Existenzanalyse und Logotherapie - Harald Mori - E-Book

Existenzanalyse und Logotherapie E-Book

Harald Mori

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Beschreibung

Die Reihe „Praxis Psychotherapie“ beleuchtet die in Österreich anerkannten psychotherapeutischen Methoden und zeigt kompakt und verständlich fundiertes Basiswissen, neueste Entwicklungen und die Anwendung in der Praxis auf. Band 2 rückt die Existenzanalyse und die Logotherapie in den Fokus. Neben einer Einführung in die Methode zur modernen und praktischen Anwendung dieser Richtung der Psychotherapie werden die anthropologische Grundlage, das Menschenbild und die Beziehung zu Leben und Werk von Viktor E. Frankl dargestellt. Dieses Buch soll den Leserinnen und Lesern insbesondere eine überschaubare Information wie auch Anleitung zur Anwendung der Existenzanalyse und Logotherapie in gegenwärtiger psychotherapeutischer Praxis und den benachbarten Fächern (Medizin, Psychologie, Pädagogik, Sozialarbeit, Pflegeberufe) anbieten.

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Harald Mori

Existenzanalyse und Logotherapie

Der Autor

Harald Mori,

MSc (Pth.), Existenzanalytiker und Logotherapeut seit 1991;Psychotherapeut, Psychoonkologe, Supervisor, Delphintherapeut, Lehrtherapeut, Seminarleiter, Viktor-Frankl-Preisträger; 1987–1997 persönlicher Schüler und Assistent von Univ.-Prof. DDr. Viktor E. Frankl.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Alle Angaben in diesem Buch erfolgen trotz sorgfältiger Bearbeitung ohne Gewähr, eine Haftung des Autors oder des Verlages ist ausgeschlossen.

2., aktualisierte Auflage 2023

Copyright © 2020 Facultas Verlags- und Buchhandels AGfacultas Universitätsverlag, Stolberggasse 26, 1050 Wien, Österreich

Alle Rechte, insbesondere das Recht der Vervielfältigung und der Verbreitung sowie der Übersetzung, sind vorbehalten.

Lektorat: Mag. Katharina Schindl, Wien

Satz: Wandl Multimedia-Agentur, Groß Weikersdorf

Umschlagbild: © Sarah Dorweiler/unsplash.com

Druck und Bindung: Druckerei Berger, Horn

Printed in Austria

ISBN 978-3-7089-2374-1 (Print)

ISBN 978-3-99111-769-8 (E-PUB)

In memoriam Viktor E. Frankl 1905 – 1997

Prolog

Meines Erachtens ist der „Grundriss der Logotherapie und Existenzanalyse“ eines der wichtigsten Werke Viktor Frankls. Er hatte seit den 40er-Jahren eigentlich keine Bücher geschrieben, sondern frei gehaltene Vorträge aufzeichnen lassen und veröffentlicht. 1959 veröffentlichte Frankl diese umfassende Darstellung im „Handbuch der Neurosenlehre und Psychotherapie“, das er gemeinsam mit Viktor Freiherr von Gebsattel und Johannes Heinrich Schultz herausgab.

Existenzanalyse und Logotherapie von Harald Mori ist ein Werk, das ich bereit bin, neben den „Grundriss“ zu stellen – eine wichtige Aktualisierung nach gut 60 Jahren. Das Buch einschließlich des Registers umfasst knapp 160 Seiten, ist also nicht zu umfangreich, doch der Text ist so komprimiert, dass das Endergebnis wirklich ergiebig ist und darüber hinaus die umfassende Belesenheit des Verfassers widerspiegelt. Mori (geb. 1962) war Schüler Viktor Frankls und in dessen letzten Lebensjahren bis zu dessen Tode im September 1997 sein Assistent.

