Exportweltmeister - Jan-Otmar Hesse - E-Book

Exportweltmeister E-Book

Jan-Otmar Hesse

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Beschreibung

Im WM-Finale 1986 musste sich die DFB-Elf der argentinischen Auswahl um Diego Maradona mit 2:3 geschlagen geben. Trotzdem durften sich die Westdeutschen als Weltmeister fühlen, denn in diesem Jahr exportierte die Bundesrepublik erstmals mehr Güter als jeder andere Staat. Das Land war »Exportweltmeister« – Champion in einer Disziplin, die nicht nur das Fundament für unseren Wohlstand bildet: Die deutsche Exportstärke ist Bestandteil des Nationalstolzes und Hinweis auf den exzellenten Ruf der Waren »Made in Germany«.
Der Wirtschaftshistoriker Jan-Otmar Hesse begibt sich auf die Spuren dieses Erfolgs, der sich einer erstaunlichen Anpassungsfähigkeit deutscher Unternehmen und einer exportfreundlichen Politik verdankt. Schon Ende des 19. Jahrhunderts wurden wichtige Weichen gestellt. Die Weimarer Republik schuf die ersten Instrumente zur Unterstützung der Exportwirtschaft. Die Geldpolitik der Nachkriegszeit stärkte ihre globale Wettbewerbsfähigkeit. Fesselnd und mit vielen bislang unbekannten Details berichtet Exportweltmeister davon, wie aus Werkstätten und Manufakturen Global Player und aus einem rohstoffarmen Land die ökonomische Supermacht wurde, die es heute ist.

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Seitenzahl: 639

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Cover

Titel

3Jan-Otmar Hesse

Exportweltmeister

Geschichte einer deutschen Obsession

Suhrkamp

Impressum

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eBook Suhrkamp Verlag Berlin 2023

Der vorliegende Text folgt der Originalausgabe, 2023.

© Suhrkamp Verlag AG, Berlin, 2023

Der Inhalt dieses eBooks ist urheberrechtlich geschützt. Alle Rechte vorbehalten. Wir behalten uns auch eine Nutzung des Werks für Text und Data Mining im Sinne von § 44b UrhG vor.Für Inhalte von Webseiten Dritter, auf die in diesem Werk verwiesen wird, ist stets der jeweilige Anbieter oder Betreiber verantwortlich, wir übernehmen dafür keine Gewähr. Rechtswidrige Inhalte waren zum Zeitpunkt der Verlinkung nicht erkennbar. Eine Haftung des Verlags ist daher ausgeschlossen.

Umschlaggestaltung: Rothfos & Gabler, Hamburg

eISBN 978-3-518-77737-4

www.suhrkamp.de

Übersicht

Cover

Titel

Impressum

Inhalt

Informationen zum Buch

5Inhalt

Cover

Titel

Impressum

Inhalt

Einleitung Die deutsche Exportobsession

1

Zur Theorie der internationalen Wirtschaft. Ein historisch-kritischer Abriss

2

Die globale Verflechtung der deutschen Wirtschaft im Überblick

Außenhandelsstatistik: Exportquote, Exportvolumen und -wert

Regionalstruktur

Güterstruktur

Zahlungsbilanz: Ausländische Direktinvestitionen

3

Vorgeschichte. Vom Neomerkantilismus des Kaiserreichs zur nationalsozialistischen Autarkiepolitik

3

.

1

Deutsche Exportpolitik im

19

. Jahrhundert

Die Wende zur Schutzzollpolitik

Flottenrüstung und Bülow-Tarif

Auslandsinvestitionen

3

.

2

Die außenwirtschaftspolitische Zwickmühle der Weimarer Republik

Verwirtschaftlichung der Außenpolitik in der Weimarer Republik

3

.

3

»Schicksalsstunde der deutschen Handelspolitik«: Gustav Stresemann und die »kleine Zolltarifnovelle«

Institutionen der Exportförderung

Kartelle und Auslandsinvestitionen

Unternehmen in den

1920

er Jahren

Internationalisierung der Unternehmen

3

.

4

Weltwirtschaftskrise und der Beginn der Autarkiepolitik

3

.

5

Zusammenfassung

4

»Deutschlands Rückkehr zum Weltmarkt«. Exportförderung und Außenwirtschaft im Wirtschaftswunder

4

.

1

Neue Weltwirtschaftsordnung und das deutsche Exportwunder

GATT

Marshallplan und europäische Arbeitsteilung

4

.

2

Handelspolitik in der sozialen Marktwirtschaft

Die Bedeutung der Unternehmen für die Außenwirtschaftspolitik

Gründung und Rolle des Außenhandelsbeirates

Formen und Instrumente der Exportförderung

D-Mark-Unterbewertung als Exportpolitik

Unternehmen: Entwicklung der Exporttätigkeit

4

.

3

Zwischen Europäisierung und Globalisierung: Europa, Osthandel, Entwicklungsländer

Osthandel und Sowjetunion

Exportpolitik und Entwicklungspolitik

Der »selektive Liberalismus« des

GATT

4

.

4

Deutsche Welthandelspolitik während der

1960

er Jahre

4

.

5

Exportpolitik und Kapitalexport

Entwicklungshilfesteuergesetz

1963

4

.

6

Zusammenfassung

5

Währungskrise und Globalisierungsschock. Die deutsche Exportstärke wird konserviert

5

.

1

Die »exportpolitische Konzeption« des Bundeswirtschaftsministeriums

5

.

2

Der überschätzte Währungsschock

Die Folgen der Währungskrise für den deutschen Export

Die Anpassung des Systems der Exportfinanzierung

Wandel durch Handel?

5

.

3

Exportpolitik in der neuen Weltwirtschaftsordnung

Die Tokio-Runde des

GATT

und der Aufstieg Japans

Ölpreiskrise

Außenwirtschaftspolitik unter Helmut Schmidt

Exportboom und Exportkrise – Semantik der Exportobsession in den

1970

er Jahren

Methoden der Exportförderung Mitte der

1970

er Jahre

Leistungsbilanz-Diskussion und Lokomotiv-Theorie

5

.

4

Die Exportoffensive der christlich-liberalen Regierung

Weltwirtschaft, Volcker-Schock und

US

-Wirtschaft

Welthandel in den

1980

er Jahren

Außenwirtschaftspolitik Lambsdorff

Exportkreditversicherung

Außenwirtschaftspolitik Bangemann

5

.

5

Exporterfolg und »Produktionsverlagerung«: Die Globalisierung der deutschen Wirtschaft

»Überall Deutschland«: Staatliche Förderung der Auslandsverlagerung

6

Schluss. Exportobsessionen seit der Exportweltmeisterschaft

Zusammenfassung: Fünf Kernelemente der Exportorientierung

Wiedervereinigung und zweite Exportweltmeisterschaft

Rückkehr der Lokomotiv-Theorie in der Eurokrise

2012

Ausblick: Deglobalisierungskrise seit

2016

Anmerkungen

Einleitung

Die deutsche Exportobsession

1

Zur Theorie der internationalen Wirtschaft

2

Die globale Verflechtung der deutschen Wirtschaft im Überblick

3

Vorgeschichte

4

»

Deutschlands Rückkehr zum Weltmarkt

«

5

Währungskrise und Globalisierungsschock

6

Schluss

Dank

Liste der verwendeten Abkürzungen

Verzeichnis der Grafiken und Tabellen

Literatur- und Quellenverzeichnis

1.1Archivbestände

1.2Quellensammlungen, Periodika, Datenbanken

1.3Literatur

Personen- und Sachregister

Fußnoten

Informationen zum Buch

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7Einleitung

Die deutsche Exportobsession

In der 84. Minute macht Jorge Burruchaga die Hoffnungen der Deutschen zunichte. Vor 115000 Zuschauern im ausverkauften Aztekenstadion in Mexiko-Stadt will die DFB-Elf nach 1954 und 1974 ihren dritten Weltmeistertitel holen. Kurz vor Schluss sieht es noch vielversprechend aus. In der 81. Minute erzielt Rudi Völler den 2:2-Ausgleich. Doch dann wird die deutsche Mannschaft eiskalt ausgekontert. Diego Maradona spielt einen brillanten Steilpass von der Mittellinie in die gegnerische Hälfte, Hans-Peter Briegel kommt nicht mehr an Burruchaga heran. Vergeblich beschwört der Kommentator Rolf Kramer den deutschen Keeper: »Toni! Halt den Ball!« Doch der Argentinier schiebt die Kugel eiskalt an Toni Schumacher vorbei ins Netz.

Die Weltmeisterschaft 1986 in Mexiko ist sowohl in sportlicher als auch in politischer Hinsicht unvergessen. Gerade einmal vier Jahre nach dem blutigen Falklandkrieg trafen im Viertelfinale Argentinien und England aufeinander. In Deutschland hatte das Turnier anfangs nur wenig Begeisterung ausgelöst. Einige Monate zuvor war im sowjetischen Tschernobyl ein Atomkraftwerk explodiert und hatte eine riesige radioaktive Wolke über Europa geschickt. Die Menschen trieben andere Dinge um. Dann erspielte sich die deutsche Fußballnationalmannschaft zuhause jedoch immer größere Sympathien, musste sich aber schließlich im Finale dem Team um Diego Maradona und seiner »Hand Gottes« mit 2:3 geschlagen geben. Vier weitere Jahre vergingen bis zum dritten WM-Titel der DFB-Elf. Und doch durften sich die Bürger der Bundesrepublik im Jahr 1986 als Weltmeister fühlen: In diesem Jahr exportierte die BRD erstmals mehr Güter als jedes andere Land der Welt. Die Westdeutschen waren zum ersten Mal »Exportweltmeister«.

