Wirtschaftsgeschichte - Jan-Otmar Hesse - E-Book

Wirtschaftsgeschichte E-Book

Jan-Otmar Hesse

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Beschreibung

Ein wichtiges Kennzeichen der modernen, arbeitsteiligen und komplexen Wirtschaft ist ihr ständiger Wandel. Diese Einführung gibt einen ausgezeichneten ersten Überblick über die Veränderungen, die die europäische Wirtschaft seit dem Ende des 18. Jahrhunderts erfahren hat. Im Mittelpunkt stehen dabei die zentralen Bereiche der Ökonomie: wirtschaftliches Wachstum und Kapitalismus, Einkommensungleichheit und Konsum, Unternehmen, Geld, Wirtschaftstätigkeit der Staaten und globaler Handel. Zugleich stellt das Buch die wichtigsten Methoden der Wirtschaftsgeschichte und die strittigen Forschungskontroversen der vergangenen Jahre vor

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Jan-Otmar Hesse, Sebastian Teupe

Wirtschaftsgeschichte

Entstehung und Wandelder modernen Wirtschaft

2., aktualisierte und erweiterte Auflage

Campus Verlag

Frankfurt/New York

Über das Buch

Ein wichtiges Kennzeichen der modernen, arbeitsteiligen und komplexen Wirtschaft ist ihr ständiger Wandel. Diese Einführung gibt einen ausgezeichneten ersten Überblick über die Veränderungen, die die europäische Wirtschaft seit dem Ende des 18. Jahrhunderts erlebt hat. Im Mittelpunkt werden dabei die zentralen Bereiche der Ökonomie: wirtschaftliches Wachstum und Kapitalismus, Einkommensungleichheit und Konsum, Unternehmen, Geld, Wirtschaftstätigkeit der Staaten und globaler Handel. Zugleich stellt das Buch die wichtigsten Methoden der Wirtschaftsgeschichte und die strittigen Forschungskontroversen der vergangenen Jahre vor.

Vita

Jan-Otmar Hesse ist Professor für Wirtschafts- und Sozialgeschichte an der Universität Bayreuth.

Sebastian Teupe ist Juniorprofessor für Wirtschaftsgeschichte an der Universität Bayreuth.

Inhalt

Einleitung

Gebrauchsanweisung

1. Wirtschaftliches Wachstum und die Entstehung des Kapitalismus

1.1 Das Wachstum des Bruttoinlandsprodukts

1.2 Krise und Konjunktur der deutschen Wirtschaft

1.3 Wachstumskritik und alternative Wohlstandsmaße

1.4 Erklärungsansätze für die Entstehung des Kapitalismus

2. Einkommensungleichheit und Konsum

2.1 Wirtschaftswachstum und Einkommensverteilung

2.2 Engels »Gesetz« und die Konsumausgaben der Haushalte

2.3 Wie neu ist die Konsumgesellschaft?

3. Organisationsformen der Produktion: Geschichte des Unternehmens

3.1 Entstehung und Organisation von Unternehmen

3.2 Die Bedeutung des Unternehmers

3.3 Multinationale Unternehmen

4. Geschichte des wirtschaftlichen Handelns der Staaten

4.1 Wandel der wirtschaftlichen Staatstätigkeit

4.2 Staatsquote: Entwicklung der staatlichen Budgets

4.3 Einnahmequellen des Staates

4.4 Staatsverschuldung

5. Goldmünze und Kreditkarte: Geschichte des Geldes

5.1 Historische Erscheinungsformen des Geldes

5.2 Wie Geld entsteht

5.3 Probleme schwankender Geldwerte

6. Internationaler Handel und Globale Wirtschaft

6.1 Handelsbilanz und Zahlungsbilanz: Grundbegriffe der Außenwirtschaft

6.2 Weltwirtschaftliche Integration im Überblick

6.3 Theorie und Praxis des freien Handels vor der Weltwirtschaftskrise

6.4 Die Weltwirtschaft seit 1944

Ausblick

Verzeichnis der Tabellen und Graphiken

Bibliographie

Personen- und Sachregister

Einleitung

Die Wirtschaft verändert sich ständig. Güter, die gestern noch massenhaft nachgefragt wurden, können morgen schon zu Ladenhütern werden. Staaten können gleichsam über Nacht Ausfuhren beschränken oder Währungen verbilligen mit erheblichen Folgen für die eigenen Bürgerinnen und Bürger und für andere Länder. Finanzmärkte, die scheinbar reibungslos eine expandierende Wirtschaft mit Liquidität versorgen, können im nächsten Moment diese Funktion vollständig einstellen. Häufig ist dabei gar nicht zu erkennen, was der konkrete Anlass einer solchen Veränderung war. Die moderne Wirtschaft ist in hohem Maße arbeitsteilig organisiert und die Arbeitsteilung erstreckt sich häufig über die gesamte Welt. Eine unscheinbare wirtschaftspolitische Entscheidung in einem Land hat unter Umständen in einem anderen Land weitreichende Folgen, ohne dass dieser Zusammenhang unmittelbar bekannt ist. Die moderne Wirtschaft zeichnet sich also vor allem durch ihre Komplexität aus, die dazu führt, dass Ursache und Wirkung von kleinsten Veränderungen im komplexen Geflecht wirtschaftlicher Zusammenhänge verborgen sein können. Der Blick in die historische Entstehung der modernen Wirtschaft kann dazu beitragen, diese komplexen Zusammenhänge besser zu verstehen.

Die historischen Veränderungen in der Funktionsweise der Wirtschaft sind der Gegenstand der Wirtschaftsgeschichte als wissenschaftlicher Disziplin. Den Ursachen solcher Veränderungen und ihren Wirkungen gilt ihr analytisches Interesse. Wirtschaftsgeschichte zielt darauf ab, die historisch wandelbare Organisation der Produktion und Distribution der von Menschen benötigten Dinge und Leistungen zu beschreiben sowie die Ursachen für ihren Wandel zu erklären. Im Kern bezweckt die Wirtschaft die Sicherung der menschlichen Existenz. Im Verlauf der Geschichte trat dieser Aspekt aber immer weiter in den Hintergrund, und die Existenzsicherung erscheint uns heute als das Selbstverständlichste: Unsere Milch beschaffen wir uns aus dem Supermarkt, ohne dass wir hierzu das komplizierte arbeitsteilige Geflecht kennen müssen, das notwendig ist, damit die Milch dorthin gelangt. Dessen Untersuchung im Wandel der Zeit ist der Gegenstand der Wirtschaftsgeschichte.