Am Anfang stehen ein kurzer Lebenslauf Frankls und eine Darstellung der Existenzanalyse und Logotherapie (EALT). Der Schwerpunkt liegt auf der Anthropologie der Logotherapie; anfangs werden Frankls „Zehn Thesen über die Person“ in ihrer Ganzheit angeführt. In diesem Kapitel lässt Mori den von der Logotherapiebewegung quasi ausgeschlossenen Alfried Längle „herein“. Frankl hat sich von Längle im Jahr 1990 distanziert. Nach Mori hat Längle der EALT aus moderner Perspektive trotz willkürlicher Aneignung des Begriffs „Existenzanalyse“ einen interessanten Dienst erwiesen. Laut Längle konnte die monistische, vor allem auf Sinnsuche ausgerichtete Grundmotivation der Logotherapie so nicht mehr bestehen, ihr gehen drei weitere Grundmotivationen voraus: die Schaffung von Bedingungen, um sein zu können und zu überleben, die Schaffung eines Lebensbezugs durch Beziehung und Werterleben und die Selbstfindung und Begründung einer Authentizität. Nach Mori war die Ursache des Bruchs die unglückliche Art und Weise, wie Längle und seine Organisation mit dem betagten Frankl kommunizierten, er erwähnt aber auch, dass Frankl wahrscheinlich in der damals aktuellen Thematik kein einfacher Gesprächspartner war.

Die Grundgedanken der Logotherapie und Existenzanalyse werden in dem Buch behandelt: die Wertkategorien, die Sinnfindung, der Aufgabencharakter des Lebens, die Freiheit und die Verantwortlichkeit, das existentielle Vakuum, der Sinn des Todes. Ein kurzes Kapitel ist der Glaubensdimension gewidmet, hauptsächlich auf Äußerungen in meinen Schriften basierend. Weiters werden psychische Störungen und die Anwendung der EALT bei deren Therapie dargestellt.

In einem Exkurs wird die EALT in der Kinder- und Jugendpsychotherapie besprochen, mit der Bedeutung einer sinnzentrierten Pädagogik für das gelingende Werden der Person als Thema. Danach wird die Aufmerksamkeit auf Depression, Psychosomatik, Psychosen und ähnliche Erkrankungen gerichtet. Betreffend die Letzteren ist folgende Feststellung Moris besonders hervorzuheben: „Die EALT ist, wie alle anderen gegenwärtigen Psychotherapien, nicht in der Lage, psychiatrische Erkrankungen ohne medizinische Unterstützung zu heilen. Durch Vorarbeit und Zusammenarbeit mit der psychiatrischen Versorgung, sehr oft mittels Medikation oder stationären Aufenthalts, kann man den Zustand der PatientInnen jedoch stabilisieren und in einigen Fällen über einen längeren Zeitraum der Therapie (einige Monate bis Jahre) verbessern.“

Im vorliegenden Buch sind mehrere Fallbeschreibungen, d.h. realitätsnahe Berichte, zu finden, wie Menschen mit verschiedenen Problemen mittels EALT geholfen werden konnte.

Das im Frühling des Jahres 2020 zum ersten Mal erschienene Buch wurde mit einem Kapitel über die Coronapandemie aus logotherapeutischer Sicht abgerundet. Leider wurde dieses Kapitel bald noch aktueller als bei der Veröffentlichung und es hat seine Aktualität immer noch nicht verloren.

Harald Mori arbeitet seit mehr als 30 Jahren als Psychotherapeut, was seinem Text Glaubwürdigkeit verleiht. Damit geht seine umfassende Belesenheit einher und die außergewöhnliche Erfahrung, dass er Viktor Frankl in seinem letzten Lebensjahrzehnt in großer Nähe erfahren und begleiten durfte.

Risto NurmelaKimito, Finnland, im Sommer 2023

Dr. Risto NurmelaÅbo Akademi, Theologe, Autor mehrerer wissenschaftlicher Bücher, u.a. über C. G. Jung und Sigmund Freud sowie von „Die innere Freiheit – das jüdische Element bei Viktor E. Frankl“ (2001). Viktor-Frankl-Preisträger.

Vorwort zur 1. Auflage

„Sputnik“, russisch Спутник, bedeutet „Weggefährte“, „Begleiter“ und in der Astronomie „Trabant“ und „Satellit“. Das Vorwort zu diesem Buch entsteht unter dem frischen Eindruck meines Besuchs im Kosmonautenmuseum von Moskau. Als am 4. Oktober 1957 der erste künstliche Satellit in eine Umlaufbahn der Erde gebracht wurde, war dies einer der wesentlichsten Schritte für die Reise in eine Welt außerhalb unseres Planeten. Seit die Konzentrationslager der Nazis von den Alliierten befreit worden waren, waren gerade 12 Jahre vergangen. Diese Befreiung im Jahr 1945 hat auch Viktor Frankl sein zweites Leben geschenkt, das er fortan neben seiner Tätigkeit als Arzt intensiver denn je zuvor der Weiterentwicklung der von ihm in den 30er-Jahren begründeten Richtung der Psychotherapie, der Existenzanalyse und Logotherapie (EALT), widmete.