8Wer den Begriff ursprünglich geprägt hat, lässt sich kaum mehr nachvollziehen. Womöglich ist er Ende des Jahres 1986 aus einer Laune heraus entstanden, als saloppe Formulierung sprachgewandter Journalisten im Vorfeld der Bundestagswahl im Januar des folgenden Jahres. Pressearchive nennen einen Artikel aus dem Magazin Der Spiegel vom Februar 1987 als erste Erwähnung. Im Frühjahr jenes Jahres war der Ausdruck dann schon so geläufig, dass die Süddeutsche Zeitung schreiben konnte, die »deutsche Textilindustrie« sei »bekanntlich Exportweltmeister«, auch wenn sich das Ausland noch in Ignoranz übe: »[B]is Japan hat sich das noch nicht herumgesprochen. Wenn eine modebewußte Japanerin ein Kleid kauft, muß es ›natürlich‹ aus Italien oder Frankreich sein.«1

Die Spitzenposition hat Deutschland inzwischen eingebüßt, im Export insgesamt und in der Textilindustrie ohnehin. Im Jahr 2009, kurz nach der Pleite der US-Investmentbank Lehman Brothers und der darauf folgenden Krise des Weltfinanzsystems, übernahm China die Führung in der Rangliste der Exportnationen. Die Volksrepublik spielt seither in einer eigenen Liga. Die Bundesrepublik konkurriert mit den USA nur noch um Platz zwei. Als Exportweltmeister fühlt sie sich aber noch immer. Die Stärke im Außenhandel ist für die deutsche Gesellschaft eine Herzensangelegenheit. Bereits Ende des 19. Jahrhunderts gehörte Deutschland zu den großen Exportnationen, und auch der Stolz der geistigen Elite war schon da, der Stolz darüber, dass das Deutsche Reich hinter Großbritannien die zweitstärkste Exportnation der Welt war.2 Nach dem Zweiten Weltkrieg ließ Westdeutschland das Vereinigte Königreich schnell hinter sich. Die Bundesrepublik rückte unaufhörlich an den neuen Spitzenreiter USA heran, um 1986 erstmals auch an diesem vorbeizuziehen (siehe Grafik 1).

9Grafik 1: Gesamtwert der Exporte der sechs exportstärksten Länder (in US-Dollar), 1980-2022

Quelle: Eigene Zusammenstellung nach von den Vereinten Nationen (Comtrade) zur Verfügung gestellten Daten: {https://wits.worldbank.org/}.

Wie ist dieser Aufstieg zu erklären? Es wäre zu einfach, ihn allein auf die unbändige Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Industrie zurückzuführen, schon weil er hierdurch etwas Zwangsläufiges erhielte. Er verdankt sich wesentlich einem eigentümlichen Willen deutscher Unternehmer und Politiker,[1]  vor allem im Auslandsgeschäft erfolgreich zu sein. »Allein die Leistungsfähigkeit unserer Kaufleute und die Wirksamkeit einer Handelspolitik, die […] gegen Diskriminierung schützt, sichern unseren Außenhandel und damit unsere Existenz«, schrieb Bundeswirtschaftsminister Ludwig Erhard 1953 in seinem Buch Deutschlands Rückkehr zum Weltmarkt.3 Noch zehn Jahre später gab er sich in einer Sitzung des Außenhandelsbeirats überzeugt: »Ohne den Außenhandel sei die deutsche Volkswirtschaft zum Absterben verurteilt«, so ist es im Protokoll zu lesen.4

Über die unterschiedlichsten Regierungsformen, politischen Weltbilder und Krisen der Weltwirtschaft hinweg verfolgten Politiker und Unternehmer das Ziel, das Land bzw. ihre Konzerne 10zu den größten Exporteuren der Welt zu machen und nach Möglichkeit auch hohe Handelsbilanzüberschüsse zu erwirtschaften. Und in der Regel erreichten die Deutschen dieses Ziel, obwohl die ökonomischen Voraussetzungen eher ungünstig waren. Deutschland ist – abgesehen von großen Kohle- und Kalivorkommen – ein rohstoffarmes Land. Die Exporterfolge wurden in der Fertigwarenindustrie erzielt, wobei die Branchen im Verlauf des 20. Jahrhunderts wechselten: von der Chemie- und Elektroindustrie zum Maschinenbau zum Fahrzeugbau zum Anlagenbau und zurück. Nicht die industrielle Kontinuität sicherte also die Dominanz der deutschen Wirtschaft im Außenhandel, nicht die »deutsche Wertarbeit« oder gar ein besonderes nationales Arbeitsethos, nicht Erfindungsreichtum oder die über Jahrzehnte kultivierte besondere Organisation der Produktion, sondern die permanente Anpassung von Produktion und Politik an die Erfordernisse des Weltmarktes. Diese Anpassungsfähigkeit ist historisch gesehen vielleicht die große Stärke der deutschen Wirtschaft.

Daher rücken Akteure in Wirtschaft und Politik, die durch ihre Ideen und ihr Handeln zu dieser Flexibilität beigetragen haben, unweigerlich in den Mittelpunkt des Interesses, wenn nach den Gründen für den Aufstieg Deutschlands zu einer Handelsmacht gefragt wird, zu einer »trading power« (William Glenn Gray).5 Aus Exportunternehmern und Außenwirtschaftspolitikern bildete sich eine Interessengemeinschaft, die zu einem der wichtigsten Meinungsführer bei der wirtschaftlichen Steuerung des Landes aufstieg. Sehr häufig führte diese Verbindung zu Wohlstand und wirtschaftlichem Wachstum; gelegentlich verstellte ihre strikte Exportorientierung aber auch den Blick auf andere gesellschaftspolitische Ziele. Wie entstand die Exportorientierung als übergeordnete und parteiübergreifende wirtschaftspolitische Strategie, und warum ist die Exportweltmeisterschaft den Deutschen bis heute so ungemein wichtig? Auf welche Weise und mit welchen Mitteln versuchten Politiker, die deutschen Unternehmen zur Vergrößerung der Exportanstrengungen zu bewegen, und wie gelang es umgekehrt den 11Unternehmen, für ihre Exportinteressen die Unterstützung der Außenwirtschaftspolitik zu gewinnen?

Die Exportorientierung ist über einen sehr langen historischen Zeitraum tief im wirtschaftlich-politischen System Deutschlands verankert worden und bestimmt bis heute das politische Handeln. Nicht zuletzt angesichts der jüngsten globalen Krisen, der Klimakrise, den Folgen der Pandemie und der Rückkehr von Kriegsgeschehen und Rüstungsindustrie nach Europa kann nur eine gründliche historische Rekonstruktion der deutschen »Exportobsession« dabei helfen, ihre unvernünftigen Folgen in der deutschen Wirtschaftsgeschichte offenzulegen.

Der Begriff »Exportweltmeister« stellt eine ebenso gelungene wie doch auch entlarvende Verbindung der wirtschaftlichen Sphäre mit der kollektiven nationalen Identität her, zu der ganz offensichtlich nicht nur der Fußball gehört, sondern auch so etwas Abstraktes und Kompliziertes wie der Exporterfolg. Er ist der sprachliche Ausdruck tief verankerter Denk- und Handlungsmuster, die die deutsche Wirtschaftspolitik bis heute prägen. Aus wirtschaftswissenschaftlicher Sicht besitzt der Begriff lediglich einen begrenzten Informationswert. Der Vergleich verschiedener Länder hinsichtlich des Exports ist eigentlich nur dann sinnvoll, wenn er ins Verhältnis beispielsweise zur Größe, zur Bevölkerung oder zur Wirtschaftsleistung der verglichenen Länder oder zu ihren Importen gesetzt wird. Er findet sich auch nur als Bezeichnung für Deutschland, während der langjährige Spitzenreiter USA sich weder selbst als Exportweltmeister feierte noch in Deutschland zuvor so bezeichnet worden war. Das liegt schon allein daran, dass die USA noch viel mehr Güter importierten, als sie exportierten. Seit den siebziger Jahren leidet das Land an einem chronischen Handelsbilanzdefizit.6

Die deutsche Exportweltmeisterschaft ging dagegen mit einem beachtlichen Handelsbilanzüberschuss einher, und das ist kein Zufall. In Deutschland gehört ein solcher Überschuss untrennbar zur identitätsstiftenden Bedeutung des Begriffs. Dass sich »die Deut12schen« über den ersten Platz im Ranking der größten Exportnationen bei gleichzeitigem Handelsbilanzdefizit (wie im Falle der USA) freuen würden, scheint doch mehr als unwahrscheinlich. Die Überlegenheit der eigenen Exportindustrie in einem als Wettbewerb gedachten Handelsverkehr zwischen Staaten ist im Begriff verankert. Er ist Ausdruck und sprachlicher Höhepunkt eines nationalstaatlichen Diskurses, eines »banalen Nationalismus« (eine am britischen Beispiel entwickelte Formel des Politologen Michael Billig7), der über einen sehr langen historischen Zeitraum um die Exportstärke und die internationale Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Wirtschaft herum errichtet wurde. Das Ökonomische trat dabei an die Stelle der nach den Weltkriegen verlorenen politischen und militärischen Macht. Auch diesen Themenkomplex, dessen historische Entwicklung in diesem Buch geschildert wird, transportiert der Ausdruck der Exportweltmeisterschaft mit jeder einzelnen Verwendung bis heute.

Begriff und nationalstaatlicher Diskurs würden ohne eine reale Substanz freilich nicht existieren. Exportstärke und Exportweltmeisterschaft können nicht einfach herbeigeredet werden. Ihre Grundlage ist der tatsächliche Erfolg in Deutschland hergestellter oder von dort aus vertriebener Produkte auf globalen Absatzmärkten. 1986 betrug der Wert der westdeutschen Exporte umgerechnet 270 Milliarden Euro. Seitdem hat sich diese Summe fast versechsfacht: Im Jahr 2022 wurden Waren im Wert von 1576 Milliarden Euro aus Deutschland ausgeführt. Ein kräftiger Anstieg das zweite Jahr in Folge, und zwar um 14 Prozent, obwohl der Welthandel während der Coronakrise eingebrochen war. Etwas mehr als 40 Prozent des deutschen Bruttoinlandsproduktes wurden damit im letzten Jahr im Export erwirtschaftet. Ein Viertel der inländischen Arbeitsplätze sind vom Außenhandel abhängig.8

Dabei lässt sich die Frage, warum einzelne Produkte so erfolgreich waren, nur jeweils im konkreten Fall beantworten. Manchmal stand am Anfang eine technische Innovation, wie der Magnetzünder von Robert Bosch Ende des 19. Jahrhunderts.9 Manchmal war 13der im Vergleich zur ausländischen Konkurrenz günstige Absatzpreis bei effizienter inländischer Produktion und vergleichsweise guter Qualität ausschlaggebend, wie beim VW-Käfer in der Zeit des Wirtschaftswunders.10 Viele Unternehmen bestachen durch Lieferfähigkeit, Zuverlässigkeit und ihren Service bei Wartung und Reparatur sowie durch die Organisation ihres internationalen Absatzes.11 Diese Aspekte werden heute gerne unter dem Schlagwort »Made in Germany« zusammengefasst, einem Label, mit dem sich ironischerweise ursprünglich Großbritannien Ende des 19. Jahrhunderts gegen Billigwaren aus Deutschland zu schützen versuchte.12 Hinzu kommen aber politische Rahmenbedingungen, staatliche Handelsverträge, Unterstützung der Exportfinanzierung und nicht zuletzt die Währungspolitik, die wiederum auf die Produkte jeweils sehr unterschiedlich wirken.

