“

Geleitet von dieser Frage haben wir uns an einem kalten Novembertag 2017 zum ersten Mal getroffen. Wir saßen an einem langen Wirtshaustisch, wie es sie früher in Gasthöfen gab. An jenem Tisch ist dieses Buch entstanden. Die „Pflege, quo vadis?“-Treffen entwickelten sich in kürzester Zeit zu einem inspirierenden Dialog und zu menschlich erfüllenden Begegnungen. Sie waren auch der Ausgangspunkt vieler leidenschaftlicher Debatten, Quelle von Inspiration und Ermutigung zu einer offenen Sicht auf das Wesen der Pflege. Schon damals sorgten die vielerorts schwierigen Arbeitsbedingungen und der Trend zum frühzeitigen Ausstieg aus dem Pflegeberuf für zahlreiche Debatten in der Öffentlichkeit. Dass es einmal eine Zeit geben würde, in der Menschen vom Balkon aus der Pflege Applaus spenden, konnten wir uns damals nicht vorstellen. Oft diskutierten wir bis tief in die Nacht hinein, teilten Geschichten und entwarfen Visionen aus dem Anliegen heraus: „Wir wollen Teil der Lösung sein und nicht Teil des Problems.“

Daraus entstand Existential Nursing – Pflege auf den Grundlagen der Existenz.

Existential Nursing ist ein integrativer Ansatz, der als Orientierungswissen einen Kontrapunkt zu mode- und zeitabhängigen Pflegekonzepten setzt. Existenz ist ein leitender Begriff in diesem Buch. Er bildet die Brücke zwischen Pflegetheorien aus den Wissenschaften und dem tieferen Blick auf das Wesen des Menschen. Beides vereint ist entscheidend für eine moderne und humane Pflege. Existential Nursing – bestehend aus den Worten „Existenz“ und „Nursing“ – geht in seinen Betrachtungen vom „Existenz-Begriff“ aus und nicht vom „Care-Begriff“. Das führt zu einer besonderen Sichtweise auf Pflege. Im Zentrum stehen nicht inhaltliche Pflegefragen, sondern die Essenz der Pflege. Das, was die Pflege zu dem macht, was sie ist, unabhängig von den konkreten Umständen, die wir im Gesundheitswesen aktuell antreffen. Existenz ist ein Kernbegriff der Existenzphilosophie und die Ideenquelle für Existential Nursing. In einem umfassenden (existenzanalytischen) Verständnis meint Existenz „[…] ein sinnvolles, in Freiheit und Verantwortung gestaltetes Leben in der Welt […]“2. Übertragen auf die Pflege führt uns das zu grundlegenden Fragen, die in diesem Buch leitend sind:

■ Was sind die Voraussetzungen für eine gute und sinnhafte Pflege?

■ Was brauchen Pflegende, um ihre Profession im dialogischen Austausch mit den Möglichkeiten und Anforderungen zu gestalten und weiterzuentwickeln?

■ Um welche Werte soll es in der Pflege gehen – jetzt und künftig?

Die Pflege an sich kann darauf keine Antwort geben, denn Pflege ist keine Person. Immer aber sind es Personen, die pflegen. Dieses Buch möchte Pflegende auf der Suche nach Antworten inspirieren und unterstützen. Es will nicht expertengeleitet lehren, sondern zum grundsätzlichen Nachdenken über Pflege anregen und darüber, was in der Pflege im jeweiligen Kontext existentiell bedeutsam ist.

Existential Nursing ist eine Einladung zum Dialog über das Wesen der Pflege und darüber, worum es in der Pflege gehen soll. Im Zentrum steht der Mensch in seinen existentiellen Bezügen. Ausgangspunkt dafür ist die Conditio humana, das Wesen des Menschlichen. Erst ein tiefes Verständnis dafür, was uns Menschen ausmacht, erschließt den engen Zusammenhang zwischen Existenz und einer Pflege, die dem Menschen dient. Mehr noch: Erst fundiertes Wissen zu Existenz und deren Herleitungen aus der Philosophie, erprobtes Wissen aus unterschiedlichen Pflegerichtungen und – als verbindendes Element – die Liebe zum Pflegeberuf schaffen die Grundlage für eine authentische Pflege. Oder anders formuliert: Pflege ist dann authentisch, wenn sie vom eigenen Kern ausgeht und nicht von von außen übertragenen Konzepten, die Pflege verfremden.

Eine Pflegende erzählt

„Wir hatten letztes Jahr eine Klausur und sind mit nur zwei Fragen gestartet: ‚Wonach sehnen wir uns als Pflegende?‘ und ‚Wofür sind wir bereit zu leiden?‘.