1961 sah Juri Gagarin als erster Mensch die Erde aus dem Weltall und 1969 waren Neil Armstrong und Buzz Aldrin die ersten Menschen, die den Mond betraten. Seither ist ein halbes Jahrhundert vergangen.

In seinen Vorträgen wiederholte Frankl immer wieder folgenden dramatischen Satz:

„Seit Auschwitz wissen wir, wessen der Mensch fähig ist, und seit Hiroshima wissen wir, was auf dem Spiel steht.“

Die Quintessenz dieses Satzes findet sich in Frankls Denken und weist auf die Fähigkeit des Menschen hin, dem Leben Form zu geben, in positiver wie in negativer Richtung.

Die EALT ist eine Psychotherapierichtung, die ein so deutliches und klares Menschenbild beinhaltet, dass es immer wieder in der Theorie durchscheint. Es zielt darauf ab, den Kern des Menschen zu erreichen und damit die Person in der Krise und hinter der Krankheit – diejenige Person, deren geistige Freiheit fast immer noch irgendwie vorhanden ist, deren Wille zum Sinn Wesensausdruck des Menschseins und Grundlage der Veränderungsfähigkeit angesichts von Leid, Krankheit und Tod ist.

Frankl war ein präziser Denker und erfahrener Arzt, dem die Nöte der Menschen vertraut waren. Seine eigene tragische Lebenserfahrung hat ihn bestärkt, seine Existenzanalyse und Logotherapie in die Medizin, Psychologie, Psychotherapie und andere verwandte Fachgebiete zu tragen. Auch gegen Widerstände, jedoch ermutigt durch die zahlreichen Unterstützer aus den höchsten wissenschaftlichen und literarischen Kreisen.

Im Jahre 2020 angekommen, in einer Zeit, in der immer wieder bunte Variationen von „neuen“ Therapieansätzen nur so aus dem Boden schießen und oft rasch verblühen, ist eine Psychotherapierichtung, die auf einem stabilen und soliden wissenschaftlichen Fundament steht, von großer Bedeutung.

Frankl hat uns dieses Fundament hinterlassen und sich gewünscht, dass es in verantwortungsvollen Händen weiterentwickelt und der jeweiligen Zeit entsprechend differenziert wird. Das geschieht durchaus in vielen Teilen der Welt, wobei sich immer wieder eigenwillige Interpretationen und Vereinnahmungen der EALT für nicht-ärztliche und nicht-psychotherapeutische Verwendungszwecke finden lassen. Das ist nicht unzulässig. Die EALT wurde von Frankl jedoch für MedizinerInnen und Berufsgruppen konzipiert, deren Haupttätigkeit die Psychotherapie ist.

Mit Respekt für den durchaus wichtigen Einsatz der EALT in verschiedenen anderen Berufsfeldern sehe ich für deren praktische Anwendung doch eine spezifische Ausrichtung. Nämlich jene, psychisch belasteten Menschen durch Psychotherapie professionell und wissenschaftlich fundiert zu helfen. Wenn dies beachtet wird, kann Psychotherapie heilsam sein. Wenn dieser Anspruch jedoch gering gehalten wird, kann man nicht von Psychotherapie sprechen.

Nach 35 Jahren intensiver Erfahrung mit der EALT und fast 30 Jahren praktischer Tätigkeit mit leidenden und psychisch kranken Menschen ist es für mich klar, dass die EALT ein unglaublich großes Potenzial für gute und zeitgemäße Psychotherapie bietet.

Aus meiner persönlichen Sicht ist die bisherige entscheidende Wirkung, dass die EALT in moderner wissenschaftlicher Form anerkannt ist und weiterentwickelt wird, jenen zu verdanken, die sie mit anderen wichtigen Schulen zusammengeführt haben. Vor allem der Bereich der Bindungsstörungen und der emotionalen Erlebensweisen, der Grundmotivationen, ist dabei von entscheidender Bedeutung.