Für den Einzelfall und überschaubare historische Intervalle lässt sich die Bedeutung dieser Faktoren sehr genau bestimmen. Aber warum ist das gesamte Land eine erfolgreiche Exportwirtschaft, und das nicht nur vorübergehend, sondern kontinuierlich über einen sehr langen Zeitraum? Zumal Überschüsse in der Handelsbilanz ja nichts anderes bedeuten, als dass die Menschen in Deutschland mehr produzieren, als sie selbst konsumieren. Jedes Unternehmen ist sich stets bewusst, dass Exportkonjunkturen immer nur vorübergehender Natur sind und sich spätestens dann abschwächen, wenn die ausländische Nachfrage gesättigt oder deren Kaufkraft erschöpft ist. Wie hat es die deutsche Exportwirtschaft geschafft, nach jeder abflauenden Konjunktur eine neue zu erzeugen? Und warum wurde diese Fortsetzung überhaupt angestrebt?

In den Unternehmen wurde das Interesse am Export von einer Ausweitung der Absatzmärkte getragen, die zu unterschiedlichen historischen Zeiten verschiedene Motive haben konnte, etwa die Kostenersparnis bei der Großserienfertigung oder die fehlende Kaufkraft des Binnenmarktes oder gelegentlich auch imperialistische Motive. In der Politik wurde dieses Interesse von nationalstaatlichen Zwangslagen getragen: der Schaffung industrieller Beschäf14tigungsmöglichkeiten im Deutschen Kaiserreich, der Generierung von Deviseneinnahmen für die Erwirtschaftung der Reparationsleistungen in der Weimarer Republik und für die Beschäftigungs- und Wachstumspolitik im bundesdeutschen Wirtschaftswunder. Die konkreten individuellen Motive lassen sich stets im Kontext der zeitgenössischen Rahmenbedingungen einordnen und »erklären«.

Aber die Entscheidungen folgten einer sehr viel langfristigeren Kontinuität. Die Exportorientierung von Eliten in Wirtschaftsverbänden, Unternehmen und Politik ist bis in die sprachliche Ausdrucksweise so gleichförmig, so nachhaltig und so ausdauernd, sie ist parteiübergreifend und über die vielen Regierungs- und Regimewechsel hinweg in der deutschen Geschichte so ausgeprägt, dass sie als eigenständige historische Kraft aufgefasst werden muss, gleichsam als eine intergenerative und intersubjektive Erbmasse in der deutschen Wirtschaftsgeschichte. In einigen historischen Fällen ist die Wirksamkeit dieser Kraft durchaus überraschend. Beispielsweise dann, wenn sich nationalsozialistische Autarkieverfechter für die Aufrechterhaltung der Exportfähigkeit einsetzten oder Gewerkschaftsfunktionäre sich gegen die Aufwertung der D-Mark aussprachen, obwohl das die Preise für Konsumgüter im Inland reduziert hätte. Wenn Akteure gegen ihre eigenen Interessen handeln oder reale Handlungsalternativen überhaupt erst gar nicht erkannt werden, zeigt sich eine regelrecht zwanghafte Wirkung der deutschen Exportorientierung. Sie wird zur »Obsession«. Dieser Begriff wird hier nicht in seiner engen psychologischen Definition verwendet, mit der Zwangshandlungen von Individuen analysiert werden. Er wird vielmehr zurückhaltend und in geringer Dosierung nur dann gebraucht, wenn die strikte historische Prägung zur Exportorientierung in nachweisbaren Fällen die Entscheidungsfreiheit in Wirtschaft und Politik eingeschränkt und den Blick auf Handlungsalternativen verstellt hat.

Um zunächst an die etablierte handelswissenschaftliche Debatte anzuschließen, beginnt das Buch mit einem sehr knappen Überblick über die Entwicklung der wirtschaftswissenschaftlichen 15Theorie des internationalen Handels (Kapitel 1). Es folgt ein statistischer Überblick über die Geschichte der weltwirtschaftlichen Verflechtung Deutschlands seit dem 19. Jahrhundert, der vor allem die langfristigen Entwicklungen aufzeigt: den Übergang vom Exportdefizit- zum Exportüberschussland, die Veränderungen der Struktur des Außenhandels (also welche Güter importiert und welche exportiert wurden und werden) sowie die langfristigen Veränderungen in der Zusammensetzung der wichtigsten Handelspartner des Landes (Kapitel 2).

Danach wendet sich das Buch der chronologischen Darstellung zu, in der Außenwirtschaftspolitiker und Unternehmer als wichtigste Akteure im Mittelpunkt stehen. Sie beginnt bei der für die Exportorientierung wichtigen Handelspolitik des Reichskanzlers Leo Graf von Caprivi in den 1890er Jahren und spannt einen langen historischen Bogen bis in die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg (Kapitel 3). Bis 1952 waren Exportüberschüsse selten und Exportweltmeisterschaften unerreichbar, während die intellektuelle Vorbereitung der Exportorientierung längst begonnen hatte. Das zeigen die neue Handelspolitik Caprivis, die britisch-deutsche Rivalität, die Weltmarktambitionen der deutschen Chemie- und Elektroindustrie, es setzt sich fort über die regen, insbesondere politischen Aktivitäten in der Weimarer Republik, um die verlorenen Weltmarktanteile zurückzugewinnen, und mündet schließlich in der nationalsozialistischen Autarkiepolitik, die eben nicht nur zahlreiche Rüstungs-, sondern auch die Exportinteressen der deutschen Wirtschaft bediente.

Mit dem nachhaltigen Auftreten von Handelsbilanzüberschüssen in der Bundesrepublik beginnt ab 1952 ein neuer Abschnitt in der Geschichte der deutschen Exportpolitik (Kapitel 4). Die Entwicklungen in der DDR können hier leider nur in wenigen Einsprengseln einbezogen werden, auch wenn das noch so unbefriedigend ist. Es wäre im Hinblick auf die These des Buches zu klären gewesen, ob dort eine ähnliche Exportorientierung am Werk war. Der hierfür notwendige Rechercheaufwand ließ die Verfol16gung dieser Frage aber schlicht nicht zu. Kapitel 4 und 5 schöpfen aus einer gründlichen, aber keineswegs vollständigen Auswertung der Archivbestände des Bundeswirtschaftsministeriums, des Auswärtigen Amtes, des Bundeskanzleramtes sowie einiger Unternehmen und Verbände. Dokumente des 1946 gegründeten Außenhandelsbeirats beim Bundesministerium für Wirtschaft (ab 1974: Außenwirtschaftsbeirat), in dem sich die Spitzenfunktionäre der Exportwirtschaft mit den führenden Köpfen der Außenhandelspolitik trafen, bilden eine zentrale Quelle.

Ein wichtiges und in der Literatur aufgrund der systematischen Trennung zwischen Handels- und Geldpolitik viel zu wenig beachtetes Instrument der deutschen Exportpolitik ist die Währungspolitik, die mit der Auflösung des Systems fester Wechselkurse nach 1973 eine prominente Rolle in der deutschen Außenwirtschaftspolitik erhielt (Kapitel 5). Exportorientierung und -stärke fanden sich nun in einem äußerst dynamischen und komplexen weltwirtschaftlichen Umfeld wieder, durch das Exportindustrie und Außenwirtschaftspolitik überwiegend gemeinsam effektiv navigierten. Die 1970er und 1980er Jahre brachten nicht nur überraschende und unvorhersehbare Exportüberschüsse, sondern auch harsche Kritik insbesondere der westlichen Handelspartner. Innerhalb der Wirtschafts- und Verwaltungselite der Bundesrepublik bildete sich hierbei eine ganz besondere rhetorische Dynamik heraus, die bei den kleinsten Anzeichen sinkender Exportüberschüsse in Alarmismus verfiel, bei den höchsten Exportüberschüssen dagegen fast penetrant zu Gelassenheit aufrief.

Die Exportweltmeisterschaft des Jahres 1986 war ganz maßgeblich von den exportfreudigen Programmen der Regierung unter Helmut Kohl getragen. Diese wichtige Phase zeichnete sich zugleich durch eine gezielte »Produktionsverlagerung« aus, ein staatlich gefördertes globales »Offshoring« der deutschen Wirtschaft, das schon in den 1960er Jahren begonnen und von den sozialdemokratischen wie von den freidemokratischen Bundeswirtschaftsministern gleichermaßen weitergeführt wurde. Die vielfältige globale 17Verflechtung der deutschen Wirtschaft, wie sie mit allen Vor- und Nachteilen noch heute existiert, entstand in dieser Phase.

Die Exportweltmeisterschaft der 1980er Jahre war nur der kurze Auftakt für eine viel gewaltigere und längere Exportweltmeisterphase des wiedervereinigten Deutschlands nach der Jahrtausendwende, die nun auch mit wesentlich ansehnlicherem Fußball während des »Sommermärchens« 2006 einherging, das aber wiederum nicht zum WM-Titel führte. Dem Begriff der Exportweltmeisterschaft verschaffte dieser Umstand einen zweiten diskursiven Frühling. Auf diese Phase wird im Schlusswort (Kapitel 6) noch näher eingegangen, das mit einer Zusammenfassung der Untersuchungsergebnisse beginnt.