Damit ist eine Art Minimalprogramm für die Wirtschaftsgeschichte als akademischer Disziplin formuliert, auf das sich die vorliegende Einführung beschränkt. Natürlich reicht das Untersuchungsfeld des Faches weit darüber hinaus und bezieht etwa die Wandlung der Grundsätze ökonomischen Handelns, der gesellschaftlichen Wahrnehmung und der Kultur der Wirtschaft mit ein (Steiner 2012). Auch zur Analyse solcher Aspekte ist die Kenntnis der Grundlagen der Funktionsweise der Wirtschaft und ihres Wandels indes unerlässlich. Darüber hinaus kann die Wirtschaft freilich zum Gegenstand von Untersuchungen werden, die einem ganz anderen Erkenntnisinteresse folgen, etwa dem Interesse an der Entwicklung der Natur des Menschen, der Politik, der Moral etc.

Die vorliegende Einführung bietet einerseits einen Überblick über die historischen Organisationsformen der »westlichen« Wirtschaft seit dem späten 18. Jahrhundert, welche hier als »moderne Wirtschaft« begriffen wird. Andererseits versteht sie sich als eine Einführung in die besonderen Methoden, mit denen die Wirtschaftsgeschichte die jeweilige historische Funktionsweise der Wirtschaft entschlüsseln und analysieren kann. Wirtschaftsgeschichte im hier verstandenen Sinn ist mehr als eine reine thematische Abgrenzung innerhalb der Geschichtswissenschaft, die sich in ähnlicher Weise auch mit Religion, Recht oder Politik beschäftigt. Als historische Subdisziplin verfügt sie über eigenständige Methoden und Zugangsweisen zur Geschichte, welche wiederum besondere Kenntnisse und Fähigkeiten sowie auch Interessen voraussetzen. Die Einführung schließt im Bewusstsein der Historizität kollektiver und individueller Entscheidungen sowie der Irreversibilität gesellschaftlicher Entwicklungen an das Programm der Geschichtswissenschaften an. Durch ihr Interesse an der ökonomischen Funktionsweise historischer Gesellschaften ist sie zugleich aber auch eng an die Wirtschaftswissenschaften gebunden. Um die historische Funktionsweise der Wirtschaft zu beschreiben, muss die Wirtschaftsgeschichte auf ökonomische Theorien zurückgreifen, deren Gültigkeit sie freilich für unterschiedliche Zeitpunkte jeweils zu belegen hat. Werner Sombart, einer der wichtigsten Vertreter der »Historischen Schule der Nationalökonomie«, wies beispielsweise darauf hin, dass »Preise« keine natürlichen Phänomene sind, sondern auf der Grundlage wirtschaftlicher Theorien definiert werden, deren Kenntnis zum Verständnis von Preisentwicklungen unverzichtbar ist (Sombart 1929/2008: 76).

Allerdings reicht die Kenntnis der aktuellen Preistheorie zum Verständnis der Bedeutung von historischen Preisen eben nicht aus, denn ein Preis im Jahr 1800 ist unter Umständen aufgrund anderer ökonomischer Wirkungszusammenhänge entstanden als der Preis für dasselbe Gut im Jahr 2000, weil sich die Funktionsweise der Wirtschaft zwischenzeitlich stark verändert hat. Und mit »Funktionsweise« meinen wir in diesem Zusammenhang nicht nur eine mehr oder weniger starke Beeinflussung der »Preisbildung« durch den Staat, sondern ein umfassendes Bündel an Faktoren, das von der Eigentumsordnung, der Produktions- und Kommunikationstechnik bis hin zur Verhaltensweise der ökonomischen Akteure reicht. Während die Wirtschaftswissenschaft das Ziel verfolgt, die Funktionsweise der gegenwärtigen Wirtschaft in Form von generalisierbaren »Gesetzmäßigkeiten« zu beschreiben, um Produktionsprozesse zu optimieren und Ressourcenverschwendungen zu begrenzen, interessiert sich die Wirtschaftsgeschichte für die langfristigen Veränderungen von »Gesetzmäßigkeiten«. Hierbei können auch historische Wirtschaftstheorien ausgewertet werden, die in diesem Sinne der Wirtschaftsgeschichte als Quellen dienen, und zwar als äußerst sensible Beschreibungen der Funktionsweise einer jeweils historisch wandelbaren Wirtschaft (vgl. hierzu Hesse 2010). Anstelle davon auszugehen, dass die Wirtschaft ein überzeitlich gültiger Mechanismus ist, der von den Zeitgenossen nur nicht immer adäquat erkannt und beschrieben wurde, stellen wir die konkrete historische Ausformung des wirtschaftlichen Handelns in den Mittelpunkt. In dieser Weise als ein komplexer Interaktionszusammenhang interpretiert, verändert sich die Wirtschaft permanent. Allerdings sind die Veränderungen häufig marginal und unsichtbar. Sie lassen sich daher in vielen Fällen nur durch langfristige historische Vergleiche erkennen.

Gibt es Epochen in der Wirtschaftsgeschichte?