Als sein Schüler, zeitweise persönlicher Assistent und Vorlesungsassistent an der Medizinischen Universität Wien konnte ich Viktor Frankl sehr nahekommen und ihn aus unterschiedlichen Blickwinkeln erleben. 11 Jahre lang, von 1987 bis zu seinem Tode 1997.

Für Frankl war immer der Mensch, der/die PatientIn im Mittelpunkt. Der Philosoph Max Scheler betitelte 1928 eines seiner Bücher mit „Die Stellung des Menschen im Kosmos“. Jeder Mensch lebt in einem eigenen „Kosmos“, den er manchmal auch mit anderen teilt. Jeder Mensch ist Teil eines großen Ganzen und möchte sich darin auch finden. Sich selbst zu erkennen und den Sinn im Leben zu finden sind daher zwei essenzielle Voraussetzungen für ein erfüllendes Leben.

Der Mensch hat die Erde von oben gesehen, den winzigen, verletzlichen blauen Planeten, er hat in einem Akt der Selbsttranszendenz über sich hinausgelangt, um mit einem erweiterten Horizont wieder zu sich zurückzukehren – und dabei Werte verwirklicht, Leben gelebt und Unvergänglichkeit geschaffen, so wie es jeder einzelne Mensch im Alltag – in seinem Kosmos – tut.

Vielleicht kann dieses Buch für die LeserInnen eine Art „Sputnik“, ein Begleiter auf dem Weg zum existentiellen und logotherapeutischen Sein und Wirken, werden.

Harald Mori, Wien/Moskau, im Februar 2020

Vorbemerkung zur 2. Auflage

Seit dem ersten Erscheinen dieses Buches sind nun über drei Jahre vergangen und die 2. Auflage wurde dankenswerterweise durch einen Prolog des renommierten schwedisch-finnischen Wissenschaftlers Risto Nurmela bereichert. Das erste Vorwort habe ich während meiner Vortragsreise im Februar 2020 in Moskau geschrieben. COVID-19 brach gerade aus und meine Intention, durch dieses Buch Wege der Hoffnung und Möglichkeiten der Sinnfindung nicht nur innerhalb psychischer Erkrankungen aufzuzeigen, wurde dramatisch in ihrer Aktualität bestätigt.

Die katastrophale Pandemie und der Ausbruch des Krieges zwischen Russland und der Ukraine Anfang 2022 haben die Menschen erschüttert und ihnen bis heute viel Kraft, Durchhaltevermögen und Resilienz abverlangt sowie die Frage nach Motivation und Sinn erneut in ein kritisches Licht gerückt. Die globalen Veränderungen der ökologischen und klimatischen Situation tun das Übrige, um die Menschheit und jeden einzelnen Menschen vor manchmal nicht bewältigbar erscheinende Herausforderungen zu stellen.

Dieses Buch hat innerhalb der Fachwelt teilweise kleinliche Diskussionen erregt, ob man nun EALT oder doch LTEA schreiben soll, und welche „Identifizierung“ damit möglicherweise verbunden sein könnte. Frankl hatte für solche sinnentleerten Spitzfindigkeiten wenig übrig und hat seine Logotherapie und Existenzanalyse stets mit einer Münze verglichen, die eben zwei Seiten hat und dennoch ein und dieselbe Münze bleibt.

Besonders angesichts der gegenwärtigen großen Herausforderungen unseres Lebens ist es mehr denn je im Sinne Frankls, sich mit Verantwortungsgefühl auf das Wesentliche seiner Lehre zu konzentrieren. Dazu gibt es glücklicherweise seine reichhaltige Originalliteratur.

Es möge der Hinweis gestattet sein, dass auch der Begriff „Existenzanalyse“ in der Psychotherapie von Frankl geschaffen und allein ihm und seiner originären Lehre zuzuordnen ist. Erweiterungen der EALT/LTEA, die ich in diesem Buch verantwortungsvoll beschreibe und die Frankl mit dem heutigen Wissen um Neurobiologie und Entwicklungspsychologie meiner Ansicht nach begrüßen würde, geben niemandem das Recht, die Frankl’sche Urheberschaft des Begriffs „Existenzanalyse“ zu verschleiern.

Sinnorientierung beflügelt die Hoffnung auf Frieden und Autonomie – für den Menschen, für Völker, für Staaten, für die Welt in einer kosmischen Dimension. Mögen die Ergänzungen der zweiten Auflage mehr Klarheit verleihen und den interessierten LeserInnen ein gutes Vademecum zur Lehre Viktor Frankls sein – ein zuträglicher „Sputnik“, ein Begleiter, auf Ukrainisch: „супутник“.