Die deutsche Außenwirtschaftspolitik und die Exportindustrie werden in Zukunft weiterhin gute Erfolge haben müssen, wenn der Wohlstand hierzulande aufrechterhalten werden soll, so viel ist sicher. Aber diese Erfolge sollten nicht mehr über inländischen Konsumverzicht, Investitionsschwäche und Einkommensungleichheit erreicht werden. Die großen Vorzüge internationaler Arbeitsteilung sollen auch weiterhin genutzt werden, aber sie müssen eine Grenze im hierzu notwendigen Ressourcenverbrauch finden. Die Exporterfolge können nicht mehr mit protektionistischen Beschränkungen des Inlandsmarktes einhergehen, die beispielsweise im Bereich der Agrarpolitik den Abnehmerländern deutscher Güter die Erwirtschaftung eigener Erträge erschweren und sie in die Verschuldung treiben. Die deutschen Exporterfolge müssen schließlich eine Grenze darin finden, dass sie nicht die Gewinne ausländischer Produktionsbetriebe so weit abschöpfen, dass einer wachsenden Weltbevölkerung kaum eine andere Wahl bleibt, als den in ihren Heimatländern erwirtschafteten Profiten in die westlichen Industrieländer zu folgen. Die Lehren der Geschichte, die in diesem Buch zusammengetragen werden, wenden sich nicht gegen Export und auch nicht gegen den Stolz, der damit häufig verbunden ist. Sie wenden sich gegen kurzsichtige Übertreibungen, die ungerechtfertigten Verteilungseffekte und die negativen weltwirtschaftlichen 18Folgen sowie ganz allgemein gegen die nationalstaatlich verzerrte Beschreibung der globalen Wirtschaft, die mit solchen Interpretationen einhergeht.

Das Buch versteht sich als ein Interpretationsvorschlag zur deutschen Wirtschaftsgeschichte und nicht etwa als abschließende Forschung. Es ist an einigen Stellen eine Synthese vor der These. Viele Aspekte verlangen weitergehende, intensivere Überprüfung und Erforschung, mehr als es ein Einzelner mit einem vertretbaren Zeitaufwand zu leisten vermag. Würde es als Interpretationsvorschlag aufgenommen, als Anregung zur eigenen Weiterarbeit an einer nicht nationalstaatlich verengten deutschen Wirtschaftsgeschichte, so hätte dieses Buch sein Ziel erreicht.

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Zur Theorie der internationalen Wirtschaft

Ein historisch-kritischer Abriss

Die Orientierung am Export und das Streben nach hohen Exportüberschüssen ist ein historisch über viele Jahrzehnte gewachsenes Handlungs- und Denkmuster in der deutschen Entscheidungselite. Dieses Muster ist vielfach und kleinteilig in der institutionellen Ordnung des Landes verankert und gibt der wirtschaftlichen Entwicklung eine spezifische Richtung. Es spornt die Industrie an und steuert die Entscheidungen der Politik. Aber es entspricht keiner eigentümlichen handelspolitischen Ideologie.

Die Idee von der Vorteilhaftigkeit einer positiven Handelsbilanz stammt aus der merkantilistischen Wirtschaftslehre, die seit dem 16. Jahrhundert das wirtschaftspolitische Handeln in Europa prägte. Die zahlreichen außenwirtschaftspolitischen Konzepte, die später unter dem Begriff »Merkantilismus« zusammengefasst wurden, gaben den Staatslenkern sehr unterschiedliche Ratschläge, wie ein Handelsbilanzüberschuss erreicht werden könnte. Viele setzten auf die Beschränkung der Einfuhr, insbesondere der Gütereinfuhr, andere aber auch auf die Steigerung des Exports durch Technologietransfer bis hin zu den berühmten Ansiedelungen kleingewerblich erfolgreicher Landsmannschaften und religiöser Minderheiten. Mit solchen Maßnahmen zur »Steigerung des Gewerbefleißes«, wie es damals hieß, sollte die Exportproduktion forciert werden.1

Im Verlauf des 18. Jahrhunderts geriet die merkantilistische Wirtschaftspolitik immer mehr in Verruf, unter anderem durch die Schriften des schottischen Ökonomen Adam Smith. Smith und seine Nachfolger wandten sich vehement gegen staatliche Interventionen in die Wirtschaft, auch und gerade gegen die Intervention in den freien Handel. Das wichtigste Argument gegen den 20Merkantilismus stammte von einem der großen Nachfolger von Adam Smith, David Ricardo. Es findet sich bis heute in jedem Lehrbuch zur internationalen Wirtschaft.2 Ricardo zufolge ist die für alle Menschen zur Verfügung stehende Gütermenge dann am größten, wenn die einzelnen Volkswirtschaften sich auf die Herstellung derjenigen Güter konzentrieren, die sie mit ihrer natürlichen Ausstattung an Ressourcen und Menschen im Verhältnis zu den anderen Gütern am kostengünstigsten herstellen. Deshalb sei es am besten, so beschrieb es Ricardo in seinem 1817 erschienenen Buch Über die Grundsätze der politischen Ökonomie und der Besteuerung anhand eines heute legendären Beispiels, wenn Portugal nur Wein und England nur Tuch produzieren und die beiden Länder ihre Überschüsse austauschen würden.3 Ricardos Ideen schufen die Grundlage für einen über mehrere Jahrzehnte in Großbritannien ausgefochtenen Streit zwischen »Protektionisten« und »Freihändlern«. Im Zentrum der Auseinandersetzung standen Getreidezölle, die 1846 schließlich abgeschafft wurden. Seitdem war das Vereinigte Königreich für viele das Mutterland des Freihandels.4 Allerdings gilt die damit verbundene Vorstellung, die britische Freihandelspolitik bilde die Grundlage für den Wohlstand des Landes, heute als widerlegt.5

Beide Schulen, die Freihändler im Anschluss an David Ricardo sowie die Merkantilisten und Protektionisten, legten ihren Überzeugungen eine eng an dem Nationalstaatsgedanken orientierte Sichtweise zugrunde. Ausgerechnet Ricardo, der als internationaler Finanzinvestor zu Reichtum gelangte, ging in seiner Theorie von einer grundsätzlichen Immobilität der Produktionsfaktoren aus, die er durch das Nationalgefühl der Individuen begründete, durch die »natürliche Abneigung jedes Menschen, das Land seiner Geburt und persönliche Beziehungen zu verlassen und sich mit allen seinen eingewurzelten Gewohnheiten einer fremden Regierung und ungewohnten Gesetzen anzuvertrauen […]. Diese Gefühle, deren Schwinden ich sehr bedauern würde, bestimmen die meisten Menschen mit Vermögen, sich eher mit einer niedrigen Profitrate im eigenen Land zu begnügen, als daß sie eine vorteilhaftere 21Anlage für ihren Reichtum bei fremden Nationen suchen.«6 Angesichts der Tatsache, dass es Ricardo um eine Erklärung des Handels ging, ist diese Vorannahme überraschend. Gleichwohl kennzeichnete sie alle späteren neoklassischen Theorien des internationalen Handels bis in die 1990er Jahre.7

Zu den größten Kritikern der Freihandelsschule gehörte in der Mitte des 19. Jahrhunderts der südwestdeutsche Ökonom und Mitbegründer des Deutschen Zollvereins Friedrich List. Auf List berufen sich bis heute die Vertreter einer protektionistischen Wirtschaftspolitik. In Deutschland gehörte er bis in das späte 20. Jahrhundert zu den einflussreichsten Nationalökonomen. List kritisierte an »der Schule«, wie er das Ricardo-Paradigma verächtlich nannte, vor allem, dass diese eine »kosmopolitische Ökonomie« darstelle. Den Bedürfnissen einzelner Nationen und insbesondere der deutschen entspreche sie nicht. Deutschland müsse zunächst eine Industriewirtschaft entwickeln, um den nationalen Wohlstand mithilfe von Exportüberschüssen auf eine höhere Stufe zu heben, die es dann erlauben würde, den Zollschutz und die Gewerbeförderung abzubauen. Exportüberschüsse stellten für List aber insgesamt eines der wichtigsten Ziele für eine erfolgreiche Wirtschaftspolitik dar. In seinem Hauptwerk, Das nationale System der Politischen Ökonomie von 1841, heißt es: »Man kann als Regel aufstellen, daß eine Nation um so reicher und mächtiger ist, je mehr sie Manufakturprodukte exportiert, je mehr sie Rohstoffe importiert und je mehr sie an Produkten der heißen Zone konsumiert.«8

Der Neomerkantilismus, der am Ende des 19. Jahrhunderts in Deutschland, Frankreich und den USA Verbreitung fand und sich häufig auf List berief, versuchte dieses Ziel mit Einfuhrzöllen im Bereich der Land- und der Industriewirtschaft zu erreichen. Aber auch im Rahmen der an der Freihandelsschule und dem Ricardo-Paradigma orientierten Außenwirtschaftspolitik ging es, in Deutschland, aber auch andernorts, um Exporterfolge und Handelsbilanzüberschüsse. Die deutschen Exportüberschüsse nach 22dem Zweiten Weltkrieg wurden auf der Grundlage einer »liberalen Handelspolitik« erzielt und nicht etwa auf der Grundlage des Merkantilismus. Der Exportweltmeisterschaft der 1980er Jahre ging eine geradezu ostentative »Liberalisierungsoffensive« des freidemokratischen Wirtschaftsministers Martin Bangemann voraus. Wie lässt sich dieser Widerspruch erklären?