Um historische Veränderungen zu beschreiben, greifen Historikerinnen und Historiker auf Periodisierungen zurück, die ein »davor« und ein »danach« definieren. Beispielsweise wird die europäische Geschichte häufig in »Antike«, »Mittelalter«, »Frühe Neuzeit« und »Moderne« unterteilt – mit dem Argument, dass sich die eine Epoche von der anderen in ganz grundlegender Hinsicht unterscheide. Bei näherer Betrachtung sind solche Unterteilungen, mit denen wir an Schulen und Universitäten ganz selbstverständlich konfrontiert sind, nicht mehr so eindeutig. Wann genau hörten Menschen auf, im »Mittelalter« zu leben, und lebten stattdessen in der »Frühen Neuzeit«? Und wann begann die »Moderne«? Der Historiker Johann Gustav Droysen verglich die epochenhafte Entwicklung der Geschichte einst mit der eines Kindes zum Jüngling. Während man nicht genau bezeichnen könne, wann genau die Veränderung eigentlich einsetze, unterschieden sich die beiden doch ganz gravierend. Dies gelte auch für die großen Abschnitte der Geschichte, in denen die Gedanken der Menschen, ihre Formen des Zusammenlebens und ihre Vorstellungen von Religion vollkommen andere seien (Welskopp 2015: 195).

Historikerinnen und Historiker können mit Leidenschaft über Fragen der Periodisierung streiten. Der Grund dafür ist, dass es dabei gar nicht um die bloße zeitliche Einteilung geht, sondern auch um die Deutung darüber, welche historischen Entwicklungen und Faktoren für relevant gehalten werden. Die Einteilung in unterschiedliche Epochen verdeckt, dass die Geschichte in Wahrheit viel chaotischer ist. Die zahlreichen Ereignisse der Vergangenheit lassen sich auf unterschiedliche Weise verstehen, erklären und einordnen. Auch für die Wirtschaftsgeschichte sind Fragen des historischen Wandels und der Periodisierung zentral. Nur stehen hier nicht politische Zäsuren oder Religion im Mittelpunkt, sondern Wachstumsphasen und Konsummöglichkeiten, Organisationsformen und Technologien der Produktion, die Rolle des Staates für wirtschaftliches Handeln, Erscheinungsformen des Geldes oder die unterschiedlichen Arten und Ausmaße globaler wirtschaftlicher Verflechtungen. Für alle diese Bereiche der Wirtschaft, die wir in dieser Einführung in den folgenden Kapiteln diskutieren, lassen sich unterschiedliche Phasen der historischen Entwicklung unterscheiden. Und auch hier gilt, dass die Einteilung in unterschiedliche Abschnitte unserer Interpretation der relevanten historischen Faktoren folgt. Wenn wir zugleich einen Fokus auf die Wirtschaftsgeschichte der »Moderne« seit etwa 1800 legen, dann gehen wir davon aus, dass die Wirtschaft vor dieser Zeit ganz anders funktioniert hat. Da wir allerdings gleichzeitig unterstellen, dass viele relevante Entwicklungen lange vor dem 19. Jahrhundert einsetzten, erweitern wir den Zeithorizont an den entsprechenden Stellen.

Die »Historische Schule der Nationalökonomie«

Die Vorstellung, dass sich die Wirtschaft historisch in unterschiedliche Phasen unterteilen lasse, in denen sie jeweils ganz unterschiedlich funktionierte, gehört zum Kern der Wirtschaftsgeschichte als akademischer Disziplin. An deren Beginn stand die »Historische Schule der Nationalökonomie«, die als besondere Form der Wirtschaftstheorie im ausgehenden 19. Jahrhundert versuchte, durch die genaue Beschreibung historischer Wirtschaftsformen allgemeingültige ökonomische Theorien abzuleiten (Hesse 2016). Als Ergebnis dieser Zielsetzung entstanden verschiedene Vorstellungen, nach denen die Wirtschaft in einer Fortschrittsbewegung unterschiedliche »Stufen« durchlaufe, die auch als Periodisierungsmodelle verstanden werden können. Karl Bücher war beispielsweise der Meinung, dass in allen Ländern ein Übergang von der antiken und frühmittelalterlichen »Hauswirtschaft« über die spätmittelalterliche »Stadtwirtschaft« zur modernen »Volkswirtschaft« erfolge (Wagner-Hasel 2011). Bernhard Harms fügte dieser Vorstellung später noch die »Weltwirtschaft« als weitere Entwicklungsstufe hinzu. Auf allen »Wirtschaftsstufen« sei die Wirtschaft sehr eigentümlich organisiert gewesen. Die Produktion in der Phase der »Hauswirtschaft« sei durch geringe Arbeitsteilung, wenig Markttausch und damit auch durch einen niedrigen »Monetarisierungsgrad« gekennzeichnet gewesen. Nur selten wurden Waren also gegen Geld getauscht. Im 19. Jahrhundert setzte sich dagegen die kapitalintensive, arbeitsteilige Form der Produktion durch, die es zugleich notwendig machte, dass Waren über Märkte ausgetauscht werden. Es ging den Theoretikern der Historischen Schule nicht nur um die Unterscheidung von unterschiedlichen »Wirtschaftsordnungen«, den jeweiligen rechtlichen Rahmenbedingungen des Wirtschaftens. Sie waren vielmehr der Meinung, dass diese formalen Strukturen auch mit besonderen »Mentalitäten« verbunden waren. Der Ökonom Werner Sombart sprach von einer »Wirtschaftsgesinnung«, die sich im Übergang der Stufen veränderte und zu einem Verhaltenswandel der wirtschaftlichen Akteure führte. Während etwa ein Handwerker in der Vormoderne lediglich an einem stabilen Auskommen interessiert gewesen sei, habe erst die moderne kapitalistische Unternehmung das expansive Profitstreben verinnerlicht (Sombart 1902; Lenger 2009; Köster 2011: 144 ff.).