Harald Mori, Wien/Klagenfurt, im Herbst 2023

„Es gibt nichts auf der Welt, das einen Menschen so sehr befähigte, äußere Schwierigkeiten oder innere Beschwerden zu überwinden, – als: das Bewußtsein, eine Aufgabe im Leben zu haben.“

Dr. V. Frankl (ca. 1943 im Ghetto Theresienstadt)

Inhaltsverzeichnis

Prolog

Vorwort zur 1. Auflage

Vorbemerkung zur 2. Auflage

1 Viktor Emil Frankl

2Grundriss der Existenzanalyse und Logotherapie – Anthropologie

3 Ärztliche Seelsorge – Humanisierung der Psychotherapie

4 Wege zum Sinn

5 Die drei Wertkategorien nach Viktor Frankl

5.1 Schöpferische Werte

5.2 Erlebniswerte

5.3 Einstellungswerte

6 Der Mensch vor der Frage nach dem Sinn

6.1 Sinnfindung

6.2 Der Aufgabencharakter des Lebens – Leben in Freiheit und Verantwortlichkeit

6.3 Das existentielle Vakuum – die noogene Neurose – das Sinnlosigkeitsgefühl

6.4 Die Vergänglichkeit und der Sinn des Todes

7 Die Glaubensdimension in der Existenzanalyse und Logotherapie

8 Die Anwendung der EALT bei psychischen Störungen

8.1 Angststörungen, Zwangsstörungen und Phobien

8.2 Sexualstörungen

8.3 Schlafstörungen

9 Exkurs zur EALT in der Kinder- und Jugendlichenpsychotherapie: Die Bedeutung einer sinnzentrierten Pädagogik für das gelingende Werden der Person

10 Depression

10.1 Lebensmüdigkeit

10.2 Suizidprophylaxe

11 Psychosomatik

12 Psychosen und ähnliche Erkrankungen

13 Moderne Forschung und Positionierung innerhalb der Psychotherapierichtungen

14 COVID-19 und die Sinnfrage – von der Krise zum Neubeginn

Nachwort

Anhang

Literaturempfehlungen

Aus- und Fortbildungsmöglichkeiten

Viktor-Frankl-Museum

Dokumentation

Medizinische Aspekte

Harald Mori mit Viktor Frankl

Handschriftliche Widmung von Viktor Frankl an Harald Mori

Zeittafel Viktor E. Frankl, 26.3.1905–2.9.1997

Literaturverzeichnis

Abbildungsverzeichnis

Personenregister

Sachregister

Danksagung

1 Viktor Emil Frankl

Am Sonntag, dem 26. März 1905 wurde der zweite Sohn von Elsa und Gabriel Frankl in der Wiener Leopoldstadt geboren. Die Wehen setzten ausgerechnet im Café Siller am Schwedenplatz ein, jenem Kaffeehaus, das der Begründer der Individualpsychologie, der Arzt Dr. Alfred Adler1, für seine Gesprächszirkel regelmäßig besuchte.

Dass Viktor Frankl knapp 20 Jahre später sein Schüler werden sollte, ahnte man damals nicht. Auch nicht, dass der junge Medizinstudent um 1925 in der Nähe des Anatomischen Instituts auf Sigmund Freud treffen sollte, der, eben in die Berggasse spazierend, von Frankl angesprochen wurde und, als er seinen Namen hörte, fragte: „Viktor Frankl – Wien, 2. Bezirk, Czerningasse 6, Tür 25 – nicht wahr?“ (Frankl 1995, 31)

Die frühen Jahre Frankls waren von seinem Interesse an der Entwicklung der Psychotherapie und dem Medizinstudium geprägt. 1933–1937, in den Jahren des aufkommenden Nationalsozialismus, wurde er am heutigen Otto-Wagner-Spital2 zum Facharzt für Psychiatrie und Neurologie ausgebildet. Kurze Zeit hatte Frankl eine eigene Praxis in der Alser Straße 32, die er im März 1938 nach dem „Anschluss“ wieder aufgeben musste. Frankl arbeitete danach in der kleinen Wohnung in der Czerningasse 6, seinem Geburtsort, und dann zwei Jahre auch als Primarius der Neurologie im Rothschildspital, bis zur Deportation im Herbst 1942.