Die Fragen haben zu Beginn Irritation ausgelöst, dann aber rasch ihr tieferes Potenzial entfaltet. Der Sehnsucht nachzuspüren führte uns zu dem, was wir mit Pflege erreichen wollen, worum es uns geht und was das Wesentliche ist. Die Frage nach der Leidensbereitschaft brachte zutage, für welche Werte wir uns als Pflegende einsetzen, auch wenn die Umstände oft sehr schwierig sind.“

Im Pflegealltag geht es meist weniger philosophisch zu, denn Pflegende sinnieren nicht den ganzen Tag und lesen nicht dauernd Bücher. Doch Pflegende wissen intuitiv – unabhängig von Alter oder Erfahrung –, worum es geht und was Menschen brauchen, um ihre Existenz zu realisieren. Existential Nursing will diesem Wissen und dem Dialog dazu eine Sprache geben, damit Pflegende abstrakte Begriffe wie Ganzheitlichkeit, Vertrauen, Respekt oder Sinn mit Leben füllen und daraus für sich und die Pflege ihr Eigenes machen.

Zum Aufbau des Buches

Das Buch ist in drei Teile gegliedert. Im ersten Teil thematisieren wir den grundlegenden Zusammenhang zwischen Existenz und Pflege. Welche Tatsachen und Struktur begründen die menschliche Existenz und welche Voraussetzungen brauchen wir als Menschen, um unsere Existenz zu realisieren – unabhängig davon, ob wir Pflege benötigen oder nicht? Die Antworten darauf bilden die Grundlage für die vier existentiellen Dimensionen der Pflege und die dazugehörigen Themen, Aufgaben und Gestaltungspotenziale durch Pflegende. Auf dieser Systematik bauen auch die Qualitätsindikatoren für eine Pflege auf den Grundlagen der Existenz auf. Sie werden anhand von Praxissituationen illustriert und als Anregung zum Dialog mit Reflexionsfragen erweitert.

Im zweiten Teil liegt der Fokus auf den Pflegenden in ihren eigenen existentiellen Bezügen. Dazu vertiefen wir ausgewählte Aspekte zur Selbstsorge und geben Impulse zu Führung sowie Reflexionsangebote für Pflegende im Bereich Fachentwicklung und Bildung. Damit ist Existential Nursing auch ein Begleitbuch für Pflegende, die ihre Prioritäten im Team und in der Organisation grundlegend thematisieren wollen, um gemeinsam innovative Lösungen zu entwickeln.

Der dritte Teil widmet sich den theoretischen Grundlagen von Existential Nursing. Mit den Ausführungen zum Menschenbild „Körper – Psyche – Geist“ wollen wir die enge Verbindung von Naturwissenschaften und Geisteswissenschaften aufzeigen. Sie ist grundlegend für ein ganzheitliches Verständnis von Menschsein. Dieser Teil schließt ab mit einer summarischen Übersicht zu den personal-existentiellen Grundmotivationen3, auf denen Existential Nursing aufbaut. Sie zeigen das Potenzial und den Reichtum an Handlungsmöglichkeiten auf, die Pflegenden mit diesem Ansatz zur Verfügung stehen.

Existential Nursing ist auch eine Begegnung. Dazu haben wir drei Gäste eingeladen, die mit ihrer fachlichen und persönlichen Perspektive zu ausgewählten Themen dieses Buch bereichern. Wir danken Settimio Monteverde (CH), Esther Matolycz (AT) und Eckhard Frick (DE) herzlich dafür.

Das vorliegende Buch wurde ohne Unterstützung von generativer künstlicher Intelligenz verfasst – es ist uns wichtig, dass die Texte unserem Wissen, dem Wissen anderer und vor allem unseren Herzen entstammen, die für die Pflege schlagen.

Zürich, Februar 2024

Dorothee Bürgi, Andrea Ott Wabel, Patrik Honegger

1 Für den Begriff „Patient“ ohne nähere Bestimmung verwenden wir das generische Maskulin. Die Bezeichnung „Pflegende“ steht für alle Angehörigen von Gesundheits- und Pflegeberufen, an die sich dieses Buch wendet.

2 Längle 2008, S. 23.

3 Weitere Ausführungen zu den personal-existentiellen Grundmotivationen als tiefste Motivationsstruktur der Person in ihrem wesensmäßigen Streben nach Existenz in Teil III „Existential Nursing – ein wissenschaftlicher Ansatz“.

Teil I

Existential Nursing – ein integrativer Ansatz

1 Existential Nursing – Pflege, die vom Menschen ausgeht

Quelle und Zielpunkt von Existential Nursing ist der Mensch. Nicht Krankheitsbilder und Pflegekonzepte leiten das Handeln am Krankenbett, sondern ein Grundverständnis darüber, was der Mensch ist und was er braucht, um sein Menschsein zu realisieren. Über den Menschen nachzudenken ist das Feld der Philosophie. Existential Nursing steht in der philosophischen Tradition des Humanismus. Humanitas – die Menschlichkeit. Die Devise „Der Mensch steht im Mittelpunkt“ braucht aber einen noch tieferen Blick, um in der Pflege nicht nur über den Menschen zu sprechen, sondern vom Menschsein an sich, unabhängig davon, mit welcher Krankheit, welcher Versehrtheit er zu tun hat und welche Therapien notwendig sind.