Die »Stufen« der »Historischen Schule« markierten große historische Veränderungen und zeichneten ein Bild klar unterscheidbarer homogener Wirtschaftsformen. Die Möglichkeit, die gesamte Wirtschaftsgeschichte in solche praktischen Einheiten zu unterteilen gilt mittlerweile als überholt, selbst wenn es auch später noch innerhalb und außerhalb der »Historischen Schule« zu weiteren Versuchen gekommen ist. Joseph Schumpeter etwa, dessen Theorie wir in Kapitel 1.2 noch näher diskutieren werden, ging Anfang des 20. Jahrhunderts von »langen Wellen« der wirtschaftlichen Entwicklung aus, die er allerdings auf die Epoche des modernen Kapitalismus seit dem späten 18. Jahrhundert beschränkt sah. Im Zentrum standen für Schumpeter die großen Innovationen wie die Dampfmaschine, die Eisenbahn oder die Chemieindustrie, die eine jeweils neue wirtschaftshistorische Phase markiert hätten (Schumpeter 1926). Walt W. Rostow entwickelte in den 1950er-Jahren ein einflussreiches und den Stufentheorien ähnliches Entwicklungsmodell. Rostow zufolge durchliefen alle Gesellschaften fünf Phasen. Die »traditionelle Gesellschaft« mache zunächst Platz für die Vorbedingungen des »Take-Off«, der die dritte Phase markiere und von Rostow als die »große Wasserscheide« betrachtet wird. Anschließend strebten Länder eine »Reifephase« an, bevor sie glücklich im »Zeitalter des Massenkonsums« endeten (Rostow 1960). Rostows Modell hat sich nicht nur wegen seines widerlegten Wachstumsoptimismus und der Vorstellung weltweit einheitlicher Entwicklungspfade überholt. Mit Hilfe verschiedener Kategorien, wie einer allgemein definierten Sparquote, versuchte Rostow die Übergänge sehr genau zu messen und zu datieren. Spätere Generationen von Wirtschaftshistorikerinnen und -historikern konnten diese Kategorien als weitestgehend »arbiträr« zurückweisen (Cameron 1993: 165 f.).

Trotz der Schwierigkeiten, die Wirtschaftsgeschichte durch unterschiedliche Perioden zu beschreiben, bleibt eine solche Unterteilung in voneinander unterscheidbare Abschnitte wichtig. Sie ordnet die Wirtschaftsgeschichte auf nachvollziehbare Weise, sodass der Wandel innerhalb eines kontinuierlichen historischen Prozesses sichtbare Fixpunkte erhält, die es zugleich ermöglichen, die für besonders relevant erachteten Entwicklungen hervorzuheben. Periodisierungen in der neueren Wirtschaftsgeschichte müssen allerdings von einer weniger homogen verstandenen Gesamtentwicklung ausgehen als von Rostow oder den Mitgliedern der »Historischen Schule« unterstellt. Vielmehr müssen die einzelnen Elemente der Wirtschaft, beziehungsweise ihre »Strukturen«, in ihrer historischen Entwicklung betrachtet werden. Eine wichtige Grundlage dafür hat die sogenannte Annales-Schule gelegt, die sich in den 1920er-Jahren in Frankreich gründete. Der Sozialhistoriker Fernand Braudel gilt als einer der wichtigsten Vertreter dieser Tradition.

Die »Annales-Schule«

In seinem Hauptwerk Das Mittelmeer entwickelte Braudel 1949 den für das Fach so zentralen Begriff der »Struktur«, indem er drei Ebenen unterschiedlicher historischer Veränderungsgeschwindigkeiten unterschied: Die erste Ebene betrifft die geographischen Gegebenheiten – Flüsse, Berge, Bodenschätze, die sich historisch nicht wesentlich verändern. Die zweite Ebene umfasst soziale und wirtschaftliche »Strukturen« – Produktionsbedingungen, soziale Verhältnisse usw. – die sich nur sehr langsam über Dekaden hinweg verändern. Diese zweite Ebene war das bevorzugte Untersuchungsfeld der Annales und später der Sozial- und Wirtschaftsgeschichte. Auf der dritten Ebene spielen sich die politischen Entscheidungen mit nur kurzer historischer Reichweite ab (Raphael 1994).

Für die Wirtschaftsgeschichte ist die Unterscheidung von »Struktur« und (politischen) Ereignissen zentral. Der Blick auf die Entwicklung von Produktionsbedingungen, Konsummöglichkeiten oder Tauschprozessen erlaubt eine sensiblere Periodisierung als die großen »Stufen« der »Historischen Schule« und geht zugleich von der Annahme aus, dass die wirtschaftlichen Strukturen eine gewisse Beharrungskraft gegenüber politischen Entscheidungen haben. Das lässt sich sehr gut am Beispiel der Kinderarbeit illustrieren, die zu einem der dunklen Kapitel in der Wirtschaftsgeschichte vieler Industrieländer zählt. Während sich Politiker in der Mitte des 19. Jahrhunderts bereits darüber verständigt hatten, die Kinderarbeit per Gesetz zu beschränken, wurden diese Gesetze von vielen Unternehmern schlicht ignoriert. Die Produktionsbedingungen, die sozialen Verhältnisse und die kulturellen Einstellungen, also die »Strukturen« im Sinne Braudels, sprachen zunächst gegen eine Umsetzung. Die Datierung historischen Wandels im Sinne der Wirtschaftsgeschichte hängt daher nicht von den verabschiedeten Gesetzen ab, sondern von der Veränderung materieller Strukturen. Im Fall der Kinderarbeit in den USA sank diese gegen Ende des 19. Jahrhunderts in Folge technologischen Wandels, steigender Reallöhne, zunehmender Bildungsangebote und vielen Einwanderern mit geringer Qualifikation. Die Gesetze begleiteten diesen Prozess eher als dass sie ihn auslösten (Moehling 1999).