1926 hielt der junge Mediziner Frankl ein Hauptreferat auf dem internationalen Kongress für Individualpsychologie in Düsseldorf und begann, nachdem er zuvor eine kritische Haltung gegenüber Freuds Psychoanalyse eingenommen hatte, sich auch von der Lehre Adlers abzuwenden, die den Menschen auf das Erreichen einer „Machtposition“ in der Gesellschaft ausgerichtet sah.

1927, bei einer Sitzung des Vereins für Individualpsychologie im Hörsaal des Histologischen Instituts begann Frankl „ihnen […den Mitgliedern des Vereins] auseinanderzusetzen, inwiefern die Individualpsychologie noch immer über den Psychologismus hinauszuwachsen hätte“ (Frankl 1995, 43). Bald danach wurde Frankl von Adler aus dem Verein ausgeschlossen.

Es ist interessant, dass Alfred Adler in seinem Buch „Der Sinn des Lebens“ (1933) schreibt: „Nach einem Sinn des Lebens zu fragen hat nur Wert und Bedeutung, wenn man das Bezugssystem Mensch-Kosmos im Auge hat. Es ist dabei leicht einzusehen, daß der Kosmos in dieser Bezogenheit eine formende Kraft besitzt.“ (Adler 1974, 162) So hatte sich Alfred Adler 1933 selbst mit jenem Thema beschäftigt, das bei Frankl zum zentralen Inhalt seiner Forschung werden sollte. Adler bleibt jedoch bei der Dimension des Machtstrebens als wesentliches Daseinsziel, wie auch Sigmund Freud die Eigenständigkeit und Verantwortlichkeit des Menschen im System „Es-Ich-Über-Ich“ kaum beeinflussbar gebunden sah.

Ein Zeitsprung: 63 Jahre nach dem Ausschluss Frankls durch Adler, hat der inzwischen weltberühmt gewordene Begründer der Existenzanalyse und Logotherapie sich von Dr. Alfried Längle3, einem seiner talentiertesten Schüler, und dessen Gesellschaft zurückgezogen. „Durch die spezifische Weiterentwicklung der EA4 hat sich Frankl 1991 von der GLE5 getrennt.“ (Längle 2016, 215)

Bereits 1929 sprach Frankl in seinen Vorträgen, die er schon als Gymnasiast und danach als Medizinstudent hielt, von „Logotherapie“ und 19386publizierte er auch den von ihm begründeten Begriff der „Existenzanalyse“.

„Ähnlich der Überwindung des Psychologismus innerhalb der Philosophie durch den Logizismus wird es also darauf ankommen, innerhalb der Psychotherapie die bisherigen psychologischen Abweichungen durch eine Art Logotherapiezu überwinden, das hieße durch das Einbeziehen weltanschaulicher Auseinandersetzungen in das Gesamt der psychotherapeutischen Behandlung […].“ (Frankl 2005, 173)

Logotherapie hat als Begriffshintergrund das griechische Wort „logos“, das neben „Sprache“, „Rede“, „Wort“ und „Vernunft“ auch die für Frankl wesentliche Bedeutung „Sinn“ hat. Die Logotherapie ist nach Frankl eine sinnzentrierte Psychotherapie, weil der Mensch als sinnorientiertes Wesen angesehen wird. Zur Existenzanalyse schreibt Frankl ebenfalls schon 1938: „Wo ist, mit anderen Worten, jene Theorie vom schlechthin seelischen und im Besonderen vom neurotischen Geschehen, die über den Bereich des Psychischen hinauslangend die gesamte menschliche Existenz, in all ihrer Tiefe und Höhe, berücksichtigte und demgemäß als Existenzanalyse bezeichnet werden könnte?“ (Frankl 2005, 167–168)

Bereits 1948 bezeichnete der deutsche Nervenarzt Wolfgang Soucek aufbauend auf der Psychoanalyse Sigmund Freuds und der Individualpsychologie Alfred Adlers „die Existenzanalyse Frankls [als] die dritte Richtung der Wiener psychotherapeutischen Schule“ (Frankl 2005, 258). In der vorliegenden Einführung in die EALT kann die historische Entwicklung dieser Psychotherapierichtung verständlicherweise nur verkürzt dargestellt werden.