Er liegt in der epistemologischen Gemeinsamkeit der beiden Paradigmen begründet. Sowohl die Verfechter des Merkantilismus als auch die des Freihandels setzen eine nationalstaatlich-territorial abgegrenzte und abgrenzbare Wirtschaft voraus. Sie gehen von einer Welt aus, in der Nationalstaaten Güter produzieren und diese, sofern sie diese nicht selbst verbrauchen, gegen andere Güter tauschen. Die Kritik am Ricardo-Paradigma – ob sie nun von Friedrich List vorgetragen wurde, von Entwicklungsökonomen wie Raúl Prebisch und Hans W. Singer oder von Wolfgang Streeck9 – argumentiert mit einer territorial umgrenzten nationalen Wirtschaft, die als schutzwürdig (z.B. durch Zollgrenzen) angesehen wird. Nur auf der Grundlage einer solchen Vorstellung ergibt die isolierte Diskussion über Exportüberschüsse und Handelsbilanzen, die bis heute einen Großteil nicht nur der öffentlichen, sondern auch der wissenschaftlichen Diskussionen dominiert, überhaupt Sinn.

Der tatsächlichen grenzüberschreitenden wirtschaftlichen Verflechtung entspricht diese Annahme indes nicht – und sie tat es auch vor 200 Jahren schon nicht. Seit den 1970er Jahren öffnete sich die Schere zwischen Theorie und Realität aber immer mehr, und die neuere wirtschaftsgeografische Forschung, deren Siegeszug eng mit den Arbeiten des Ökonomen Paul Krugman verbunden ist, löste sich vom Ricardo-Paradigma bzw. ergänzte es.10 Die jüngere Theorie der internationalen Wirtschaft stellt räumliche Agglomerationen in den Mittelpunkt ihrer Untersuchung, die innerhalb von Nationalstaaten liegen können, aber auch im Grenzbereich mehrerer Länder. Ausschlaggebend für die wirtschaftlichen Verflechtungen sind allein die tatsächlichen Handelskosten, in die Zölle und andere Handelsbeschränkungen als Faktoren mit einflie23ßen, genauso wie die Geografie. Mit dieser Veränderung der Sichtweise trägt die Wirtschaftswissenschaft auch der Tatsache Rechnung, dass der atemberaubende Aufschwung des Welthandels seit den 1980er Jahren eben nicht nur durch den Austausch von Rohstoffen gegen Fertigwaren getragen war, sondern in zunehmendem Maße durch den Austausch von immer spezialisierteren Fertigwaren und die Verschiffung von Vorprodukten innerhalb global operierender Unternehmen.11

Für das Gros der Akteure, die in diesem Buch vorkommen, stellte allerdings das Ricardo-Paradigma den wissenschaftlichen Handlungshorizont dar. Natürlich war vielen von ihnen bewusst, dass wirtschaftliche Verflechtungen nicht an Grenzen haltmachen. Einigen mag das Denken in einer strikten Nationalstaatenordnung nur als eine Art Heuristik für ihre praktische Tätigkeit gedient haben. Für die zeitgenössischen politischen Diskussionen, aber auch für die wissenschaftlichen Aufarbeitungen in der Geschichts- und der Wirtschaftswissenschaft war diese Heuristik aber fatal, weil sie ein unterkomplexes Bild der internationalen Verflechtung zementierte und Begriffe wie den der Exportweltmeisterschaft ermöglichte. In der wirtschaftshistorischen Forschung hatte das vor allem zwei ungünstige langfristige Folgen.

Erstens stehen im Ricardo-Paradigma Einfuhrbeschränkungen und Zollpolitik im Mittelpunkt. Einfuhrzölle (und die damit verbundenen Maßnahmen) sind aber letztlich Instrumente einer inländischen, also nationalen Umverteilung. Sie verteuern ein Gut im Inland (z.B. Getreide), so dass die Konsumenten (z.B. die Haushalte) mehr bezahlen müssen, während die inländischen Produzenten (z.B. die Bauern) höhere Einkommen erzielen können, genauso wie der Staat aufgrund steigender Zolleinnahmen. Ausländische Produzenten, die dieselbe Menge absetzen, verdienen dagegen genauso viel wie vorher. Die inländische Umverteilung und die entsprechenden Machtkonflikte bilden daher nicht nur den Kern der jeweils zeitgenössischen Auseinandersetzungen über die Zollpolitik, sondern auch das wichtigste Thema wissenschaftlicher Unter24suchungen. Aus diesem Grund berücksichtigt die Geschichte der Handelspolitik den eigentlichen internationalen Handel häufig viel zu wenig. Sie widmet sich vor allem den Machtkonflikten des politischen Systems, das die Handelspolitik hervorbringt.12 Globale wirtschaftliche Verflechtung und auch die Verschiebung von globalen Ungleichheiten kommen hierbei häufig zu kurz.

Zweitens lenkte die theoretische Grundlage die Aufmerksamkeit vornehmlich auf die »klassische Handelspolitik«, das heißt die Zollpolitik, die Beschränkung oder Liberalisierung der Einfuhr und sogenannte »nichttarifäre Handelshindernisse« (non-tariff barriers, NTB). NTB sind Bestimmungen des nationalen Rechts, die für inländische Produzenten leichter zu erfüllen sind als für ausländische. Das Reinheitsgebot deutscher Bierbrauer oder auch Umweltstandards sind einschlägige Beispiele. Zölle, Einfuhrbeschränkungen und NTB sind aber höchstens die eine Seite der Medaille, jene Seite nämlich, die die Einfuhr betrifft. Die Ausfuhr, der Export, wird dagegen mit ganz anderen Instrumenten bedacht: Exportunternehmen können direkte Subventionen erhalten, die Exportfinanzierung kann durch staatliche Maßnahmen und staatlich gesammelte Informationen über Absatzmärkte verbessert werden. Exporte können außerdem über Währungsmanipulationen gefördert werden. Durch die Abwertung der eigenen Währung kann ein Staat seiner Exportwirtschaft kurzfristig einen Preisvorteil im Ausland verschaffen.13 In der wirtschaftshistorischen Forschung ist die Verbindung zwischen Außenwirtschafts- und Währungspolitik bislang nur punktuell untersucht worden, beispielsweise für die Zeit der Großen Depression der 1930er Jahre, als einzelne Nationalstaaten versuchten, Zollerhöhungen der Handelspartner mit Währungsabwertungen zu beantworten bzw. umgekehrt.14

Diese außenwirtschaftspolitischen Kampfmaßnahmen jenseits der klassischen Handels- und Zollpolitik werden in neuerer Zeit – nicht zuletzt aufgeschreckt durch den Brexit und die Wahl Donald Trumps zum US-Präsidenten – unter dem Begriff des »ökonomischen Nationalismus« untersucht. Das ist anregend, da auf diese 25Weise die unterschiedlichen Facetten einer nationalen oder auch nationalistischen Außenwirtschaftspolitik besser miteinander verbunden werden können. Die Wirtschaftshistorikerin Alice Teichova gehörte zu den Ersten, die den Ausdruck für die Analyse der Wirtschaftspolitik der neu gegründeten Staaten in Südosteuropa benutzten, die eben sowohl währungs- als auch handelspolitische Instrumente verwendeten.15 Darüber hinaus dient der Ausdruck häufig als Container für sehr unterschiedliche Aspekte einer modernen oder auch historischen Außenwirtschaftspolitik, ohne dass deren Zusammenhang untereinander genauer bestimmt würde. Historische Diskussionen über die »Überfremdung der heimischen Wirtschaft« werden beispielsweise im Rahmen der Forschung zum Wirtschaftsnationalismus untersucht. Solche Diskussionen entstehen immer wieder beim Kauf inländischer Unternehmen durch ausländische Investoren, bei der geplanten Beteiligung Kuwaits an Daimler-Benz 1974 beispielsweise, bei der Übernahme des Augsburger Roboter-Unternehmens Kuka durch das chinesische Staatsunternehmen Midea 2016 oder auch jüngst bei dem Verkauf des Geschäftsbereichs Klimalösungen der Firma Viessmann – zu dem pikanterweise auch die Produktion von Wärmepumpen zählt – an den US-Konzern Carrier. Man denke aber auch an die Vorbehalte gegenüber französischem Kapital in der deutschen bzw. deutschem Kapital in der schweizerischen und polnischen Wirtschaft in den 1920er Jahren.16

Um aber eine nationalstaatlich verankerte Sichtweise auf die internationale Wirtschaft zu überwinden, reicht es nicht aus, die bloße Rhetorik des ökonomischen Nationalismus zu untersuchen. Es muss genau bestimmt werden, welche Aspekte einer globalen Wirtschaft in einer nationalstaatlich geprägten Wirtschaftspolitik und auch Wirtschaftstheorie eigentlich ausgelassen werden. Es muss bestimmt werden, auf welche Weise die jeweilige Außenwirtschaftspolitik, die Unternehmer, Außenwirtschaftspolitiker und Wirtschaftswissenschaftler vertreten, den Blick auf andere Aspekte von Globalisierungsprozessen verstellt.

26Tatsächlich waren Produktionsprozesse schon immer arbeitsteilig über Nationalstaatsgrenzen hinweg organisiert. Lediglich der Umfang dieses Aspekts hat seit der zweiten Welle der Globalisierung historisch zugenommen. Ende des 19. Jahrhunderts wurden die in Berlin hergestellten Siemens-Telegrafen für den Betrieb einer Verbindung nach Russland ausgeführt. Das Unternehmen produzierte in England mit einem eigenen Patent Unterseekabel, die es von dort auch nach Deutschland exportierte.17 Volkswagen baut seit den 1950er Jahren ausländische Produktionsstätten auf und beschäftigt seit Langem wesentlich mehr Mitarbeiter im Ausland als in der Bundesrepublik.18 Bosch produzierte in Indien Zündanlagen, die nach Deutschland zurückexportiert und dort in Autos eingebaut wurden. Grundig fertigte in Österreich Farbfernseher für den westdeutschen Absatzmarkt. Umgekehrt gehörten zu den »deutschen Exporten« auch die in Deutschland hergestellten Produkte ausländischer Unternehmen: Schon in der Weimarer Republik produzierten Ford und General Motors in Köln und Rüsselsheim für die europäischen Nachbarländer. Sollten die so hergestellten Autos gleichwohl als »deutsche Exporte« charakterisiert werden, nur weil sie überwiegend von »deutschen« Arbeitern zusammengesetzt wurden, zum Teil unter Verwendung von Bauteilen, die zuvor aus den USA eingeführt worden waren?