Der langfristige und regional unterschiedliche Verlauf des Strukturwandels macht eine wirtschaftshistorische Periodisierung zugleich besonders kontrovers. Dies lässt sich an zwei zentralen Beispielen der wirtschaftshistorischen Forschung verdeutlichen, die wir in dieser Einführung noch ausführlicher diskutieren werden: der »Industriellen Revolution« und der »globalen Wirtschaft«. Während die Französische Revolution auf das Jahr 1789 datiert werden kann und damit einen klaren Ausgangspunkt für die Untersuchung des »davor« und »danach« liefert, trifft dies für den Fall der Industriellen Revolution nicht zu. Trotzdem markiert die damit beschriebene Umwälzung der Produktionsbedingungen eine wichtige Zäsur im Sinne des Strukturwandels, denn die langfristigen Auswirkungen dieses Umbruchs waren nicht weniger tiefgreifend als die der Französischen Revolution. Besonders deutlich wird das in der langfristigen Betrachtung des wirtschaftlichen Wachstums, das in Kapitel 1 diskutiert wird. Häufig wird die »Industrielle Revolution« auf die zweite Hälfte des 18. Jahrhunderts datiert, weil in diesem Zeitraum so zentrale Innovationen wie die von James Watt verbesserte Dampfmaschine oder die von James Hargreaves patentierte »Spinning Jenny« eingeführt wurden. Anders als im Fall der Französischen Revolution war es den englischen Zeitgenossen im späten 18. Jahrhundert aber gar nicht bewusst, dass sie in revolutionären Zeiten lebten. Der Begriff der »Industriellen Revolution« fand erst gut einhundert Jahre später weite Verbreitung (Toynbee 1884). Zwar gab es erste Fabriken, in denen die Innovationen zum Einsatz kamen, doch für die meisten Menschen änderte sich zunächst wenig. Manche Wirtschaftshistorikerinnen und -historiker haben den Begriff der »Industriellen Revolution« gleich ganz als »Fehlbezeichnung« kritisiert (Cameron 1993: 165 ff.). Ihrer Meinung nach verdeckt der Revolutionsbegriff die Relevanz einer in Wahrheit viel längerfristig angelegten Entwicklung, deren zentraler Ausgangspunkt nicht im späten 18. Jahrhundert zu suchen sei, sondern viel früher. In Kapitel 1 werden wir einige dieser Ansätze diskutieren, die nicht nur die Produktionstechnologien, sondern auch die gesellschaftlichen und rechtlichen Rahmenbedingungen in England sowie die natürlichen Ressourcen und Innovationen in der Landwirtschaft einbeziehen. Am Beispiel der kontroversen Datierung der »Industriellen Revolution« wird aber bereits deutlich, wie diese durch die Betonung unterschiedlicher Faktoren beeinflusst wird. Wer die einschneidenden Veränderungen der menschlichen Arbeitsbedingungen in England beschreiben möchte, wird ein anderes Periodisierungsmodell wählen als jemand, der die zentralen Innovationen oder ihre langfristig angelegten Grundbedingungen für wichtiger hält.

Die »globale Wirtschaft«

Die »globale Wirtschaft«, deren Ursprünge noch weiter zurückreichen als die der Industrialisierung, ist ein weiteres Beispiel für kontroverse Auseinandersetzungen in der Wirtschaftsgeschichte. Die Expansionsbemühungen europäischer Königreiche seit dem späten 15. Jahrhundert, zunächst vor allem durch Spanien und Portugal, später durch die Niederlande, Frankreich und England forciert, markierten den Beginn der »merkantilistischen Imperien«. Wie auch im Fall der technologischen Innovationen im späten 18. Jahrhundert änderte sich mit den klar datierbaren Ereignissen, etwa Christoph Columbus’ Landung in den Bamahas im Jahr 1492, zunächst wenig. Innerhalb weniger Jahrzehnte entstand jedoch ein weltweites Handelsnetz, das Gold, Waren und Sklaven über die Ozeane verfrachtete. In Asien organisierten private Handelsfirmen wie die Dutch East India Company oder die British East India Company seit dem frühen 17. Jahrhundert den Transport von Gewürzen, Farbstoffen und Textilien. In den Amerikas gründeten Privatunternehmer mit staatlicher Unterstützung Zuckerplantagen, die im Zentrum des berühmten transatlantischen Dreieckshandels standen. Für die Herstellung des Zuckers, der nach Europa verschifft wurde, importierten die Plantagenbesitzer im großen Stil Sklaven aus Afrika, die dort von europäischen Händlern im Austausch gegen Waffen und andere Waren erworben worden waren. Im 18. Jahrhundert dominierten englische Händler den Sklavenhandel und das British Empire erstreckte sich von den Amerikas bis Asien (Richardson 2011). Vor diesem Hintergrund mag es merkwürdig klingen, wenn der Unternehmenshistoriker Geoffrey Jones den folgenden Vorschlag für eine wirtschaftshistorische Periodisierung der »Globalisierung« macht: Es sei eine weitverbreitete, wenn nicht sogar allgemein anerkannte Sichtweise, dass die »erste globale Wirtschaft« in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts entstanden sei (Jones 2013: 143).

Die Geschichte der »Globalisierung« verdeutlicht somit ebenfalls, wie Periodisierungsmodelle unseren Blick auf die Geschichte und unsere Erklärungen für historischen Wandel beeinflussen. Wenn Jones die Entstehung der Weltwirtschaft auf das späte 19. Jahrhundert datiert, dann verknüpft er den Begriff mit den drei großen »Revolutionen« dieser Zeit: erstens die Transportrevolution, getragen durch Dampfschifffahrt und Eisenbahn, zweitens die durch den Telegraphen begründete Kommunikationsrevolution, drittens die im Unterschied zum Sklavenhandel freiwillige Migration von Millionen von Menschen (McKeown 2004). Wir werden diese Entwicklungen noch ausführlicher diskutieren und auch auf die Rolle der Multinationalen Unternehmen (Kapitel 3.3) und die Theorie des Freihandels (Kapitel 6.3) eingehen. Wir folgen damit der weitverbreiteten Sichtweise, dass die globale Wirtschaft durch die Entwicklungen im 19. Jahrhundert eine neue Qualität aufwies, auch wenn sie bereits davor in hohem Maße international verflochten war.