In seinem über 3.000 Seiten starken Handbuch der Neurosenlehre und Psychotherapie von 1959 hat Viktor Frankl den „Grundriß der Existenzanalyse und Logotherapie“ publiziert. Darin beschreibt er seine Lehre treffend:

„Die Logotherapie und Existenzanalyse sind je eine Seite ein und der selben Theorie. Und zwar ist die Logotherapie eine psychotherapeutische Behandlungsmethode, während die Existenzanalyse eine anthropologische Forschungsrichtung darstellt. Als Forschungsrichtung ist sie offen, und zwar in zwei Dimensionen: sie ist bereit zur Kooperation mit andern Richtungen und zur Evolution ihrer selbst.“ (Frankl et al. 1959, 663)

Diese prägnanten Darstellungen von einigen Stufen der Entstehung und Entwicklung der EALT sind aus gutem Grunde in das Kapitel eingeflossen, in dem es eigentlich um Viktor Frankls Biografie gehen soll. Wie bei den meisten Begründern von psychotherapeutischen Schulen bis etwa in die Mitte des 20. Jahrhunderts ist auch Frankls Leben und Leiden als Holocaustüberlebender untrennbar mit seinem Werk verbunden.

Entgegen einem immer noch verbreiteten Irrtum hat Frankl die Grundkonzepte seiner Psychotherapie noch vor bzw. am Anfang des Zweiten Weltkriegs geschaffen und niedergeschrieben. Das Manuskript seines Hauptwerkes „Ärztliche Seelsorge“ hat er im Ghetto Theresienstadt überarbeitet und in das Futter seines Mantels eingenäht, in der Hoffnung, so würde sein Werk die Nazi-Zeit überstehen. Im Herbst 1944, nachdem er und seine junge Frau Tilly in das Konzentrationslager Auschwitz-Birkenau transportiert wurden, musste Frankl im Vorraum zum „Brausebad“ seine Kleidung und somit auch das Manuskript der „Ärztlichen Seelsorge“ abgeben.

Frankls Vater starb 1943 in Theresienstadt, seine Mutter Elsa wurde, gerade 65 Jahre alt, in Auschwitz in der Gaskammer ermordet. Frankl verlor auch seinen älteren Bruder Walter und dessen Frau Else.

Im Dezember 1941 hatte Frankl in Wien noch seine Tilly geheiratet. Sie arbeiteten im letzten jüdischen Spital von Wien, dem Rothschildspital, Frankl als Neurologe, Tilly als Sekretärin und Helferin auf den Stationen. Kurz nach der Heirat verlor das Ehepaar sein ungeborenes Kind. „Es wurde einfach ein Ukas7 herumgereicht, aus dem hervorging, daß von nun an jüdische Frauen, bei denen eine Schwangerschaft festgestellt würde, schnurstracks in ein Konzentrationslager verschickt würden.“ (Frankl 1995, 66) Frankl widmete alle seine Bücher Menschen, die ihm wichtig waren, so auch eines („The Unheard Cry for Meaning“, 1978) diesem ungeborenen Kind: „To Harry or Marion, an unborn child.“

Diese Geste ist charakteristisch für den Humanisten und Arzt Viktor Frankl, der im Leben des Menschen, in dessen Einzigartigkeit und Einmaligkeit eine kosmische oder universale Werthaftigkeit sah, welche sich letztlich dem Verstehen entzieht und nur durch das Erkennen des Menschen sein wahres Wesen berührt.

Die tragischen und erschütternden Erlebnisse in den Konzentrationslagern Theresienstadt, Auschwitz-Birkenau sowie Kaufering und Türkheim (Nebenlager von Dachau) prägten Viktor Frankl und festigten sein Menschenbild und die Überzeugung von der Bedeutung der Sinnfindung im Leben. „Und so kam ich nach Auschwitz. Es war das experimentum crucis. Die eigentlich menschlichen Urvermögen der Selbst-Transzendenz und der Selbst-Distanzierung, wie ich sie in den letzten Jahren so sehr betone, wurden im Konzentrationslager existentiell verifiziert und validiert. Diese Empirie im weitesten Wortsinn bestätigt den ‚survival value‘ […].“ (Frankl 1995, 75)

Frankls Frau Tilly wurde Ende Oktober 1944 in das Konzentrationslager Bergen-Belsen transportiert. Nachdem das Lager am 15. April 1945 von britischen Truppen befreit wurde, starben viele der über 14.000 Gefangenen an Erschöpfung – darunter auch Frankls junge Frau.