Existential Nursing will einen Schritt weitergehen und nicht nur fragen, was der Mensch ist, sondern was Leben überhaupt ist. Diese Frage führt uns in die Existenzphilosophie: Was begründet Existenz, was brauchen wir Menschen, um zu unserer Existenz zu kommen? Pflegekonzepte, die nur Teilbereiche des Menschen erfassen, reichen dazu nicht aus. Es braucht eine ganzheitliche Sicht, die den Menschen in seinen existentiellen Bezügen erfasst. Eine Sichtweise auf den Menschen bezeichnen wir als existentiell, wenn wir ihn sehen und erkennen

1. im Bewusstsein seiner Begrenzungen und Möglichkeiten: Leben bringt Begrenzungen und Möglichkeiten mit sich. Existieren bedeutet, den Fokus auf die Fähigkeiten und Möglichkeiten in einer Situation zu legen und nicht nur auf das Begrenzende. Das ist die Haltung, um in beengenden Situationen neue Spielräume zu erschließen.

2. in der Achtsamkeit gegenüber dem, was wir Menschen fühlen und wie wir das Leben erleben: In einem gelungenen Leben überwiegt das Positive. Deshalb stellt sich bei allem, was wir tun, die Frage, ob wir Gutes dabei erleben. Dazu müssen wir in ständiger geistiger Verbindung mit dem Wert einer Sache stehen – sozusagen auf Tuchfühlung gehen mit dem Guten – und frühzeitig erkennen, wenn uns etwas nicht guttut oder nichts (mehr) bedeutet.

3. in der Haltung, die von der Würde des Menschen ausgeht: Gelungen ist Leben dann, wenn das Eigene darin aufgeht und Menschen ihrem Handeln den persönlichen Stempel aufdrücken können, authentisch sind und sich in dem finden, was sie tun. Das Gegenteil ist der Fall, wenn unser Eigenes unbeachtet bleibt, wenn wir übergangen werden und uns verbiegen, weil wir die Dinge nicht auf die Weise tun können, wie wir sie gerne täten. Wenn auch viele Situationen nicht die Freiheit ermöglichen, die uns lieb wäre, bleibt doch immer eine Freiheit: die Wahl, wie wir etwas tun möchten.

4. in einem Eingebettetsein in Zusammenhänge, aus denen heraus sich (Lebens-)Aufgaben ableiten. Eine Ausrichtung und ein Gespür dafür, wozu man etwas tut, hält Menschen aufrecht – besonders in Zeiten großer Belastung. Trägt das, was ich tue, zu einer für mich erstrebenswerten Zukunft bei? Denn Zukunft ist nicht bloß die Fortführung von Vergangenheit. Zukunft ist das Ausgerichtetsein auf einen Wert, für den es sich lohnt, Lebenszeit einzusetzen.

Das sind in der Kurzform die vier Grundpfeiler von Existential Nursing:

■ Akzeptieren der Bedingungen und in neue Möglichkeiten wachsen

■ Beziehung aufnehmen zu den Gefühlen und dem Lebenswerten, um das es gehen soll

■ sich kennen und den anderen kennen, dafür einstehen, was einem wichtig ist, und sich gegenseitig darin respektieren

■ (ungewollte) Veränderung zu wertvollen Entwicklungen ausgestalten

Auch als gesunder Mensch gehört es zum Leben dazu, mit Abhängigkeit und Begrenzung konfrontiert zu sein, Situationen zu erleben, die schmerzlich und leidvoll sind, in seiner Autonomie eingeschränkt zu sein und in eine ungewissen Zukunft zu blicken. Wir erleben nicht nur Freudvolles, Genüssliches, Beglückendes. Im Leben haben wir es immer mit der ganzen Vielfalt zu tun. Von besonderer Bedeutung ist diese Tatsache, wenn wir durch Krankheit oder einen Unfall ungewollt vor Neuem stehen, mit veränderten Bedingungen konfrontiert und aufgefordert sind, einen Umgang damit zu finden. Das ist – existentiell gesehen – die Situation, in der Pflegende den Patienten antreffen.