Produktionsprozesse erstrecken sich nicht erst seit der jüngsten Welle der ökonomischen Globalisierung üblicherweise über viele Länder und Regionen. Es gibt Fälle, beispielsweise in der deutschen Textilindustrie in den 1970er Jahren, da fordern Branchenvertreter im Inland einen staatlichen Zollschutz, während inländische Unternehmer derselben Branche zugleich außerhalb des Landes als Urheber der »Billigeinfuhr« tätig sind.19 Im Ricardo-Paradigma wird dieser Zusammenhang entkoppelt, was er aber eben nicht war. Es ist deshalb ungemein wichtig, zu einem Verständnis der Wirtschaft als von vornherein global verflochten überzugehen, in der wirtschaftshistorischen Forschung, aber letztlich auch im wirtschaftspolitischen Diskurs. Exportentscheidungen von Unterneh27men – und diese bilden die Grundlage des gesamten hier zu untersuchenden Themas – bewegen sich nämlich in diesem Kalkül, in dem sie nicht nur zwischen Binnen- und Auslandsmarkt, sondern auch zwischen Binnen- und Auslandsproduktion entscheiden müssen. Wie eng diese Entscheidungen miteinander zusammenhängen und wie eng damit auch die Exportorientierung mit der »Produktionsverlagerung« zusammenhängt, wird insbesondere bei den Analysen über die 1970er und 1980er Jahre deutlich.

In der historischen Forschung hat sich für eine kritische Untersuchung der weltwirtschaftlichen Verflechtung die Untersuchung globaler Wertschöpfungsketten als zweckmäßig erwiesen.20 Auch bei diesem Ansatz kann es sich freilich nur um eine intellektuelle Krücke handeln, denn es wäre illusorisch anzunehmen, dass Produktionsprozesse um einen einzigen stofflichen Transformationsprozess herum organisiert sind, von der Baumwollpflanze zum T-Shirt.21 Immer gibt es zahlreiche Nebengleise, Abfallprodukte und Synergieeffekte paralleler Produktionsprozesse. Man muss eher von Produktionsnetzwerken ausgehen als von einfachen Linien, von einer komplizierten Verflechtung von Wirtschaft und Handel – wie ein Teller Spaghetti, bei dem sich niemand für den wie mit einer Plätzchenform ausgestochenen Nationalstaat im Innern interessiert.22

Diese Sichtweise zeichnet ein deutlich realistischeres Bild von der Struktur der modernen Wirtschaft als die mit dem Ricardo-Paradigma verbundene Vorstellung national arbeitsteilig organisierter Systeme. Nur über ein solches komplexeres Bild der Wirtschaft ist es möglich, den gravierenden Veränderungen auf die Spur zu kommen, die sich seit den 1970er Jahren eingestellt haben und heute unsere Handlungsoptionen bestimmen. Wenn wir verstehen wollen, in welchen internationalen Abhängigkeiten sich unsere Wirtschaft befindet, dann müssen wir in die Vergangenheit schauen, aber nicht durch einen wirtschaftstheoretischen Filter, der die tatsächlichen Verflechtungen unsichtbar macht.

292

Die globale Verflechtung der deutschen Wirtschaft im Überblick

Nähern wir uns der außenwirtschaftlichen Verflechtung Deutschlands zunächst aus der Vogelperspektive mit einem sehr groben Überblick über die letzten 150 Jahre. Schon aufgrund seiner geografischen Lage in der Mitte Europas war Deutschland traditionell sehr intensiv in international arbeitsteilige Produktionsprozesse eingebunden, ganz ähnlich wie seine Nachbarländer, die Schweiz, Belgien oder die Niederlande, aber im Unterschied zu Ländern mit einem sehr großen Binnenmarkt wie die USA oder China. Deutschlands Rolle hat sich dabei in den vergangenen 150 Jahren grundlegend verändert. Das Land wandelte sich von einem hungrigen Agrarimporteur zu einem mächtigen Fertigwarenexporteur.

Um die langfristigen Veränderungen der weltwirtschaftlichen Verflechtung Deutschlands aufzuzeigen, greife ich auf wichtige Kennzahlen der Außenwirtschaftsstatistik zurück. Allerdings, das sei vorab gesagt, sind diese Zahlen natürlich mit Vorsicht zu genießen. Für die vorindustrielle Zeit liegen zum Teil kaum verlässliche Daten vor. Über die letzten anderthalb Jahrhunderte hat Deutschland dann nicht nur Gebietsveränderungen, sondern auch tiefgreifende Umbrüche im politischen System durchlaufen.1 Anhand der Teilung nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs lässt sich beispielhaft zeigen, dass die statistische Erfassung des Exports von diesen politischen Beben nicht unberührt blieb: Weil die Bundesrepublik die DDR nicht anerkannte, galt auch in der Statistik der Handel nicht als Außenhandel, sondern wurde als Binnenhandel interpretiert und in einer »Interzonenstatistik« bzw. als »Innerdeutscher Handel« separat von der bundesdeutschen Handelsstatistik erhoben. Umstände wie diese gilt es bei den folgenden Ausführungen im Hinterkopf zu behalten.2

30Außenhandelsstatistik: Exportquote, Exportvolumen und -wert

Ein sehr einfacher und häufig verwendeter Maßstab zur Beschreibung der globalen Verflechtung einer Volkswirtschaft ist der »Offenheitsgrad«. Zu seiner Berechnung wird die Summe aus Ausfuhr und Einfuhr ins Verhältnis zur volkswirtschaftlichen Wertschöpfung gesetzt.3 Wenn Exporte und Importe sehr unterschiedlichen Dynamiken folgen – wie in Deutschland –, ist eine Betrachtung der Exportquoten bzw. Importquoten sinnvoll. Erstere setzt den Wert aller Ausfuhren, Letztere den Wert der Einfuhren ins Verhältnis zum Bruttoinlandsprodukt.4 Sind Export- und Importquote identisch, ist die Handelsbilanz ausgeglichen. Liegt die Export- über der Importquote, weist die Handelsbilanz einen Überschuss aus.

Für die allermeisten Länder und auch für Deutschland sind die beiden Werte in den letzten 150 Jahren gestiegen, insbesondere nach dem Zweiten Weltkrieg. Der Anteil des Außenhandels an der wirtschaftlichen Wertschöpfung nahm letztlich überall zu, wenn auch nicht überall im selben Umfang. Diese wachsende Außenhandelsverflechtung ist der statistische Niederschlag der wirtschaftlichen Globalisierung.5 In Deutschland stieg die Exportquote schon vor dem Ersten Weltkrieg leicht von ca. 10 auf 15 Prozent und die Importquote von 10 auf 20 Prozent (siehe Grafik 2).6 Während des Kriegs nahm die weltwirtschaftliche Verflechtung des Deutschen Reichs stark ab. Danach stieg sie wieder fast bis auf das Vorkriegsniveau an, um dann aber in der Weltwirtschaftskrise, während der nationalsozialistischen Herrschaft und im Zweiten Weltkrieg erneut sehr stark abzusinken. Der anschließende Wiederaufbau war von einer schnellen Zunahme der Außenhandelsverflechtung getragen, wobei die Export- schneller als die Importquote zunahm und seit 1952 im Grunde dauerhaft darüber lag. Die Bundesrepublik hatte fast permanent einen Handelsbilanzüberschuss. Im Land wurden also dauerhaft mehr Güter produziert als konsumiert.

Seit dem Ende der 1960er Jahre überstieg die bundesdeutsche 32Exportquote das Niveau von vor dem Ersten Weltkrieg. Das zeigt einerseits, dass die globale Verflechtung der deutschen Wirtschaft schon Ende des 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts auf einem im historischen Vergleich hohen Niveau lag. Andererseits wird deutlich, mit welcher Geschwindigkeit die bundesdeutsche Wirtschaft nach dem Zweiten Weltkrieg in die Weltwirtschaft integriert wurde. Die Exportquote stieg kräftig an und erreichte Mitte der 1980er Jahre 28 Prozent. Die Importquote blieb hinter dieser dynamischen Entwicklung etwas zurück, so dass der Handelsbilanzüberschuss während der ersten Exportweltmeisterschaft riesige Ausmaße annahm.

Grafik 2: Deutsche Handelsbilanz, Export- und Importquote (jeweils in % des BIP), 1873-2022

Quelle: »Deutschland in Daten«; online verfügbar unter: {http://www.deutschland-in-daten.de/​datensatz/}; neueste Daten von: {https://wits.worldbank.org/}.

Die Wiedervereinigung reduzierte beide Kennziffern vorübergehend merklich, weil die Integration der DDR zwar das Bruttoinlandsprodukt (BIP) deutlich erhöhte, aber die Außenhandelsverflechtung nicht im selben Maße. Die Exportquote der DDR lag vor der Wiedervereinigung wohl bei etwas über 20 Prozent und damit unter der der BRD.7 Nach der Jahrtausendwende stiegen Export- und Importquote noch einmal kräftig an – die Exportquote bis auf 39 Prozent des BIP im Spitzenjahr 2012. Weil die Importquote in den letzten Jahren vergleichsweise stabil bei ca. 30 Prozent lag, stieg der Handelsbilanzüberschuss immer weiter an und erreichte schließlich vor dem Ausbruch der Covid-19-Pandemie durchschnittlich etwa 7 Prozent des deutschen BIP. Das waren zwischen 200 und 250 Milliarden Euro pro Jahr, was der Hälfte des BIP von Nigeria entspricht, mit 200 Millionen Einwohnern die größte Volkswirtschaft Afrikas. Hinter China und den USA liegt die wesentlich kleinere und ressourcenärmere Bundesrepublik heute auf Platz drei der exportstärksten Länder der Welt.8

Die jüngste Globalisierungswelle, die in den 1980er Jahren begann und bis heute anhält, wurde und wird von mehreren Faktoren angetrieben: von der wirtschaftlichen Öffnung Chinas unter Staatschef Deng Xiaoping, vom Zusammenbruch der Sowjetunion und dem Ende des Kalten Kriegs, von der drastischen Reduktion der Transportkosten durch die Containerschifffahrt und schließlich 33von der Revolution der Mikroelektronik, die nicht nur die Beherrschung globaler Wertschöpfungsketten überhaupt ermöglicht, sondern auch zu erheblichen Gewichtseinsparungen bei global handelbaren Bauteilen geführt hat.9 Die deutsche Exportwirtschaft konnte von diesen Entwicklungen gut und überdurchschnittlich profitieren, nicht zuletzt weil sie über jahrzehntelange Erfahrungen in der Ausnutzung der Vorteile internationaler Arbeitsteilung verfügt.