„Ich werde es nie vergessen können, wie ich in der zweiten Nacht in Auschwitz aus dem tiefen Schlaf der Erschöpfung erwachte, geweckt durch – Musik: Der Blockälteste hatte in seiner Kammer, die gleich neben dem Barackeneingang lag, irgendeine Feier veranstaltet, und besoffene Stimmen gröhlten Schlagermelodien. Dann war plötzlich Ruhe – und eine Geige weinte einen unendlich traurigen, selten gespielten, nicht abgedroschenen Tango … Die Geige weinte – in mir weinte etwas mit. Denn an diesem Tage hatte jemand seinen vierundzwanzigsten Geburtstag; dieser Jemand lag in irgendeiner Baracke des Auschwitzer Lagers, also nur ein paar hundert oder ein paar tausend Meter von mir entfernt – und doch unerreichbar; dieser Jemand war meine Frau.“ (Frankl 1987, 73)

Frankl hielt diese Erinnerungen und seine Gedanken zur Unzerstörbarkeit der geistigen Person in seinem berühmtesten Buch fest, das im März 1946 unter dem Titel „Ein Psycholog erlebt das KZ“8 in Wien publiziert wurde. Die erste Auflage erschien noch ohne seinen Namen, da er berichten und nicht sich selbst in Szene setzen wollte. Es war das zweite Buch, das nach den Gräueln des nationalsozialistischen Reiches von den alliierten Siegermächten eine Druckerlaubnis bekam.

Es waren amerikanische Truppen, die am 27. April 1945 das Lager Türkheim bei Dachau und damit auch Viktor Frankl befreiten. Frankl feierte diesen Tag als seinen „Wiedergeburtstag“, an dem ihm sein zweites Leben geschenkt wurde. Zeitlebens war er den US-Soldaten dafür dankbar.

In den 70er-Jahren besuchte Frankl mit seiner zweiten Frau Eleonore9 eine Tagung des Club of Rome10 in Rom. Es kam zu einer denkwürdigen Begegnung des Ehepaares Frankl mit Neil Armstrong, der 1969 als erster Mensch seinen Fuß auf den Mond gesetzt hatte. Armstrong, einer jener Menschen, die die Zerbrechlichkeit des „blauen Planeten“ vom Weltall aus erkannt hatten, hatte großes Interesse an Frankls Person und seinem Werk. Er war von dem, was Frankl mit „Zeit und Verantwortung“11 umschrieben hatte, nämlich die Kostbarkeit des Lebens in seiner Einzigartigkeit und Einmaligkeit, begeistert.12

Erst knapp vier Monate nach seiner Befreiung gelangte Frankl im August 1945 über Bad Wörishofen und München auf der Ladefläche eines offenen Lastwagens nach Wien. Innerhalb von Tagen erfuhr er vom Tod seiner Mutter Elsa, seines Bruders Walter und dessen Frau und schließlich auch vom Tod seiner Frau Tilly. Frankl war zutiefst erschüttert.

Mithilfe seines Freundes Bruno Pittermann13 konnte Frankl, der sofort wieder als Arzt tätig wurde, ab 1946 in der Wiener Städtischen Allgemeinen Poliklinik in der Mariannengasse 10 die Primarstelle für Neurologie annehmen, die er 25 Jahre lang innehaben sollte.

Es ist bemerkenswert, dass der Facharzt für Psychiatrie und Neurologie, der vorrangig als Psychiater und Psychotherapeut tätig war, 27 Jahre lang als Vorstand von neurologischen Abteilungen14 arbeitete, also ein zutiefst somatisch tätiger Arzt war, der vielleicht gerade deshalb die Dimensionen von Psyche und Geist in die Schau der gesamten Person des leidenden Menschen integrieren konnte.

Die Poliklinik blieb bis 1998 als Spital erhalten und ihre denkmalgeschützte Fassade befindet sich noch heute in der Mariannengasse 10. Frankl selbst wohnte seit 1946 bis zu seinem Tode 1997 in der Mariannengasse 1, mittlerweile fast so bekannt wie Sigmund Freuds Berggasse 19.