Andere Historiker datieren den Beginn der »Globalisierung« ganz anders. Für das Jahr 1571 beispielsweise plädieren Dennis Flynn und Arturo Giráldez, weil in diesem Jahr die Gründung Manilas eine stabile Verbindung über den Pazifik hinweg ermöglicht habe und sich der internationale Handel in einer stetigen Wechselwirkung mit dem Aufbau von unterstützenden Institutionen vollzogen habe (Flynn/Giráldez 1995). Die Wirtschaftshistoriker Kevin O’Rourke and Jeffrey Williamson datieren den Beginn der Globalisierung dagegen ebenfalls auf das 19. Jahrhundert, berufen sich dabei aber vor allem auf die ihrer Meinung nach empirisch nachweisbare Preiskonvergenz in entfernten Märkten (O’Rourke/Williamson 1999). Der Unterschied zwischen den beiden Sichtweisen spiegelt eine andere Auffassung der Rolle des Staates wider. Die »merkantilistischen Imperien« nutzten für den Ausbau und den Schutz der globalen Handelsverflechtungen Monopole wie die British East India Company, Freibeuter und Waffengewalt. Für O’Rourke und Williamson, die in der Globalisierung vor allem einen Abbau von Handelsschranken sehen, sind solche Dinge ein prinzipielles Hindernis. Historisch stellten sie aber – so das paradox klingende Argument der Gegenseite – die Grundlage dar, auf der sich der internationale Handel überhaupt erst entfalten konnte (McKeown 2007). Dies zeigt, dass sich Periodisierungsmodelle nicht aus der Geschichte selbst ergeben, sondern eine Folge der selbstgesetzten Maßstäbe und Forschungsfragen sind.

Die Rolle des Staates ist für Periodisierungen in der Wirtschaftsgeschichte auch insofern interessant, als hier der Ausgangspunkt der politischen Ereignisse liegt, die Braudel zu Folge eine nur kurze historische Reichweite haben. Für viele wirtschaftshistorische Betrachtungen macht eine an politischen Zäsuren orientierte Erzählung daher wenig Sinn. Für die Diskussion des ökonomischen Wachstums oder der historischen Entwicklung des Lebensstandards etwa spielen die materiellen Grundlagen der Menschen die zentrale Rolle und nicht, welche Regierung gerade an der Macht ist oder welches Gesetz soeben verabschiedet wurde. Das bedeutet nicht, wie wir in Kapitel 4 noch ausführlicher diskutieren werden, dass dem Staat keine wichtige Rolle in der Wirtschaftsgeschichte zukommt. Seine Bedeutung für wirtschaftshistorischen Wandel muss aber je nach Forschungsgegenstand kritisch analysiert werden.

Die methodische Doppelnatur der Wirtschaftsgeschichte

Wenn wir in dieser Einführung die historischen Entwicklungen von der Geschichte des wirtschaftlichen Wachstums bis zur globalen Wirtschaft beschreiben, einordnen und erklären, dann bedienen wir uns also keiner objektiv zugänglichen Tatsachen. Die Einführung ist vielmehr Ergebnis unserer Interpretation des vorhandenen Forschungsstands. Dieser Forschungsstand ist seinerseits keineswegs einheitlich, denn verglichen mit der Situation von noch vor wenigen Jahren ist das Fach heute vielgestaltiger und »pluraler«, was die Themen, insbesondere aber was die Methoden und die theoretischen Grundlagen angeht. Als Teildisziplin der Geschichtswissenschaften bemüht sich die Wirtschaftsgeschichte mit Hilfe der »hermeneutischen Methode« darum, einzelne historische Ereignisse zu »verstehen« oder wenigstens zu »interpretieren«. Zugleich ist die Wirtschaftsgeschichte Teil der Wirtschaftswissenschaften, der es um die Auffindung möglichst allgemeingültiger »Gesetzmäßigkeiten« auf der Grundlage einer repräsentativen Quellen- und Datenbasis geht.

Während die geschichtswissenschaftliche Wirtschaftsgeschichte eine möglichst genaue Beschreibung von Akteuren, Institutionen und Entscheidungen auf der Grundlage von unveröffentlichten Archivquellen anstrebt, sucht die wirtschaftswissenschaftliche nach unbekannten historischen Massendaten, die sie mit ökonometrischen Methoden zur Überprüfung von wirtschaftstheoretischen Hypothesen verwendet. Die Ergebnisse der ersteren sind stets kontextabhängig und betreffen eine bestimmte historische Gesellschaft, die Gemeinsamkeiten mit der heutigen haben mag, aber nicht mit ihr identisch ist. Für die Lösung gegenwärtiger Probleme sind ihre Ergebnisse nur mit Einschränkungen nutzbar. Die Ergebnisse des wirtschaftswissenschaftlichen Zweiges gehen dagegen von der Annahme aus, dass die Wirtschaft immer und zu allen Zeiten auf die gleiche Weise funktionierte, sodass Zusammenhänge, die für historische Gesellschaften zuverlässig nachweisbar sind, automatisch auch in der Gegenwart gültig sind: Wenn für historische Gesellschaften ein Zusammenhang von Bildung und Wirtschaftswachstum nachweisbar ist (Becker/Woesmann 2009), dann gilt dieser auch heute.

Cliometrie

In der Disziplingeschichte des Faches waren diese gegensätzlichen Perspektiven auf die Wirtschaftsgeschichte häufig Anlass zu heftigen Kontroversen (zur Disziplingeschichte etwas ausführlicher in Hesse 2013, 9–19 und Hesse 2016, Plumpe 2008). In der jüngeren Vergangenheit spielte dafür vor allem das Aufkommen der »New Economic History« oder »Cliometrie« eine zentrale Rolle – einer Schule, die mit dem Namen des späteren Nobelpreisträgers für Ökonomie Robert Fogel verbunden ist. Die Cliometriker erregten in den 1960er-Jahren dadurch Aufsehen (und auch den Zorn eines Teils der geschichtswissenschaftlichen Wirtschaftshistoriker), dass sie gewissermaßen ihre Daten selbst produzierten, weil sie »kontrafaktisch« argumentierten, also im Fall von Robert Fogel fragten: Wie hätte sich die Wirtschaft der USA entwickelt, wenn die Eisenbahn nicht erfunden worden wäre? Sie würden letztlich gar nicht mehr »economic history« betreiben, sondern »historical economics«, so beschrieb es der historisch arbeitende Ökonom Charles Kindleberger am Ende seiner Karriere süffisant »applied economics using historical data, but with most of the history removed« (Kindleberger 1990, 26).