Durch die Coronapandemie und den russischen Angriff auf die Ukraine stehen die Vorteile der internationalen Arbeitsteilung neuerdings wieder zur Diskussion. Risiken und Abhängigkeiten, die das Vertrauen auf die Vorteile internationaler Arbeitsteilung auch mit sich bringt, werden in den Vordergrund gerückt. Ein Viertel der Arbeitsplätze im Inland hängt heute vom Außenhandel ab. Die Versorgungssicherheit ist für einige Produkte bei Unterbrechung der Handelswege zweifellos gefährdet. Die notwendigen Rohstoffimporte spülen unter Umständen Geld in die Kassen von Diktatoren und Tyrannen. Historisch gesehen ändern diese Probleme aber nichts an der Tatsache, dass die Bundesrepublik ihren Wohlstand auf der Grundlage einer intensiven Nutzung der Vorteile internationaler Arbeitsteilung erwirtschaftet hat. Jede diesbezügliche politische Beschränkung führt unweigerlich zu Wohlstandsverlusten.

Sofern sich dies angesichts einer unvollständigen Datenüberlieferung bestimmen lässt, gehörte Deutschland schon Ende des 19. Jahrhunderts zu den wichtigsten Exportnationen der Welt. Großbritannien führte um 1900 diese Rangliste an, und nach den Schätzungen zeitgenössischer Ökonomen folgte das Deutsche Reich auf Platz zwei, wenn auch mit beachtlichem Abstand.10 Damals ging die deutsche Exportstärke – und das ist der wichtige Unterschied zu heute – aber noch mit einem großen Handelsbilanzdefizit einher. Die Gesellschaft des Kaiserreichs konsumierte deutlich mehr, als sie produzierte. Die Handelsbilanz des Deutschen Kaiserreichs war mit ca. 3 bis 4 Prozent (Anteil am BIP) beinahe chronisch defizitär. Insbesondere Rohstoffe und Nahrungs34mittel fehlten der schnell wachsenden Bevölkerung. Nur weil die deutschen Unternehmen in anderen Staaten Kapitalbesitz aufgebaut hatten und sehr erfolgreich im Ausland Dienstleistungen verkauften (insbesondere im Reedereigeschäft und durch Versicherungen), konnte das Handelsbilanzdefizit finanziert werden.11 Im Ersten Weltkrieg brach dieses Wachstumsmodell zusammen, weil diese Einkommensquellen wegfielen. Hieraus resultierte das zentrale politökonomische Problem der Weimarer Republik: Die Handelsbilanzdefizite wurden letztlich über Verschuldung im Ausland finanziert. Exportsteigerungen, als eine Möglichkeit, die nachteiligen Wirkungen der wachsenden Auslandsverschuldung abzuwenden, erhielten unter diesen Rahmenbedingungen in den Augen vieler Politiker und Wirtschaftsexperten geradezu religiösen Charakter.

Erst in der Bundesrepublik der 1950er Jahre stellten sich die ersehnten Handelsbilanzüberschüsse dann dauerhaft ein. Welchen Anteil hieran die Außenwirtschaftspolitik von Bundeskanzler Konrad Adenauer und Wirtschaftsminister Ludwig Erhard hatten, wird in den entsprechenden Abschnitten zu diskutieren sein.12 Im Ausland wurden die Handelsbilanzüberschüsse aber schnell zum Ärgernis. Am Ende der 1960er Jahre erreichten sie schon 3 Prozent des Bruttosozialprodukts (BSP). Ökonomen wie Charles Kindleberger suchten händeringend nach Erklärungen, warum die Überschüsse nach der Wiederaufbauphase nicht wieder verschwanden. Als wichtiger Faktor galt ihnen eine besondere deutsche »Exportneigung« (»propensity to export«).13 Trotz Währungsaufwertung und Ölpreiskrise stiegen die Handelsbilanzüberschüsse weiter und beliefen sich 1974 auf 50 Milliarden DM. Das entsprach damals mehr als 5 Prozent des BSP. Abschwächungen, die zum Teil nach erheblichem internationalem Druck erreicht wurden, waren immer nur vorübergehend. Mitte der 1980er Jahre stiegen die Überschüsse erneut über die 5-Prozent-Marke – das entsprach damals mehr als 100 Milliarden DM –, und auch in den Jahren vor der Finanz- und Eurokrise kletterten sie auf dieses Niveau.14

35Regionalstruktur

Im Gegensatz zu sehr vielen anderen Einflussfaktoren der außenwirtschaftlichen Verflechtung Deutschlands – der Politik, der weltwirtschaftlichen Konkurrenz, dem industriellen Wandel und der Güterstruktur – ist die Regionalstruktur des deutschen Außenhandels über einen bemerkenswert langen Zeitraum äußerst stabil geblieben. Das gilt insbesondere für den Export. Die deutschen Waren werden bis heute zum allergrößten Teil in die Länder Europas verkauft. Für die Zeit bis zum Zweiten Weltkrieg traf dies für drei Viertel der deutschen Exporte zu, wobei Russland und die Sowjetunion zu Europa gerechnet werden.15 Der Rest ging nach Amerika (Süd- und Nordamerika nahmen zusammen 15-20 Prozent der deutschen Exporte auf) und nach Asien (5-10 Prozent). Afrika und Australien spielten kaum eine Rolle.

Innerhalb dieser vier großen Exportregionen traten nach der Weltwirtschaftskrise deutliche Verschiebungen ein: Der Handel mit den USA, der die Hälfte des Amerikahandels ausmachte, nahm in den 1930er Jahren deutlich ab, während die mittel- und südamerikanischen Länder an Bedeutung gewannen.16 Auf dem europäischen Kontinent verlagerte sich der deutsche Außenhandel von West- nach Ost- und Südosteuropa, ein Resultat der vor allem währungspolitisch verursachten Blockbildung nach der Weltwirtschaftskrise.17 Der deutsche Export war mithin am Vorabend des Zweiten Weltkriegs in seiner geografischen Struktur verzerrt, was nicht nur auf die Rüstungs- und Autarkiepolitik der Nationalsozialisten zurückging, sondern auch auf den handels- und währungspolitischen Protektionismus der traditionellen westlichen Handelspartner. Im Krieg baute das nationalsozialistische Deutschland mit erheblichem Zwang europäische Produktionsprozesse auf, bei denen im Ausland beschlagnahmte, einverleibte oder anders gefügig gemachte Unternehmen in die deutsche Rüstungsproduktion integriert wurden. Diese »Großraumwirtschaft« forcierte schon während des Kriegs die »europäische Arbeitsteilung« und schuf 36die technische und organisatorische Voraussetzung für die spätere wirtschaftliche Westintegration.18

Nach dem Zweiten Weltkrieg stellte sich die traditionelle, auf Westeuropa ausgerichtete regionale Struktur des deutschen Exports schnell wieder ein. Wenn wir die Regionalstruktur des bundesdeutschen Exports in den 1950er Jahren daher mit dem Stichjahr 1938 vergleichen und von einer Verschiebung als Folge der stärkeren politischen Westorientierung sprechen würden, wäre das irreführend. Bei der Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) 1957 lag der Anteil der europäischen Absatzmärkte am bundesdeutschen Export bereits bei 63 Prozent. Die osteuropäischen Länder und die Sowjetunion waren zu diesem Zeitpunkt fast bedeutungslos. Die sechs Gründungsmitglieder der EWG waren die wichtigsten Absatzmärkte für bundesdeutsche Exporte. Die USA wiesen mit 16 Prozent einen historisch gesehen erhöhten Anteil auf.

Bis Anfang der 1970er Jahre war der Anteil der (west-)europäischen Exportmärkte weiter gestiegen. 72 Prozent der Exporte gingen jetzt in die Länder Europas, darunter die Sowjetunion (als wichtigstem Handelspartner im »Ostblock«) mit nur einem geringen Anteil von etwas mehr als 1 Prozent. Frankreich war mit etwa 12 bis 13 Prozent der bundesdeutschen Ein- und Ausfuhr zum wichtigsten Handelspartner aufgestiegen. Dagegen waren die USA zurückgefallen auf etwa 10 Prozent. Das entsprach dem Niveau der Vor- und Zwischenkriegszeit. Der Anteil des gesamten amerikanischen Doppelkontinents war auf 14 bis 15 Prozent zurückgefallen, Asien erreichte 8 Prozent der Einfuhren und 6,5 Prozent der Ausfuhren, Afrika 6 Prozent bzw. 4,5 Prozent. Die traditionell stark (west-)europäisch dominierte außenwirtschaftliche Verflechtung der bundesdeutschen Wirtschaft war am Ende des Wirtschaftswunders zurückgekehrt. Die geografische Nähe erwies sich bei relativ unbeschränkten Handelsströmen als eine stark handelsdeterminierende Kraft.19

37Grafik 3: Regionalstruktur des deutschen Exports nach Kontinenten, 1880-2017

Quelle: »Deutschland in Daten«; online verfügbar unter: {http://www.deutschland-in-daten.de/​datensatz/}.