Vier Thesen zu Pflege

Eine Pflegende erzählt, wie es war, als ihr Vater gestorben ist. Innerhalb von nur drei Monaten ist aus dem gesunden, kräftigen Mann ein körperlich ausgemergelter, schwer kranker Mensch geworden, der nach kurzer Zeit 70-jährig zu Hause an einer Lungenkrankheit verstarb. „Was ist Pflege?“, fragen wir sie. „Pflege ist“, so ihre Antwort, „wenn ein Pflegeteam da ist und den Patienten und seine Familie während dieser Zeit betreut und in schwierigen Momenten Sicherheit vermittelt und das Vertrauen, dass unser Vater friedlich und schmerzfrei gehen darf. So haben wir es als Familie überstanden – vor allem unsere Mutter.“

These 1: Pflege ist das Vertrauen in die Möglichkeiten des Menschseins.

Eine 28-jährige Frau brachte ihr erstes Kind im Krankenhaus zur Welt. Die Geburt verlief normal und bereits einen Tag danach konnte sie mit dem Baby nach Hause gehen. Vom Eintritt ins Krankenhaus bis zur Niederkunft wurde sie von einer Hebamme betreut, die sie schon vom Geburtsvorbereitungskurs kannte. „Was ist Pflege?“, fragen wir sie. Ihre Antwort darauf: „Pflege ist, wenn sich jemand Zeit nimmt und ein Mensch da ist, der mich begleitet bei dem, was jetzt kommt.“

These 2: Pflege ist ein Beziehungsbegriff.

„Was ist Pflege?“, fragen wir einen Pflegenden in Ausbildung. „Pflege ist ein abwechslungsreicher Beruf, bei dem ich selbstständig zusammen mit einem Team Patienten pflege. Gemeinsam können wir viel erreichen. Als Pflegender bin ich auch der Ansprechpartner für die Angehörigen und Bezugspersonen. Die berufsübergreifende Zusammenarbeit macht die Arbeit spannend – man kann immer wieder voneinander lernen.“

These 3: Pflege ist eine Partnerschaft.

„Was ist Pflege?“, fragen wir eine Pflegedienstleitung auf der Notfallstation. „Der Anteil an Technik und Intervention ist bei uns groß und wir sehen die Patienten nur für eine kurze Zeit. Sobald die Situation stabil ist, werden sie verlegt. Das ist das Besondere an Pflege in diesem Kontext. Alles orientiert sich am nächsten Moment und daran, was jetzt not-wendig ist – was die Not wendet. Deshalb heißt es ja auch Notfall“, sagt sie mit einem Lächeln.

These 4: Pflege ist ein sinnvoller Umgang mit (Lebens-)Ressourcen.

Vier Aussagen, vier verschiedene Perspektiven. Was ist Pflege? Pflegewissenschaften und Standesorganisationen arbeiten mit Definitionen, um den Begriff Pflege inhaltlich zu bestimmen und die Hauptmerkmale von Pflege zu erklären. Diese Definitionen dienen dazu, sich auf ein gemeinsames Verständnis zu beziehen, Standards zu bestimmen, Aufgaben, Ziele und Vorgehensweisen zu formulieren, Kosten zu legitimieren usw. Das ist der Zweck von Definitionen. Weil Definitionen vom Zeitgeist und vom Stand der Wissenschaft geprägt sind, verändern und entwickeln sie sich inhaltlich stetig. Vergleichen wir Definitionen von heute mit Pflegeauffassungen aus früheren Zeiten, finden wir in Letzteren zum Beispiel wenig zu Forschung, Gesundheitspolitik oder ökonomischer Nachhaltigkeit. Solche Merkmale der beruflichen Pflege sind erst in den letzten Jahren dazugekommen. Hingegen waren in jenen Zeiten theologische Begriffe wie Barmherzigkeit oder Nächstenliebe Selbstverständlichkeiten, denn damals stand der Pflegeberuf in engem Bezug zu kirchlichen Institutionen. Heute würden wir eher von Versorgungssicherheit sprechen oder von Solidarität mit vulnerablen Personen. Definitionen unterliegen also einem steten Wandel und ihre Inhalte und Schwerpunkte sind – wie auch die Worte, mit denen wir sie beschreiben – abhängig vom Zeitgeist und vom Stand der Forschung.

Formen und Formulierungen verändern sich, nicht aber das Wesen der Pflege, der Kern, um den es geht, und das, was Pflege ausmacht. Existential Nursing bezieht sich auf das Wesen der Pflege und geht deshalb in der Betrachtungsweise nicht von „Nursing“ aus, sondern von „Existenz“. Was sind die zentralen Themen der Existenz, die unabhängig von fachspezifischen Definitionen zum Menschsein gehören? Womit muss sich der Mensch existentiell auseinandersetzen? Was braucht der Mensch, um sein Leben ganzheitlich zu leben, und welche Konsequenzen ergeben sich daraus, wenn Menschen Pflege benötigen – in allen Lebenslagen, ob krank oder gesund?4