Das Methodenarsenal der Cliometrie ist innerhalb der Wirtschaftsgeschichte heute weit verbreitet und gerade in den vergangenen Jahren noch maßgeblich perfektioniert worden. Die Wirtschaftsgeschichte erlebte damit eine Hinwendung zur Quantifizierung, zur Formalisierung und zu einer bestimmten Form des Empirizismus, der sich gleichermaßen in vielen Disziplinen beobachten lässt und immer wieder kritisiert wurde (in der Wirtschaftswissenschaft z. B. Rodrik 2015). Wenn wir in dieser Einführung die ökonometrischen Methoden außer Acht lassen, so leiten uns dabei keine grundsätzlichen Erwägungen, sondern der Versuch, für ein volkswirtschaftlich nicht vorgebildetes Publikum zu schreiben, sowie das gute Angebot von ökonometrischen Standardlehrbüchern und die empfehlenswerte Spezialeinführung in die quantitative Wirtschaftsgeschichte (Feinstein/Thomas 2002).

Auch wenn sich hinter den verschiedenen Methoden, derer sich Wirtschaftshistorikerinnen und Wirtschaftshistoriker heute bedienen, sehr grundsätzlich unterschiedliche Sichtweisen auf den Gegenstand verbergen, Herangehensweisen, Erkenntnisinteresse und nicht zuletzt Karrierewege sich sehr weit voneinander entfernt haben, so wird das Fach heute nicht mehr durch Grundsatzkontroversen bestimmt und gelähmt. Die Zukunft des Faches und seine besondere Attraktivität liegen vielmehr darin, dass mit sehr unterschiedlichen und zum Teil auch widersprüchlichen Methoden über ein und denselben Gegenstand geforscht werden kann. Von der Ökonomie lassen sich die Vorteile repräsentativer, kausaler Schlussfolgerungen lernen, von der Geschichtswissenschaft die Komplexität wandelbarer institutioneller Strukturen.

Gebrauchsanweisung

Mit diesem Buch versuchen wir, gleichzeitig einen Überblick über die wichtigsten Themen und die wichtigsten Methoden der Wirtschaftsgeschichte zu geben. Für uns besteht der Reiz des Faches gerade darin, mit sehr unterschiedlichen Methoden und theoretischen Glaubensbekenntnissen an gleichen Themen zu arbeiten und dabei Epochengrenzen ignorieren zu können. Durch diese Konzeption mussten wir die Themen allerdings stark verkürzen, sowohl inhaltlich als auch gedanklich. Das Buch ist kein Überblick im Sinne einer »Geschichte der modernen Wirtschaft« oder gar der »Geschichte des Kapitalismus« (und sollte es von Beginn an nicht sein). Auch erhebt es (selbstverständlich) nicht den Anspruch, einen grundlegenden Wissenskanon festzuschreiben. Es kann daher nicht dazu dienen, das Fach in seiner Vielgestaltigkeit und seinen Themen umfassend zu verstehen, damit sich die Leserinnen und Leser danach nie wieder hiermit auseinandersetzen müssen.

Die starke Begrenzung des Textes führte zu inhaltlichen Lücken mit unterschiedlichen Schmerzgraden: Die in Kapitel 1 fehlende Bevölkerungsgeschichte kann durch neuere Einführungen leicht kompensiert werden (Ehmer 2004), genauso wie die viel zu knappe Darstellung zur Unternehmensgeschichte in Kapitel 3 (Berghoff 2016; Plumpe 2018), die – wie die gesamte Einführung – auch die Technikgeschichte unberücksichtigt lässt (König 2009). Andere Themen müssen in dieser Konzeption unberücksichtigt bleiben, obwohl es an neuerer Einführungsliteratur mangelt: Es fehlt eine systematische Beschreibung der Branchenstruktur und des wirtschaftlichen Strukturwandels (Ambrosius 2006). Dazu mussten die meisten Bereiche der Sozialgeschichte unberücksichtigt bleiben, insbesondere die Geschichte der Arbeit und der Arbeitsmärkte. Auch die zahlreichen Ebenen der Verteilungskonflikte, die die Geschichte der »modernen Wirtschaft« kennzeichnen, konnten nicht systematisch verfolgt werden: Arbeitskonflikte, Ressourcen- und Umweltkonflikte bis hin zu den historisch vielfältigen Formen der zwangsweisen Aneignung von Gütern und Leistungen in Form von Kriegen, aber auch darüber hinaus.

Die folgenden sechs Kapitel behandeln die aus unserer Sicht im Rahmen der gebotenen Beschränkung wichtigsten Themen für das Verständnis der modernen Wirtschaft, für die zudem ein belastbarer etablierter Forschungsstand vorliegt. Die Kapitel folgen dabei einer systematischen Logik, sodass der Komplexitätsgrad von Kapitel zu Kapitel steigt. Insbesondere Leserinnen und Lesern ohne jegliche Vorkenntnisse wird empfohlen, alle Kapitel der Reihe nach zu lesen. Das Kapitel über die internationale Wirtschaft setzt die Kenntnis des Geldkapitels voraus. Innerhalb der Kapitel folgt der Text einer moderat chronologischen Anordnung: Das Kapitel über die Unternehmensgeschichte kann also auch als Skizze der Entwicklung von unternehmerischen Organisationsformen in der Moderne gelesen werden. Jedes Kapitel enthält neben den Ausführungen über die Grundlinien der thematischen Entwicklung eine Erläuterung der wichtigsten Methoden des Themenfeldes sowie der zentralen analytischen Begriffe. Im Kapitel über Einkommen und Konsum finden die Leser deshalb sowohl eine Skizze der Entwicklung der Einkommensungleichheit seit dem 19. Jahrhundert als auch eine Vorstellung der wichtigsten wirtschaftsstatistischen Techniken, wie solche Ungleichheit zu messen und zu interpretieren ist. Das Kapitel über Geld liefert sowohl eine Übersicht über die historische Veränderung der Zahlungsmittel als auch eine Erläuterung des Problems der Geldentwertung und der wirtschaftsstatistischen Ausschaltung ihrer Effekte für die wirtschaftshistorische Analyse. Das Kapitel über die internationale Wirtschaft hat schließlich kondensierenden Charakter und soll insbesondere die große Komplexität wirtschaftlicher Erscheinungen abschließend entfalten.