Mit dem Beitritt Großbritanniens zur Europäischen Gemeinschaft 1973 verstärkte sich die Regionalisierung des deutschen Au38ßenhandels in Europa noch etwas. Zum Teil ging das auch auf die Ostgeschäfte zurück – Pipeline-Röhren gegen Erdgas –, in deren Verlauf die Exporte in die Sowjetunion bis auf fast 4 Prozent anstiegen (siehe hierzu auch Kapitel 4). Zugleich wurde Asien als Handelsraum wichtiger. Das lag anfänglich vor allem an den Ölpreiskrisen von 1973 und 1979. Denn diese verteuerten nicht nur die Öleinfuhren aus den zu Asien zählenden Golfstaaten, den wichtigen deutschen Lieferanten, und damit deren Anteil an der deutschen Einfuhr. Der Reichtum der Golfstaaten führte auch zu einer verstärkten Nachfrage nach deutschen Produkten, so dass die Ausfuhr in diesen Teil Asiens ebenfalls zunahm. In den 1980er Jahren verlor diese Verschiebung an Kraft, und die auf Europa zentrierte Regionalstruktur des Exports stellte sich wieder ein. Der Anteil der Ausfuhr, der in die europäischen Nachbarländer ging, stieg bis auf 77 Prozent. Nach der Wiedervereinigung ging die europäische Ausfuhr etwas zurück und stabilisierte sich bei etwa 73 Prozent, wobei ost- und südosteuropäische Länder ihren Anteil vergrößerten, der einiger westeuropäischer Staaten sich verringerte.

Seit der Finanz- und Eurokrise sinkt der Anteil der Ausfuhren nach Europa. Heute liegt er unter 70 Prozent. Das hat in erster Linie mit einem kontinuierlichen Bedeutungsgewinn der Ausfuhren nach Asien zu tun, wobei insbesondere China immer wichtiger wurde. Seit der Wiedervereinigung begann der Anteil Asiens an den deutschen Importen zunächst zu steigen und erreichte nach der Finanzkrise 18 bis 20 Prozent. Fast 10 Prozent der bundesdeutschen Importe kommen heute aus China. Der Anteil der Exporte, der in Asien abgesetzt wird, stieg kontinuierlich auf etwa 15 Prozent an, wobei 6 Prozent allein auf China entfallen. Der Aufstieg Chinas als Handelspartner der Bundesrepublik seit ca. 20 Jahren stellt die deutlichste Veränderung der Regionalstruktur des deutschen Außenhandels dar, die zuvor über mehr als ein Jahrhundert sehr stabil gewesen ist.

Spiegelbildlich zum Aufstieg Asiens und insbesondere Chinas als wichtigem bundesdeutschen Handelspartner (bei gleichbleiben39der Bedeutung des europäischen Handels) war der Abstieg Afrikas. Am Ende der 1960er Jahre hatte die Bundesrepublik noch 9 Prozent ihrer Einfuhren aus Afrika bezogen und 6 Prozent ihrer Exporte auf dem Kontinent abgesetzt. Durch die Ölpreiskrise, den relativen Rückgang der Entwicklungshilfe und die Gemeinsame Agrarpolitik der Europäischen Gemeinschaft sank der Einfuhranteil im Verlauf der 1970er Jahre zunächst leicht, um dann aber in den 1980er Jahren auf nur noch 3 Prozent abzusinken. Auch die Exporte nach Afrika verloren gegenüber den anderen Weltregionen an Boden und sanken auf nur noch 3 Prozent der bundesdeutschen Ausfuhren. Im ersten Jahrzehnt des neuen Jahrhunderts rutschen beide Werte auf unter 2 Prozent ab. Der Handel der Bundesrepublik mit Afrika ist heute bedeutungslos, jedenfalls in dieser groben Betrachtungsweise. Diese Entwicklung gilt für den Welthandel insgesamt.20

Güterstruktur

Während die Regionalstruktur der deutschen Exporte ein langfristig vergleichsweise stabiles, stark durch die Geografie geprägtes Muster aufweist, veränderte sich die Güterstruktur ständig. Das liegt schon in der Natur der Sache, denn die wichtigen Welthandelsgüter des späten 19. Jahrhunderts unterscheiden sich von den heute begehrten Waren.

Befassen wir uns zunächst mit der Struktur der Importe. Sie stehen in diesem Buch nicht im Vordergrund und können daher etwas oberflächlicher behandelt werden. Deutschland war traditionell ein Nahrungsmittelimportland. Zwischen 30 und 40 Prozent des Einfuhrwertes aller Importe im Deutschen Kaiserreich und ein etwas höherer Anteil in der Weimarer Republik entfielen auf Nahrungsmittel, worunter auch Viehfutter gezählt wird.21 Das wichtigste Importgut war Getreide, aber Deutschland importierte auch Schlachtvieh, Milcherzeugnisse, Tierfutter, Obst und Gemüse.22 In der Weimarer Republik ging der Anteil der Futtergetreidesorten 40deutlich zurück, und höherwertige Lebensmittel wie Südfrüchte, Kaffee und Fleisch nahmen an Bedeutung zu.23

Nach dem Zweiten Weltkrieg sank die Bedeutung der Nahrungsmittel im Rahmen der bundesdeutschen Einfuhr deutlich. In den 1970er Jahren lag sie unter 20 Prozent, seit den 1990er Jahren unter 10 Prozent des gesamten Importbedarfs, was vor allem der großen Produktivitätssteigerung in der deutschen Landwirtschaft geschuldet ist. Die Geschichte des zunehmenden deutschen Exporterfolgs enthält im Hintergrund eine andere, genauso spannende Geschichte, nämlich die des Produktivitätswachstums der deutschen Landwirtschaft (vor allem nach 1945). Es hat dazu geführt, dass Deutschland von Nahrungsmittelimporten weitgehend unabhängig wurde.24

Die industriellen Rohstoffe und Halbwaren – Vorprodukte für die gewerbliche Weiterverarbeitung – machten vor dem Ersten Weltkrieg einen noch größeren Anteil an dem Wert der deutschen Einfuhren aus, nämlich (je nach Schätzung) zwischen 45 und 55 Prozent.25 Textileinfuhren hatten den mit Abstand größten Anteil unter diesen Importen, Baumwolle und Wolle, aber auch Garne.26 Nicht zuletzt wegen des hohen Einfuhrbedarfs versuchten insbesondere die Nationalsozialisten, Baumwolle durch inländisch erzeugte Kunstfasern zu ersetzen und auf diese Weise Devisen für den Rüstungsimport freizusetzen.27 Deshalb ging in den 1930er Jahren der Baumwollimport stark zurück. Die Einfuhr von Erzen stieg in der NS-Rüstungswirtschaft an, während sie traditionell deutlich hinter den Textil- und Nahrungsmittelimporten zurückstand.

Der Import von Fertigwaren spielte dagegen bis zum Zweiten Weltkrieg eine untergeordnete Rolle. Erst danach änderte sich dies, und der Import von Fertigwaren verdrängte sowohl die Nahrungsmittel- als auch die Rohstoff- und Halbwarenimporte. Bei den Fertigwaren handelte es sich nicht nur um Konsumprodukte, sondern auch um Fertigwaren, die in industriellen Veredelungsprozessen Verwendung finden. Heute entfallen fast 80 Prozent des Wertes der Einfuhr auf Fertigwaren. Diese Entwicklung ist im Welthandel ins41gesamt zu beobachten. Ende des 19. Jahrhunderts zerfiel die Welt letztlich in Länder, die Rohstoffe ex- und Fertigwaren importierten, sowie solche, die umgekehrt Rohstoffe importierten, diese zu Fertigwaren verarbeiteten, um diese dann zu exportieren. Zu Letzteren gehörte auch Deutschland. Handel fand zwischen Ländern mit unterschiedlichem Güterangebot statt. Darauf fußte auch die klassische Handelstheorie. Würden sich die Länder in ihrem Güterangebot einander annähern, dann, so die Perspektive der klassischen Theorie, käme der Handel zum Erliegen.

Nach dem Zweiten Weltkrieg setzte sich dann aber ein ganz anderes Muster durch: Der Handel nahm stark zu, obwohl die Güterstrukturen der Länder immer ähnlicher wurden. Ein großer Teil des heutigen Welthandels besteht aus dem Austausch von Fertigwaren, sogar innerhalb einer Branche. Es werden nicht mehr nur Nahrungsmittel gegen Autos getauscht, sondern Autos gegen (andere) Autos oder Teile von Autos gegen (andere) Teile von Autos.28 Eine wichtige Rolle für diesen intra-industry trade spielt dabei, dass die Produktionsprozesse selbst sich internationalisiert haben und ein wachsender Teil des Handels auf Zulieferungen von einem Unternehmensteil in Land A in einen anderen Teil desselben Unternehmens in Land B entfällt.29

Diese Veränderung des Welthandels schlug sich in Deutschland insbesondere in der Struktur der Exporte nieder. Um die Veränderungen des deutschen Exportgüterbündels über den Zeitraum von mehr als einem Jahrhundert genauer in den Blick zu nehmen, greife ich im Folgenden auf ein standardisiertes Klassifikationsschema für Handelsströme zurück, das seit den 1960er Jahren von den Vereinten Nationen verwendet wird. Das Internationale Warenverzeichnis für den Außenhandel (Standard International Trade Classification, SITC) ordnet den Außenhandel der Länder nach einer international standardisierten Gliederung der Wirtschaft, wobei auf einer ersten groben Ebene 10 Produktgruppen unterschieden werden. Zum Teil entsprechen diese der klassischen Brancheneinteilung (z.B. Maschinenbau und Chemieindustrie). Auf einer zwei42ten Ebene werden die 10 Produktgruppen in 67 Gruppen weiter untergliedert. Es folgen drei weitere Gliederungsebenen bis zur feinsten, die zwischen 2970 Handelsgütern unterscheidet. Dieses Gliederungsschema verläuft quer zu der sehr groben Unterteilung von Rohstoffen, Halb- und Fertigwaren, mit der oben die Entwicklung der deutschen Importe beschrieben wurde, weil in einzelnen Produktgruppen (z.B. bei den chemischen Produkten) Halb- und Fertigwaren gleichermaßen enthalten sind. Für eine Analyse der Veränderung der deutschen Exportstruktur nach dem Zweiten Weltkrieg, als Dreiviertel der Exporte aus Fertigwaren bestanden, eignet sich die ältere grobe Unterteilung aber nicht, weshalb auf die international gebräuchliche Klassifikation zurückgegriffen wird.30