Das Buch geht auf zwei Vorlesungen »Einführung in die Wirtschaftsgeschichte der Moderne« zurück, die 2010 und 2011 in Göttingen und Bielefeld gehalten wurden. Von dort aus wurde der Text als Grundlage der »Introduction to Economic History«-Vorlesung an der Universität Bayreuth laufend verbessert. Den Studentinnen und Studenten sei an dieser Stelle für ihre Kritik, ihre Anregungen und ihre Aufmunterungen gedankt.

1. Wirtschaftliches Wachstum und die Entstehung des Kapitalismus

1798 veröffentlichte der englische Theologe Thomas Malthus ein denkwürdiges Buch, in dem er behauptete, dass ein zu rasches Bevölkerungswachstum notwendigerweise zu Hungerkrisen führen würde, weil sich die Bevölkerung schneller vermehre, als man die Nahrungsmittelproduktion ausdehnen könne. Wenn man künftig Hungerkrisen verhindern wolle – so Malthus –, wäre die Begrenzung des Bevölkerungswachstums die einzige Möglichkeit hierzu (Malthus 1798/1977: 21–27). Später hat man diesen Zusammenhang als »Malthusianische Falle« bezeichnet, der einige Länder mit Geburtenbeschränkungen zu entkommen versuchten (Wrigley 2004: 229–248; Ehmer 2004; vgl. hierzu auch Quelle Nr. 1 unter www.campus.de).

Zu Unrecht: Denn als Malthus die nach ihm benannte vermeintliche »Falle« beschrieb, war England im Begriff, diesen Zustand zu überwinden. Womit Malthus nämlich nicht gerechnet hatte, war die Fähigkeit der Menschheit, mit immer weniger Einsatz an Arbeitskraft und landwirtschaftlicher Nutzfläche eine immer größere Menge an Lebensmitteln zu erzeugen. Ökonomen sprechen von der »Steigerung der Produktivität«. Obwohl sich die Bevölkerung in England zwischen 1700 und 1850 nahezu verdreifachte, starben immer weniger Menschen an Hunger, weil die Lebensmittelproduktion sogar noch schneller gesteigert werden konnte als das Bevölkerungswachstum. England konnte es sich anfangs sogar leisten, einen Teil des erzeugten Getreides ins Ausland zu verkaufen – was nicht heißt, dass alle Menschen in England auch genug zu essen hatten (Allen 2004). Verbesserte Düngung, neue Anbautechniken, Züchtung von ertragreicheren und widerstandsfähigeren Pflanzen- und Tierarten und schließlich der Einsatz von Maschinen erhöhten die Produktivität der Nahrungsmittelproduktion. Als Malthus sein Buch schrieb, lebten auf der Erde kaum eine Milliarde Menschen (Maddison 2006: 30) – heute sind es mehr als sieben Milliarden. Viele von ihnen leben in bitterer Armut, und täglich sterben Menschen an den Folgen der Unterernährung. Aber ohne eine erhebliche Ausdehnung der Lebensmittelproduktion wäre dieses Bevölkerungswachstum gar nicht erst möglich gewesen. Dabei ist nicht nur die Produktion von Lebensmitteln in den letzten 200 Jahren erheblich gesteigert worden, sondern auch beispielsweise die von Maschinen, mit denen Lebensmittel geerntet werden, ebenso wie die allerlei anderer nützlicher und weniger nützlicher Güter. Schätzungen gehen davon aus, dass im Vergleich zu den vor 200 Jahren lebenden Menschen jeder Einzelne heute die zwölffache Menge an Gütern zur Verfügung hat (Clark 2007: 2). Um diese steigende Gütermenge zu produzieren, war nicht nur die Vergrößerung der Zahl der Arbeitskräfte notwendig. Es waren mehr und größere Maschinen und Produktionsanlagen vonnöten, und der Einsatz von Maschinen und Arbeitskräften musste besser organisiert werden.

Die »langfristige Vermehrung der realen produktiven Leistungen und Leistungskapazitäten einer Volkswirtschaft« wird üblicherweise als »Wirtschaftswachstum« bezeichnet (Holtfrerich 1988: 413). Für viele Wirtschaftshistorikerinnen und -historiker war die Erklärung wirtschaftlichen Wachstums in der Vergangenheit der zentrale Gegenstand des Faches. Heute wird die fachliche Konzentration auf wirtschaftliche Wachstumsprozesse überwiegend kritisch gesehen. Für das Verständnis der modernen Wirtschaft ist »Wirtschaftswachstum« aber schon allein deswegen wichtig, weil es bis heute das Handeln eines Großteils der ökonomischen und politischen Akteure (und sicher auch vieler Konsumenten) bestimmt. Wenn diese Einführung in ihrem ersten inhaltlichen Kapitel daher mit dem Thema »Wirtschaftswachstum« beginnt, so trägt das genau diesen Umständen Rechnung und ist nicht etwa als ein wirtschaftspolitisches Plädoyer misszuverstehen. Ganz unabhängig davon, ob man wirtschaftliches Wachstum für wünschenswert oder erstrebenswert hält, ergeben sich aus seiner Beobachtung zentrale wirtschaftshistorische Forschungsfragen: Wie lässt sich beispielsweise erklären, dass die Wirtschaft nicht gleichmäßig wächst, sondern Phasen unterschiedlicher Wachstumsgeschwindigkeiten aufweist? Wie können wir Wachstum überhaupt messen? Das bloße Zusammenzählen der produzierten Hühner, Autoreifen, Haarschnitte und Furzkissen ist jedenfalls als Messmethode zu umständlich. Wir benötigen offenbar einen einheitlichen Maßstab, um das Wachstum zu illustrieren, welcher im ersten Abschnitt eingeführt wird. Im zweiten Abschnitt wird erläutert, dass Wirtschaftswachstum nie gleichmäßig und stetig verlief. Im dritten Abschnitt wird die Kritik am häufig verwendeten Wachstumsmaß aus wirtschaftshistorischer Sicht dargelegt, bevor im vierten Abschnitt schließlich unterschiedliche Erklärungsansätze referiert werden, wodurch die erstaunliche Beschleunigung des Wirtschaftswachstums in den letzten 200 Jahren ausgelöst worden sein könnte.